»Berlin ist das einzig Richtige«

Als Erich Kästner im Frühjahr 1927 bei der Neuen Leipziger Zeitung gekündigt wurde, packte er die Gelegenheit beim Schopf und ging nach Berlin. Sein Ziel war, sich als freier Journalist und Autor durchzusetzen. An Selbstbewusstsein mangelte es dem Achtundzwanzigjährigen nicht. Ein paar Verbindungen zu Berliner Zeitungsleuten hatte er schon, für die Neue Leipziger Zeitung durfte er trotz allem weiter als Theaterkorrespondent aus Berlin berichten und konnte sich damit zumindest die täglichen Brötchen verdienen. Der Rest war seiner Initiative, seinem Einfallsreichtum, seinem Fleiß überlassen – und auch daran mangelte es ihm nicht.

»In Berlin fragte niemand nach der Hautfarbe, nach dem Pass, nach dem Bankkonto, nach der Vorbildung, nach den Zensuren, nach der Familienchronik. Es hieß nur: ›Hic Berolina, hic salta!‹ Wem der Sprung gelang, der war qualifizierter Berliner. Von einem Tag zum andern. Und wenn er aus Somaliland stammte. Wem der Sprung misslang, dem war nicht zu helfen. Für Mitleid blieb wenig Zeit. […] Es war ein Leben auf dem hohen Seil, und es war ein Leben ohne Netz. Und wer sich das Genick nicht brach, fand dieses Leben hinreißend«, erinnerte Kästner sich dreißig Jahre später. »Berlin war damals die interessanteste Großstadt der Welt. Es war die Metropole und verdiente sich diesen Titel jeden Tag und auch jede Nacht von neuem. Theater und Kunst, Musik und Literatur, Mode und Schönheit, Lust und Laster, alles drängte sich, wie unterm Brennglas, zusammen.«

Kästner erreichte, was er sich vorgenommen hatte. Seine in rascher Folge erscheinenden Gedichtbände (Herz auf Taille, Lärm im Spiegel, Ein Mann gibt Auskunft), Emil und die Detektive (1929) und sein Roman Fabian (1931) waren geradezu sensationelle Erfolge und machten den relativ unbekannten Jungautor aus Sachsen in den wenigen Jahren von 1927 bis1931 mehr als nur ein »bisschen« berühmt.

 

Er schrieb ununterbrochen – angesichts der ungezählten Veröffentlichungen möchte man meinen: Tag und Nacht. Er selber nannte es die »geliebte Tretmühle«. Es entstanden lange Reportagen (Zeilenhonorar war vor allem anfangs überlebenswichtig!), in denen er den Lesern in der Provinz das hektische und oft seltsame Großstadtdasein schilderte, Texte wie Vergnügen en gros, Kabarett der Namenlosen, Des Volkes wahrer Himmel, Achtung! Aufnahme!, die hier erstmals wieder abgedruckt sind. Daneben verfasste er zahlreiche Glossen und eine Flut von Theaterkritiken, in denen man immer – egal, ob er eine Aufführung lobt oder vernichtend verreißt – Kästners genuine Theaterleidenschaft spürt. »Ich liebe«, schreibt er einmal, »den Beruf des kritischen Theaterbesuchers wirklich auf beinahe schändliche Weise! Man hat – genauso gut wie ein Börsenbeobachter oder ein politisch Beauftragter – die Hand am Pulse der Zeit …«

