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Vorwort

Als wir uns im Sommer 2005 entschlossen, unsere gemeinsamen Recherchen in einem Buch zu veröffentlichen, gab es weder den »Arabischen Frühling« noch den »Islamischen Staat«.

Eine zunehmende Radikalisierung junger Muslime, die vor allem nach dem Irakkrieg 2003 eingesetzt hatte, war allerdings nicht zu übersehen. Doch beschäftigte diese Entwicklung zunächst vor allem die Sicherheitsbehörden und die Geheimdienste, weniger die breite Öffentlichkeit in Europa. Das Problem schien weit weg, es schien sich in Afghanistan, Pakistan oder dem Irak abzuspielen.

Viele wollten es nicht als Problem westlicher Gesellschaften wahrnehmen, weder Politiker noch muslimische Gemeinden. Sie vermochten nicht zu erkennen, dass in ihren Ländern eine junge Generation von Muslimen heranwuchs, die sich aus verschiedensten Gründen der Mehrheitsgesellschaft nicht zugehörig fühlte und deren Werte nicht teilte.

Die Anschläge auf Züge und U-Bahnen in Madrid im März 2004 und in London im Juli 2005 oder die Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh im November 2004 sorgten zwar für Entsetzen, doch wurde die Tatsache, dass junge Leute, die eigentlich als integriert erschienen waren, den Rekrutierern des »Dschihad« folgten, verdrängt. Heute ist das nicht mehr möglich.

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Der »Kleine Mudschahed« – ein Video für Kinder, das bei Hausdurchsuchungen in Süddeutschland gefunden wurde. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Da sich Tausende junger Europäer, unter ihnen auch Mädchen, aus London, Konstanz oder Paris auf den Weg nach Syrien machten, stellt sich das Problem der Radikalisierung mit neuer Dringlichkeit. Wir haben uns deshalb entschieden, dieses Buch mit einem ergänzten Vor- und Nachwort und einigen Kapitelergänzungen noch einmal zu veröffentlichen. Das Phänomen, dass viele junge Muslime in Europa, Nord-Afrika und im Nahen Osten ihre Zukunft in einem politischen Islam sehen, ist zu einem bestimmenden Faktor geworden. Neue Akteure und Gruppen sind seit 2005 hinzugekommen, aber die Lebensläufe, die wir in diesem Buch beschreiben, ähneln der Vita junger Muslime, die sich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben.

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Der fünfjährige »Mudschahed« richtet wie selbstverständlich die Pistole gegen die »Ungläubigen«. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Aus Anschlägen ist ein Kriegszug für ein Kalifat geworden. Die Propaganda der Dschihadisten ist professioneller, perfider und brutaler geworden. Der IS stellt seine grausamen Taten in Videoclip-Ästhetik aus und bezieht dabei ausdrücklich Jugendliche und Kinder ein – als Protagonisten und als Publikum. So zeigt ein IS-Video aus dem März 2015, wie ein zwölf Jahre alter französischer Junge mit kalter Zielstrebigkeit einem der Spionage für Israel verdächtigten Palästinenser mehrmals in den Kopf schießt. Die Rekrutierung von Kindern begann schon als wir erstmals unser Buch veröffentlicht haben.

Die Frage, die ein Polizist einem Fünfjährigen bei einer Hausdurchsuchung in Süddeutschland stellte, war unverfänglich gemeint. Der Beamte wollte dem Jungen die Angst nehmen, als seine Kollegen die Wohnung seiner Eltern auf den Kopf stellten und seinen Vater vorübergehend festnahmen: »Was willst du einmal werden, wenn du groß bist?« Die Antwort kam ohne Zögern: »Wenn ich groß bin, möchte ich ein Mudschahed werden wie mein Vater und Ungläubige töten.«

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Ein »Mudschahed« muss nicht nur kämpfen, sondern von klein auf den Koran studieren  [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Ein Fünfjähriger will töten. Er lebt mitten in Deutschland und will in den Krieg ziehen. Er ist eines der »Kinder des Dschihad«, um die es in diesem Buch geht. Sie bereiten sich von der Wiege an auf einen Krieg vor, von dem einige von ihren Vätern, die meisten aber in der Moschee gehört haben. Sie lernen, dass dieser Krieg jetzt schon stattfindet, dieser »heilige Krieg«, der Dschihad, dessen Definition man erst einmal anerkennen muss. Die Bedeutung des Begriffs ist umstritten, er ist eine Verkürzung. Dem arabischen Wortsinn nach bedeutet Dschihad so viel wie »umfassende Anstrengung und Bemühen um den Glauben«. Und doch meinen viele, die das Wort heute in den Mund nehmen, nichts anderes als Krieg. Krieg zwischen den Kulturen, Krieg zwischen den Konfessionen. Ein Krieg, in dem jedes Mittel recht ist und es keine Unbeteiligten gibt. Nur wenn man ihn als gegeben annimmt, nur wenn man ihn als historisch gegebene Tatsache verinnerlicht, die einem keine andere Wahl lässt, als den Geboten seines Glaubens zu folgen, ist zu verstehen, warum viele, vor allem junge Muslime auf der ganzen Welt der Überzeugung sind, es sei ihre persönliche Pflicht, an diesem Krieg teilzunehmen. Weil sie davon überzeugt sind, dass der Westen Krieg gegen den Islam führt.

