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Titelseite

 

Für meine tapfere Greta.

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Prolog
oder: Ein Kater in Not!

Nun ist es also so weit. Unwiderruflich. Mein letztes Stündlein hat geschlagen. Und es schlägt nicht auf dem heimischen Sofa, meinem kuscheligen, sonnenbeschienenen Lieblingsplatz, im Kreise meiner Familie, die von mir Abschied nehmen will. Nein, es schlägt auf der kalten Platte des Untersuchungstisches von Tierärztin Dr. Wilmes.

Andererseits – lieber jetzt mein kurzes Katerleben aushauchen als weiter leiden müssen. Ich habe so starke Bauchschmerzen, dass es mich regelrecht zerreißt. Werner Hagedorn, mein treuer zweibeiniger Kamerad, hat mich sofort hierhergefahren, als mir so schwindelig wurde und ich ständig umgefallen bin. Nun steht er neben dem Tisch und streichelt mir beruhigend über den Kopf. Aber ich kann in seinem Gesicht lesen, dass er furchtbare Angst um mich hat. Auch meine beste Menschenfreundin Kira, die mich die ganze Fahrt über auf ihrem Schoß gehalten und gestreichelt hat, kämpft mit den Tränen. So schlimm ist es also um mich bestellt, miau!

Als Frau Doktor versucht, mein Bäuchlein abzutasten, strample ich mich mit letzter Kraft aus ihren Händen frei, um dann völlig erschöpft auf der Seite liegen zu bleiben. Die Tierärztin nutzt die Gelegenheit und leuchtet mir mit einer Taschenlampe in die Augen. Dazu murmelt sie vor sich hin, und ich meine, so etwas wie »Oje« oder »Oh weh« herauszuhören. Das wundert mich nicht. Ich weiß, dass ich dem Tod näher bin als dem Leben.

Schließlich räuspert sich Frau Dr. Wilmes. »Herr Professor Hagedorn«, sagt sie, und ihre Stimme klingt dabei sehr ernst, »ich fürchte, Winston wurde vergiftet. Oder hat zumindest etwas gefressen, was für Katzen giftig ist. Die Pupillen sehen jedenfalls so aus, als hätte er Drogen verabreicht bekommen. Wir werden ihm nun den Magen auspumpen müssen. Ich hoffe, ich kann ihn noch retten.«

Bei Kira fließen nun wirklich die Tränen, auch Werner schnappt nach Luft.

Ich bin zu schwach, um zu reagieren. Wenn mich der gütige Katzengott nun heimholt, dann soll es wohl so sein. Wer hätte gedacht, dass es einmal so schnöde mit mir zu Ende geht! Dabei war doch vor ein paar Tagen noch alles in Ordnung und ich lag friedlich auf unserem schönen Sofa in der Hochallee 106a in Hamburg, während um mich herum die alljährliche Hagedorn’sche Familienfeier tobte. Hätte ich gewusst, dass dies mein letztes Fest und meine letzten Tage mit meinen Lieben sein würden, ich hätte sie mehr genossen. Aber dafür ist es nun leider zu spät. Leb wohl, du schöne Welt! Leb wohl, Hamburg, meine Perle!

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Konzert für zwei Blockflöten und eine schiefe Stimme.

»Stihille Naaaacht, heilige Naaaacht! Alles schläääft, eiiiinsam waaaacht …«

Zweibeiner sind einfach Spitzenklasse darin, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Als Hauskater bin ich ein echter Menschenkenner und kann ein Lied davon singen! Denn tatsächlich ist die Nacht momentan weder still, noch ist es in unserem Wohnzimmer einsam. Leider! Ich wünschte, es wäre so! Stattdessen herrscht ein ohrenbetäubender Lärm: Zwei Blockflöten spielen eher gegen- als miteinander und das Ganze wird noch gekrönt von einem furchtbar schrägen Gesang. Mir rollen sich die Schnurrhaare auf! Und das bei meinem empfindlichen Gehör! Das ist zu viel für einen edlen Rassekater wie mich. Ich springe vom Sofa, trolle mich in die Ecke und hoffe, dass die Menschen bald ein Einsehen haben und den Lärm einstellen werden.

Leider scheine ich aber der Einzige zu sein, dem auffällt, wie schrecklich das gerade klingt, denn mein menschlicher Mitbewohner, Professor Werner Hagedorn, sitzt mitsamt seinen Gästen auf unserem schönen Sofa und lauscht andächtig. Es scheint ihm also zu gefallen. Vielleicht hat er aber auch nur ein bisschen viel von diesem Getränk namens Glühwein getrunken – das sorgt bei Menschen nämlich ziemlich schnell für rote Wangen und eine getrübte Wahrnehmung.

