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Hardy Crueger
Die Stunde der Flammen

Hardy Crueger, geboren in den 1960er Jahren, studierte Geschichte und Soziologie und lebt als freiberuflicher Schriftsteller und Dozent für Kreatives Schreiben in Braunschweig. Crueger schreibt Krimis und Psychothriller, aber auch Romane zu geschichtlichen Themen.

Als Dozent für kreatives Schreiben leitet er die KrimiWerkstatt Braunschweig und ist außerdem im Vorstand des Verbands deutscher Schriftsteller (VS) Niedersachsen aktiv. Die Stunde der Flammen ist sein achter Roman.

Mehr über den Autor und seine Arbeit finden Sie unter www.HardyCrueger.de

Hardy Crueger

Die Stunde
der Flammen

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Gewidmet allen Polizistinnen und Polizisten,
die ihre Arbeit das Leben kostete.

Inhalt

Prolog

1. WOCHE

2. WOCHE

3. WOCHE

4. WOCHE

5. WOCHE

Epilog

Danksagung

Prolog

Der schwarze Kleinwagen fuhr schnell durch die Serpentinen. Suchte sich eilig seinen Weg über die vom Schnee geräumten Straßen, immer höher die Berge hinauf. Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos stachen in das glitzernde Weiß, huschten vorbei. Auf der einen Seite ragten dunkle Baumstämme aus der weißen Decke, ab und zu ein großer schwarzer Schatten, ein Felsen, den der Schnee nicht bedeckte. Auf der anderen reckten die Kiefern ihre weißen Zipfelmützen in den graublauen Nachthimmel.

Der Mann, der den Wagen steuerte, fuhr zügig, aber vorsichtig, denn er wollte nicht verunglücken. Und auf keinen Fall von der Polizei angehalten werden.

Nicht heute Nacht.

Nicht mit diesem Auto.

Nicht mit der Frau neben sich.

Er hatte ihren Mund mit Ouzo gefüllt. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. »Entschuldigung, Herr Polizist. Meine Freundin ist betrunken, und ich habe mich wohl verfahren. Wie komme ich hier denn wieder raus?« Auch wenn die Beamten auf den Gedanken kommen sollten, in den Kofferraum zu schauen, würden sie nichts Verdächtiges finden.

Mit so viel Schnee hatte er nicht gerechnet. Jedenfalls nicht um diese Jahreszeit, es war immerhin schon der 29. März. Er hoffte, dass die für den öffentlichen Verkehr gesperrte Zufahrtsstraße zum Gipfel geräumt war. Aber er würde sich ohnehin nicht von ein bisschen Schnee aufhalten lassen, denn es musste heute sein. Es gab nur diesen einen Zeitpunkt. Es war das perfekte Jahr.

Seine Mission hatte gestern begonnen, am Karfreitag, genau an dem Tag, an dem Gott vor fast zweitausend Jahren vergeblich versucht hatte, der Menschheit die Augen zu öffnen. Fünf Wochenenden, bis die Ungläubigen hier ihre Walpurgisnacht feiern würden. Genau fünf Wochenenden bis zum Hexensabbat! Und dann würde hier auf dem Blocksberg der Teufel los sein.

Endlich hatte er die Seitenstraße erreicht, die verschlungen durch den Wald führte und die mit einem Schlagbaum versperrte Zufahrtsstraße umging. Die Scheinwerfer schälten zerfurchte Baumrinde und schneebedeckte Äste mit langen Nadeln aus der schummrigen Dunkelheit. Hier war der späte Schnee nicht geräumt, und ein paarmal dachte er, der Golf würde sich festfahren. Aber er schaffte es bis auf die Zufahrtsstraße. Sie war geräumt. Lächelnd schaltete er die Scheinwerfer aus und bedankte sich mit einem kurzen Blick nach oben, als er darin einbog.

Die schmale Straße wurde immer steiler, und der Motor begann sich zu quälen. Er schaltete einen Gang herunter und hoffte, dass der Wagen in Ordnung war. Was er jetzt genauso wenig brauchen konnte wie eine Polizeistreife, war eine Panne. Die Straße machte einen weiten Bogen nach rechts, dann folgte eine Gerade von über einem Kilometer. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Seit die Erkenntnis über ihn gekommen war, war er viel unterwegs gewesen.

Nach der Geraden kam eine rechte Haarnadelkurve, noch eine Linkskurve, und dann endete die Straße auf der baumlosen Tonsur des Brockens. Dem höchsten Punkt im Umkreis von Hunderten von Kilometern. Bei gutem Wetter konnte man den Berg schon aus großer Entfernung sehen. Er überragte die nördlich vor ihm liegende Tiefebene, und manche Menschen glaubten, sein Gipfel sei ein ganz besonderer Ort. Voller Magie und dunkler Kräfte. Sitz abscheulicher Gottheiten und boshafter Geister. Seit langer Zeit schon trieb hier auf dem Blocksberg viel ungläubiges Volk sein Unwesen.

Als er abbremste, um in die Serpentine einzufahren, stöhnte die Frau auf. Für einen Moment dachte er, sie würde erwachen. Er spürte Angst in sich aufkeimen, Panik, trotz des Beruhigungsmittels, das er genommen hatte. Es war schon schwer genug für ihn, wenn sie bewusstlos war. Aber wenn sie ihn dabei anschauen sollte, das würde er kaum verkraften können. Dann müsste er aufpassen, dass ihm nicht die Sicherungen durchbrannten.

In der Kurve drückte die Fliehkraft die Frau zu ihm herüber. In natura sah sie älter aus als auf dem Foto im Forum. Sie sei Ende vierzig, hatte sie gesagt. Das schulterlange Haar war rostrot gefärbt. Am Nachmittag, in dem Café in Eisleben, war es noch mit einem schwarzen Zopfgummi zusammengebunden. Als er sie ins Auto geschafft hatte, musste das Haarband abgerutscht sein. Jetzt fielen ihr die roten Haare in das bleiche Gesicht. Wieder kam ein leises Stöhnen aus ihrem Mund. Bevor er loslegte, sollte er ihr noch ein oder zwei Stromstöße mit dem Elektroschocker verpassen.