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… und er hat ein Vorbild, dem er nacheifert: Seinen Vater, der mit modernen Waffen kämpft. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Warum sie glauben, keine Wahl zu haben, sondern in eine Konstellation geworfen zu sein, die ihre Gegner, die »Ungläubigen«, vorgegeben haben, das wollten wir herausfinden. Wir haben uns gefragt, woher diese Überzeugung stammt. Wer sie predigt und warum die Propaganda verfängt. Wir haben uns gefragt, warum junge Menschen, die in Europa aufwachsen, die hier als Kinder der zweiten oder dritten Einwanderergeneration geboren sind, die anscheinend bestens integriert sind und die Chance haben, aus ihrem Leben etwas zu machen, sich radikalisieren. Warum sie radikalen Predigern folgen. Warum sie, statt einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen und eine friedliche Existenz zu führen, lieber »Märtyrer« werden wollen. Warum sie sich von der Gesellschaft abwenden, die ihnen ein Maß an Freiheit und Toleranz beschert, das es in keinem islamischen Land gibt. Liegt es an ihnen? Oder liegt es an unserer Gesellschaft? Wollen sie hier nicht Fuß fassen oder können sie es nicht und stoßen auf Barrieren, die sie nicht überwinden können?

Viele derer, die wir gesprochen haben, schätzen die Freiheiten des Westens, das haben wir immer wieder erfahren. Sie verachten aber zugleich eine Gesellschaft, die ihre Religion angeblich mit Füßen tritt, die die Freiheit höher schätzt als den Glauben. Sie verachten eine Gesellschaft, die scheinbar keinen inneren Halt besitzt außer dem Materialismus, die sich auf strafrechtliche Normen, nicht aber auf kulturelle Leitbilder verständigen kann. Bis heute werfen muslimische Jugendliche dem Westen moralische Doppelzüngigkeit vor und sie beziehen sich dabei immer noch auf Foltermethoden durch die CIA, das Gefangenenlager Guantanamo und die Erniedrigungen muslimischer Gefangener in Geheimgefängnissen.

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten im September 2005 und die anschließenden Ausschreitungen und Anschläge markierten eine Zäsur. Es nahm seinen Anfang mit dem Imam Abu Laban aus Kopenhagen, der den Protest gegen die Mohammed-Karikaturen anführte. Um nichts als die Integration der Menschen in seiner Gemeinde gehe es ihm und sei es ihm schon immer gegangen, sagte er uns damals. Und erst zu dem Zeitpunkt, zu dem er erkannt habe, dass die Gesellschaft und insbesondere die politische Klasse, angeführt von der Regierung, ihm und den Muslimen nicht ein Mindestmaß an Respekt entgegenzubringen gewillt sei, habe er sich zu dem Schritt entschlossen, den Protest in die arabische Welt zu tragen. Was die bekannten Folgen zeitigte, die wir in diesem Buch beschreiben.

Dass sich insbesondere in Karikaturen ausdrückt, was Islamisten bekämpfen, wurde der Welt am 7. Januar 2015 mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo vor Augen geführt, in der die beiden Attentäter ein Blutbad anrichteten.

Wir haben mit den »Kindern des Dschihad« selbst gesprochen. Mit einer Generation junger Muslime, die keine Heimat hat – außer ihrer Religion. Ihre Staatszugehörigkeit ist der Islam, von den Zielen und Werten ihrer Elterngeneration halten sie nichts. In ihren Augen haben ihre Eltern die falschen Ziele verfolgt, nämlich sich anzupassen. Der Generationenkonflikt ist unverkennbar, und er ist unverkennbar einer der Auslöser der Radikalisierung. Wir haben uns auch mit den Familien von Attentätern und Verdächtigen unterhalten.

Nicht wenige unserer Gesprächspartner verfolgen allerdings handfeste politische und radikale Ziele. Ihnen geht es nicht um Respekt, nicht um Gleichbehandlung, sondern um die Errichtung einer staatenübergreifenden islamischen Nation, des Kalifats. Mit ihnen, wie etwa Vertretern der islamistischen Partei Hizb-ut-Tahrir, die in ganz Europa aktiv, in Deutschland aber verboten ist, haben wir uns zum Teil unter konspirativen Umständen getroffen. Wir haben mit Sympathisanten, Mitläufern und mit Kämpfern gesprochen, die im Irak oder in Afghanistan waren. Wir haben radikale Prediger im Libanon, in Großbritannien und Deutschland besucht. Wir mussten Autos und Handys wechseln, um an manche Gesprächspartner heranzukommen, die aus ihren politischen Zielen keinen Hehl, aber eine Pause machen, sobald ihnen die Frage gestellt wird, ob der Terror, der überwiegend zivile und im Irak und in Afghanistan zumeist muslimische Opfer fordert, berechtigt ist und ob sie ihn womöglich unterstützen. Da werden schnell Verschwörungstheorien angeboten, wird etwa in Frage gestellt, dass die Anschläge vom 11. September tatsächlich von Al Qaida verübt worden sind – es könnten ja auch westliche Geheimdienste gewesen sein, die durch eine solche Tat die Muslime in Misskredit bringen wollten.