Auch seine Mutter, Frau Hagedorn, sieht glücklich aus. Als die Blockflöten endlich ihr Getröte einstellen und auch die Sängerin verstummt, steht sie vom Sofa auf und klatscht in die Hände. »Charlotte, Constantin! Das habt ihr aber toll gemacht!« Das Mädchen und der Junge, die eben noch um die Wette geflötet haben, drehen sich zu ihr um und verbeugen sich artig. »Und du, Beate, singst ja wirklich ganz zauberhaft!«, säuselt sie weiter. »Glockenhell, meine Liebe, glockenhell!«

Okay, der Fall ist klar: Frau Hagedorn braucht ganz dringend ein Hörgerät. Anders ist ihre Begeisterung nicht zu erklären. Jedenfalls im Fall von Beate. Bei Charlotte und Constantin liegt die Sache etwas anders. Die beiden sind schließlich ihre Enkelkinder, und wie ich aus jahrelanger Erfahrung als Haustier weiß, finden Omas alles toll, was ihre Enkel so machen. Constantin ist der Sohn von Roland und Beate, also dem jüngeren Bruder von Werner und dessen zickiger Frau. Charlotte wiederum ist die Tochter von Werners älterer Schwester Simone, die Gott sei Dank nicht singt, dafür aber viel betet, weil sie doch Pastorin ist. Vielleicht könnte sie auch mal dafür beten, dass Beate nie wieder singt, wenn sie bei uns zu Besuch ist. Ach du liebes Katzenklo!

Aus gutem Grund haben also die einzigen musikalischen Menschen, die mit Werner und mir hier wohnen, Reißaus genommen: Werners Haushälterin Anna ist mit ihrer Mutter übers Wochenende verreist. Und ihre dreizehnjährige Tochter Kira, meine beste Freundin, hat sich zu ihrer Schulfreundin Pauli verzogen. Sehr schlau!

»Danke für dein Kompliment, liebe Schwiegermama!« Beate strahlt. »Und ich habe da noch ein Lied für euch vorbereitet. Also, wenn ihr wollt …«

Ich schaue mich kurz um. Werners Mundwinkel zucken. Er ist dann offenbar doch nicht ganz so begeistert von Beates Sangeskünsten wie seine Mutter. Die aber klatscht noch einmal in die Hände und ruft: »Oh, wie schön! Da freue ich mich! Bitte sing doch weiter.«

Heilige Ölsardine! Noch ein Lied ertragen meine empfindlichen Öhrchen nicht. Da hilft nur noch eins: Flucht! Und zwar sofort!

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Keine drei Sekunden später bin ich durch die Katzenklappe in den Hausflur geschlüpft. Mit halbem Ohr höre ich noch, wie Beate wieder anfängt, sehr laut und sehr schief ein Lied zu schmettern, das beim besten Willen keine weihnachtliche Stimmung aufkommen lässt. Das einzig Interessante daran ist, dass es von einem Fisch zu handeln scheint – ich meine, etwas von einer kleinen Bachforelle verstanden zu haben. Gut, das ist natürlich lecker, trotzdem bin ich froh, dem Familienfeier-Inferno entkommen zu sein. Ich denke, ich werde draußen nach meiner Katzenfreundin Odette suchen.

Odette ist eine wunderschöne weiße Katze, die fast den ganzen Tag an der frischen Luft im Hof unseres Hauses verbringt. Früher, als ich noch ein fauler Wohnungskater war, der sich niemals nach draußen wagte, hätte ich sie als Streunerin bezeichnet. Aber dann zog Kira mit ihrer Mutter Anna in Werners und meine Wohnung ein. Erst war ich alles andere als begeistert, mein Sofa mit einem Kind teilen zu müssen. Aber nach und nach haben Kira und ich uns angefreundet, und schließlich habe ich mit ihr die Welt außerhalb meiner eigenen vier Wände erkundet. Seitdem weiß ich, dass Odette keine Streunerin, sondern eine Abenteurerin ist! Damit ist sie die schönste Abenteurerin der Welt, und immer wenn ich Odette sehe, macht mein Herz einen Riesensprung. Noch dazu ist sie rasend schlau, und ich glaube, das finde ich fast am tollsten. Ich liebe intelligente Frauen!

