Autor

Die Autorin
Gea Nicolaisen wurde in Bremerhaven geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend auf Sylt. Nach dem Studium in Kiel zog sie in die Nähe von Schleswig, wo sie seitdem mit ihrer Familie und einigen Pelzträgern auf Samtpfoten lebt. Sie schreibt mit Leidenschaft Krimis, Thriller und Abenteuer, die sie am liebsten zu ihrer eigenen Melange vermischt und mit Romantik garniert.

Das Buch
Gerade hat Lucie die schrecklichen Ereignisse des Frühjahrs vergessen und mit Freunden und Familie ihre Verlobung mit Ragnar gefeiert, da geschehen unheimliche Dinge. Lucie ist auf dem Heimweg, als plötzlich ein Wagen auf sie zu rast und einfach nicht bremst. In letzter Minute rettet sie sich in den Graben der Landstraße. War das ein Mordanschlag? Aber wer sollte sie umbringen wollen? Kurz darauf wird die Leiche eines Mannes am Flussufer angespült, ausgerechnet vor Ragnars Werft. Es scheint, der Tod kommt zurück an die Schlei, und bald schon schwebt Lucie erneut in Lebensgefahr.

Gea Nicolaisen

Mord am Schleiufer

Ein Schleswig-Krimi

Midnight

Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight.
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-038-2

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Für Fred in Liebe

Kapitel Eins

Die Bremsen kreischten nicht. Sie blieben stumm, erschreckend stumm. Dafür jaulte der Motor umso lauter. Plötzlich, aggressiv, ein Angriff aus heiterem Himmel – und heiter war dieser Freitagabend Ende August.

Es dämmerte bereits, als Lucie heimwärts radelte. Sie war in Fahrdorf gewesen, bei Neele Lorenzen, die dort ein kleines Geschäft betrieb, in dem man alles bekam, was das Einrichtungsherz höherschlagen ließ. Dadurch hatten sie sich Anfang des Sommers auch kennengelernt. Lucie hatte ins Schaufenster geguckt und war spontan in den Laden gegangen, wo ihr Neele gleich vier Müslischalen verkauft hatte. Seitdem war aus der Bekanntschaft und wegen Lucies Begeisterung für Neeles Krimskrams Freundschaft geworden.

An diesem Spätnachmittag hatten sie sich richtig festgequatscht, Lucie hatte schon vor Stunden fahren wollen, weil sie eigentlich von der arbeitsreichen Woche erledigt war, aber es hatte viel zu bekakeln gegeben. Nun radelte sie endlich heimwärts, einen grüngemusterten Teller mit Apfeldekor im Gepäckträger, den sie nicht wirklich brauchte. Ragnar würde lästern … der Teller zerscherbte vernehmlich, als Lucie mit ihrem Rad umkippte. In das Scheppern mischte sich der brummende Automotor. Aber kein Bremsgeräusch.

Lucie landete auf Händen und Knien, der Lenker bohrte sich schmerzhaft in ihren Bauch, egal. Sie rappelte sich auf, kroch im ersten Moment, hechtete irgendwie zur Seite, dann kam sie auf die Füße. Neben ihr war das Auto, unter dem Auto ihr Fahrrad. Der Motor jaulte. Lucie wankte auf die Wand eines Maisfeldes zu, die ihr gewöhnlich ein Stirnrunzeln entlockte. Sie debattierte oft mit Neele, ob es sich lohnte, eine Anti-Vermaisungskampagne zu starten.

Jetzt sah der Mais wunderschön aus, starke, dichte, grüne Halme, übermannshoch. Sie versperrten die Sicht und sie gewährten Schutz. Lucie sprang hinein, schnitt sich die Hände an den scharfen Blättern, spürte das kaum. Sie tauchte ein in den Maisdschungel und draußen, an der Straße, verklang der jaulende Motor. Lucie sah kaum mehr als einen Schemen, der mit Vollgas in der Dämmerung verschwand.

Der Fahrer hatte nicht angehalten. Er ließ das zerbeulte Rad am Straßenrand liegen. Und er ließ Lucie im Maisfeld zurück, wo sie stand, zitternd, schwer atmend. Geschockt.

Die Bremsen waren stumm geblieben.

***

Wie ein scheues Reh, das auf die Lichtung tritt, kam Lucie aus dem Maisdschungel. Langsam, nach allen Seiten sichernd. Wo war das Auto? Wenn es zurückkam … sie würde sich im Maisfeld verstecken. Die dicht bei dicht stehenden Halme boten Schutz, Lucie hatte es in einem alten Film gesehen – war der von Hitchcock? Ein Mann, der von einem kleinen Flugzeug verfolgt wurde, und er tauchte im Mais unter. Jetzt war Lucie vor dem Autofahrer geflüchtet, der ihr nach dem Leben trachtete.

Ein Mordanschlag? Widersinnig! Sie hatte keine Feinde! Überhaupt – der Blitz schlug nicht zweimal am selben Ort ein. Lucie verdrängte schleunigst die schrecklichen Erinnerungen ans Frühjahr, als sie beinahe von einem psychopathischen Bombenleger umgebracht worden wäre. Das war genug Entsetzen für ein ganzes Leben.

Immerhin etwas Gutes war daraus gewachsen, oder nein, nicht irgendwas. Ragnar Calliesen liebte sie, sie liebte Ragnar und darum wollten sie heiraten! Das hatte sie heute Neele erzählen müssen, ausführlich, obwohl sie die pikanten Details des Heiratsantrags dann doch für sich behalten hatte. Sie wärmten ihr Herz und ließen Hitze in ihr hochsteigen, wann immer sie daran dachte. Bloß jetzt nicht. Jetzt dachte sie, dass es widersinnig war, einem Mordanschlag zu erliegen, nachdem man am Vortag vom wundervollsten Mann auf der Welt gebeten worden war, das restliche Leben mit ihm zu verbringen. Das sollte länger als vierundzwanzig Stunden dauern!

Kein Mordversuch! Nichts als ein dummer – ganz schlimmer – Zwischenfall. Ein Unfall mit Fahrerflucht, bei dem es zum Glück keine Verletzten gegeben hatte. Lediglich der grüne Teller war ermordet worden. Das Rad schien ebenfalls hinüber zu sein. Lucie starrte auf das verbogene Gestell. Das taugte allenfalls noch zum Alteisen. Der Gepäckträger war abgefetzt. Langsam ging Lucie darauf zu, kniete nieder, um eine Scherbe des unverpackten Tellers in die Hand zu nehmen, der mit dem Gepäckträger zur Seite geschleudert worden war. Blut rann ihr über die Finger. Sie hatte sich doch verletzt, gleich mehrfach, wie ihr bewusst wurde. Einmal beim Sturz vom Rad und dann an den scharfkantigen, blöden Maisblättern.

Hatten die ihr das Leben gerettet? Wäre sie weniger geschickt gestürzt, wäre sie weniger schnell auf die Beine gekommen, wäre da kein Maisfeld gewesen, sondern die Wiese mit der phänomenalen Aussicht über die Schlei … die Bremsen hatten geschwiegen!