Besucht haben wir islamische und islamistische Kreise in Deutschland, Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden, in Jordanien, dem Libanon, in Marokko, Afghanistan und Pakistan. Wir haben uns mit der »Ulmer Gruppe« beschäftigt, die 2005 eine der bekanntesten islamistischen Zellen in Deutschland war; wir sind dem Karikaturenstreit in Kopenhagen nachgegangen und haben erlebt, wie dieser die dänische Gesellschaft polarisiert. Sieht man für einen Augenblick von den Terrorzellen ab, die nichts anderes im Sinn haben, als Gewaltakte wie jene in London und Madrid zu wiederholen, erscheint uns die Situation in Dänemark besonders verfahren. Den notwendigen Dialog, der verhindern könnte, dass sich Muslime weiter radikalisieren, gibt es hier so gut wie gar nicht mehr. Die Konfrontation scheint festgefroren und es scheint kein Weg hinauszuführen, wozu, wie wir darstellen wollen, alle Beteiligten beitragen: Dänemark als Negativbeispiel für ganz Europa.

Doch wir machen uns nichts vor, was die Dialogbereitschaft mancher unserer Kontaktleute angeht: Sie ist nicht vorhanden. Viele, deren Vita wir beschreiben, bringen die Toleranz Andersgläubigen gegenüber nicht auf, die sie für sich einfordern. Sie sind im Krieg und wollen gar nicht mehr heraus, wollen auch keinen Unterschied machen zwischen Individuen und Staaten und der Politik des einen oder des anderen Landes. Der Mörder des holländischen Filmemachers Theo van Gogh, Mohammed Bouyeri, scheint mit sich im Reinen, während seine Familie in Isolation lebt, getrennt nicht nur von der holländischen Gesellschaft, sondern auch von ihrer mehrheitlich muslimischen Nachbarschaft. Diese Gemeinde hat der Mord, der ein Fanal sein sollte, vollkommen auseinander gerissen.

In Pakistan haben wir der Taliban-Hochschule in Akora Khattak einen Besuch abstatten können. Dort sind bislang nur wenige Journalisten vorgelassen worden. Diese Madrassa (Koranschule) als Lehranstalt des Terrors zu bezeichnen wäre sicherlich falsch. Doch macht ihr Curriculum deutlich, mit welchem Weltbild die Jungen, die hier zur Schule und dann zum Studium zumeist nach Saudi-Arabien gehen, ausgestattet werden. Es ist ein geschlossenes Weltbild, das nur die muslimische und die Welt der Ungläubigen kennt, zwischen denen es kein Miteinander, ja nicht einmal ein Nebeneinander geben kann, sondern nur die Konfrontation. »Kinder des Dschihad« sind auch die Jungen, die diese Schule durchlaufen.

Mit dem Internet und mit den Medienstrategien der Islamisten beschäftigen wir uns ebenfalls. Dass der Terror von der Grausamkeit seiner Anschläge, seiner Allgegenwärtigkeit und der medialen Verbreitung seiner Botschaft lebt und nur wirken und einschüchtern kann, wenn alle Welt sieht, dass seine Protagonisten ohne Rücksicht auf Verluste handeln, ist keine neue Erkenntnis. Wie breit allerdings das Angebot, wie ausgefeilt die Erziehung zum Hass und wie genau die Anleitung zum Terror ist – für jeden erreichbar –, das vermag doch zu überraschen. Die Kämpfer des Dschihad erscheinen nirgends strahlender als hier, wo ihre Taten verklärt und ihrer Opfer verhöhnt werden und Comicstrips Kindern vermitteln, dass es kein höheres Ziel für einen Muslim geben kann, denn als Dschihadi loszuziehen und womöglich als Märtyrer zu fallen.

Eingeflossen in unsere Reportagen sind auch Erkenntnisse der Geheimdienste und der Polizeibehörden in Europa und in der islamischen Welt, so wir Einblick nehmen konnten. Etliche der Quellen, bei denen wir für unsere Recherchen Bestätigung fanden, müssen anonym bleiben, auf allen Seiten.

Dies ist ein Reportagebuch, nur in den Kapiteln und Absätzen, die allgemeine historische Darstellungen betreffen, haben wir uns auf bekannte Daten und Buchwissen verlassen, eine Liste ausgewählter Literatur war uns dabei sehr hilfreich. Die Porträts, Schilderungen von den Orten des Geschehens und Interviews haben wir im Lauf der vergangenen drei Jahre selbst zusammengetragen.

Die Idee zu diesem Buch ist im Sommer 2005 entstanden, als wir aus unterschiedlichen Gründen und Perspektiven beobachteten, dass sich viele die Frage stellen: Woher kommt der Terror? »Warum hassen sie uns?«, fragte eine Hinterbliebene eines der Opfer des 11. September. Warum stürzen sich junge Männer ins World Trade Center, sprengen Verkehrsmittel in London und Madrid in die Luft und reißen tausende von Menschen in den Tod? Es sind viele Erklärungen angeboten worden – auf intellektueller Ebene, Huntingtons These vom Kampf der Kulturen wird hin- und hergewendet. Doch was uns fehlt, was überhaupt fehlt sind Erklärungen, die bei denen ansetzen, über die wir reden und die uns so rätselhaft sind. Was geht in ihren Köpfen vor? Wir haben zu unserem Gegenstand ein ambivalentes Verhältnis, weil es uns nicht nur intellektuell beschäftigt. Wir wollen denjenigen, die den Terror predigen, und denen, die diesen Terror auf der anderen Seite brauchen, um ihre Politik zu machen, nicht das Feld überlassen. Und wir wollen nicht zusehen, wie der Graben tiefer wird. Die »Kinder des Dschihad« betreffen uns persönlich.