Als ob das nicht ebenso zuträfe auf den Lyriker, Kinderbuchautor und erst recht auf den Verfasser des Fabian! Kästner war einfach der geborene Beobachter, genau und völlig illusionslos. Dabei unterschied er ganz klar zwischen den Genres: Die Texte fürs Feuilleton mussten – so wollten es die Redaktionen, so erwarteten es die Leser – vor allem unterhaltend sein. Auch wenn er schon da kein Blatt vor den Mund nahm (»Die Berliner Theaterdirektoren sind der Ansicht, dass die Nichtberliner Idioten sind. Das ist natürlich ein Irrtum. Aber in Berlin wird das nicht geglaubt«). In den Gedichten und im Fabian, erst recht in dessen Urfassung Der Gang vor die Hunde, konnte Kästner wesentlich deutlicher werden, Traurigkeit und leise Empörung zeigen (Der Streichholzjunge), moralisch Anrüchiges satirisch überzeichnen (Ein Institut für geistige Annäherung, Saustall und Irrenhaus), politische Kritik in krasse Ironie packen. In den Kinderbüchern sparte er vieles aus, beschönigte aber nicht und versuchte – z.B. in den Nachdenkereien in Pünktchen und Anton –, auch problematische Themen in kindgerechter Form anzusprechen.

Die zunehmende politische Instabilität der Weimarer Republik, die sozialen Spannungen und die infolge der Weltwirtschaftskrise dramatisch steigende Arbeitslosigkeit fanden ihren Widerhall auch in Kästners Texten. Viele Leser fragten vergeblich: »Herr Kästner, wo bleibt das Positive?« Worauf er entgegnete: »Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln. / Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.« Die politische Rechte fragte nicht. Sie reagierte auf Gedichte wie Ganz rechts zu singen und Marschliedchen und erst recht auf den Fabian mit offener Feindseligkeit. Mit der bekannten Konsequenz, dass die von Goebbels aufgehetzten Studenten Kästners Bücher 1933 verbrannten und er zum verbotenen Autor wurde.

»Nun folgten«, heißt es bei Kästner rückblickend, »zwölf der schlimmsten Jahre, auch für mich selber. Ich blieb in Berlin, doch die Stadt und ich blieben nicht, was wir gewesen waren. Ich ging als ›lebender Leichnam‹ durch die Straßen, ein verbotener, ein ausradierter Schriftsteller, beschimpft, bespitzelt […]. Alte Freunde gingen, wenn sie meiner ansichtig wurden, auf die andre Straßenseite oder banden sich im erstbesten Haustor die Schnürsenkel. […] Im März 1945 schmuggelte man mich, mit falschen Papieren, aus der Stadt heraus, in der ich achtzehn Jahre gelebt hatte. Damit war das Kapitel Berlin für mich abgeschlossen.«

Ganz abgeschlossen war es nicht. In den ersten Nachkriegsjahren besuchte Kästner noch einige Male die viergeteilte Stadt und notierte seine Beobachtungen. Einige dieser Texte sind hier erstmals wieder abgedruckt (Mein Tisch, Kartoffelernte im Tiergarten u.a.). Die späteren Berlin-Aufenthalte, vor allem in den 1960er Jahren, haben in seinem Werk keinen Niederschlag gefunden.

»Diese Stadt«, erklärte Kästner in Mein Wiedersehen mit Berlin, »ist zwar nicht meine Heimat, doch ich habe die schönsten und die schlimmsten Jahre darin verbracht.« Beide Phasen spiegeln sich in der vorliegenden Auswahl. Wobei die Texte aus der kürzeren, der »schönsten Zeit«, den ausklingenden Golden Twenties, zum Glück des Lesers überwiegen.

 

München, Juni 2015    Sylvia List

Vergnügen en gros

Wenn der Berliner nicht weiß, was er anfangen soll – dergleichen kommt vor –, dann geht er gern in den Lunapark. Der eine geht aus Überzeugung hin; der »Jebildete« nur zum Spaß. Der Lunapark hat für jeden etwas in der Tüte. Hier darf er sich amüsieren. Er muss nur stehen bleiben, die Augen und Ohren offen halten und – schon tritt der Spaß den Menschen an. Gegen 1 Mark Entree.