Im Sommer sitzt Odette häufig mit den anderen beiden Hofkatzen Spike und Karamell auf dem Mülltonnen-Unterstand. Aber jetzt, im kalten Winter, haben die drei ein anderes Fleckchen für sich entdeckt: die Wand neben der Lüftungsklappe des Waschkellers! Dort ist es selbst bei Minusgraden auszuhalten, denn die Klappe liegt in einem windgeschützten Eckchen und aus dem Waschkeller strömt die ganze Zeit die angenehm warme Luft aus den Wäschetrocknern.

Tatsächlich hocken Odette, Spike und Karamell auch jetzt gerade in ihrem Winterquartier. Eng aneinandergekuschelt dösen sie vor sich hin. Trotz der kalten Dezemberluft sieht das sehr gemütlich aus!

Ich schleiche mich an die drei heran und begrüße sie mit einem lauten Maunzen. Sofort zucken sie zusammen und rappeln sich hoch.

»Hey, Kumpel!«, sagt Spike und rekelt sich träge. Er ist ein dicker getigerter Kater, meist sehr gemütlich, trotzdem nicht zu unterschätzen. »Was verschafft uns die Ehre an diesem kalten Wintertag? Ich dachte, bei euch wäre Party?«

»Woher weißt du das denn?«, fragte ich überrascht nach.

»War nicht zu übersehen. Genauer gesagt: War nicht zu überhören. Wenn diese gruselige Frau mit der schrillen Stimme und ihrer ganzen Bagage anrückt, dann wollen sie immer zu deinem armen Herrchen.« Er kichert. »Bin wirklich froh, dass meine menschliche Mitbewohnerin so wenig Wert auf Gesellschaft legt. Also, jedenfalls auf die von anderen Zweibeinern.«

Ich nicke. »Tja, was soll ich sagen – mir wäre es auch lieber, wir blieben von Beate verschont. Aber in der Weihnachtszeit führt leider kein Weg an ihr vorbei.« Ich seufze.

Spike mustert mich interessiert. »Was ist eigentlich dieses Weihnachten

Ich starre ihn an. »Du weißt nicht, was Weihnachten ist?«

»Nee, woher sollte ich?«

»Weil das einfach jeder weiß! Alle Menschen feiern doch Weihnachten, und jeder Kater oder jede Katze, die schon mehr als einen Sommer mit den Zweibeinern verbracht hat, muss einfach wissen, was Weihnachten ist.«

Spike legt den Kopf schief. »Ich lebe nun schon einige Jahre mit meinem Menschen zusammen und ich kenne Weihnachten nicht aus persönlicher Anschauung. Ich weiß nur, dass mein Frauchen Ramona immer wieder sagt, dass sie diesen ganzen Wahnsinn nicht mitmacht.«

Recht hat sie! Wahrscheinlich kennt sie Beate und hat Angst, dass die bei einem Weihnachtsfest vorbeikommen würde.

Karamell räuspert sich. »Okay, Spike. Dann will ich dir mal erklären, was Weihnachten ist. Ich habe auch ziemlich lange gebraucht, um herauszufinden, was es damit auf sich hat. Aber nun weiß ich es: Die Menschen feiern Weihnachten, weil es darum geht, in der dunklen Jahreszeit möglichst viele Kerzen in ihrer Wohnung und auch sonstwo anzuzünden. Deswegen gehen die Zweibeiner auch dazu über, Bäume in die Wohnung zu stellen und mit Kerzen auszustatten – gewissermaßen als riesiger Kerzenleuchter.«

Hä? Was ist das denn für ein Unsinn? Karamell hat wirklich überhaupt keine Ahnung! Aber das wundert mich nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob der braune, sehr struppige Kollege schon jemals mit Menschen zusammengelebt hat. Ich glaube, er hängt tatsächlich immer nur mit Katzen rum. Woher will er also wissen, was Weihnachten ist?

»Karamell, ich korrigiere dich nur ungern«, sage ich also (obwohl das eigentlich nicht stimmt, denn im Grunde genommen freut es mich, dass ich ihm eins auswischen kann), »aber was du da über Weihnachten erzählst, ist Quatsch. Überleg doch mal – wenn Weihnachten vorbei ist, ist es in Hamburg immer noch ziemlich dunkel, aber niemand hat mehr einen Baum mit Kerzen in der Wohnung stehen. Die Weihnachtsbäume liegen doch dann alle auf der Straße, bis die Müllabfuhr sie irgendwann abholt.«

Spike und Odette kichern leise in ihren Pelz.