Souad Mekhennet musste sich als in Deutschland geborene und aufgewachsene Muslima seit jeher mit dem Generalverdacht auseinander setzen, dass die Gleichung lautet Moslem = Gefahr. Oder, bei Wohlmeinenderen, dass sie die geborene Übersetzerin radikalen Denkens sein müsste – allein, weil sie Muslima ist. Hinter diesen Vorstellungen verbirgt sich eine unterschwellige Abschottung, die in unserem Land ziemlich ausgeprägt ist. Viel ausgeprägter als zum Beispiel bei den Amerikanern. Was unseres Erachtens damit zu tun hat, dass die Amerikaner wissen, wer sie sind – und die Deutschen wissen es nicht. Die Vereinigten Staaten sind als Einwanderungsland entstanden, für uns, oder zumindest für weite Teile von Politik und Gesellschaft in Deutschland, ist es bis heute eine schwer hinzunehmende Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland sind und uns in Zukunft noch viel stärker mit diesem Umstand auseinander setzen müssen. Souad Mekhennet arbeitet als Journalistin unter anderem für die Washington Post. Sie kommuniziert mit ihren Reportagen in diesem Buch in zwei Richtungen: In die Gesellschaft, in die sie geboren wurde – die deutsche. Und in den Kulturkreis, dem sie selbstverständlich zugerechnet wird und mit dem sie tatsächlich ihre kulturellen und religiösen Wurzeln verbindet.

Claudia Sautter hat sich als ehemalige Nordafrika-Korrespondentin der ARD über Jahre hinweg mit den islamistischen Gruppierungen im Maghreb beschäftigt. Sie hat aber auch die Vielschichtigkeit und den kulturellen Reichtum der arabischen Gesellschaften kennen und lieben gelernt, die vielen bei uns fremd, bedrohlich, aus einem Guss, monolithisch und in jeder Hinsicht unfrei und gefährlich erscheinen. In ihrer Arbeit und den beruflichen wie persönlichen Beziehungen hat sie erlebt, wie flach und falsch dieses Bild ist. Und nicht nur deshalb liegt ihr viel daran, dass wir nicht in die Feind-Falle laufen, dass wir zwischen Osama Bin Laden auf der einen und dem »Kreuzzug gegen den Terror« auf der anderen Seite nicht vergessen, was uns mit den islamischen Ländern verbindet.

Michael Hanfeld hat sich als Medienredakteur und stellvertretender Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den letzten Jahren beruflich mehr und mehr mit den arabischen Medien und mit dem Internet befasst. Gepackt hat ihn die Geschichte des deutschen Bundeswehrarztes Reinhard Erös, der Mitte der 80er Jahre mit seiner Familie nach Afghanistan ging, um die von den Russen bekämpften Zivilisten und Mudschaheddin medizinisch zu unterstützen. Ende der 90er Jahre erkannte der Bundeswehrarzt, dass die Not der Afghanen unter den Taliban noch größer geworden war. Also trank er »Tee mit dem Teufel« (wie auch sein Buch über diese Zeit heißt), will sagen: handelte den Taliban ab, dass er Kliniken und Schulen errichten durfte – vor allem für Mädchen. Auf den Spuren dieses Mittlers zwischen den Fronten hat Michael Hanfeld das Paschtunen-Gebiet in Afghanistan und im Norden Pakistans bereist. Die Schönheit des Landes und die Anmut der Menschen, die seit 25 Jahren einen Freiheitskampf gegen fremde Unterdrücker und gegen islamische Radikale wie die Taliban führen, hat ihn nachhaltig beeindruckt.

Souad Mekhennet, Claudia Sautter, Michael Hanfeld

Frankfurt am Main, im April 2015

Kapitel 1

Dänemark und der Karikaturenstreit

Am 30. September 2005 erscheint die dänische Zeitung Jyllands-Posten mit einer Sonderseite. Zwölf Karikaturisten hatten im Auftrag des Kulturredakteurs des Blatts, Flemming Rose, den Propheten Mohammed gezeichnet. Er tritt in ganz unterschiedlicher Form auf, als Turbanträger mit einer Bombe auf dem Kopf oder aber auch als Schuljunge, der vor einer Tafel steht und sich über die Aktion der Jyllands-Posten lustig macht. Was für eine seltsame Idee das doch sei, schreibt der gezeichnete Mohammed an die Tafel, welche sich die Zeitung da ausgedacht habe. Wie seltsam sich diese Geschichte danach wirklich entwickeln sollte, konnte der Karikaturist zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Vor allem nicht, dass er und seine elf Kollegen von diesem Tag an bedroht würden und unter Polizeischutz untertauchen müssten.

Veranlasst hat Flemming Rose die Karikaturen-Seite, weil er zufällig mitbekam, dass der dänische Kinderbuchautor Kaare Bluitgen lange Zeit vergeblich nach jemandem gesucht hatte, der für sein Kinderbuch über den Propheten Mohammed Zeichnungen angefertigt hätte. Niemand sei bereit dazu aus Furcht vor den Konsequenzen, aus Angst, von Muslimen bedroht zu werden, klagte der Autor. Schließlich fand sich doch ein Zeichner, das Buch zu illustrieren, allerdings unter der Maßgabe, dass er anonym bleibe.