Etwa hundertfünfzig Meter nach der letzten Haarnadelkurve hielt er an und wendete den Wagen auf der steilen Straße in drei Zügen, wie im Fahrschulunterricht. Als die Front bergab auf die scharfe Kurve wies, zog er die Handbremse an und legte den Leerlauf ein.

Die betäubte Frau vom Beifahrersitz auf den Fahrersitz zu bugsieren, war einfacher, als er es sich vorgestellt hatte. Ihre rechte Hand baumelte über dem Schalthebel. Als er die Beine in den Fußraum wuchtete, stöhnte sie wieder. Er hielt inne und starrte sie an. Der Lidschatten war ein bisschen verschmiert, die schwarzen Wimpern zuckten, aber die Augen blieben geschlossen. Eine Warze wuchs am Kinn, die Lippen grellrot angemalt und etwas geöffnet. Ein langer Speichelfaden lief heraus. Er drückte ihr den Taser an den Hals. Fast schossen ihm die Tränen in die Augen, als er sie so hilflos im Sitz herumzucken sah. Denn sie war die Nummer 1. Er musste sich erst daran gewöhnen.

Es war zwei Uhr dreiunddreißig, als er auf die Uhr schaute. Planung und Ausführung stimmten ziemlich genau überein. Er bückte sich, öffnete die Verriegelung der Motorhaube, dann stieg er aus, ging nach hinten und holte den schweren Rucksack mit den Flaschen aus dem Kofferraum, stellte ihn auf den Boden. Er ging wieder nach vorn, schaltete den Airbag aus, beugte sich über die betäubte Frau, löste die Handbremse und schob den Wagen an. Erst langsam, dann immer schneller rollte der Golf die steile Straße hinunter.

Der Mann blieb in der offenen Fahrertür stehen, hielt das Lenkrad fest. Erst kurz vor der Kurve sprang er ab. Der Wagen durchbrach den kleinen Wall aus Schnee, den das Räumfahrzeug aufgehäuft hatte, schoss über die Kurve hinaus, raste in den lichten Wald hinein und krachte gegen einen Baumstamm. Schnee rieselte auf den schwarzen Lack.

Schnell holte er den Rucksack, lief zum Auto rüber. Die Fahrertür stand weit offen, der linke Kotflügel war zerbeult, die Motorhaube aufgesprungen. Aus dem gerissenen Kühler entwich Dampf. Die Frau war mit dem Kopf gegen die Frontscheibe geknallt und hatte dort ein wirres, undurchschaubares Muster aus Rissen erzeugt. Sie hing über dem Lenkrad und blutete aus mehreren Wunden. Er streckte die Hand aus und spürte ganz leise den Pulsschlag an ihrem Hals. Das war gut, denn sie mussten noch leben. Dann legte er umständlich einen Gang ein.

Er griff in den Rucksack, setzte die Stirnlampe auf und holte die Flaschen heraus. Als erste öffnete er die kleine grüne Glasflasche, warf den Deckel in den Wagen, schüttete den Cannabis-Absinth über die Frau und legte die Flasche in den Fußraum. Mit der Ouzoflasche tat er das Gleiche. Eine der beiden Zigarettenkippen, die in Eisleben auf der Straße gelegen hatten, warf er der Frau in den Schoß, die andere auf den Beifahrersitz. Dann spritzte er das Nitromethan einer ganzen Flasche auf ihre Kleidung, leerte eine weitere im Innenraum, schüttete den Inhalt der letzten Flasche auf den Reifen unter den Tankdeckel, auf die Benzinleitung und vorn in den offenen Motorraum. Immer blieb er dicht am Wagen, weil das Feuer den Schnee schmelzen und seine Spuren vernichten würde.

»Auch ohne Prozess … Gott will es!«, sagte er, riss ein Streichholz von einem Briefchen, auf das Werbung für eine Gaststätte in Braunschweig gedruckt war, und entzündete erst den Brandherd im Motorraum, warf dann das abgebrannte Hölzchen in das Wageninnere. Setzte den Reifen unter dem Einfüllstutzen in Brand. Entzündete fauchend das Nitromethan auf der Frau. Warf das Streichholzbriefchen in den Fußraum, als aus dem Motorraum schon die ersten gelben Flammen hoch in die Nacht flackerten.

Hastig stopfte er die leeren Nitro-Flaschen in den Rucksack. Eilte die schmale Straße hinunter, bis zu dem Baum, bei dem die Loipe begann. Hier hatte er gestern die Skier versteckt. Hinter ihm fing der Kleinwagen lichterloh an zu brennen. Um diese Uhrzeit würde es mindestens eine halbe Stunde dauern, bis die Feuerwehr hier oben war, sehr wahrscheinlich länger. Osterzeit, Ferienzeit. Zeit genug für das Feuer, die Frau zu verbrennen und alle Spuren von ihm zu vernichten.

Etwa auf Höhenmeter fünfhundert hörte er die dumpfe Explosion des Benzintanks. »Da habt ihr euer Osterfeuer!«, schrie er, und Kilometer um Kilometer fuhr er grinsend durch den verschneiten Wald, bis hinunter zum Parkplatz, wo sein eigener Wagen stand.

Jetzt hatte er knapp zwanzig Stunden, um sich auszuruhen, bevor er Nummer 2 abholen konnte, die Kleine aus Hildesheim.

»Es ist begonnen«, sagte die Krähe.

»I-ah«, sagte der Esel.

1. WOCHE

1

Kommissar Carsten Sanders lag in seinem Bürosessel, die Beine auf dem Schreibtisch, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und schaute auf den Monitor. Der Videoclip einer Band aus den Neunzigern, kreischende Gitarren über schleppenden, metallischen Beats und ein schluchzender Gesang. Depressiv, aber gut gemacht, und er mochte es immer noch. Eine willkommene Pause, um zwischen der vielen Arbeit in seinem Ressort »Organisierte Kriminalität und Menschenhandel« das Gehirn zu entspannen. Aber das Telefon klingelte, ehe der Song zu Ende war.