Von Borgwedel, Stexwig oder sogar aus Güby nahte ein Auto. Seine Scheinwerfer blendeten Lucie kurz, darum schnellte sie hoch. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Der Wagen kehrte zurück! Der Mörder wollte sein Werk vollenden. Nun war sie dran! Schluss, aus, Lucie sollte sterben! In heller Panik stob sie zurück ins Maisfeld, während das Auto herankam, langsamer wurde, als würde der Fahrer über das verbeulte Rad am Wegrand staunen, aber er hielt nicht an, sondern fuhr seelenruhig weiter nach Fahrdorf.

Sein Auto war silbrig, hell auf jeden Fall. Nicht der Attentäter. Dessen Wagen war dunkel gewesen, Lucie meinte, er wäre schwarz, aber beschworen hätte sie das nicht. Zu schnell war alles gegangen, weil die Bremsen nicht benutzt worden waren. Der Attentäter hatte einfach in einem großen Schlenker die Straße verlassen, war über den schmalen Grünstreifen auf den Radweg gerumpelt, hatte Lucies Teller zerstört und nicht nur den. Dann war er abgehauen. Fahrerflucht.

»Was nun?«, murmelte sie. Zu Fuß und mit schmerzenden Knien war der Weg nach Borgwedel noch weit. Auch wenn die Augustdämmerung in Schleswig-Holstein lange währte, würde es dunkel sein, bis sie bei Ragnar war, sicher in seiner gemütlichen Kate unten an der Schlei. Hätte sie bloß nicht ausgerechnet heute ihr Handy vergessen! Neele hatte noch darüber gelästert. Sollte sie zu ihr zurück nach Fahrdorf laufen? Das war wenigstens kürzer, darum machte sich Lucie notgedrungen auf den Weg. Allerdings kam sie nicht weit.

Erneut nahte ein Auto aus Richtung Güby und diesmal stoppte es neben ihr. Es war Ragnars alter Geländewagen, er saß am Steuer, beugte sich über den Beifahrersitz und stieß dessen Tür auf. »Lucie! Was ist los?«

Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen. Sie kletterte ins Auto, schniefend und unfähig, einen Satz zu formulieren, während Ragnar auf sie einredete. »Ist das dein Rad, oben beim Maisfeld? Bist du gestürzt? Warum rufst du mich nicht an? Du siehst ja fürchterlich aus!«

»Ich – ich habe mein Handy vergessen.«

»Okay, und was ist passiert?«, fragte er nüchtern und ein bisschen vorwurfsvoll, als würde ihn ihr Heulanfall nerven.

»Jemand wollte mich umbringen!« Ihre Stimme überschlug sich. Ragnar prallte zurück, schnaufte und bekam große Pupillen. »Das ist wahr! Er hat nicht gebremst! Er ist einfach auf mich losgerast. Auf offener Strecke, da war kein Hindernis. Er wollte mich überfahren!«

»Nun mach mal halblang …«

»Es ist wahr!«, konnte sie bloß wiederholen. »Er hat nicht gebremst! Er hat sogar Gas gegeben, glaube ich. Er hat mein Rad anvisiert, mich! Ich sollte sterben!«

»Unfug«, wehrte Ragnar ab.

»Du musst mir glauben!«

»Schatz.« Er legte seine Hand auf ihren Nacken und zog sie zu sich heran. »Du bist ja total von der Rolle.«

Schluchzend ließ sie sich von ihm trösten, bis das Schütteln aufhörte. Dann drängte sie: »Lass uns zum Rad zurückfahren. Du musst es dir anschauen. Du wirst sehen, ich spinne nicht.«

»Keiner sagt, dass du tünst. Ich glaube dir ja, dass du fast überfahren worden wärst«, versicherte Ragnar, und Minuten später, als sie am Unfallort angekommen waren: »Dein Rad sieht aus wie ein Metallklumpen.«

»Er ist drüber gefahren und abgehauen.«

»Was für ne Pfeife!« Ragnars Brauen stellten sich wie Igelstacheln auf, weil er wütend wurde. »Wenn ich den Kerl erwische! Den mach ich kalt!«

»Er hat nicht gebremst«, betonte Lucie eindringlich.

»Vermutlich hat er gepennt, ist von der Straße abgekommen und hat Fersengeld gegeben«, grollte Ragnar, während er sich umschaute, als würde er etwas suchen.

»Hätte er nicht wenigstens ein bisschen bremsen müssen?«, fragte sie verzagt.

»Hm!« Grunzend stieß Ragnar mit der Schuhspitze gegen ihr verbogenes Rad. »Da drüber zu fahren dürfte seinem Auto schlecht bekommen sein. Was war das für eins?«

»Ein großer Kombi, dunkel – ich glaube, schwarz. Das Nummernschild habe ich mir nicht gemerkt und auch den Fahrer habe ich nicht gesehen.«

»Es könnte also auch eine Frau am Steuer gesessen haben?«

»Frauen fahren nicht schlechter als Männer«, sagte Lucie stereotyp, weil sie sich öfters darüber kabbelten.

»Davon rede ich nicht«, knurrte Ragnar. Er ging in die Knie, um im Licht seiner Autoscheinwerfer die Reifenabdrücke besser begutachten zu können. Das Gras zwischen Straße und Radweg war plattgewalzt, die Spuren waren jedoch nicht sonderlich markant.

»Hm, hm«, machte er grübelnd. »Sieht echt nicht aus, als hätte er gebremst. Scheints hat er es nicht mal versucht. Bloß das Rad hat ihn aufgehalten, schau, er hat es über den Boden geschoben.«

Lucie umschlang wie fröstelnd ihren Oberkörper mit den Armen, als sie die verräterische Schleifspur betrachtete. Das Auto war gegen das Rad geknallt, hatte es in Schneepflugmanier beiseite gedrückt – vermutlich war der Wagen dadurch lange genug aufgehalten worden, dass sie ins Maisfeld flüchten konnte – und dann war er in einem leichten Schlenker weitergefahren. Der röhrende Motor, den Lucie noch im Ohr hatte, bestätigte diesen Tathergang. Ohne das Rad als Hindernis wäre sie nicht entkommen.

»Die Polizei kann vielleicht rauskriegen, was das für Reifen sind, zu welcher Automarke sie gehören.« Sie flüsterte beinahe, weil der Schrecken ihr die Stimme nahm.

Ragnar blickte hoch, ihr mit seinen meerblauen Augen tief in die Seele. »Willst du Bendixen verständigen?«

Der Kommissar hatte im Frühling die Bombenserie bearbeitet.

Lucie atmete durch, bevor sie resignierend den Kopf schüttelte. Auf Bendixen mit seiner forschen Art hatte sie keine Lust. Sie wollte überhaupt nicht mehr an die Vorfälle des Frühlings erinnert werden, wo sie jetzt gerade anfing, den Horror zu vergessen, soweit das möglich war, und sich auf eine Zukunft an Ragnars Seite zu freuen. Als würde er ihre Gedanken lesen, nickte er. »Geht mir genauso. Der stochert bloß rum und findet nichts.«

»Wir können das nicht auf sich beruhen lassen. Ich habe mich zwar nicht doll verletzt, aber mein Rad … und der Teller.« Unter neuen Schluchzern erzählte sie von dem Tellerchen, das sie bei Neele gekauft hatte.