Zunächst gerät man in eine nächtliche Hölle von Lärm und Licht. Man versinkt in Radau und Menschen, wird anonym und sogar ein bisschen leichtfertig. Als trüge man eine Karnevalsmaske, die von allen Sorgen und aller Wichtigkeit freispricht. Und wenig später steht man bereits auf Zehenspitzen, um zu sehen, was los ist. – Es ist vielerlei los. Dort drüben beispielsweise, in einer ordinären Bude, die aussieht, als wolle man Lebkuchen oder Aale drin verkaufen – dort drüben sitzen vier junge Mädchen auf hohem Podest und strecken die Beine in die Luft! Und vor der Bude – von dem Anblick keineswegs irritiert – stehen junge Herren, die Hüte im Genick, schwingen Ringe aus Rohr in den Händen und werfen nach den Mädchenbeinen. Wer da Ruhe und Talent genug hat, die Ringe so zu schleudern, dass sie um die Waden der niedlichen Wurfobjekte zu liegen kommen, der hat gewonnen und erhält einen Stoffhund. Einen prachtvollen Stoffhund, der das Maul aufreißt und zu bellen vorgibt. Was aber macht ein junger Mann mit einem Stoffhund? Er schenkt ihn am besten einem der einsam herumirrenden Mädchen. Und so gibt ein Wort das andere …

Neun Uhr vierzig Minuten beginnt das Feuerwerk. Rutschbahnen und Hippodrom, Schießbuden und Lachkabinetts sterben aus, und zu Tausenden drängt man sich auf dem freien Platze. Der Pyrotechniker des Lunaparks ist ein geschickter Mann. Er hat Raketen erfunden, die herrlich bunt durch die Luft zischen, auf halbem Wege – als hätten sie sich anders besonnen – wieder umkehren, an ihren Ausgangsort zurücksausen, wieder umkehren – es ist beängstigend komisch. Militärkapellen a.D. liefern zündende Blechmusik. Kleine Kinder rufen weinend nach der Mama und nach dem Luftballon, und niemand weiß, wo die beiden stecken.

Kaum ist das Feuerwerk erloschen, so springt irgendwo eine riesenhafte Fontäne empor. Ständig wechselt sie ihre Gestalt, nimmt die bizarrsten Formen an, und Scheinwerfer mischen alle Farben in den Glanz der Wassergarben. Unter den wässrigen Kuppeln und Bogen steht mit einem Male ein halbes Dutzend junger Mädchen in rosa Trikots, schwingen die Arme, werden nass und nässer und mensendiecken zur allgemeinen Erbauung. Vom Rasen her dringt laut und klangvoll das Lied einer Konzertsängerin, durch einen riesenhaften Radio-Lautsprecher vermittelt. Sentimentalität und Erotik schlagen Wellen. – Doch blitzartig endet der Zauber. Die Fontäne erlischt, die Wassernixen verschwinden. Und während sie wahrscheinlich eben in die Bademäntel schlüpfen, schießen die Scheinwerfer, grellweiß, hoch in die Luft: Ein Seiltänzer spaziert auf dünnem Draht hoch über der Menschenmenge, springt Pirouetten, schlägt Saltos, fährt Rad, steht Kopf! Das Publikum starrt offenen Mundes himmelwärts. Plötzlich turnen zwei Männer über den Draht, dann drei! Bis das Licht vergeht und die Dunkelheit doppelt schwarz hereinbricht und Applaus die Nacht erfüllt. Oder die Direktion hat einen Boxring aufbauen lassen: Kürzlich kämpfte hier Kurt Prenzel seinen letzten Kampf. Man saß in den Kaffee- und Biergärten, trank, rauchte und durfte zusehen, wie Prenzel seinen Kopf so lange ungedeckt hinhielt, bis ihm der Gegner die Nase – zum wievielten Male doch gleich? – restlos kaputt schlug.

Oder der Abend ist irgendeinem Bierulk gewidmet. Dann wird zuweilen auch geboxt. Aber zwischen noch ungleicheren Gegnern. Jüngst trat Fräulein Hubermeier – eine ältere, sehnige Person – gegen einen jungen Mann an, der drei Zentner wog. Der Ringrichter lag dauernd bis neun am Boden. Der dicke Jüngling beschränkte sich aufs Clinchen und gab schließlich seine Verlobung mit Fräulein Hubermeier durchs Megafon bekannt. Er hatte verloren. »So ein Frost!!«, meinten die Berliner und pfiffen, was das Zeug hielt. Ein Clown, der von hohen Leitern und Tischen fiel, dass die Bühne krachte, sagte ihnen besser zu. Am stärksten interessierten sie sich aber für das Preistanzen. Die Amateure Großberlins erschienen vollzählig, um 1000 Mark zu erobern. Und es wirkte tragikomisch, als sie ihre komplizierten Black-Bottom-Figuren dem Sternhimmel darboten.