Sanders hob die Beine vom Tisch, schwang nach vorn, seine Hand landete direkt auf der Mouse und schaltete den Lautsprecher stumm. Er griff zum Hörer, meldete sich knapp: »Ja?«

»Carsten?« Die Stimme erkannte er sofort, Bernd, sein Vorgesetzter. »Du sollst sofort zum Chef kommen! Du bekommst eine offizielle Belobigung! Wegen der Sache in Berlin, letztes Jahr, die Mädchenhändler.«

»Wirklich?«, fragte Sanders und stand auf.

»Ja. Es wird eine Pressemitteilung geben! Eine Feierstunde im Rathaus! Die ganze Abteilung wird natürlich dabei sein, ach, das ganze LKA! Mensch, freu dich doch mal! Du sagst ja gar nichts.«

»Wegen der Sache in Berlin?«

»Ja! Die konnten doch den ganzen Ring zerschlagen. Weil du ihnen den Beweis geliefert hast. Weißt du nicht mehr? Das Video, mit dem Mädchen aus Sri Lanka, das die beiden Urlauber in Altenau aufgenommen hatten.«

»Natürlich weiß ich das noch. Und dafür soll ich jetzt eine Belobigung bekommen? Das glaubst du doch selbst nicht.« Sanders setzte sich wieder.

»Doch! Wenn du gleich oben beim König bist, wird er dir das alles erklären.«

»Eine Belobigung? Bernd, also, nein … das ist ja ein Ding. Dass unsereiner auch mal gelobt wird.«

»April, April. Hahaha«, sagte Bernd.

»Was soll das denn? Heute ist der dritte, der erste April war vorgestern.«

»Richtig. Aber da war Ostermontag, und du hattest frei. Da konnte ich dich ja nicht in den April schicken. Trotzdem reingefallen, Kriminaloberkommissar Sanders. Haha, war ’n kleiner Scherz. Keine Sau kümmert sich um uns, wenn wir unseren Job machen. Nur wenn was schiefgeht, dann …«

»Wenn du möchtest«, unterbrach Sanders seinen Abteilungsleiter, »dass deine Arbeit gewürdigt wird, musst du deinen Beamtenstatus aufgeben und in die Privatwirtschaft gehen. Wir erfüllen unseren Auftrag, nicht mehr und nicht weniger.«

»Carsten Loyal, so kennt man ihn. Hast du Lust, dich um eine Vermisstenmeldung aus Hildesheim zu kümmern? Die Kollegen vor Ort sind gerade etwas dünn besetzt, alle krank oder noch im Osterurlaub.«

»Vermisstenmeldung? Nein, habe ich nicht. Ich muss hier dringend eine ganze Menge anderer Fälle bearbeiten.«

»Gut, dann gebe ich dir jetzt die Anweisung: Herr Sanders, kümmern Sie sich bitte um die Anfrage der Kollegen aus Hildesheim. Ich habe sie dir schon rübergemailt.«

»Hm … jaja, wird gemacht, Chef. Sofort und gleich. Dann muss ich die anderen Sachen alle wieder mal nach hinten schieben – wegen einer Vermisstenmeldung, tschüss.« Sanders legte auf. Ein Lächeln umspielte seinen Mund und ließ seine braunen Augen glänzen. Da hatte der Bernd ihn doch wahrlich in den April geschickt. Was dachte sich der Kerl eigentlich? Ganz klar, bei passender Gelegenheit würde er es ihm heimzahlen.

Er schloss die Plattform für Musik-Videos und öffnete sein Intranet-Postfach. Nicht mal angerufen hatten die Kollegen aus Hildesheim, nur per Mail nachgefragt. Besonders dringend konnte der Fall nicht sein. Vermisst wurde allenthalben jemand. Wenn er die Zahl noch richtig im Kopf hatte, waren es in Deutschland fast zweihundert Personen am Tag. Zum Glück fanden sich die meisten wieder ein. Mit zusammengekniffenem Mund begann er zu lesen:

> -------- Original-Nachricht --------

> Datum: Wed, 3 April 2013 07:54:07 +0100 (CET)

> Von: »Kom13 Hildesheim« kom13.hildesheim@polizei-hildesheim.de

> An: »Bernd Janischke« Bernd.Janischke@lka-niedersachsen.de

> Betreff: Bitte um Bearbeitung HI - VP AK 0-07-2013

Liebe Kollegen, lieber Bernd,

bitte um die Bearbeitung (Eintrag und Recherche im VP-Register) der angehängten VP mit der Nr. AK 0-07-2013. Da wir hier wegen zwei Krankschreibungen, einem Burn-out, einer Reha und zwei Oster-Urlaubern einen personellen Engpass zu verzeichnen haben (eigentlich bin ich ganz alleine hier), wäre es ganz toll, wenn ihr den E-Mail-Kram in der Sache erledigen könntet. Ich schaff das einfach nicht. Vielen Dank!

Bernd, wann sehen wir uns mal wieder?

Liebe Grüße, Tanja Tückert

Soso, dachte Sanders. Tanja Tückert aus Hildesheim. Und: Lieber Bernd … Warum muss ich das eigentlich machen? Weil »Lieber Bernd« dein Vorgesetzter ist, deshalb. Aber das kam ganz einfach mit auf die Liste, der zweite Minuspunkt für heute. Irgendwann würde er sich rächen. Sanders klickte und öffnete den Anhang der Mail:

Vermisste Person

 

Name:

Lehnert, Jacqueline, 22 J., 1,71 m., mittlere Statur, dunkles, rot gefärbtes Haar.

Adresse:

31411 Hildesheim, Amalie-Sieveking-Straße 13 A

Beruf:

Friseurin

Arbeitgeber:

»cut & up«, Haarsalon, 31134 Hildesheim, Marktstr. 42

Vermisst gemeldet:

Ostermontag, 1. April 2013, 15 Uhr 10

Vermisst seit:

Ostersonntag, 31. März 2013, ca. 0 Uhr 30

Letzter Aufenthaltsort:

Diskothek »Campus Music Club«, Osterstraße 30, 31134 Hildesheim

Gemeldet von:

Leiblichen Eltern, K. Lehnert und M. Lehnert

Adresse:

s.o.