»Sie hat bestimmt noch mehr«, vermutete Ragnar leicht irritiert, weil Lucie sich über derlei Marginalien aufregte. »Mach dir keinen Kopf darum. Hauptsache, dir geht es gut.«

Er schloss sie erneut in die Arme und wiegte sie tröstend. »Was für ein Mistkerl«, murmelte er in ihre Haare. »Wenn ich den erwische – Bendixen gelingt das garantiert nicht. Dunkle Kombis gibt es wie Sand am Meer. Ohne weitere Anhaltspunkte wird er keinen Erfolg haben.«

»Vielleicht sind Lackspuren an meinem Rad«, hoffte Lucie und begann es zu untersuchen, konnte in der Dämmerung jedoch nichts entdecken.

»Wir nehmen es mit. In der Werft habe ich besseres Licht«, entschied Ragnar, unvermittelt die Geduld verlierend. Er wuchtete das Rad in den Laderaum seines Autos, Lucie sammelte die Tellerscherben ein, dann fuhren sie nach Hause, nach Borgwedel, wo Ragnar eine kleine Werft betrieb. Das Dorf schmiegte sich am Fuß der Schwansener Hügelkette in eine Bucht an der Schlei. Die malerische Umgebung war längst von wohlhabenden Hamburgern entdeckt worden, die hier ihre Zweitwohnungen besaßen, bunte skandinavische Holzhäuser mit unverbaubarem Blick aufs Wasser und putzige Nurdachhäuser. Dazwischen standen vereinzelt wie Urgesteine Höfe, die teils noch landwirtschaftlich betrieben wurden, und alte Häuser mit Fassaden aus dem lokalen gelben Ziegelstein, der einst an der Schlei gebrannt worden war.

Auch Ragnars Werfthalle war aus diesen ockergelben Backsteinen aufgemauert worden, allerdings erhob sich darüber seit Langem schon ein etwas wackeliges, schwarzes Holzgeschoss. Das Wohnhaus daneben, eine kleine Kate, die sich an die große Halle wie ein Kind an seine Mutter schmiegte, obwohl sie viel älter war, hatte ein Reetdach und war von Lucie und Ragnar im Sommer weiß getüncht worden. Im Licht der Autoscheinwerfer wurde der Kontrast zwischen der frischen Farbe und der angegrauten Halle besonders deutlich.

Erst als sie auf dem Hof stoppten, fragte Lucie: »Wohin wolltest du eigentlich eben?«

»Unwichtig«, behauptete Ragnar und sprang aus dem Auto, um ihr Rad in die Werfthalle zu bringen. Seine kraftvollen Bewegungen zu sehen, tat Lucie gut. Den Arm, den er sich im Frühjahr verletzt hatte, schonte er kaum noch, obwohl die Ärzte meinten, er würde auf Dauer geschädigt bleiben. Ragnar wollte das nicht akzeptieren, weswegen er ihn täglich trainierte, und weil er als Bootsbauer einen ohnehin fordernden Beruf hatte, war sein Körper in Topform.

Gewöhnlich genoss Lucie es, ihn zu beobachten, sein gewelltes Haar in unbeschreiblichem Kastanienbraun, das gut geschnittene Gesicht mit den intensiv blauen Augen – Neele hatte Lucie unter dem Siegel der Verschwiegenheit gestanden, dass sie ihre Freundin für einen Glückspilz hielt, solch einen Traummann abgestaubt zu haben. Lucie hatte dazu lieber nichts gesagt, weil das beängstigende Erinnerungen an den Bombenleger auslöste, der von Neid auf Ragnar zerfressen gewesen war und ihm nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel gönnte. An diesen Irrsinn wollte Lucie nicht mehr denken, trotzdem überschattete er schon den ganzen Sommer. Wahrscheinlich glaubte sie auch bloß wegen dieses Wahnsinnigen, dass der Autofahrer vorhin absichtlich nicht gebremst hatte.

Sie gab sich einen Ruck. Bloß weil Neele Ragnar attraktiv fand, würde sie kaum versuchen, ihre Freundin aus dem Weg zu räumen. Sie besaß nicht mal einen dunklen Kombi. Ob am Rad Lackspuren hafteten?

Ragnar legte es unter eine Flutlichtlampe, als Erki auftauchte, gähnend, als hätte er schon geschlafen. Da er meistens mit seinen Hühnern zu Bett ging, war das nicht auszuschließen. Er wohnte in der Werfthalle, in deren hinterem Bereich eine Zwischendecke eingezogen war, sodass sich zwei kleine Wohnungen für die Mitarbeiter abteilen ließen. Die eine gehörte Erki, in der anderen hauste der neue Azubi. Thorben Hesse war über Nacht zu seinem Opa nach Maasholm gefahren, sonst wäre er wohl auch heruntergekommen. Er war ein semmelblonder, sehr aufgeweckter Junge von achtzehn Jahren.

Erk-Anders Wader war mit Mitte dreißig deutlich älter, trotzdem hatte er sich etwas Kindliches erhalten, da er einen Geburtsschaden davongetragen hatte. Er war stolz, überhaupt alleine leben zu können und noch dazu einen Arbeitsplatz zu haben, der ihn ernährte. Ragnar wurde nicht müde, ihm zu versichern, wie sehr er seine Fähigkeiten schätzte. Die Situation war für alle Beteiligten glücklich, denn Erkis Onkel, ein knurriger Flensburger, hatte kein Interesse an seinem einzigen Verwandten. Darum war Ragnar Erkis Familie, und inzwischen auch Lucie.

»Was ist los?«, wollte Erki wissen.

»Jemand hat Lucies Rad zu Klump gefahren und ist getürmt.«

»Du meinst, er hat es kaputt gemacht und ist weggelaufen? Das darf er doch gar nicht.«

»Du sagst es.« Ragnar, der bei Erkis Erscheinen nicht aufgeschaut hatte, verrenkte sich, um den Radrahmen von unten zu mustern.

»Was tust du da?«

»Ich suche nach Lackspuren, die der Kerl hinterlassen haben könnte.«

»War er lackiert? Was ist das für ein Mensch?« Erkis Mund blieb offen stehen.

»Lackspuren vom Auto«, erklärte Lucie, weil Ragnar nicht antwortete. Sie erzählte Erki, was sich zugetragen hatte. »Das nennt man Fahrerflucht«, schloss sie. »Dafür wird er bestraft, wenn wir ihn erwischen.«

»Wieso ihr? Sucht die Polizei ihn denn nicht?«

»Das geht die nichts an«, grumpfte Ragnar, ohne die Zähne auseinanderzunehmen. Er langte nach einer Stablampe, mit der er die hinteren Speichen des verbeulten Rades kontrollierte. »Nee, nichts.«

»Ich finde, die Polizei sollte Fahrerflüchtlinge bestrafen«, ließ sich Erki vernehmen. »Und ich glaube, das da ist Lack, der von dem Auto ist.« Er tippte auf eine Stelle am Lenker. Ragnar leuchtete darauf, so schnell, als würde er mit einem Messer zustoßen. Erki riss seine Hand aus dem Lichtstrahl. »Killst du den Fahrerflüchtling, wenn du ihn hast?«

»Vielleicht.« Ragnar tastete über die Stelle, dann richtete er sich auf. »Schwarzer Lack, würde ich sagen, Lucie, oder?«

Nach einem angestrengten Blick nickte sie. »Ja, schwarz. Ich hatte also recht.« Sie strich sich eine ihrer widerborstigen Locken aus der Stirn. »Wenn ich bloß wüsste, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer gesessen hat. Leider habe ich rein gar nichts gesehen außer dem dunklen Schatten. Und er hat nicht gebremst, da bin ich absolut sicher. Das war Absicht!«

»Schon gut«, wiegelte Ragnar ab.