Die Jyllands-Posten nimmt sich des Themas an, es erscheint eine ganze Reihe von Beiträgen, die sich gegen den Umstand richten, dass Nicht-Muslime sich den Ge- und Verboten des Islam beugten, weniger aus Überzeugung oder aus empfundenem Respekt der Religion gegenüber, sondern aus schierer Furcht vor den Konsequenzen. Und dann beschließt der Kulturredakteur Flemming Rose, gestützt von seinem Chefredakteur Carsten Juste, die Probe aufs Exempel zu machen und zu zeigen, wie weit die Selbstzensur in Dänemark und insbesondere in der dänischen Presse beim Thema Islam inzwischen reicht. Rose fordert 40 Karikaturisten auf, den Propheten zu zeichnen; zwölf Zeichner willigen ein, an seiner Aktion mitzuwirken. Am 30. September 2005 ist die Sonderseite im Blatt: Die Jyllands-Posten fordert im Namen der Pressefreiheit die Muslime heraus – mit der denkbar größten Provokation, die in westlichen Augen zunächst als eine solche vielleicht gar nicht erscheint.

Die Redaktion sei sich darüber im Klaren gewesen, schreibt die Zeitung im Rückblick, in einer Selbsterklärung im Februar 2006, dass »die Zeichnungen in bestimmten Kreisen Zorn auslösen würden«. Doch sei es »in Dänemark seit jeher üblich, dass politische und religiöse Autoritäten von Zeitungszeichnern kommentiert werden – und häufig in satirischer Form. Würde man davon absehen, etwas abzubilden, das Moslems heilig ist, wäre gerade dies Ausdruck einer diskriminierenden Behandlung von Moslems.«

In den ersten Tagen haben die Karikaturen eine noch überschaubare Wirkung. Die Proteste der Muslime in Dänemark bleiben nicht aus, doch sie halten sich in Grenzen. Am 9. Oktober fordern Sprecher der »Islamischen Glaubensgemeinschaft in Dänemark« von der Jyllands-Posten eine Entschuldigung für die Karikaturen. Das Blatt verteidigt seine Publikation. Am 14. Oktober gibt es eine Demonstration von Muslimen in Kopenhagen, auf der schon nicht nur von der Zeitung eine Entschuldigung verlangt, sondern auch der Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen aufgefordert wird, öffentlich Buße zu tun und – das Blatt zu bestrafen. Rasmussen wehrt sich gegen den Anspruch und erklärt, dass Dänemark eine Demokratie sei und zu dieser als eines der höchsten Güter die Presse- und Meinungsfreiheit zähle. Insofern könne und wolle er die Zeitung nicht maßregeln. Deshalb lehnt er es auch wenige Tage später, am 19. Oktober, ab, die Botschafter von elf muslimischen Ländern zu empfangen, die ihren Protest formulieren und ihn auffordern wollten, gegen Jyllands-Posten vorzugehen. Damit ist der politische Eklat perfekt. Doch die Sache geht noch weiter. Ende November setzt sich eine fünfköpfige Gruppe von Muslimen von Kopenhagen aus gen Kairo in Marsch. Sie tragen ein rund vierzigseitiges Dossier bei sich, das der Imam Ahmed Abu Laban zusammengestellt hat. Es enthält nicht nur die umstrittenen Karikaturen aus der Jyllands-Posten, sondern auch Drohbriefe an die Gemeinde und eine ganze Reihe weiterer, den Propheten Mohammed generell herabwürdigender Darstellungen. Das Dossier soll seine Wirkung nicht verfehlen.

Der Imam Abu Laban und seine Liste

Spiritus Rector der Aktion, die nun folgte und zu teilweise gewaltsamen Protesten in der islamischen Welt mit einigen Dutzend Todesopfern führte, ist der Imam Abu Laban. Seine Gemeinde ist nicht die größte in Dänemark und er ist auch keiner der echten Hardliner, die, wie etwa die Organisation Hizb-ut-Tahrir, für die Einführung des Kalifats eintreten und die Demokratie nur so lange schätzen, wie sie ihnen für ihren Kampf nützlich ist. Abu Laban lebt vielmehr seit langem in Dänemark und hält sich zugute, dass es ihm um nichts anderes gehe als die Integration der von ihm vertretenen Muslime.

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Abu Laban in seinem Kopenhagener Büro. [Abbildung Privatbesitz der Autoren]

Sein Hauptquartier unterhält Abu Laban in Kopenhagen am Rand eines Gewerbegebiets. Die Kreuzung Dorthevajg 45 ist eine zugige Ecke, um das »Zentrum für Integration«, das der Imam leitet, fegt der Wind. Sein Anwesen liegt zwischen Wohnblöcken und Baustoffhöfen. Die Moschee im Hinterhof erkennt man von außen nicht als Gotteshaus. Der gelbe Klinkerbau war einmal ein Weinlager. Am Eingang gibt es drei Klingeln, kein Namensschild, die Tür ist angelehnt.