Tel.:

05121 – 561723

Freundin:

Katarina Leineweber

Adresse:

Hildesheim, Braunschweiger Straße 57

Tel.:

05121 – 89162017

Anzeige: Die VP verließ die Diskothek »Campus Music Club« gegen 0:30 Uhr, um mit einem Taxi nach Hause zu fahren, kam dort aber nicht an. Da die VP von Familie und Freundin, Katarina L., glaubhaft als äußerst zuverlässig und fest im Leben stehend geschildert wird, sind sowohl ein Suizid als auch ein vorsätzliches Verlassen ihres Lebensumfeldes nahezu auszuschließen. Besondere Vorkommnisse soll es in der Diskothek nach bisherigen Erkenntnissen nicht gegeben haben.

Anfragen an örtliche Taxi-Unternehmen sind nötig, telefonisch oder persönlich – Liste anhänglich. Eintrag und Recherche im VP-Register sind einzuleiten. Foto anbei, und auf der HP ihres Arbeitgebers: www.cut&up.de

Gez. KHM T. Tückert

Sanders sog zischend Luft in die Nase. Er hatte schon Vermisstenanzeigen gelesen, die weitaus dramatischer klangen – und sich dann als Windeier erwiesen hatten. Vielleicht hatte Fräulein Lehnert, trotzdem sie fest im Leben stand, einfach die Schnauze voll gehabt und sich abgesetzt? Wer konnte schon in den Kopf eines Menschen hineinschauen? Angehörige und Freunde übertrieben oft in ihrer Angst um den geliebten Menschen.

Vielleicht hatte sie ihren Romeo getroffen, aber es niemandem erzählt? Vielleicht hatte sie aber auch Selbstmord begangen, so wie die Frau auf dem Brocken am vergangenen Wochenende, dachte er. Die hatte sich volllaufen lassen, war gegen einen Baum gerast und verbrannt. So hatte es in der Zeitung gestanden, und vielleicht war genau diese Meldung der Grund für die Angehörigen gewesen, eine Vermisstenanzeige aufzugeben?

Der überlasteten Kollegin aus Hildesheim antwortete er, dass er ihre Mail erhalten habe und einen Abgleich mit der Europol-Datenbank einleiten würde, die alle aufgefundenen Personen und Leichen enthielt, deren Identität unbekannt war, und ihr das Ergebnis mitteile, sobald es ihm vorliege. Dann öffnete er das Foto, und Jacqueline L. bekam ein Gesicht.

Eine junge Frau lachte ihn an. Strahlende Augen. Den Mund geöffnet, perlweiße Zähne, Stupsnase. Unter dem grauen Beanie quoll ihr Haar hervor, kupferrot gefärbt. Ein grüner Schal bedeckte ihren Hals. Schneebedeckte Bäume im Hintergrund, ein Garten oder ein Park. Vielleicht war das Foto im vergangenen Winter aufgenommen worden, also erst ein paar Monate alt.

Nachdenklich strich er sich über das fliehende Kinn bis hinunter zur Gurgel, als er darauf wartete, dass sein Login-Vorgang in die Datenbank abgeschlossen war. Über sechstausend Menschen waren in dem Register gemeldet, die Suche dauerte fast eine halbe Stunde und blieb ohne Ergebnis. Keines der dreizehn unbekannten Opfer, die seit Samstagmorgen in Europa tot oder nicht ansprechbar aufgefunden worden waren, passte zu dem Profil von Jacqueline L. Sanders fasste das Ergebnis mit wenigen Worten zusammen und mailte es der Kollegin Tanja Tückert rüber. Dann nahm er sich die Telefonliste der Taxizentralen von Hildesheim vor und begann mit der 55555.

»Guten Tag, Kriminaloberkommissar Sanders, Landeskriminalamt Hannover, ich hätte da mal ein paar Fragen. Mit wem spreche ich bitte?«

»Müller«, hörte er eine dunkle Stimme, die anscheinend einer älteren Frau gehörte.

»Wir gehen einer Vermisstenanzeige nach, und ich würde gern die Namen der Fahrer wissen, die am vergangenen Wochenende, also in der Nacht von Samstag auf Ostersonntag, Dienst hatten.«

»Ja? Da kann ich Ihnen aber leider nicht helfen. Am Telefon geben wir generell keine Auskunft über unsere Mitarbeiter.«

»Diese Vorsicht ist sehr löblich, Frau Müller. Aber vielleicht könnten Sie einmal eine Ausnahme machen. Eine junge Frau wird seit Sonntag vermisst. Es ist sehr dringend.«

»Das tut mir leid. Aber woher weiß ich denn, dass Sie von der Polizei sind? Da kann ja jeder kommen und das behaupten. Was meinen Sie, was ich hier alles schon erlebt habe.«

Sanders konnte es sich vorstellen. Na, er hatte es immerhin versucht. »Dann werde ich persönlich vorbeikommen müssen. Auf Wiedersehen.«

»Tun Sie das. Wiederhören«, sagte Frau Müller und legte auf.

Also los, Herr Kommissar, dachte Sanders, schaltete den Computer in den Ruhemodus und erhob sich seufzend. »Auf in das Bistum Hildesheim«, murmelte er und nahm das Jackett vom Bügel. »Versuchen wir also, eine entlaufene Tochter einzufangen.«

Er schaute aus dem Fenster. Eine fahle Frühlingssonne hatte sich durch die graue Wolkenwand geboxt. Ein bisschen mit dem Dienstwagen durch die Gegend zu fahren, war vielleicht gar nicht so schlecht. Und in spätestens drei Stunden bist du wieder hier, dachte er.

2

Für die fünfunddreißig Kilometer über die B 6 nach Hildesheim brauchte Kriminaloberkommissar Carsten Sanders eine halbe Stunde. Bis er die Taxizentrale in der Herbert-Quandt-Straße gefunden hatte, weitere fünfzehn Minuten.

Das Büro war in einer Art Baracke untergebracht, ein länglicher, niedriger Bau, die Wände mit grauen Eternitplatten verkleidet und das Dach aus Teerpappe. Auf dem Hof standen ein paar Taxis herum sowie zwei Privatwagen. Neben der Tür zum Büro hing ein Schild: »Taxizentrale: 55555 – Ihre Nummer sicher!« Die Tür stand offen, Sanders brauchte nicht zu klingeln.