Karamell funkelt mich böse an. »War ja klar! Du bist natürlich wieder Mister Superschlau! Wenn du alles besser weißt, mein lieber Winston, dann erklär du uns doch mal, was Weihnachten ist.«

Ich räuspere mich und richte mich zu voller Höhe auf. So macht das Werner auch immer, wenn er zu Hause einen neuen Vortrag für die Universität einübt, und es sieht ungeheuer wichtig aus.

»Beim Weihnachtsfest geht es den Menschen vor allem um das Essen. Weil Winter ist, wächst ja nichts mehr auf den Feldern und an den Bäumen, und die Menschen befürchten eine schwere Hungersnot. Deswegen haben sie Weihnachten erfunden. Da essen sie bei jeder Gelegenheit, so viel sie können, und futtern sich sozusagen eine Notreserve an. Weihnachten ist also ein Überlebenstraining für Menschen – es erinnert sie daran, immer genug zu essen.«

Spike, Karamell und Odette starren mich an. Dann beginnt Odette zu röcheln und zu schnaufen und wirft sich schließlich zur Seite. Hm. Ein Schwächeanfall? Verursacht durch die unglaubliche Brillanz meiner Erklärung? Soll bei Frauen ja häufiger mal vorkommen, dass sie vor Begeisterung in Ohnmacht fallen. Etwa, wenn sie auf einen Rockstar treffen. Oder einen berühmten Filmschauspieler. Oder eben, wenn ihnen jemand ganz toll erklärt, was an Weihnachten eigentlich gefeiert wird.

Odette ist also tatsächlich vor Begeisterung in Ohnmacht gefallen – ich, Winston Churchill, bin einfach ein Teufelskerl!

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Von Weltrettern, Thunfischsoße und schlechten Menschen.

So langsam könnte sich Odette aber mal von ihrer Begeisterungsohnmacht erholen. Sie liegt immer noch zwischen Spike und Karamell, ihr Röcheln ist zu einem Japsen geworden – und wenn ich genauer hinhöre, meine ich fast, ein Lachen zu hören. Sehr rätselhaft!

»Winston«, bringt Odette nun mühsam hervor, »wie kann es denn sein, dass du ständig ans Essen denkst?«

»Moment mal, was hat das denn jetzt mit mir zu tun? Ich habe lediglich erklärt, warum die Menschen Weihnachten feiern.«

Odette rappelt sich wieder auf und legt den Kopf schief. »Du glaubst das also wirklich mit dem Überlebenstraining?«

Ich nicke. »Natürlich. Genau darum geht es an Weihnachten – möglichst viel zu essen!«

Odette seufzt. »Winston, wie lange lebst du jetzt schon mit Menschen zusammen?«, will sie dann von mir wissen. Und zwar in einem Tonfall, den ich wirklich hasse. Es ist nämlich eindeutig ihr Frag-mich-doch-gleich-ich-weiß-es-sowieso-besser-Tonfall.

Langsam dämmert mir, dass Odette nicht vor Begeisterung in Ohnmacht gefallen, sondern vor Lachen zusammengebrochen ist. Mist, Mist, MIST!

»Falls du damit sagen willst, dass ich mich nicht gut genug mit den Zweibeinern und ihren Sitten und Gebräuchen auskenne: Das ist Quatsch. Ich lebe schon immer mit Werner zusammen. Also, fast. Ich meine, Werner hat mich bei meinem Züchter abgeholt, als ich noch ganz klein war, und seitdem lebe ich bei ihm. Ein paar Jährchen sind da schon zusammengekommen – glaub mir also, ich weiß, wovon ich rede.« Ganz im Gegensatz zu euch drei Streunern, füge ich in Gedanken hinzu. Ich lasse mir doch von drei Katzen, die ihren ganzen Tag ohne Menschen in einem zugigen Hinterhof verbringen, nicht erklären, wie Zweibeiner so ticken und was für Feste sie feiern! Ich, der edle Winston Churchill, Menschenkenner par excellence! Ich, der ich gewissermaßen schon auf einem sonnigen Wohnzimmersofa geboren wurde! Ich, der ich bei einem echten Professor für Physik wohne! Pah!