»Absicht?«, echote Erki. »Wenn der das mit Absicht gemacht hat, dann wollte er Lucie doch umbringen, oder? Wollte er ihr Rad kaputt machen, damit sie ein neues kaufen muss? Er könnte ein Fahrradhändler sein.«

Seine Bemerkung vertrieb die bedrohliche Aura der Situation. Ragnar und Lucie vermieden es krampfhaft, sich in die Augen zu schauen, sonst hätten sie laut losgelacht. Erki merkte davon glücklicherweise nichts. Er schwadronierte weiter, bis Ragnar ihn energisch, aber freundlich zu Bett schickte. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«

»Ja.« Erkis milchig blaue Augen begannen zu leuchten. »Da wollt ihr feiern. Ich freu mich drauf.«

»Wir auch«, versicherte Lucie, obwohl es ihr schwerfiel, die ungetrübte Vorfreude des Nachmittags hervorzukramen.

Warum hatten die Bremsen geschwiegen?

***

Lucie hatte Probleme mit dem Einschlafen, während Ragnar längst friedlich leise schnaufend schlummerte. Die Geräusche klangen beruhigend, trotzdem geriet Lucie ins Grübeln. Sie wälzte sich von links nach rechts in dem gewaltigen Bauernbett, fand die dicke Daunendecke, die sie sonst liebte, unvermittelt belastend, strampelte sie von sich, begann zu frieren, weil sich der August in diesem Jahr eher von der kühlen Sorte zeigte und Ragnar darauf bestand, bei offenem Fenster zu nächtigen. Wie sollte das im Winter werden? Würden sie dann schon verheiratet sein? Einen Termin hatten sie bisher nicht festgelegt, dazu war alles noch viel zu frisch.

Lucie zwang ihre Gedanken weg von dem Unfall und hin zu dem beglückenden Moment am Vortag – nein, inzwischen war es vorgestern –, als Ragnar mit dem Antrag herausgeplatzt war. Sie hatten sich geliebt, auf diese wilde Art, die sie manchmal überkam, wenn sie eigentlich ganz andere Dinge tun sollten oder wollten – Lucie hatte spätabends noch am Schreibtisch gesessen und einen Brief an ihre Großeltern verfasst, als Ragnar hinter sie getreten war, anfangs ihren Nacken massierend, dann hatte sie sich umgedreht, war aufgestanden, ihm entgegen, seinen fantastischen Lippen entgegen. Niemand hatte einen wundervolleren Mund als er. Lucie fand kein Ende, diese Lippen mit ihren zu erkunden, immer wieder, als wäre es das erste Mal. Ragnar war es, der die Geduld verloren hatte. Als wäre sie eine Feder, hatte er sie angehoben und zum Bett getragen.

Später, irgendwann, hatte er sich schwer atmend auf den Rücken gedreht. Seine Worte kamen stoßweise. »Heiratest du mich?«

Lucie blieb die Luft weg. »Wie bitte?«, kiekste sie.

Er stützte sich auf einen Arm, um sie mit funkelnden Augen zu bewundern. »Heirate mich!«

Ihr »Ja« kam von alleine, sie hätte es nicht aufhalten können. Wollte sie auch gar nicht. »Ja!«, rief sie erneut.

Seine Wimpern flatterten auf einmal. »Sicher?«

»Und wie!«

Danach hatten sie lange nicht mehr gesprochen, der Dialog ihrer Körper war ihnen genug.

Am anderen Morgen hatten sie noch im Bett Pläne geschmiedet. Lucie wollte den Brief an ihre Großeltern umformulieren, Ragnar hatte gegrinst, bevor er generös meinte: »Tu das, bis der ankommt, wissen es alle anderen sowieso.«

»Warum?«

»Sonnabend feier ich meinen Geburtstag nach.« Diese Tradition pflegte Ragnar seit seiner Kindheit, weil er kurz vor Weihnachten geboren worden war, wo das Ereignis im Trubel der Adventszeit unterging. Außerdem feierte es sich im Sommer besser, daher war es am Sonnabend mal wieder soweit, obwohl Ragnar inzwischen den achtundzwanzig näher war als den siebenundzwanzig. »Wir können da die Bombe platzen lassen.«

Lucie schluckte ungewollt bei diesem Ausdruck, und Ragnar verbesserte sich schleunigst. »Alle überraschen. So schnell rechnen die garantiert nicht damit.«

»Kaum«, bemerkte sie trocken, weil sie noch damit rang, nicht an Explosionen zu denken.

Sie sprachen fast nie über die Vorfälle des Frühlings, weshalb Lucie nicht genau wusste, wie weit Ragnar damit war, alles zu verarbeiten. Er hatte seinen Vater verloren, ihn hatte es viel härter getroffen als sie. Trotzdem hatte er, als sie wegen des Fahrradunfalls zur Polizei wollte, nur darauf gepocht, dass Bendixen den Flüchtigen nicht finden würde. Als wollte Ragnar den Kommissar meiden.

Ging es ihm wirklich bloß darum? Eventuell sollten sie den Vorfall doch melden, nachdem sie schwarzen Lack von dem Auto am Lenker entdeckt hatten. Lucie wusste nicht, was richtig war, und darüber schlief sie schließlich doch ein.

Am anderen Morgen fühlte sie sich ausgeruht und tatendurstig. Die Sonne schien von einem prallblauen Himmel, der die Schlei zum Leuchten brachte. Der lange, fjordartige Meeresarm weitete sich bei Borgwedel, wo Ragnars Werft stand, zur sogenannten Großen Breite, ein passender Name, denn das gegenüberliegende Ufer war mit bloßem Auge nur als schmaler Streifen erkennbar. Der Blick über die glitzernde Wasserfläche vertrieb alle dunklen Wolken. Lucie, die im Morgenmantel nach draußen gelaufen war und auf den Steg vor der Werft, reckte die Arme in die Höhe.

»Herrlich!«

Ragnar war ihr gefolgt. »Perfektes Geburtstagswetter.«

»Alles Gute, Schatz.« Sie gab ihm einen Kuss, den sie schließlich bedauernd, aber energisch abbrechen musste, weil ihnen dieser Tag keine Zeit für Zweisamkeiten ließ. »Lass uns reingehen, ich habe ein Geschenk für dich.«

»Ich habe doch gar nicht wirklich Geburtstag«, wunderte er sich.