Das Neuartigste, was der Lunapark den Gästen erschloss, ist ein riesiges Wellenbad. Bis 1 Uhr nachts wird hier geschwommen! Unablässig stampfen die Maschinen und jagen Welle auf Welle ins Bassin. Meterhoch gehen die Wogen, und ihre Kämme machen Durst; denn sie erinnern an Bierschaum. Das Wellenrauschen wird vom Gezeter der badenden Fräuleins übertönt. Sie werfen große bunte Bälle und werden böse, wenn Herren, die Freunde des Anschlussgedankens sind, das Spielzeug kassieren und damit schelmisch tun. – Viele der Badegäste liegen lang im Wasser und warten auf die nächste Welle, die sie dicht bis unter die Augen der Restaurationsbesucher spült. An den Balustraden sitzen nämlich die Zaungäste, trinken Bier und amüsieren sich auf ihre Weise. – Plötzlich verebben die Wellen. Das Meer liegt glatt, und die besten Berliner Turmspringer treten in Tätigkeit. Aus zehn Meter Höhe stürzen sie sich elegant ins Wasser; mit zwei Saltos, mit drei Saltos, mit vier – nein, mit vieren nicht. Aber das werden sie nächstens auch noch lernen … Und dann schlagen die Wellen wieder, und das große Hallo geht weiter.

Am Dorfe der Derwische vorbei – Trommeln in der Nacht ertönen – kommt man zu den Hausbooten. Dies sind Pfahlbauten-Restaurants mit Tanzbetrieb. Stewards servieren, Matrosen schwanken vorbei, und Balletts tanzen die üblichen Dinge: Amerikanisches, Orientalisches, Afrikanisches, je nach dem Umfang und der Länge der »Kostüme«. Das Haus schwankt hin und her und täuscht auch dem noch Nüchternen vor, er sei betrunken. Später treten Mannequins auf, zeigen Strandanzüge, Pyjamas und Unterwäsche. Ein junger, blasierter Herr steht dabei und ruft: »Ein Crêpe de chine-Hemdhöschen! Schwere Qualität! Sofort greifbar! 21 Mark per netto Kasse! Mit Inhalt!« Die Berliner Ehemänner schmunzeln, und die Frauen kneifen sie dafür ärgerlich in den Arm. – Und noch später gibts Nacktplastiken, Preistanzen und Schönheitskonkurrenzen. In den Hausbooten, droben in der Weinterrasse »Montmartre« und eingangs im Tanzpalais. Überall dasselbe. Eintritt frei. Garderobe 1 Mark.

Auch für die Kinder ist im Lunapark gesorgt. Glücksräder, Schießbuden, Schnellmaler, Tierzirkus, Bootrutschbahn, Milchhallen, Obstweinschänken (»Wein billiger als Bier!«), Topfwerfen, Kaffeezelte (die Tasse 25 Pfennige) – kurz, der Jahrmarkt nimmt kein Ende!

Und wenn die Leute nach Hause gehen, tragen sie zärtlich ihre Gewinne im Arm: Teddybären, ganze Sätze von Aluminiumgeschirr, brüllende Löwen aus Tinneff und groß wie Angorakatzen. – Alles hastet durch die Portale und erstürmt »den großen Bruder«, den Autobus. Durch die Nebenausgänge entweichen die Angestellten, die an den Stechuhren vorbeimüssen: Conférenciers, Ausschreier, Kellner, Tierbändiger, Derwische, Tänzerinnen, Mannequins, Bardamen, Zigarettenboys, Schwimmerinnen, Seiltänzer, Köche, Garderobefrauen – alle also, denen das Vergnügen der Berliner Arbeit macht.