»Also, ich mache es kurz«, fährt Odette in ihrem doofen Besserwisser-Tonfall fort, »an Weihnachten feiern die Menschen die Geburt des Heilands.«

Hä? Eine Geburtstagsparty? Nee, nee, das ist doch Unsinn. Bei einer Geburtstagsparty gibt es eine Sahnetorte mit Marzipan und vielen Kerzen drauf. Und die Menschen singen Häppi Börsday und nicht Stille Nacht, heilige Nacht. Und wer, bitte schön, ist überhaupt der Heiland?

»Odette, wenn Weihnachten eine Geburtstagsfeier wäre, hätte ich das garantiert bemerkt«, erwidere ich bestimmt. »Damit kenne ich mich aus. Schließlich feiert Professor Hagedorn jedes Jahr seinen Geburtstag. Das ist völlig anders als an Weihnachten. Außerdem kenne ich gar niemanden namens Heiland. Und Werner bestimmt auch nicht. Uns hat schließlich noch nie jemand besucht, der so hieß. Warum also sollten wir seinen Geburtstag feiern?«

Karamell legt den Kopf schief. »Momentchen mal – ich glaube, ich habe schon mal von dem Typen gehört. Ist das nicht irgendwie so eine Art Superheld?«

»So ungefähr«, gibt ihm Odette recht, »der Heiland ist der Retter der Welt. Die Menschen glauben, dass er der Sohn Gottes ist. Und dass er an Weihnachten geboren wurde. Deswegen feiern sie Weihnachten.«

»Ach, den meinst du!«, platzt es jetzt aus Spike heraus. »Das ist doch dieser Kerl, den sie auch Jesus Christus nennen. Der hat Weihnachten Geburtstag?«

»Genau«, bestätigt Odette. »Das ist der wahre Grund für Weihnachten. Nicht das Licht, nicht das Essen, sondern die Geburt von Jesus Christus. Und das feiern alle Menschen.«

Ich muss leider zugeben, dass es bei mir gerade ein bisschen klingelt. Jesus. Von dem habe ich doch schon mal gehört. Werners Schwester Simone, die Pastorin, erzählt ab und zu von ihm. Scheint ein ganz guter Typ zu sein. Und irgendwie ihr Chef. Jedenfalls ist er für sie total wichtig.

»Nein, alle Menschen feiern das nicht«, widerspricht Spike Odette. »Ramona jedenfalls nicht. Und sie glaubt auch nicht an diese ganze Geschichte mit Jesus. Ehrlicherweise regt sie sich sogar ziemlich darüber auf. Neulich, da haben zwei Leute bei uns an der Tür geklingelt und wollten mit ihr über diesen Typen sprechen. Und über ein Buch namens Bibel, in dem das auch irgendwie alles drinsteht mit Gott und Jesus und so. Na, denen hat sie aber was erzählt! Dass das alles Humbug ist und es ihr völlig schnuppe ist, ob die Menschen zu Gott, Allah oder Buddha beten. Weil es die nämlich sowieso alle nicht gibt. Und dass die beiden nie, nie wieder bei ihr klingeln sollen. So war das.«

»Okay, okay, Spike – nicht alle Menschen glauben an Jesus«, beschwichtigt Odette ihn. »Aber die, die es tun – die feiern an Weihnachten seine Geburt. Und die singen dann auch Lieder und schenken sich Geschenke, weil sie sich so darüber freuen. Mit einer Hungersnot hat das rein gar nichts zu tun.« Nach einem kurzen Blick auf mich fügt sie hinzu: »Sorry, Winston, alter Wohnungskater. Du weißt wohl doch noch nicht alles über die Menschen.«

Spike und Karamell schütten sich aus vor Lachen, ich komme mir vor wie der letzte Depp. Sagte ich, dass ich intelligente Frauen liebe? Ich korrigiere mich: Intelligente Frauen sind die Pest.

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Beate und ihre Bagage sind glücklicherweise schon gefahren, Simone und ihre Familie mitsamt Werners Mutter haben sich auch gerade verabschiedet – in unsere schöne Wohnung ist endlich wieder Ruhe eingekehrt, als ich nach Hause komme.

Übellaunig schleiche ich in Richtung Wohnzimmer und beschließe, mich für den Rest des Tages nicht mehr vom Sofa zu rühren. Oder vielleicht für den Rest des Jahres nicht mehr? Oder gar nie mehr? Ob mir wohl jemand mein Fressen ins Wohnzimmer bringt, wenn ich das Sofa nicht mehr verlasse? Und wennschon, Fressen bedeutet mir sowieso nicht so viel. Also, fast nichts. Im Grunde genommen könnte ich tagelang ohne Nahrung auskommen. Ich habe keine Ahnung, warum Odette glaubt, ich würde immer nur ans Essen denken. Eine Gemeinheit ist das!