In dem niedrigen Büro saß hinter einem Schreibtisch mit zwei Monitoren darauf eine Frau, die ihn irgendwie an ein Walross erinnerte und das nicht nur wegen des Speckmantels, der sie wabernd umgab. Sie hatte ein Headset auf den kurzen schwarzen Haaren und schaute ihn an.

»Guten Tag. Kommissar Sanders, hier mein Dienstausweis«, er hielt ihr die Plastikkarte hin. »Frau Müller? Wir hatten vorhin telefoniert.«

Frau Müller nickte ihm zu: »… die Vier bitte … bist du schon frei? Gut, in den Linnenkamp, Nummer siebzehn«, sprach sie in einem wohltönenden weiblichen Bariton in das Mikrofon. »Ja, siebzehn. Baumgarten … wo das ist? Haha, das ist der Name, mein Schatz: Baum-garten. Okay?« Dann blickte sie erneut zu ihm auf. »Hallo. Darf ich Ihren Ausweis noch einmal sehen?«

Sanders zog die Augenbrauen hoch und reichte ihr den Ausweis. Die dicke Frau las genau, was darauf stand. »Kommissar Sanders, Polizei Niedersachsen, Landeskriminalamt«, sie schaute ihn an, das Foto auf der Karte, wieder ihn. »Scheint ja echt zu sein«, sagte sie, gab ihm den Ausweis zurück und deutete auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.

Sanders setzte sich. »Sie sind aber wirklich skeptisch.«

»Muss man in der Branche. Was glauben Sie, was für Typen hier auftauchen und wissen wollen, wer wen wann wohin gefahren hat?«

»So wie ich«, sagte Sanders und zog einen kleinen Schreibblock aus der Tasche.

»So wie Sie.«

»Es geht um die Zeit zwischen null und zwei Uhr am Ostersonntag, den 31. März. Können Sie mir sagen, welche Ihrer Fahrer da Dienst hatten? Und wenn Sie mir auch noch sagen könnten, wer in dem Zeitraum die Fahrten ab der Diskothek Campus gemacht hat, würden Sie den verzweifelten Eltern und Freunden wirklich sehr helfen.«

Frau Müller gab ein nachdenkliches, tiefes »mmmmmhhhh« von sich, während sie sich die dreifache Speckrolle unter dem Kinn walkte. »Das wird der Wolfgang gewesen sein. Und der Dembo und der Aslan. Zu der Uhrzeit fahren nur Männer. Aber warten Sie«, Frau Müller legte ihre Hand auf die Computermouse, klickte hier und da ein paarmal, bis sie schließlich nickte. »Ja, und der Silvio Parese. Der Schönling. Der ist so ein bisschen …« Frau Müller lehnte sich zurück, der Bürostuhl knarrte und ächzte schauerlich. »Ich weiß nicht, ob das richtig ist, wenn ich Ihnen das jetzt sage, Herr Kommissar, aber da gab es mal eine Beschwerde von einem Fahrgast, einer jungen Frau aus Berlin, die zum Bahnhof wollte. Ist noch nicht so lange her, drei, vier Wochen vielleicht. Der hat ihr auf dem Weg wohl so perverses Sexzeug erzählt. Wie toll er es einer Frau besorgen kann und so. Außerdem hat er letztens meine Tochter angemacht, als sie mich hier abgeholt hat.«

»Wie, angemacht?«, fragte Sanders.

»Wegen ihres Busens. Der ist sehr groß, wissen Sie.«

Sanders schaute Frau Müller an und nickte, als würde er es wirklich wissen. »Fährt einer der Herren heute? Jetzt?«

»Ja, warten Sie … Dembo und Wolle, die sind gerade unterwegs.«

»Könnten Sie sie bitte herrufen? Es wird nicht lange dauern. Ich muss Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Ach, vielleicht machen wir am besten eine Fahrt daraus. Rufen Sie mir einen von den Jungs hierher, und dann klappern wir die anderen ab. Geht zulasten der Landeskasse«, sagte er und grinste Frau Müller an.

Sie lachte deftig, im vollen Bariton, sodass ihr Speck in Wellen geriet. »Ich werde Ihnen Dembo holen. Dembo Machungwa.«

Der Mann war Anfang dreißig. Rasant fuhr er über den Kennedydamm, am Marienfriedhof vorbei, durch das Berghölzchen – ein kleines Waldstück –, raus nach Neuhof. Der Kommissar saß neben ihm und warf einen Blick auf das Taxameter. Neun Euro.

»Ich komme aus dem Senegal«, sagte der Fahrer. »Bin aber schon seit 1999 hier. Ich komme aus einem kleinen Dorf an der Grenze zu Gambia. Meine Papiere sind in Ordnung. Können Sie alles nachprüfen. Ich bin richtig verheiratet.«

»Das ist schön, und ich glaube Ihnen, Herr …«, Sanders schaute auf die Liste mit den Namen, Adressen und Telefonnummern der Fahrer, die Frau Müller ihm ausgedruckt hatte, »… Machungwa. Deshalb bin ich aber nicht hier. Frau Müller sagte mir, dass Sie in der Nacht von Samstag auf Ostersonntag gearbeitet haben?«

»Ja. Ich bin von neun abends bis sechs Uhr morgens gefahren. Ist eine ganz gute Schicht. Verdient man gut.«

»Und Sie haben sicher auch Leute zu der Diskothek Campus gebracht oder dort abgeholt?«

»Na klar! Ich weiß nicht wie oft, vielleicht so zehn, zwölf Fahrten waren das bestimmt an dem Abend. Bis zwei Uhr, da schließt der Laden.«

Der Wagen hielt an einer Ampel. »Können Sie sich an diese Frau hier erinnern?«, fragte Sanders und zeigte Machungwa das Foto von Jacqueline L.