Abu Laban ist ein untersetzter Mann, sein Blick ist freundlich, sein Händedruck fest. Der Einundsechzigjährige ist stolzer Vater von fünf Töchtern und zwei Söhnen, und er ist zum ersten Mal Großvater geworden. Geboren wurde er 1946 in Palästina, kurz vor der Gründung Israels, seine Frau stammt aus Damaskus. Aufgewachsen in Ägypten, hat er als Ingenieur für eine Ölfirma gearbeitet, Prediger war er zunächst nebenbei. 1984, da war er Imam in Nigeria, fragten ihn Freunde, ob er nach Dänemark kommen wolle. Die Gemeinde in Kopenhagen brauchte einen Imam. Abu Laban kam, predigte und kümmerte sich, wie er sagt, um die Integration seiner Leute. Dabei sei er stets um praktische Lösungen bemüht und darum, dass die Mitglieder seiner Gemeinde sich für das Leben um sie herum interessierten, zum Beispiel die dänische Presse läsen. »Wir sind dänische Staatsbürger«, sagt er im Gespräch immer wieder. »Ich bin froh, dass ich in einer Demokratie lebe.« In einer Demokratie, in der Meinungsfreiheit herrscht wie in fast keinem arabischen Land.

Doch haben die Demokratie und die Meinungsfreiheit, der sich Abu Laban erfreut, nach seinem Verständnis auch Grenzen. Die Freiheit endet, wo die Beleidigung des Islam und erst recht die des Propheten beginnt. Das Bilderverbot, das gebietet, den Propheten nicht nur nicht zu karikieren, sondern ihn grundsätzlich nicht abzubilden, gilt dem Imam als absolut. »Das ist unsere religiöse Tradition«, sagt er. Und: »Wir glauben an die Pressefreiheit, doch hat die Presse eine Verantwortung. Wenn man Menschen provoziert, zeugt das nur von schlechtem Geschmack. Diese Art von Pressefreiheit ist kontraproduktiv.« Zudem zeuge die Zurücksetzung der Muslime von einer herrschenden Doppelmoral. Auf die Frage, ob es aber nun nicht erst seine Reaktion gewesen sei, die den »Karikaturenstreit« aus dem Ruder laufen ließ und zu anhaltender Gewalt in der arabischen Welt mit etlichen – muslimischen – Toten führte, reagiert der Imam laut, deutlich und beleidigt. In seiner Freitagspredigt habe er sich ausdrücklich gegen gewalttätigen Protest ausgesprochen: »Wir stehen nicht in Opposition zum dänischen Staat. Wir verdammen die Gewalt, wir sind froh, dass es in Dänemark und in Europa keine gewalttätigen Proteste gibt. Botschaften zu erstürmen, das ist nicht unser Ziel. Wir wollen einen intellektuellen Diskurs. Die Regierung muss mit uns reden. Wir lassen uns nicht länger wie Kindergartenkinder behandeln.« Seit mehr als 20 Jahren würden die Muslime in Dänemark jetzt schon unterdrückt, nun sei es an der Zeit, denjenigen, die dafür verantwortlich seien, »die Maske der Überheblichkeit vom Gesicht zu reißen«.

Bei Abu Laban gibt es Instantkaffee, Tee, Wasser und Limonade. Er holt das Dossier hervor, mit dem er Ende November, Anfang Dezember 2005 eine fünfköpfige Delegation losgeschickt hat. Die »Akte zu den Bildern des Propheten Mohammed« enthält nicht nur die Zeichnungen aus der Jyllands-Posten. Es gibt eine weitere Seite aus einer anderen Zeitung, die Darstellungen versammelt, die den Islam herabwürdigen. Das AP-Foto des Mannes mit Schweinenase und Schweineohren ist auch dabei, dessen Herkunft nach der Reise bald geklärt wurde. Mit Mohammed hat das Foto nichts zu tun. Es zeigt vielmehr einen Mann, der im Spätsommer 2005 in Südfrankreich auf einer Landwirtschaftsmesse an einem Schweine-Quiek-Wettbewerb teilgenommen hatte. Die Nachrichtenagentur AP protestierte gegen die Verwendung dieser Aufnahme. Dem entgegnet Abu Laban, dass dieses Bild bei seiner Organisation gemeinsam mit einem Schmähbrief angekommen sei, also habe es dokumentarischen Wert und liege der Akte bei – der Prophet Mohammed als Schwein. Die nächste Seite des Dossiers zeigt einen gebückten Mann, der von einem Hund bestiegen wird.

Die Muslime aus Kopenhagen reisen mit dem Papier zunächst nach Kairo und dann nach Beirut. Abu Laban selbst ist nicht dabei. Ihm geht es, wie er sagt, um eine Verurteilung der Karikaturen durch den Großscheich Mohammed Said Tantawi, den obersten Gelehrten der Al-Azhar- Universität, dessen Auslegungen des Korans, dessen Stellungnahmen zu allen Lebensfragen der Gläubigen von großem Gewicht sind. Sechs Tage sind Abu Labans Leute in Kairo und sie bekommen, was sie wollen: die Verurteilung der Karikaturen von höchster geistlicher Seite.

Tantawis Stellungnahme geht an das ägyptische Außenministerium und dieses übermittelt sie dem dänischen Botschafter. So gerät der Protest zur diplomatischen Krise. Was dann kommt, Eklat, Unruhen, Plünderungen und Tote, damit will Abu Laban nichts zu tun haben. Doch soll man ihm abnehmen, dass er nicht wusste, welche Folgen dies haben könnte? »Ich habe Politik im Blut«, meint er bei einer anderen Gelegenheit. Und genau so ist es: Abu Laban hat als kleiner Imam den Staat Dänemark herausgefordert.