Sie lachte und lief vor ihm her über den Steg, an dem zwei Segelboote dümpelten, über den morgenfeuchten Rasen, vorbei an der ein wenig unförmig wirkenden Werfthalle aus Klinkerstein und Holz, hinauf zur kleinen Kate, über der sich die Krone eines Hausbaums, einer uralten Linde, wiegte. Das Reetdach war dunkel vom Alter, teils mit Moos überzogen, wo der Hausbaum zu viel Schatten warf. Rote Rosen rankten an Spalieren vor den weiß getünchten Wänden, Lucie hatte neben der Tür und unter den Fenstern Töpfe mit weißen Geranien aufgestellt, die auch eine Bank mit schmiedeeisernen Füßen einrahmten. Ein Liebesnest, wie es romantischer kaum sein konnte, befand sie zufrieden, als sie darauf zuging. Dann schwenkte sie nach rechts zur Werfthalle, in die seitlich eine windschiefe Tür eingelassen war. Man gelangte von dort durch einen düsteren, verwinkelten Gang zum einen in den großen Raum, wo die edlen Holzboote entstanden, denen sich Ragnar verschrieben hatte, zum anderen in einen an die Rückseite der Halle gebauten Holzschuppen, in dem Erki seine Hühner hielt, und durch ein Türchen dort ins Freie. Davor stand im Dunkel des Gangs ein gekalkter Schrank mit verzogenen Türen. Lucie stemmte sich dagegen, um sie zu öffnen.

»Voilà. Ich habe es nicht eingepackt.« In freudiger Erwartung wies sie auf das Segelbootmodell, das sie im Schrank versteckt hatte. Was würde Ragnar sagen? »Es war zu groß.«

»Wow!« Er holte es vorsichtig hervor. »Das ist ja meine ›Windsbraut‹. Woher … wer hat die gemacht?«

»Thorben hat mir den Tipp gegeben. Sein Opa kennt jemanden, der nach Fotos Schiffsmodelle bauen kann. Ich hatte ganz schön Angst, dass er nicht rechtzeitig fertig wird, aber es hat doch geklappt.« Sie strahlte. »Ich dachte, du stellst es ins Wohnzimmerfenster, da würde es sich toll machen und wir haben ein bisschen Sichtschutz.«

Ragnar lachte auf. »Du meinst, weil ich Gardinen verabscheue und das Fenster zum Hof rausgeht?«

»Und jeder Besucher gleich reingucken kann«, ergänzte sie, froh, dass das Dämmerlicht ihr Rotwerden kaschierte.

»Künftig nicht mehr.« Vorsichtig trug Ragnar das große Modell mit den beiden weißen Segeln zum Haus und hinein, wo er es aufs Wohnzimmerfensterbrett stellte, das Lucie rasch von allerlei Kram, der dort lag, frei räumte. Ragnar trat zurück. »Macht es den Raum nicht zu dunkel?«

»Mir gefällt es«, betonte sie, damit er ja nicht auf dumme Gedanken kam. Schon zweimal hatte sie gemeint, Thorben verstohlen durchs Fenster linsen zu sehen, wenn sie und Ragnar auf dem Sofa mit intimen Vergnügungen beschäftigt waren. Anders als bei Erki schossen bei Thorben die Hormone ins Kraut, wie seine oft picklige Haut bewies. Er war eben doch kein Junge mehr, auch wenn Ragnar ihn als solchen bezeichnete und behandelte. Manchmal nannte er ihn spaßeshalber ›kleiner Bruder‹. Tatsächlich hatte Ragnar keine Geschwister, anders als Lucie, die ihren großen Bruder zur Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Linus würde umkippen, wenn er von ihrer Verlobung erfuhr.

Er tauchte als Erster der Gäste auf, klar, sich an Normen zu halten war nie seine große Stärke gewesen. Lucie schleppte einen altertümlichen Gartenstuhl mit Holzsitz und Metallgestänge zu der betonierten Fläche vor dem Steg, wo sie die Gästetafel aufbauen wollten, als Linus’ schnieker Porsche auf den Hof brauste. Linus sprang heraus, schlaksig, mit einer markanten Nase gestraft, dafür jedoch topmodisch gekleidet wie immer – früher hatte Lucie darauf weniger geachtet, inzwischen fiel es ihr auf, weil Ragnar dazu neigte, in zerschlissenen Jeans, barfuß in Sandalen und mit einem alten Oberhemd rumzulaufen, weil er sich bei seiner Arbeit schmutzig machte.

Linus schob seine Sonnenbrille auf den Oberkopf und eilte auf sie zu. Lucie stellte den Stuhl ab, in der Erwartung, von ihrem Bruder umarmt zu werden. Stattdessen packte er den Stuhl. »Was tust du denn da? Hält der Kerl dich als Arbeitssklavin?«

»Hallo Linus. Schön, dass du da bist«, sagte Lucie pointiert.

»Hi, Schwesterchen. Wo soll dieses Sperrmüllmöbel hin?«

»An den Tisch, ans Kopfende, damit du einen guten Überblick hast. Den Stuhl dachte ich für dich.«

Linus setzte ihn ab, lachend. »Lucie mit der frechen Klappe. Mama und Paps wussten schon, wieso sie dich nach der Peanuts-Göre benannt haben.«

»Bei dir haben sie ins Klo gegriffen. Du bist kein Typ für Schmusedecken.«

Linus’ Lachen wurde eine Vierteloktave höher, bevor er Lucie doch noch in die Arme nahm und herumwirbelte. »Freu dich, dass ich schon da bin. Ich kann dir assistieren, wenn dein hochherrschaftlicher Werftbesitzer sich dazu zu fein ist.«

»Ist er nicht, tatsächlich helfe ich ihm«, stellte Lucie klar.

Linus überging ihren kriegerischen Unterton und schaute sich um. »Wo steckt er denn?«

»Irgendwo auf dem Gelände.« Sie wedelte mit der Hand, um die gesamte Werft zu umfassen, die sich hinter den Gebäuden noch den halben Hang hinauf erstreckte. Dort lagerte Ragnar Holzbohlen unter einem Blechdach, das von spillerigen Bäumchen geschützt wurde. Daneben sprudelte Süßwasser aus einer Quelle und plätscherte als verschlungener Bachlauf jenseits der Werfthalle zur Schlei hinab, wo er in einem Schilfdickicht verschwand. Lucie fand dieses Miniflüsschen romantisch, Ragnar schimpfte darüber, weil es bei Regen über die Ufer trat. »Ich glaube, er wollte zusammen mit Erki einen Getränketisch bauen.«

»Auf die Schnelle mal eben?«

Lucie bejahte. »Und du? Warum bist du schon da?«

»Die Straßen waren frei. Ich hatte keinen Schimmer, wie lange man heute von Berlin bis Schleswig fährt, darum bin ich rechtzeitig aufgebrochen.« Linus ließ seine Blicke noch immer umherschweifen. »Superwetter habt ihr, bloß etwas kühl.«

Ihr war klar, dass er ihren Empfang meinte. Dabei hatte sie sich total auf Linus gefreut, wegen der Verlobung und auf seine Reaktion – die sie nun plötzlich fürchtete, was sie zickig machte. Linus hatte noch nie ein gutes Haar an den Männern gelassen, mit denen sie zusammen war. Hoffentlich ließ er sich nicht zu einer Peinlichkeit hinreißen.