Der Mann kratzte sich die drahtigen Löckchen und schaute das Foto so lange an, bis die Ampel umsprang. »Nein«, antwortete er und gab es dem Kommissar wieder. »Ich glaube nicht. Es ist immer dunkel, man kann die Gesichter der Fahrgäste nie so richtig gut sehen. Außerdem, wenn da eine ganze Gruppe in den Wagen steigt, da guckt man sich ja nicht alle an. Nur den, der bezahlt. Den kann man sich noch am ehesten merken.«

»Wahrscheinlich ist sie allein gefahren und wollte wohl nach Hause. Vielleicht erinnern Sie sich daran? In die Amalie-Sieveking-Straße 13 A. Falls Sie schwarzgefahren sein sollten – das ist mir egal. Hauptsache, Sie sagen die Wahrheit. Die junge Frau ist seitdem verschwunden. Ihre Eltern machen sich große Sorgen.«

»Oh Gott! Das würde ich auch, wenn mein Sunshine nicht mehr nach Hause kommen würde. Sie ist zum Glück erst neun, und abends ist sie immer zu Hause. Übrigens fahre ich immer schwarz.«

Sanders brauchte einen Atemzug lang, ehe er den Witz verstanden hatte. Dann lachten sie beide darüber.

»Nein«, sagte Machungwa. »Ich mache eigentlich immer richtig die Uhr an. Ist besser für meine Rente. Kann ich das Bild noch mal sehen?«

Sanders reichte es ihm rüber.

»Hm … nein, also … das Mädchen habe ich noch nie gesehen.«

Sie bogen in eine Seitenstraße ein, in der das Wohngebiet lag, in dem »Wolle«, der andere Fahrer, wohnte.

Sanders stieg aus, zog das Jackett gerade und klingelte an der Haustür eines winzigen Häuschens, vielleicht aus den 1950er Jahren. Der Mann war von Frau Müller telefonisch unterrichtet worden und erwartete den Kommissar bereits. Der lehnte die Einladung hereinzukommen ab, und stellte dem Taxifahrer in der offenen Haustür die gleichen Fragen wie Machungwa. Zeigte ihm das Foto, hakte noch einmal nach, aber der kleine, kräftige Mann schüttelte nur den Kopf. Auch er war sich sicher, Jacqueline nie gesehen zu haben. Sanders bedankte sich und stieg wieder in das Taxi.

»Und? Hat er die Kleine gefahren?«, fragte Machungwa.

»Leider nicht. Fahren wir zu Silvio Parese. Aslan war der Kollege, der auch gerade arbeitet, oder? Den besuchen wir zum Schluss. Wie gut kennen Sie denn Herrn Parese?«

»Silvio? Ach, den treffe ich nicht so richtig oft. Zum Glück.«

»Warum zum Glück

»Macht immer so doofe Sprüche. Letztens hat er wohl die Tochter von Gudrun, also Frau Müller, angemacht. Wenn wir mal zusammen vor dem Bahnhof stehen, dann kommt er manchmal rüber und fragt, wie das in Afrika so ist, mit den Frauen. Und wie wir’s da machen. Voll bescheuert.«

Sanders zog den kleinen Notizblock hervor und schrieb neben den Namen Silvio Parese Überprüfen hin.

Zehn Minuten später hielt das Taxi vor einem großen, heruntergekommenen Wohnblock mit kleinen Appartements, deren Eingangstüren man über einen Laubengang erreichte. Acht Stockwerke hoch, an der Seite ein Treppenhaus aus Glasbausteinen, und tausend Graffiti.

Fünfter Stock. Es dauerte lange, ehe Parese die Tür öffnete. Nackt bis auf eng anliegende schwarze Retro-Shorts. Frau Müller hatte ihn wohl nicht angerufen.

»Ja?«, fragte er mit erhobenem Kinn. Pechschwarzes, langes Haar floss seine Schultern herab. Sein Kinn zierte ein Robin-Hood-Bart, die Arme waren mit prallen Muskeln vollgepackt wie bei einer römischen Statue. Der Bauch ein echter Sixpack. Braun gebrannt, höchstens dreißig Jahre alt. Die halbe Brust bedeckte ein Tattoo, ein Löwe, das Maul weit aufgerissen, mit spitzen Fangzähnen und wehender Mähne.

»Sanders, Kriminalpolizei. Dürfte ich Ihnen einige Fragen stellen, Herr Parese?«, fragte Sanders und streckte ihm den Ausweis hin.

Der Mann war einen halben Kopf größer als der Kommissar. »Ist das ein Verhör, oder was?«, fragte er und zog ärgerlich die gezupften Augenbrauen zusammen.

»Nein«, antwortete Sanders und steckte den Ausweis weg. »Verhöre gibt es nur auf dem Revier. Es geht um eine vermisste Person. Darf ich reinkommen?«

»Nee, geht nicht. Hab’ Besuch«, meinte Parese und schüttelte den Kopf. Eine schwarze Strähne fiel auf den Löwen.

»Seit Samstagnacht wird eine junge Frau vermisst. Sie sind doch Taxi gefahren an diesem Abend. Gegen null Uhr dreißig ist sie vor der Diskothek Campus eingestiegen und wollte vermutlich in die Amalie-Sieveking-Straße.«

»Ja, da bin ich gefahren. Vom Campus aus? Da steigen immer ’ne Menge Leute ein, um die Zeit. Hat Ihnen die fette Müller meine Adresse gegeben, wa?«, fragte Parese und kratzte sich am Hintern.

»Ja, hat sie. Vielleicht schauen Sie sich mal das Foto von ihr an.« Sanders reichte es ihm.

Parese schaute darauf und kniff das linke Auge zusammen. Dann begann er langsam zu nicken. »Süße Nase. Ja. Ich würde sagen, die hab’ ich gefahren.«

Bingo! Sanders straffte seinen Körper. »Warum können Sie sich daran erinnern?«

»Die war alleine. Hat kein’ Ton gesagt. Die ganze Fahrt über nich’.«

»Ist das so ungewöhnlich?«

»Hä?«

»Dass eine junge Frau alleine in ein Taxi steigt und nicht redet?«

»Vor der Disse, nachts um halb eins schon. Die Hühner sind doch meistens besoffen. Und dann gackern die blöde rum.«

»Auch wenn sie alleine sind?«

»Die meisten schon. Wenn die von selber nichts sagen, fang’ ich an. Is’ doch sonst so langweilig.«

»Was haben Sie zu ihr gesagt?«

»Dass sie ’ne süße Nase hat. Mehr konnt’ ich ja nich’ sehen.«

»Aber da ist sie nicht drauf eingestiegen.«

»Hä?«

»Da hat sie nichts zu gesagt?«

»Nee.«

»Haben Sie noch etwas zu ihr gesagt?«

»Nee. Die war sowieso zu jung.«

»Zu jung? Wofür?«

»Na, zum Anmachen. Ich steh’ nich’ auf Küken. Außerdem hatte die wohl keine Kohle. Ich musste sie schon auf der Marienburger rauslassen.«

»Warum meinen Sie, dass sie kein Geld hatte?«

»Na, das ist ’ne Einbahnstraße. Die macht einen riesen Bogen. Kostet mindestens einsfünfzig mehr, die Kurverei. Vielleicht wollte sie das sparen. Trinkgeld gab’s auch nich’.«

»Hätte sie nicht tun sollen. Sie ist nie zu Hause angekommen«, sagte der Kommissar.