Folgt man Abu Laban, dann hat die Jyllands-Posten einen beträchtlichen Anteil an der Eskalation. Er habe, sagt er im Gespräch, über Mittelsmänner vor der Veröffentlichung der Zeichnungen gewarnt. Direkt nach dem Erscheinen der Karikaturen am 30. September habe er versucht, die Zeitung davon zu überzeugen, gemeinsam mit dänischen Universitäten ein »Mohammed-Seminar« abzuhalten. Es gab sogar ein persönliches Treffen mit dem Kulturredakteur Flemming Rose. Er habe ihn ganz sympathisch gefunden, erzählt Abu Laban. Er könne sogar verstehen, worauf Roses Kampf gegen die Zensur beruhe – auf der Erfahrung des Journalisten, der lange Zeit Korrespondent in Moskau war, mit der Unterdrückung der Pressefreiheit in Osteuropa während des Kalten Kriegs. Doch rechtfertige das noch lange nicht die Beleidigung des Propheten. Abu Laban trifft also Flemming Rose, er schreibt an den Kultusminister, doch es passiert angeblich – nichts. Auch die Botschafter von elf islamischen Ländern können nichts ausrichten, denn der dänische Ministerpräsident verweigert sich einem Gespräch. Erst dann, sagt Abu Laban, habe er seine Karikaturen-Truppe in Marsch gesetzt. 60 000 Kronen werden in den islamischen Gemeinden in Dänemark für diesen Zweck gesammelt, insgesamt 27 muslimische Organisationen haben die Mission unterstützt. »Die Leute sind bereit, ihre Autos zu verkaufen«, erzählt Abu Laban. Es sei auch genügend Geld da, um Dänemark vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verklagen.

Die Jyllands-Posten und ihr »journalistisches Projekt«

Für die Jyllands-Posten erklärt ihr Chefredakteur Carsten Juste am 30. Januar 2006, er bedauere die Folgen des Karikaturenstreits, doch stehe er zu der Veröffentlichung. Sie habe weder gegen dänisches Gesetz noch gegen die dänische Presseethik verstoßen. Seine Botschaft schickt Juste auf Dänisch, Englisch und Arabisch über das Internet. Am Tag zuvor habe der Redakteur Flemming Rose auf dem arabischen Nachrichtenkanal Al Dschazira ebenfalls bedauert, dass man mit den Zeichnungen Muslime verletzt habe. Sein Bedauern wurde aber, wie Jyllands-Posten es darstellt, von Al Dschazira nicht ins Arabische übersetzt.

»In der öffentlichen Diskussion haben es einige so aufgefasst, dass sich finstere Redakteure der Jyllands-Posten zusammengesetzt und diskutiert hätten, wie wir denn nun so viele Moslems wie möglich beleidigen könnten. Einige haben sogar behauptet, dass es unser Wunsch gewesen wäre, einen Konflikt zu provozieren und die Integration zu stören«, erklärt der Chefredakteur am 18. Dezember 2005 in einem Interview mit seinem eigenen Blatt. Doch das sei »vollkommen falsch«. Es sei vielmehr darum gegangen, »zu untersuchen, ob es in Dänemark Selbstzensur gibt«: »Ich erlaube mir, dies ein journalistisches Projekt zu nennen. Ein ganz und gar lauteres und anständiges journalistisches Projekt. Wir wollten untersuchen, ob sich dänische Zeitungszeichner trauen, Mohammed zu zeichnen, oder ob sie sich das nicht trauen.«

Es traute sich bekanntlich eine Minderheit, das nach eigenem Verständnis mutige Dutzend, das dafür einen hohen Preis zahlen sollte. Und das die Angelegenheit nach dem Proteststurm auch ganz unterschiedlich einschätzt. Die Jyllands-Posten bringt dazu ein Gespräch mit jenem Zeichner, der Mohammed mit einer Bombe auf dem Kopf dargestellt hatte. Er verteidigt sein Werk: »Die Karikatur bezieht sich nicht auf den gesamten Islam, sondern nur auf die Aspekte der Religion, die offensichtlich zu Gewalt, Terrorismus, Tod und Vernichtung anregen. Und somit auf das fundamentalistische Gedankengut des Islam.« Es sei wichtig gewesen, dies durch die Karikaturen gezielt darzustellen: »Wenn eine Religion zum religiösen Faschismus ausartet, werden wir mit totalitären Tendenzen konfrontiert, die es früher im Faschismus und Nationalsozialismus gab. Eine Situation, wo Menschen gezwungen werden, nachzugeben und sich einem Regime unterzuordnen.« Er respektiere den Islam, nicht aber jene Version dieser Religion, »welche die Terroristen mit geistigem Zündstoff versorgt«. Die zunehmende Religiosität verursache generell »mehr Intoleranz und Beschränktheit«, der »religiöse Obskurantismus« gewinne an Boden, wodurch er – »als alter Atheist« – sich in seiner Haltung nur bestätigt fühle.

Nicht ganz so kämpferisch gibt sich ein anderer der zwölf Zeichner, der sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerte. Auch er muss anonym bleiben, da er Morddrohungen erhalten hat und unter Polizeischutz steht. »Aus kleinen Bildern«, sagt dieser Karikaturist, sei »ein großer Wahnsinn« erwachsen. Als naive Dänen hätten sie nicht mit derartigen Folgen gerechnet. Und aus der massenhaften Weiterverbreitung der Zeichnungen im Internet erwachse den zwölf Karikaturisten eine fortwährende Lebensgefahr. Es sei alles aus der Spur gelaufen. Inzwischen gehe es nicht mehr um Religion, sondern um Politik. Das kleine Dänemark sei gar nicht in der Lage, gegen den »Wahnsinn«, der aus den Mohammed-Bildern erwachsen sei, anzukämpfen. Dabei hätten weder er noch seine Mitzeichner jemanden in seinen religiösen Gefühlen verletzen wollen. Doch müsse, wer in Dänemark lebe, sich politische Karikaturen gefallen lassen, das gelte nicht nur für den Islam, sondern ganz selbstverständlich auch für die anderen Religionen.