»Ich muss dir was sagen«, begann sie, obwohl sie mit Ragnar vereinbart hatte, die Neuigkeiten erst gemeinsam beim Essen zu verraten. Gestern hatte sie sich schon gegenüber Neele verplappert, jetzt sollte Linus besser vorab alles erfahren, dann hatte sie das Schlimmste hinter sich und konnte sich hoffentlich entspannen.

»Ja? Was musst du mir beichten?«, fragte er, weil sie nicht weiterredete.

»Also, Ragnar und ich, also wir … wir werden heiraten!« Herausfordernd hob sie das Kinn. Gerade in diesem Moment wäre sie gerne deutlich größer gewesen. Sie vermisste ihre High Heels, die leider auf Ragnars Werft nicht zu gebrauchen waren.

»Ups.« Linus gaffte sie an. »Du!«

»Ja, ich!« Sie hielt seinen Blick gefangen, damit ihr ja keine Gefühlsregung entging, während in Linus langsam sackte, womit sie ihn konfrontierte.

»Du!«, stieß er noch mal aus, dann legte er den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Lucie ballte die Fäuste. Ehe sie jedoch dazu kam, ihm gehörig die Leviten zu lesen, tauchte Ragnar auf. Stämmigen Schrittes strebte er auf sie zu, ohne von Linus bemerkt zu werden. Trotzdem hätte Lucie gewettet, dass ihr Bruder auch kein Blatt vor den Mund genommen hätte, wäre ihm Ragnars Nahen nicht entgangen. »Du wechselst deine Typen doch mit den Jahreszeiten!«

Lucies Blick eilte zu Ragnar. Sie entdeckte die Flammen in seinen Augen, die gefletschten Zähne. Sie wurde von ihm in den Arm genommen, sehr besitzergreifend. »Genau das werde ich künftig verhindern.«

»Musst du gar nicht. Mir war vor dir bloß nie der Richtige begegnet. Ich habe immer nach dir gesucht«, japste sie.

»Ausgiebig«, spottete Linus.

»Dann musst du ja nichts nachholen, Schatz«, schnappte Ragnar in seine Richtung.

»Das müssen wir beide nicht«, betonte sie, weil auch Ragnar etliche Beziehungen gehabt hatte.

»Umso besser«, sagte Linus, einen Tick entschuldigend, als hätte er begriffen, dass er zu weit gegangen war. Er rang sich ein Lächeln ab. »Dann darf ich euch gratulieren. Mama und Paps werden entzückt sein. Oder wissen sie es schon?«

»Nein, eigentlich wollten wir mit der Neuigkeit erst beim Essen rausrücken«, erwiderte Lucie.

»Ganz klassisch vorm Dessert?«, witzelte Linus, weil er sich nicht beherrschen konnte. »Na, das wird eine Gaudi, wenn ihr diese Bombe platzen lasst.«

»Red nicht von Bomben«, murrte Lucie und schmiegte sich enger an Ragnar.

»Stimmt, das ist ein unpassendes Wort in eurer Gegenwart«, sagte Linus friedlich. »Und nun dürft ihr über mich verfügen. Versprochen ist versprochen. Ich helfe euch beim Aufbauen. Das Wetter wird sich ja wohl halten?« Skeptisch schielte er zum Himmel, wo scheinbar papierdünne Wolkenschleier aufgezogen waren.

***

Als Thorben mit seinem Onkel, Karl Sieversen, kam, war Linus mit Ragnar in den Tiefen der Halle verschwunden, darum begrüßte Lucie die beiden Mitarbeiter; den jüngsten, Thorben, der erst vor wenigen Wochen neu als Azubi im ersten Lehrjahr begonnen hatte, und den langgedienten Spezialisten, dem Ragnar all sein Wissen und Können verdankte, weshalb er seine Werft sogar Karl zu Ehren Kalle-Werft getauft hatte. Passend fand Lucie den Namen angesichts der knorrigen Type nicht. Karl war kein Kalle, sondern ein meistens griesgrämig wirkender, extrem schweigsamer Mann im vorgerückten Alter. Trotzdem passte er gut in Ragnars Team aus Individualisten, die durch ihre Leidenschaft für den Holzbootebau verbunden wurden.

Kalle war es auch, der seinen Neffen Thorben für die Lehrstelle vorgeschlagen hatte. Während er sich nur stumm grüßend gegen die hohe, eckige Stirn tippte, blieb Thorben einen Moment bei Lucie stehen, weil er wissen wollte, wie Ragnar das Modellschiff gefiel.

»Dein Tipp war goldrichtig«, betonte Lucie freundlich, woraufhin Thorben, der stets nach Lob hechelte, als hätte er bisher zu wenig davon bekommen, stolz griente. Er würde ein gut aussehender junger Mann werden, sobald er seine Phase mit unreiner Haut überstanden hatte. Lucie mochte solch hellblondes Haar nicht sonderlich, aber ihr war schon aufgefallen, dass sich Mädchen nach Thorben umschauten. Beim Lachen erschienen in seinen Wangen zwei Grübchen, die ihm einen verschmitzten Ausdruck gaben. Groß und scheinbar von Tag zu Tag breitschultriger werdend verriet er weder optisch noch im Wesen, dass der drahtige Kalle der Bruder seiner Mutter war.

»Geht es deinem Opa wieder gut?«, erkundigte sich Lucie, weil ihr einfiel, dass Thorbens Großvater krank gewesen war.

»Mittelmäßig«, antwortete Thorben und kratzte sich am Ohr. »Ich werde dann mal gucken, wo ich helfen kann.«

»Die Bierkisten müssten zum Kaltstellen in den Senkkorb«, informierte ihn Lucie. Erki hatte einen Gitterkasten gefertigt, in dem sie das Bier in der Schlei kühlen konnten, indem sie es vom Steg aus halb im Wasser versenkten. Den Männern gefiel diese Idee. Thorben strebte von dannen, seiner wieder entspannten Miene nach in freudiger Erwartung lukullischer Hochgenüsse.

Langsam trudelten immer mehr Gäste ein, Kumpel von Ragnar, die Lucie bloß flüchtig kannte, daher war sie froh, als Neele in ihrem Mini auf den Hof fuhr. Endlich ein weibliches Wesen. Neele hatte ihre Haare extra für die Feier mit blonden Strähnchen gefärbt, was ihr ein freches Aussehen verlieh und die stets zu rosigen Wangen überspielte, denen kein Make-up gewachsen war. Sie war Anfang dreißig, eine rührige Person mit einem Faible für Romantik, das sie mit ihrem Landhauslädchen herrlich ausleben konnte, auch wenn Lucie argwöhnte, dass das Geschäft weniger gut lief, als Neele zugeben mochte.

Sie umarmte Lucie, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen, bevor Lucie der überschwänglichen Begrüßung ausweichen konnte. Neeles Griff war kräftig, sodass mindestens die Frisur litt, Lucies Kette verrutschte und sie das Oberteil ihres Hosenanzugs wieder richten musste. Manchmal verrenkte sie sich den Rücken bei der Begrüßung, weil Neele, die größer war als sie, sie wie in einen Schraubstock einzwängte und verbog. Aber sie meinte es lieb.