In Wirklichkeit bin ich meistens damit beschäftigt, mit meiner Freundin Kira irgendein mysteriöses Verbrechen aufzuklären. So haben wir zum Beispiel schon einer Tresorräuberbande das Handwerk gelegt. Und einen Kindesentführer dingfest gemacht. Und einmal haben Kira und ich … Oh! Was klappert denn da? Auf dem Weg zum Sofa komme ich an der halb geöffneten Küchentür vorbei und höre ein Geräusch, das verdächtig nach Tellern klingt, die abgeräumt werden.

Hm, ob da vielleicht noch etwas von dem leckeren Zeugs namens Vitello Irgendwas übrig ist, das eben noch auf dem Weihnachtsfeier-Büfett stand? Das hätte ich zu gern mal probiert, denn es roch schon ganz vorzüglich, als Werner mit seiner Einkaufstüte aus dem Feinkostladen kam. Leider war es die ganze Zeit in einem Schälchen verpackt, und dann hat Werner es sofort auf einem großen Teller angerichtet und auf den Esstisch gestellt. Da konnte ich natürlich nicht naschen, schließlich saß Werners Familie vollzählig um den Tisch. Aber vielleicht habe ich jetzt Glück und finde noch etwas davon in der Küche.

Ich trabe durch die Küchentür. Bestimmt gibt mir Werner etwas ab, wenn ich ihn ganz lieb angucke. Er ist da immer sehr großzügig – ganz im Gegensatz zu Babuschka oder Anna findet er auch nicht, dass sein Kater zu dick ist.

Aber die Beine, die vor der Spüle stehen, gehören nicht Werner – sondern Kira! Maunz, miau und juchhu! Meine Freundin ist endlich wieder da! Mit einem Satz bin ich auf der Arbeitsplatte neben ihr.

»Hoppla, Winston!«, begrüßt mich Kira. »Wo hast du denn gesteckt? Werners Nichten und Neffen haben dich schon vermisst! Als ich eben nach Hause kam, gab es gerade ein großes Geheul, weil sie so gern mit dir spielen wollten und dich nicht gefunden haben.«

Das glaube ich sofort! Insbesondere die kleinen Rotzgören von der blöden Beate sind die reinsten Katzenquäler und waren bestimmt enttäuscht, dass ihr Lieblingsopfer – nämlich ich! – so schnell geflüchtet ist. Ich reibe an Kiras Arm entlang und beginne zu schnurren.

Sie lacht. »Okay, Kumpel – was willst du?« Sie streichelt mir über den Kopf. »Nein, sag nichts. Ich kann nämlich fast schon wieder deine Gedanken lesen.« Kira nimmt einen der Teller, die sie schon neben die Spüle gestellt hatte, und hält ihn mir vor die Nase. »Ist es das, wonach du suchst?«

Ich schnuppere kurz. Fantastisch – Kira hat tatsächlich das Vitello-Dings erwischt! Ich mache einen kleinen Schritt nach vorn und beginne, den Teller abzuschlecken. Köstlich! Es schmeckt ein bisschen nach Fisch und zartem Fleisch, mit anderen Worten: so, als habe man es nur für mich gekocht!

Kira lacht. »Das schmeckt dir aber, mein Süßer! Kein Wunder! Vitello Tonnato ist Kalbfleisch mit Thunfischsoße, also genau dein Beuteschema. Da hast du echt Glück gehabt, dass die Gäste davon noch etwas übrig gelassen haben.«

Ich schnurre und schlecke den Teller blitzblank. Ob da irgendwo noch eine zweite Portion auf mich wartet? Neugierig luge ich über den Rand der Spüle. Aber leider: nichts! Von Schnurren gehe ich über zu Maunzen. Und zwar kläglich. Ich will mehr!

Kira zuckt bedauernd mit den Schultern. »Tut mir leid, Winston! Nichts mehr da!«

Ich hüpfe von der Arbeitsplatte und laufe in der Küche herum. Irgendwo muss hier doch noch etwas von dem köstlichen Büfett zu finden sein! Mit der Nase dicht über dem Boden schnuppere ich in jeder Ecke und jedem Winkel nach Essensresten.