Todesdrohungen und Aufstände

Doch selbstverständlich ist nach dieser Aktion nichts. Auch ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung der Karikaturen kontrolliert die dänische Polizei zweimal täglich die Häuser der Zeichner, sie stehen elektronisch in direkter Verbindung mit den Ordnungskräften, die Angst, dass es einem von ihnen so ergeht wie dem holländischen Filmemacher Theo van Gogh, ist groß. Eine der gegen ihn gerichteten Todesdrohungen, berichtet ein Zeichner, sei »direkt aus Mekka« gekommen, sie habe die Namen aller zwölf Karikaturisten aufgeführt und den Kulturredakteur der Jyllands-Posten, Flemming Rose, benannt. Eine andere Todesdrohung kommt von einer islamischen Jugendorganisation aus Pakistan. Doch das ist nicht alles: Ein Minister des indischen Bundesstaats Uttar Pradesh verspricht eine Belohnung von elf Millionen Dollar für die Ermordung der dänischen Zeichner. »Die Person, die den Propheten beleidigt hat, verdient es nicht zu leben, und jeder – ungeachtet welcher Nationalität –, der den Karikaturisten eliminiert, wird mit Geld belohnt und mit Gold aufgewogen«, sagt der Minister Haji Yakub Quereshi. Die Vereinigung der Goldschmiede in der pakistanischen North-West Frontier Province setzt ein Kopfgeld von einer Million Dollar aus.

Dies alles vollzieht sich erst im Februar 2006, fünf Monate nach der Veröffentlichung der Karikaturen und mehr als drei Monate nach der Reise von Abu Labans Emissären gen Kairo und Beirut. Es hat offenbar eine Weile gedauert, bis sich verschiedene islamische Staaten darauf besannen, wie sie den Protest gegen die Karikaturen vorantreiben und für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren konnten. Ende Januar hat Saudi-Arabien einen Boykott dänischer Produkte ausgerufen. Am 3. Februar randalieren rund 300 indonesische Islamisten in der Lobby eines Gebäudes in Jakarta, in dem die dänische Botschaft untergebracht ist. Am Tag darauf setzen tausende von Demonstranten die dänische und die norwegische Botschaft in Damaskus in Brand, am 5. Februar geschieht dasselbe in Beirut, es kommt zu ersten Todesopfern. Wiederum einen Tag später greifen rund 200 Demonstranten die Botschaft Österreichs – das zu dieser Zeit den Vorsitz im EU-Ministerrat führt – in Teheran an, die Angriffe setzen sich am nächsten Tag fort. Der Iran bricht wegen der Karikaturen seines Handelsbeziehungen zu Dänemark ab. Die auflagenstärkste Zeitung des Landes, Hamschahri, ruft einen Karikaturen-Wettbewerb zum Holocaust aus, um die Meinungsfreiheit des Westens zu testen. In Afghanistan sterben beim Sturm auf einen Stützpunkt der Nato-Truppen vier Menschen, es kommt zu weiteren Demonstrationen, Unruhen oder Übergriffen in Bangladesch, im Gaza-Streifen, in Indien, Indonesien, dem Irak, in Hongkong, dem Jemen, dem Libanon, in Pakistan, auf den Philippinen, in Somalia, Sri Lanka und Thailand, die Zahl der Toten steigt auf mehr als zehn, die Zahl der Länder, die sich dem Boykott dänischer Produkte anschließen, auf mehr als fünfzehn. Auch in europäischen Hauptstädten kommt es zu zahlreichen Demonstrationen mit tausenden von Teilnehmern, die jedoch zumeist friedlich bleiben. Der als gemäßigt geltende Imam Scheich Mohammed Al Sherief sagt jedoch in Kairo, er habe »keinen Zweifel«, dass es in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen Selbstmordanschläge geben werde wie zuvor am 11. September in New York und darauf in Madrid und London – falls sich der dänische Ministerpräsident Rasmussen nicht »deutlich« für die Karikaturen entschuldige und die »Schuldigen« nicht bestraft würden.

Die Jyllands-Posten hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus ihrer Sicht entschuldigt, als sie darauf verwies, dass sie die Gefühle der Muslime nicht habe verletzen wollen. Rasmussen war in dem arabischen Nachrichtensender Al Arabija aufgetreten und hatte sich »äußerst bestürzt« darüber gezeigt, wie viele Muslime die Karikaturen als Beleidigung empfänden.

Die Gewalt nimmt jedoch kein Ende. Am 18. Februar erschießt die libysche Polizei elf Demonstranten bei einer gewalttätigen Kundgebung vor dem italienischen Konsulat in Bengasi. Der Mörder eines katholischen Priesters im türkischen Trabzon gibt an, er sei bei seiner Tat von der »Beleidigung des Propheten Mohammed in westlichen Medien« beeinflusst gewesen. In Nigeria kommt es landesweit zu Ausschreitungen, bei denen 18 christliche Kirchen zerstört und mindestens 15