»Na, du Glückliche? Schwebst du noch auf rosa Wölkchen?«, fragte sie vielsagend. »Wo ist denn dein Göttergatte in spe?«

»Irgendwo in der Werfthalle.«

Neele verzog das Gesicht. »Uh, nee, dann warte ich mit dem Hallosagen.« Sie wies auf ihre weiße Hose. »Man muss das Schicksal nicht rausfordern. Eure Halle ist nicht grade … sauber.« Sie hüstelte.

Lucie nickte ergeben. »Du sagst es. Komm, wir decken den Tisch. Ich will das neue Service einweihen, das ich letzten Monat bei dir gekauft habe.«

»Supi. Und den neuen Teller von gestern.«

Lucies Füße schienen unvermittelt schwer wie Blei zu sein. Sie musste anhalten. »Der Teller ist kaputt.«

»Oh, wie schade.«

»Nicht nur das«, sagte Lucie hohl und erzählte Neele beim Tischdecken, was sich am Vorabend auf dem Heimweg zugetragen hatte. Neele war entsetzt.

»Fahrerflucht! Und du glaubst, der hat versucht, dich absichtlich zu überfahren?« Sie strich sich ihre blondierten Haare hinters Ohr. »Das kann ich mir echt nicht vorstellen. Wer macht so was? Und warum? Wenn das ein altes, schedderiges Auto gewesen wäre, hätte man ja noch sagen können, vielleicht blöde Jugendliche, die eine Mutprobe machen oder so was. Aber wo du sagst, es war ein großer Kombi … so was fahren doch eher Familienväter oder jedenfalls ältere Leute mit genug Kohle.«

»Hm, ja, deine Überlegung hat was«, pflichtete ihr Lucie bei. »Vielleicht saß auch eine Frau am Steuer.«

»Die dich beseitigen wollte, weil du ihr Ragnar ausgespannt hast?« Neele kicherte, Lucie fand das nicht lustig. »Soo toll ist dein Verlobter nun auch wieder nicht, dass Konkurrentinnen dich gleich kalt machen wollen, Süße, da muss ich dich enttäuschen. Klar, er gefällt mir, echt«, fügte sie eilig hinzu, »aber andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Deine zum Beispiel.«

»Redest du von Linus?«, stutzte Lucie. Bisher waren sich ihr Bruder und Neele noch nicht begegnet und auch jetzt hatte Neele lediglich von Weitem einen Blick auf ihn werfen können, weil Ragnar ihn mit Beschlag belegt hatte.

»Er sieht cool aus. Und der Porsche gehört ihm?« Neele verschlang das Auto mit den Augen.

»Linus ist cool, zweifellos«, bestätigte Lucie, die, anders als er selbst, davon überzeugt war. »Er hat auch genug Kohle, um dich zu zitieren. Mit seiner Softwarefirma verdient er nämlich richtig gut. Single ist er auch. Er mag Jazz und ist abends gerne aushäusig …«

»Aber? Wieso preist du ihn an wie Sauerbier?« Neele reckte den Kopf vor, um Lucie besser in die Augen plieren zu können. »Warum hast du ihn sonst bisher kaum erwähnt?«

»Weil er mein Bruder ist. Findest du Brüder interessant?«

»Ich habe keinen.«

»Sei froh. Große Brüder sind schrecklich peinlich«, versetzte Lucie, und auch das war – leider – die Wahrheit, weil er sie mit seinem coolen Getue zu gerne neckte. »Trotzdem kannst du ja dein Glück bei ihm versuchen.« Sie ging nicht davon aus, dass sich Linus für Neele erwärmen könnte. Dazu war sie ihm bestimmt zu ländlich, zu romantisch, obwohl sie als Geschäftsfrau knallhart sein konnte, wie sie gerne betonte. Wenn sie anschließend Lucie von der neuen Soundsokollektion des Soundosgeschirrs vorschwärmte, strafte sie ihre Behauptung Lügen.

»Werde ich machen«, kündigte Neele an, »sonst laufen hier ja bloß Waldschratts rum.« Sie meinte Ragnars Kumpel.

Nach und nach trudelten auch alte Schulfreunde von ihm ein, die oft ihre Partnerinnen mitbrachten, dazu die Freunde vom Segelclub und ausgewählte Mitarbeiter von Calliesen-Haus, der Firma, die Ragnars Vater gehört hatte. Sie war schon von seinem Großvater gegründet worden, ein Traditionsunternehmen, das zuletzt enorm gewachsen war. Daraufhin hatte Ragnars Vater ein Architekturbüro abgeteilt, das auch Fremdaufträge erledigte, und Lucie war als jüngste Architektin Anfang des Jahres dort eingestellt worden. So hatte es sie, die überzeugte Hamburgerin, in die Schleiregion verschlagen, und das Wunder war passiert, sie hatte sich in die schöne Gegend verguckt, sogar noch ehe sie sich in Ragnar verliebte. Daher war sie doppelt dankbar, dass nach dem Tod von Ragnars Vater dessen Bruder Roger die Firma übernahm. Ragnar war mit seiner Werft ausgelastet und hatte keine Ambitionen, eine Baufirma zu leiten.

Roger Calliesen war auch eingeladen und er kam. Lucie taxierte seinen schwarzen Mercedeskombi, den er sehr dicht neben Linus’ Porsche parkte, als hätte er Probleme, den richtigen Abstand zu halten. War das etwa der Wagen, der sie am Vorabend beinahe überfahren hatte?

›Roger? Wieso sollte der …?‹ Ihr rann ein Schauder übers Rückgrat. Dann straffte sie sich, um ihren neuen Chef zu begrüßen. Ihre Situation war diffizil, weil sie zwischen den Stühlen saß. Einerseits war sie bloß eine Angestellte von vielen, andererseits war sie mit dem Sohn des Exchefs und eigentlichen Eigentümer der Firma liiert – bald verheiratet. Außerdem konnte sie Roger noch weniger leiden als Ragnars Vater Rainer.

Das hatte ihr vorübergehend zu denken gegeben, schließlich hieß es, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Dass die Calliesens ihr alle unsympathisch waren, sprach nicht gerade für Ragnar. Sie hatte sich gesagt, er sei eben aus der Art geschlagen, bis sie seine Tante kennenlernte. Kathrin arbeitete als Psychiaterin in Berlin. Sie, ihr Mann, die drei erwachsenen Kinder und zwei Enkel waren total nett. Darum bedauerte Lucie es, dass keiner von ihnen Zeit für Ragnars Geburtstagsfeier hatte. Onkel Roger dagegen kam natürlich und spielte Mister Wichtig. Lucie fühlte sich bei ihm stets an ein Fabelwesen erinnert, eine Mischung aus Wiesel und Dachs. Das Einzige, was er optisch mit Ragnar gemeinsam hatte, waren die buschigen Brauen.

