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Steffen Mohr

Verhör ohne Auftrag

Kriminalerzählung

ISBN 978-3-95655-380-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1979 im Verlag Das Neue Berlin (Heft 197 der Blaulicht-Reihe).

 

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Verhör ohne Auftrag

Ein wirklich merkwürdige Erlebnis hatte ich im Nachtexpress, der, immer an der Ostseeküste entlang, quer durch Nordpolen fährt. Das war im Februar 1971.

„Genosse Hauptmann, bitte nicht mit diesem Zug fahren ...“, hatten mich meine polnischen Kollegen gewarnt.

„Warum?“

„Ist sehr langweilig ... Wald, nix als schwarzer Wald.“

„Und wie soll ich dann, bitte schön, nach Hause kommen?“

Der Studienaufenthalt hatte zehn Tage gedauert, und ich sehnte mich ein bisschen nach Elisabeth und dem Enkelchen, das damals gerade drei Monate alt war.

„Genosse Merks — du wirst durch die Luft fliegen!“ Sie zeigten mir ein rosarotes, bereits auf meinen Namen ausgeschriebenes Billett.

Mich gruselte. Nicht, dass ich Angst vorm Fliegen habe. Aber ich liebe nun mal die gute alte Eisenbahn. Und mit einiger Mühe gelang es mir, wie so oft, meinen Willen durchzusetzen.

Die Reise begann zweiundzwanzig Uhr vierzig in Gdynia. Sie wäre so ruhig verlaufen wie jede andere Nachtfahrt durch eine dunkle und, zugegeben, wirklich trostlose Waldlandschaft. Denn wenn man aus dem Fenster sah, erblickte man nichts weiter als hohe schwarze Wände. Ab und zu glitzerte Schnee auf einem Zweig.

Ich sagte, die Reise wäre ruhig verlaufen — wenn sich nicht eine Viertelstunde nach Abfahrt des Zuges noch ein Mann in unser Abteil gesetzt hätte. Es wunderte mich, dass er zu uns hereinkam, denn im Wagen standen einige Abteile völlig leer. Bei diesem blonden, mit einer schwarzen Lederjacke bekleideten jungen Mann handelte es sich, wie ich später noch zur Genüge erfahren sollte, um Rudolf Stern, zweiunddreißig Jahre alt, von Beruf Musiklehrer. Ein wenig steif setzte er sich mir gegenüber auf den Fensterplatz und vertiefte sich gleich in die Lektüre irgendwelcher Reiseprospekte.

Ich glaube, wir wunderten uns alle, dass er die Jacke bis obenhin zugeknöpft behielt. Im Wagen herrschte drückende Hitze.

Wir — das waren zusammen mit Stern fünf Personen, die es sich auf den braunen Polstern der ersten Klasse bequem gemacht hatten. Jeder war mit seinen Problemen beschäftigt. Das Ehepaar, das an der Tür saß, stritt halblaut miteinander. Ein dürrer, reichlich nervöser Alter schob und zerrte immerzu an seinem grauen, prall gefüllten Rucksack herum, der ihm nicht unter die Knie passen wollte. Ich versuchte zu schlafen. Aber der Wodka, mit dem mich die polnischen Genossen bis an den Bahnsteig verfolgt hatten, hielt mich wach. Studienreise hatte mein Aufenthalt in Warschau und Gdansk geheißen. Von der unumgänglichen Pflicht, aus lauter Freundschaft so viel guten polnischen Wodka trinken zu müssen, hatte im Protokoll natürlich nichts gestanden.

Stern schielte über die Prospekte zu mir herüber, und ich spürte, wie er nach der Gelegenheit suchte, ein Gespräch anzufangen. Die Hitze, der Wodka, das streitende Paar und der zapplige Alte — es war ein unangenehmes Abteil. Merks, sagte ich mir da, alter, sturer Merks. Du hättest den Rat der polnischen Genossen doch befolgen sollen.

„Habe ich dir nicht tausendmal gesagt, du sollst meine Kosmetik nicht zuunterst in den Koffer packen“, zischte die Frau auf dem Türplatz. „Was mache ich nun?“

„Gar nichts machst du. Siehst sowieso bunt genug aus.“

Das Männchen bückte sich und zurrte mit hastigen Bewegungen den grauen Rucksack auf. Er gab sich Mühe, niemanden in das geöffnete Gepäckstück hineinsehen zu lassen.

„Jessesmariajoseph! Hast du der Sypniewska den Wohnungsschlüssel gegeben?“

„… und ihr aufgetragen, wöchentlich zweimal die Topfblumen zu lüften und alle Zimmer zu gießen.“

„Zbygniew! Ich glaube, du machst dich über mich lustig!“

Der Zapplige kroch fast in seinen Rucksack hinein und schob ein längliches Paket unters Jackett.

„Wie sollte ich mich lustig machen ... Es ist traurig genug, mit dir in den Urlaub zu fahren.“

Plötzlich sprang Herr Zappelphilipp wie von einer Wespe gestochen auf. Er stolperte, die Hände kreuzweise übers Jackett gelegt, auf die Tür zu. Dabei stieß er der giftigen Dame ans Knie. Er entschuldigte sich und verbeugte sich vor beiden Eheleuten mehrmals. Nun entlud sich der Zorn der aufgebrachten Xanthippe voll und ganz über den Alten. Der sah zu, dass er auf den Gang hinaus und außer Hörweite kam.

„Zbygniew! Wir ziehen in ein anderes Abteil!“

„Mit dem vielen Gepäck?“

„Ja, denkst du vielleicht, ohne Gepäck? Los, los! Mach schon.“

„Schwarze Madonna“, seufzte der Mann und wuchtete die Koffer herunter. „Der Teufel hat die Weiber erschaffen ...“

So blieben wir nur noch zu dritt. Wenige Minuten, nachdem uns das Ehepaar den Rücken gekehrt hatte, kam der Alte wieder. Unter seiner Jacke beulte sich nichts mehr. Er lächelte mich und Stern unsicher an, setzte sich, auf einmal ruhig und friedlich geworden, schloss die Augen und begann augenblicklich tief zu schnarchen.

„Schreckliche Menschen gibt es, nicht wahr?“, sprach Stern mich an und erwartete offenbar meine Zustimmung.