Schwüles Berlin

Die Friedrichstraße ist ein seltsames Gewächs. Sie verwandelt sich fortwährend und bleibt doch, was sie ist. Während der Inflation gab es hier kaum einen Eckladen, in dem nicht das damals favorisierte »Pferdchenspiel«, bis spät in die Nacht, ausgeübt wurde. Man ging hinein, setzte, verlor – und verlor auch, wenn man gewann. Denn der Wert des Geldes sank schneller, als sich das Roulette drehte. Später verschwanden dann diese Hasardläden mit einem Schlag, und in die leeren Räume zogen andere »Kunden« und andere Kunden ein. Und eines Tages verschwanden diese auch, um von wieder anderen Gelegenheitsmachern abgelöst zu werden. Die letzten Neuheiten auf dem Gebiete der Friedrichstraße seien kurz erwähnt: Erstens einmal gibt es zahlreiche Läden, in denen banderolierte Zigaretten »weit unter Preis« verkauft werden. Zehnpfennig-Zigaretten kosten hier acht Pfennige, und eine Fünfundzwanzigstückpackung guter Sechspfennig-Zigaretten kriegt man für eine Mark. Wie das möglich ist, wird von den »Geschäftsinhabern« nicht verraten. – Zweitens blüht momentan der Verkauf gebrauchter Schreibmaschinen. Solche Schaufenster sehen unheimlich aus! Man sieht Modelle, die unklar bleiben lassen, ob ihr Erfinder ein Kinderfahrrad, eine Höllenmaschine oder das Perpetuum mobile bauen wollte, bevor, aus plumpem Zufall, eine Schreibmaschine daraus wurde. Doch dafür sind diese drolligen Fleischhackmaschinen auch bewundernswert billig! Und die junge Dichtergeneration deckt sich ein. – Die dritte dieser Novitäten sind – Antiquitäten: In mindestens einem Dutzend von Läden finden täglich von früh 8 Uhr bis zum abendlichen Ladenschluss »Kunstauktionen« statt. So etwas von bezauberndem Ramsch wurde vorher noch nie gesehen! Möbelwagenweise werden hier Bilder, »mit echten Ölfarben handgefertigt«, abgeladen und versteigert. Gewöhnlich warten der Auktionator und etliche Komplizen auf Opfer. Sobald irgendein harmloser Passant das Lokal betritt, ist er geliefert. Der eine Komplize bietet, zum Auftakt, zwanzig Mark; der zweite bietet fünfundzwanzig; das Opfer murmelt »Achtundzwanzig« und kann Gift drauf nehmen, dass niemand höher geht. Der Harmlose kriegt den Schmarren eingewickelt und darf zahlen. Prachtvolle Bilder kann er hier erobern: Röhrende Hirsche in einer Lichtung, Südbelgische Netzflickerinnen beim zweiten Frühstück, Nelken und Tilsiter Käse auf blauem Grunde. – Der Auktionator stellt einen der Schinken auf die Staffelei. Der Komplize tritt genießerisch näher und prüft die Hirsche oder den Käse sachkundig durchs Vergrößerungsglas. Dann wiegt er das Haupt und bietet 25 Mark … »So viel ist ja der Rahmen wert!«, ruft der Hammerschwinger entsetzt. »25 Mark zum Ersten! Es handelt sich hier um ein Originalgemälde! Handgemalt! Treten Sie ruhig näher!« Der zweite Komplize sagt in einem Tonfall, als gedächte er noch viel höher zu gehen: »28 Mark.« – »28 Mark zum Ersten! – 28 zum Ersten … zum Zweiten …« – »30 Mark«, beeilt sich ein Opfer. »30 zum Ersten, zum Zweiten, zum –!« Bums, kracht der Hammer. Und dem braven Manne tritt Schweiß auf die Stirn. Er zieht die Brieftasche. – Auch allerliebste Bronzen kann man hier erstehen: muskulöse Löwen, die auf Zebras kauern und das Maul aufreißen; bewaffnete Jünglinge in Ausfallstellung; nackte Fräuleins mit Henkeltöpfchen auf der Frisur. Die armen Gewinner! Zu Hause warten schon die Ehefrauen, mit den Fäusten im Hüftstütz. – Es ist schwül in Berlin.