Kira beobachtet mich amüsiert. »Winston, du siehst gerade aus wie ein Hund! Kann es sein, dass du ein ganz kleines bisschen verfressen bist?«

Sofort höre ich auf zu schnüffeln und setze mich auf meinen Po. Erst Odette, jetzt Kira! Was ist denn heute mit meinen beiden Lieblingsfrauen los?

Kira kniet sich vor mich hin und krault mich hinter den Ohren. Im Gegensatz zu Odette scheint sie zu wissen, dass sie mich gerade schwer beleidigt hat. »Mein Süßer, das war nicht böse gemeint. Aber in letzter Zeit mache ich mir schon Gedanken um dein Fressverhalten. Vor allem, weil ich gerade eine ganz schlimme Geschichte gehört habe, die ich dir unbedingt erzählen muss!«

Eine schlimme Geschichte, die mit Futter zu tun hat? Das kann nur bedeuten, dass eine Hungersnot bevorsteht! Ich hab’s doch gewusst! In Wirklichkeit hatte ich nämlich doch recht – Weihnachten ist dazu da, um sich ordentlich Speck anzufressen!

Kira nimmt mich auf den Arm und schaut mir sehr ernst in die Augen. »Winston, ich habe erfahren, dass bei uns im Viertel ein Katzenhasser giftige Köder auslegt. Sie sehen aus wie sehr leckere Leberwursthappen oder Ölsardinen. Aber die Katzen und auch Hunde, die sie gefressen haben, sind fast daran gestorben. Die Köder wurden nämlich mit Rattengift präpariert. Stell dir das mal vor! Frau Bönnigstedt vom Schulkiosk hat es mir erzählt – ihre arme Katze Musch war in der Tierklinik und hätte es um ein Haar nicht überlebt. Also sei bloß vorsichtig und warne auch deine Freunde! Fresst nichts, was ihr findet oder was euch von Unbekannten angeboten wird, und sei es noch so lecker! Das ist lebensgefährlich!«

Lebensgefährlich? Vergiftete Köder? Gleich hier in unserer Nachbarschaft? Grundgütiger Katzengott – das ist ja furchtbar! Für alle Katzen hier in der Hochallee sind das extrem schlechte Nachrichten. Selbst ich habe schon den ein oder anderen Leckerbissen auf der Straße gefunden. Nicht auszudenken, was da hätte passieren können! Aber es gibt einen ganz bestimmten Kater, den ich sofort warnen muss: Spike! Und zwar auf der Stelle!

»Also, mein Lieber, nichts Fremdes fressen, verstanden?«, sagt Kira noch einmal. Sie sieht wirklich besorgt aus. »Lieber mache ich dir jetzt noch schnell ein bisschen Geflügelleber, okay?«

Na gut, vielleicht kann die Warnung an Spike auch noch bis morgen warten. Heute Nacht liegt der bestimmt irgendwo faul rum und pennt. Aber morgen wird das meine erste Tat: Runter in den Hof und allen von den schrecklichen Neuigkeiten berichten!

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Obwohl ich nach Kiras vorzüglichem Geflügellebermahl den restlichen Abend ganz faul auf dem Sofa verbringe und mich von meiner Freundin und Werner abwechselnd kraulen lassen, schlafe ich heute Nacht sehr schlecht. Ich träume von Bergen voller vergifteter Ölsardinen. Untermalt werden die gruseligen Bilder von einem schaurigen Blockflötenkonzert. Unruhig wälze ich mich in meinem Körbchen hin und her, fantasiere, dass ich auch einen Köder gefressen habe und mich nun schlimme Bauchschmerzen plagen. Unglaublich, die Schmerzen sind täuschend echt. Nun beginnt mein Magen sogar, sich in Krämpfen zusammenzuziehen – ein Gefühl, als ob Tausende kleine Nadeln mich in den Bauch stechen würden, breitet sich aus. Ich schlage gequält die Augen auf und versuche, mich aus diesem Albtraum zu befreien. Trotzdem hören die Schmerzen nicht auf. Ich schüttle mich, horche dann in mich hinein: Tatsache. Das ist gar kein Traum. Ich habe wirklich entsetzliche Bauchschmerzen!

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Von Bettdecken und Wärmflaschen. Und Kindern, die im Garten wachsen.

Kira schläft nicht so gern im Dunkeln, deswegen lässt sie ihre Zimmertür immer einen Spalt offen stehen. Ich schleiche mich hindurch und kämpfe mich zu ihrem Bett vor – für einen Sprung hinauf bin ich zu schwach. In meinem Bauch brodelt es mittlerweile wie in einem Kochtopf mit Suppe, den man auf dem Herd vergessen hat.