Roger versuchte, gravitätisch aufzutreten, aber seine Bewegungen wurden immer wieder fahrig. Die rot geäderte Nase verriet den notorischen Trinker, die unsteten Augen jemanden, der es nötig hatte, dauernd nach allen Seiten zu sichern, warum auch immer. Ragnar wollte nicht damit heraus, was mit seinem Onkel los war, im Büro wurde kolportiert, dass Roger bereits eine Firma zugrunde gerichtet hatte. Das war zwar Jahrzehnte her, soweit Lucie das herausfand, und Roger hatte bisher auch nichts getan, was ihren Argwohn gegen ihn festigte, trotzdem blieb sie misstrauisch.

Entsprechend kühl fiel ihre Begrüßung aus. Roger lächelte schmallippig. »Immer am Ball bleiben«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, ohne zu erklären, was er damit meinte, und steckte sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug ließ er in der Tasche seines Jacketts verschwinden, das sogar noch unpassender für diesen rustikalen Nachmittag war als Linus’ Outfit. Rogers Anzug musste ein Vermögen gekostet haben und würde an diesem Tag leiden. »Wo ist denn mein umtriebiger Neffe?«

»Ragnar ist in der Werfthalle«, wiederholte Lucie. Sobald sich Roger dorthin gewendet hatte, zischte sie Neele zu: »Lass uns ins Haus gehen, ich habe es satt, Ragnars Gäste zu empfangen. Das ist seine Aufgabe.«

»Da hast du recht«, stimmte ihr Neele zu. »Dein Chef sieht aus wie ein A… du weißt schon …«

»Bei mir verhält er sich korrekt.« Lucie zog den Mund schief. »Vermutlich will er Ragnar nicht verärgern.«

»Ist Ragnar denn mit ihm zufrieden?«

»Frag mich was Leichteres.« Verdrossen dachte Lucie an eine Szene vor wenigen Wochen, als sie und Ragnar abends noch segeln gewesen waren. Der Wind war eingeschlafen und als sie im Schneckentempo heimwärts schlichen, war das Gespräch irgendwie auf Roger gekommen. Lucie hatte erzählt, dass ihre Mitarbeiterin Petra Lohse von Roger einen Rüffel kassiert hatte.

»Zu Unrecht. Dein Onkel hat keinen Schimmer von Bauzeichnungen.«

»Hm.«

»Er hat sich aufgebläht und die arme Petra vor versammelter Mannschaft eingestampft. Das war echt unangenehm.«

»Hm.«

»Hast du keine Meinung dazu?«

»Roger hat das Calliesentemperament. Wir sind alle rachullerisch.«

»Allerdings, das Wort passt.« Es klang so unsympathisch, wie Lucie Roger fand. »Trotzdem sollte er sich beherrschen. Petra leistet tolle Arbeit. Sie hält unser Team zusammen.«

»Sie wird ja wohl keine Mimose sein«, murrte Ragnar.

»Damit hat das nichts zu tun. Roger hat sich echt danebenbenommen. Ich hätte mir das nicht bieten lassen, und das hat nichts damit zu tun, dass ich mit dir zusammen bin.«

Ragnar spähte mit engen Augen über die Große Breite. »Da hinten scheint ein Lüftchen das Wasser zu kräuseln.«

»Lenk nicht ab!«

»Roger ist halt ein alter Knochen. Na und?« Ärgerlich ruckte Ragnar an der Vorleine und befahl Lucie, die an der Pinne saß: »Rühr mal hin und her, vielleicht können wir die Jolle ein bisschen da rüber treiben, damit wir schneller wieder Wind einfangen. Ich will hier nicht versauern.«

»Dann solltest du ins Wasser springen und schieben«, schlug Lucie maliziös vor.

In dem Augenblick war eine Böe in die Segel gefahren, die sich wie weiße Wolken bauschten und flatterten und das Boot auf die Seite legten, gerade genug, um Lucie gegen die Pinne rutschen zu lassen. »Huii!«

Danach waren sie ausschließlich damit beschäftigt, die Jolle von Böe zu Böe heimwärts zu bugsieren, ein Erlebnis, das sie in seiner Intensität zusammenschweißte. Seitdem hatten sie über Roger nicht mehr gesprochen, um schlechte Stimmung zu vermeiden. Das Thema rührte zu nah an Ragnars Trauer um seinen Vater; vielleicht steckte auch mehr dahinter, Lucie wagte das nicht zu hinterfragen. Sie schlug einen Bogen um alles, was im Entferntesten an den Bombenterror und den Mord an Rainer Calliesen erinnerte.

Neele riss Lucie aus den Erinnerungen. »Gab es niemand anderen, der Calliesen-Haus weiterführen kann? Oder wie wäre es, die Firma zu verkaufen, wenn Ragnar sie nicht will?«

»Beides keine Optionen.« Lucie, die mit Neele zur Kate hochgegangen war, hielt ihrer Freundin die Küchentür auf. »Ragnars Stiefmutter hat keinen blassen Schimmer von Betriebswirtschaft und seine anderen Verwandten sind weit weg beziehungsweise haben ihr eigenes Leben.« Sie zog die Tür hinter Neele zu. »Also muss ich mit Onkel Roger klarkommen, irgendwie. Müssen meine Kollegen ja auch, Chefs sucht man sich nicht aus, weil sie lieb sind.«

»Solange er was kann«, meinte Neele. Ihrer auffordernden Mimik nach hoffte sie darauf, dass Lucie aus dem Nähkästchen plauderte, aber selbst wenn nicht aus dem Flur Stimmen nähergekommen wären, hätte Lucie ihr diesen Gefallen nicht getan. Sie mochte Klatsch nicht, im Gegensatz zu Neele, die mit Vorliebe ihre Kundinnen aushorchte, als wüssten die sonst was für Geheimnisse.

Die Tür zum Flur ging auf und Ragnar erschien mit einem alten Schulfreund und dessen hochschwangerer Frau. »Das ist die Küche«, sagte Ragnar.

»Wie man unschwer erkennt«, frotzelte der Freund, dessen Namen Lucie vergessen hatte.

Seine Frau wandte sich an Lucie. »Hallo, du bist Ragnars Freundin, nicht wahr? Ihr habt es echt hübsch. So eine Kate hätten wir auch gerne, ich jedenfalls. In dieser Umgebung kann ein Kind aufwachsen.« Sie tätschelte zufrieden ihren runden Bauch.

»Ragnar zeigt uns sein Haus«, erklärte ihr Mann, als wäre Lucie begriffsstutzig.

»Wir haben zusammen Abi gemacht«, sagte Ragnar und hob eine Braue, ein Zeichen, das bloß Lucie verstand.

»Das ist doch nett«, erwiderte sie im Plauderton. »Ich freu mich immer, wenn ich alte Freunde von Ragnar kennenlerne. Es ist gar nicht so einfach, hier Fuß zu fassen.«

»Ja, wir Landeier sind eine verschworene Gemeinschaft«, sagte die Ehefrau lachend, dann fiel ihr Blick auf Neele, die sich zum Herd zurückgezogen hatte. »Bist du nicht Neele Lorenzen? Du hast diesen fantastischen Laden in Fahrdorf eröffnet. Meine Cousine redet ununterbrochen davon. Ich muss auch unbedingt mal vorbeischauen.«