Die deutsche Mode wird bekanntlich auf dem Tauentzien ausgetragen. Weiblicherseits von jenen jungen Damen, die schon im 18. Jahrhundert der Göttinger Professor Lichtenberg als »zweischläfrig« bezeichnete; männlicherseits von jungen Herren, deren Beruf unbekannt ist.

Augenblicklich üben die Damen das Tragen von Hüten, die wie Stahlhelme ohne Krempe aussehen. Sie sind aber aus Filz, sollen stilisierte Fliegerkappen darstellen und liegen knapp um Bubikopf und Ohren. Gewöhnlich schmiegen sich dem Filz, zu beiden Seiten des Gesichts, noch Federschlappen an, die über die Wangen hin bis unters Kinn greifen, als hätten die Mädchen Zahnschmerzen und trügen farbige Prießnitzumschläge. – Die Herrenhüte sind, im Gegensatz hierzu, große, runde, formlose Gebilde. Sie vollenden, nach oben hin, den geltenden Brauch, einschließlich der Hosen alles drei bis vier Nummern zu groß und zu weit zu tragen, und erwecken den Eindruck, ihre Träger müssten an irgendwelchen Garderoben fremde, titanenhafte Kleidungsstücke erhalten haben, in denen sie sich verlieren. – Die neueste Konsequenz wurde bereits gezogen: Der Stock des vornehmen Herrn ist der Knotenstock! Frisch vom erstbesten Baume gepflückt, bisher Mobiliar wandernder Handwerksburschen und seit wenig Wochen Prunkstück eleganter Schaufenster. – Noch traut sich niemand, solch einen Stock auch wirklich in die Hand zu nehmen. […]

Umso rücksichtsloser hat sich dafür die Monokelseuche durchgesetzt. Wer etwas auf sich hält, trägt eines dieser Uhrgläser im Auge und ein anderes, horn- oder goldgefasst, an der Schnur über der Weste. Und die jungen Damen halten Schritt, auch mit den Augen. Im Café sitzen sie, monokelbehaftet, imposant, und wagen nicht zu lachen. Weil sonst das Glas in die Eisschokolade fällt. – Es ist schwül in Berlin.

Besuch vom Lande

Sie stehen verstört am Potsdamer Platz.

Und finden Berlin zu laut.

Die Nacht glüht auf in Kilowatts.

Ein Fräulein sagt heiser: »Komm mit, mein Schatz!«

Und zeigt entsetzlich viel Haut.

 

Sie wissen vor Staunen nicht aus und nicht ein.

Sie stehen und wundern sich bloß.

Die Bahnen rasseln. Die Autos schrein.

Sie möchten am liebsten zu Hause sein.

Und finden Berlin zu groß.

 

Es klingt, als ob die Großstadt stöhnt,

weil irgendwer sie schilt.

Die Häuser funkeln. Die U-Bahn dröhnt.

Sie sind das alles so gar nicht gewöhnt.

Und finden Berlin zu wild.

 

Sie machen vor Angst die Beine krumm.

Und machen alles verkehrt.

Sie lächeln bestürzt. Und sie warten dumm.

Und stehn auf dem Potsdamer Platz herum,

bis man sie überfährt.

»Zwei dunkle Augen, zwei Eier im Glas«

Das Berlinertum auf den Berliner Bühnen

 

»Zwei dunkle Augen, zwei Eier im Glas« – so beginnt einer der Schlager von Friedrich Hollaender, dessen neue satirische Zeitrevue Bei uns – um die Gedächtniskirche rum heißt und, im Theater am Kurfürstendamm, Abend für Abend den »westlichen« Berliner in Text und Musik verspöttelt oder ihn, im bodenständigen Jargon zu reden, »flachst«.