Ich miaue kläglich und hoffe, dass Kira davon geweckt wird. Wenn hier jemand erkennt, dass ich von einem bösen Verbrecher vergiftet wurde, dann Kira. Schließlich weiß meine Freundin, dass in der Gegend ein Unhold unterwegs ist, der Samtpfoten nach dem Leben trachtet. Noch allerdings schläft Kira so tief und fest, dass sie nicht hört, wie ihr Kumpel Winston leidet. Ich miaue lauter – immer noch keine Reaktion. Oje, oh weh! Was mache ich nur? Ich brauche ganz dringend jemanden, der mein schmerzendes Bäuchlein massiert und dieser jemand soll Kira sein!

Vielleicht schaffe ich es doch hoch aufs Bett? Ich setzte mich auf und gucke nach oben. Hm. Unter normalen Umständen kein Problem, aber in meiner derzeitigen Verfassung … ausgeschlossen! Da kommt mir eine andere Idee, die mit einer Besonderheit der Zweibeiner zu tun hat. Sie haben nämlich kein Fell. Und einer der vielen Nachteile, die es mit sich bringt, wenn man kein Fell hat, ist: Man friert ohne Bettdecke. Und dann werden Menschen meist wach. Das weiß ich deshalb so genau, weil Werner es hasst, wenn ich mich gaaaanz ausnahmsweise mal zu ihm geselle, wenn er auf dem Sofa liegt und schläft. Falls ich dann nämlich zufälligerweise seine Kuscheldecke hochschiebe, um mich an die besonders gemütliche Stelle zu seinen Füßen zu platzieren, wacht er meist nach kurzer Zeit auf und schimpft mit mir. Weil er kalte Füße bekommen hat. Tja, so empfindlich sind Menschen. Überhaupt würden Menschen in vielerlei Hinsicht keine zwei Tage in freier Wildbahn überleben. Aber das ist ein anderes Thema.

Entscheidend ist jetzt meine Idee: Ich lange mit meiner Tatze und ausgefahrenen Krallen an den Zipfel der Bettdecke, der über den Rand des Bettes lugt, und ziehe ihn vorsichtig zu mir herunter. Erst langsam, dann immer schneller, rutscht die Decke an mir vorbei und liegt schließlich vollständig auf dem Boden. Geschafft! Nun heißt es abwarten.

Lange muss ich mich allerdings nicht gedulden, denn bevor ich noch bis zehn zählen kann (und glaubt mir, das kann ich!), höre ich Kira schon seufzen. Unruhig wälzt sie sich im Bett hin und her, um sich kurz darauf aufzusetzen und ihre Nachttischlampe anzuknipsen. Sie sieht sich kurz um, dann hat sie mich entdeckt.

»Winston, hast du mir etwa die Decke geklaut? Was soll das? Es ist Dezember, mir ist kalt!«

Selbst schuld! Warum trägst du auch kein Fell?, würde ich ihr am liebsten antworten. Aber weil ich nicht sprechen kann und mich meine vorhandenen Bauchschmerzen im Moment wesentlich mehr stören als Kiras fehlendes Fell, beschränke ich mich auf ein sehr klägliches Maunzen.

Sofort springt Kira aus dem Bett und kniet sich neben mich. »Oh, du Armer! Was ist denn los mit dir? Du klingst ja richtig jämmerlich!«

Mein Maunzen geht in ein Wimmern über, ich lasse mich auf die Seite fallen und rolle mich unter Schmerzen hin und her. Vorsichtig streicht mir Kira mit einer Hand über den Rücken, mit der anderen über mein Bäuchlein. Aua! Ich zucke zusammen und höre auf, herumzurollen. Ganz behutsam nimmt mich Kira nun auf den Arm, steht auf und legt mich in ihr Bett.

»Du gefällst mir gar nicht, Winston! Dein Bauch ist ganz hart! Was hast du denn bloß?«

Tja, wenn ich das wüsste! Ich kann nur hoffen, dass ich nicht von dem bösen Katzenhasser vergiftet worden bin und hier gerade meine letzte Katerstunde anbricht. Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, in letzter Zeit etwas gefressen zu haben, was auf der Straße herumlag – aber ausschließen will ich es auch nicht. Wenn es um leckeres Essen geht, bin ich leider ziemlich willenlos! Durchaus denkbar, dass ich im Vorbeistromern den ein oder anderen Leckerbissen aufgeschnappt habe.