Parese stutzte einen Augenblick. »Ach du Scheiße. Im Ernst? Aber ich hab sie doch … Sie hat bezahlt und ist ausgestiegen. Und die ist nicht zu Hause angekommen?«, er senkte den Blick und dachte nach. »Dann«, er hob den Kopf und schaute Sanders überrascht an. Die Augen weit aufgerissen. »Dann war ich der Letzte, der sie lebend gesehen hat?« Parese drehte sich abrupt um. »Stasi!«, rief er in die Wohnung hinein. »Stasi! Anastasia, Schatz! Komm doch mal her! Hör dir das an!«

Eine Frau im Negligé, weißblond und üppig, kam aus einem Zimmer herbeigeeilt. »Was ist denn los, Silvio? Wer ist das?«

»Da ist ein Mädchen verschwunden! Am Samstag. Und ich war der Letzte, der sie gesehen hat! Stell dir das mal vor! Ich! Das is’ doch wohl ’n Ding, wa?«

Die Frau schlang einen Arm um Silvios Hüfte und hielt sich mit dem anderen den Gazestoff zu, als würde er ihren Körper verdecken. »Echt? Mensch, dann kommst du ja in die Zeitung, Silvio!«

»Stasi!«, sagte Parese und strich sich mit der Hand die langen Haare aus dem Gesicht. »Vielleicht sogar ins Fernsehen. So was kommt im Fernsehen!«, rief er, drängte sich an Sanders vorbei, preschte auf den Laubengang hinaus und beugte sich über das Geländer. Der steigende Hengst auf seinem Rücken war vorzüglich gestochen, mit allen Einzelheiten.

Weil Silvio Parese keine Übertragungswagen irgendwelcher Fernsehsender auf der Straße entdecken konnte, drehte er sich wieder um. »Was meinen Sie denn? Wann kommen die denn?«

»Ich weiß es nicht, Herr Parese. Aber vielleicht taucht die Vermisste ja wieder auf.«

»Wie jetzt?«

»Sie ist ja nur verschwunden. Es sei denn, Sie haben sie gekidnappt.«

»Wer? Ich? Warum das denn? Ist der Vater Millionär, oder was? Warum ist sie denn dann so früh ausgestiegen, um die einsfünfzig zu sparen?«

»Auch das weiß ich nicht. Vielen Dank jedenfalls für Ihre Zeit. Sie haben mir sehr geholfen. Wir werden uns bei Ihnen melden. Wahrscheinlich müssen Sie mal auf das Revier kommen, um eine Aussage zu machen. Auf Wiedersehen.« Sanders drehte sich um und ging den Laubengang runter in Richtung Treppenhaus.

»Wenn was ist, können Sie denen vom Fernsehen auf jeden Fall ruhig meine Adresse sagen. Das ist ja echt ’n Ding!«

»Wie war’s?«, fragte Machungwa, als Sanders in das Taxi stieg.

»Ganz gut«, sagte der Kommissar, zog den Notizblock hervor und schrieb neben das Überprüfen hinter den Namen Silvio Parese Zeuge 1. In seinem Kopf begann die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens langsam Formen anzunehmen. »Haben Sie noch etwas Zeit, Herr Machungwa?«, fragte er.

»Natürlich. Bis achtzehn Uhr. Wo soll ich Sie hinbringen?«

»Amalie-Sieveking-Straße 13 A.« Sanders lehnte sich zurück. Den Taxifahrer Aslan brauchte er nun nicht mehr zu sprechen.

Das Haus der Eltern lag in einem ruhigen Wohnviertel mit Einfamilienhäusern. Das Taxi hielt an der Ecke, die Parese ihm beschrieben hatte. Sanders stieg aus und ging zu Fuß die schmale Einbahnstraße in die entgegengesetzte Richtung hinunter. Bodenschwellen und aufgestellte Blumenrabatten aus Beton sollten die Autofahrer zwingen, ihr Tempo zu drosseln. Das Haus Nummer 13 A lag ziemlich weit vorn, noch vor dem weiten Bogen, den die Straße im weiteren Verlauf machte. Er konnte verstehen, warum Jacqueline sich an der Ecke hatte absetzen lassen. Es war einfach nicht nötig, dass das Taxi den weiten Umweg fuhr.

Bevor er das Haus erreichte, sah er, dass ein Fußweg von der verkehrsberuhigten Straße abzweigte und zwischen den Gärten der Hausnummern 13 A und 13 B hindurch bis zu der Hauptverkehrsstraße führte. Wenn Jacqueline L. auf dem Weg vom Taxi bis zu ihrem Elternhaus verschwunden war, dann konnte es hier passiert sein. Sanders schaute die von Hecken und Büschen flankierte Gasse hinunter. Die Zweige immer noch im Winterschlaf, ohne Blätter und mit geschlossenen Knospen. Der Frühling ließ in diesem Jahr wirklich sehr lange auf sich warten. In einem Garten war ein Bäumchen mit bunten Plastikostereiern behängt.