Der beliebte Einwand, dergleichen könne besser gemacht werden, darf in diesem Falle nicht gelten. Denn eine gute Lokalrevue, die es gibt, ist hundertmal besser als eine bessere, die es nicht gibt. Qualität ist, in gewissen Grenzen, hier weniger wichtig als das Vorhandensein schlechthin. Besser mangelhafte Spiegel als gar keine! Gerade Kollektivwesen, wie die Bildungsschicht von Großstädten eines ist, bedürfen des Spiegelbilds, d.h. des Zerrspiegelbilds! Ohne solche »Vorhaltungen« werden Zusammengehörigkeit und typische Mängel zu wenig bewusst. Revuen wie solche, an denen Schiffer, Strasser, Seeler und vor allem Friedrich Hollaender arbeiteten, erfüllen die wichtige Aufgabe: das Eigenbewusstsein einer Stadt (nicht ihr Selbstbewusstsein) wachzurufen und wachzuhalten; sie strafen, verspotten, erziehen einen Kollektivcharakter! Und wenn sie es unterließen – wer täte es an ihrer Stelle?

Diese lokalkulturelle Aufgabe erscheint darum nicht weniger wichtig, weil sie noch kaum erkannt wurde. Wäre München ohne den Simplicissimus denkbar? Wäre sie ohne ihn ein dermaßen charakteristisches Gebilde? Berlin besitzt keine ähnliche Zeitschrift. Und die Revuen im Kurfürstendamm-Theater entledigen sich ihrer heiter-pädagogischen Pflicht wohl noch unmittelbarer, als eine Zeitschrift dies tun kann. Das gesprochene Wort ist heute wichtiger geworden als das gedruckte! Es vermeidet einen Umweg; es wirkt unmittelbar. Und dies ist für den Vorgang einer Erziehung äußerst wichtig. Denn man erzieht niemanden nach der Methode von Sprachbriefen! Man muss ihn vor sich sitzen haben.

Friedrich Hollaender ist ein Lehrer, bei dem der Berliner schon etwas lernen kann. Er erzieht ihn mit seinen eignen Waffen. Er hat Witz, schlagfertige Laune. Er trifft, wenn er zuschlägt, oft genug auf den Kopf, oder wenigstens hinter die Ohren. Er schlägt mit Schlagern, die sitzen. Er ist schriftstellerisch und als Komponist äußerst lokalbegabt. Sein Talent ist ausgesprochen Berliner Herkunft. Ob er nun die Presse persifliert oder das Kaffeehausliteratentum, moderne Erfindungen oder die rechtsgesteuerte Politik oder die kunstschwärmerischen Halbjungfrauen – er straft immer, ohne zu verletzen. Seine Schlager tun nicht weh, auch wenn sie treffen; aber sie bleiben im Gedächtnis zurück, wie blaue Flecke. Sein Mitarbeiter bei dieser Revue, Moriz Seeler, ist nicht lustig genug für sein Amt. Er wirkt wie ein Lehrer, der sich rächen will. Er biegt den Zweck der Revue um ins Hochnotpeinliche. Aber Erwachsene kann man nur mit Güte leiten; also mit Humor, ums Rohrstöckchen gewickelt.

 

Friedrich Hollaender kritisiert den Berliner; Max Adalbert lobt ihn. Freilich nicht mit Absicht, sondern kraft seines Daseins. Friedmann-Frederich schreibt Stück um Stück für Adalbert. Die Stücke sind wertlos; sie enthalten nur eben eine männliche Hauptrolle, eine berlinische Heldenfigur, die Adalbert spielt.

»O Gott, hab ich eine Schnauze!«, sagt er manchmal selber, wenn er die Bühne unter Worte gesetzt hat, dass das Stück und die Mitspieler ganz einfach fürchten müssen, fortgeschwemmt zu werden. Der Autor schreibt ihm Situationen, in denen jeder andere elend umkäme. Adalbert kommt dahergeschlenkert, öffnet die Schandschnauze und gewinnt 10:0.

Das neue Stück, im Berliner Theater, heißt Der Herr von …