Am Ende des Weges sah er in einem daumenbreiten Spalt Autos auf der Marienburger Straße hin und her huschen. Zwei Laternen reihten sich an der Seite des Hohlwegs. Sie werden nur wenig Licht werfen, dachte er. In der Nacht ist es hier nicht geheuer. Aufmerksam ging er in die Gasse hinein. Suchte den Boden ab. Links ein Hundehaufen. Rechts eine Zigarettenschachtel. Links Bonbonpapier. Rechts ein Papiertaschentuch, halb aufgelöst. Altes, braunes Laub überall. Er ging bis zur Straße und wieder zurück. Den Blick immer hin und her schweifen lassend wie einen Metalldetektor. Aber er fand nichts Besonderes und schlenderte zum Taxi zurück. Vorbei an Jacquelines Elternhaus. Vielleicht sollte er kurz mit ihnen sprechen?

Aber nein, das war ein Fall der Polizeiinspektion Hildesheim, nicht des Landeskriminalamtes. Für heute hatte er genug Zeit investiert. Die Eltern konnte Kriminalhauptmeisterin Tanja Tückert mal schön selber besuchen. Er, Sanders, war ein Gefallen, den sein Chef ihr getan hatte. Man sollte es nicht übertreiben, und in seinem Büro wartete eine Menge anderer Arbeit auf ihn. Außerdem riss er sich absolut nicht um einen Besuch bei aufgewühlten Eltern, die mit verweinten Augen um ihr Kind bangten. Viele tauchten nach ein paar Tagen wieder auf. Die meisten. Fast alle.

»Zurück zur Zentrale bitte«, sagte er zu Machungwa. Es war nicht sein Fall, dachte Sanders, lehnte sich zurück und tippte eine Nachricht an KHM Tückert in sein Smartphone.

3

Schmerzen …

Wie lange war sie schon hier? Schmerzen. Im Kopf, im Leib, in den Beinen, überall Schmerzen. Sie konnte sich nicht bewegen, ohne dass es schmerzte …

Feuchte kalte Luft. Dunkelheit. Ein harter Boden.

Schwarz … Wieder riss sie die Augen auf. Aber da war nichts. Nur Schwarz, als sei sie vollkommen erblindet. Sie zuckte zusammen, bewegte ihren schmerzenden Körper, um sicher zu sein, dass das grässliche Schwarz sie nicht erdrückte. Atmete schnaufend, um sicher zu sein, dass sie noch nicht tot war.

Es roch wie im Keller ihrer Oma. Nach feuchter, abgestandener, kalter Luft, vermischt mit dem erdigen Geruch eingekellerter Kartoffeln und von Heizöl.

Sie schnaufte wieder und hörte ihren eigenen Atem. Stieß einen quietschenden, jaulenden Laut aus wie ein gequälter Welpe. Sie konnte hören. Das Klirren der Kette, wenn sie sich bewegte, und ein leises, weit entferntes, gleichmäßiges Brummen, wie von einem Kühlschrank oder einer Heizung. Sie wollte nicht glauben, wo sie sich befand – in einem furchtbaren Albtraum! Schmerzen. Aber das passierte doch nicht ihr! Schwarz. Das war jemand anders. Kälte. Ein Opfer in einem Film. Oder in einem Buch. Nur eine kranke Geschichte, es war nicht sie.

Sie konnte ihre Arme kaum bewegen. Ihre Hände waren mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Es klirrte leise, als sie sich etwas herumdrehte und wieder die Wand befingerte. Rohe Steine und Mauerfugen. Schmerzen. In der Hüfte, im Rücken. Es tat weh. Ihre Knochen taten weh, jeder einzelne. Sie rutschte von der Wand weg, so weit, bis die Arme leise rasselnd nach hinten gezogen wurden. Wieder tasteten die Finger ihrer gefesselten Hände umher. Fühlten die kalten Glieder der Kette, die sich straff von ihren Handgelenken aus nach hinten, bis an die Wand, spannte. Wenn sie sich auf die Knie hochstemmte und sich weit vornüberbeugte, konnte sie den eisernen Ring ertasten und das Vorhängeschloss, mit dem die Kette daran angeschlossen war. Die Panik, die Todesangst, ließen sie unkontrolliert zucken, hyperventilieren, kreischen, bis eine Ohnmacht sie erlöste.

Schwarz. Aber das war nicht sie. Die Schmerzen spürte sie, ja. Aber es war nicht wirklich. Sie träumte schlecht. Hatte zu viel getrunken. Genau, sie war im Campus gewesen! Wie lange war das her? Stickig heiß, laute Musik, flackerndes buntes Licht, lachende Menschen, Katarina. Sie begann zu weinen, leise, wimmernd. Mit jedem Schluchzer zog sich ihr Körper zusammen. Das Taxi nach Hause. Allein. Katarina hatte noch bleiben wollen. Sie hatte bezahlt und war ausgestiegen. An mehr konnte sie sich nicht erinnern. Ende. Schwarz. Dann Kälte und Schmerz …

Zitternd lag sie auf dem harten, kalten, nassen Boden. Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Der Urin war einfach aus ihr herausgelaufen. Ihre Hose war nass und klamm. Sie krümmte sich zusammen wie ein Fötus. Wimmerte leise, schluchzte. Arme und Beine gefühllos. Hunger und Durst in den Eingeweiden. Der Mund trocken. Wie lange war sie schon hier? Einen Tag? Zwei Tage? Sie dachte an ihre Eltern. Sie würden sich große Sorgen machen. Vielleicht suchte man schon nach ihr. Sie hoffte es. Der Gedanke gab ihr Kraft. In die Schwärze hinein sagte sie laut ihren Namen: »Jacqueline! Ich bin Jacqueline Lehnert!«, und auch der Klang ihrer eigenen Stimme gab ihr Kraft. Dann begann sie laut zu beten. Bat um Befreiung oder ein schnelles Ende. Bitte, bitte kein Martyrium, wie andere Frauen es hatten erleben müssen. Eingekerkert. Eine Woche, zwei Wochen. Einen Monat, zwei Monate. Ein Jahr, zwei Jahre, drei, vier, fünf, sechs Jahre … Wieder begann sie zu weinen. Ihr Herz, ihre Seele wurden zusammengequetscht, erwürgt von der eiskalten Kralle der Angst …

Plötzlich stach Licht in ihren Kopf. Durch die Augen, wie Nadeln. Sie kniff die Lider zusammen. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet wurde. Sie blinzelte. Vor ihr eine schmutzige Wand. Der Putz bröckelte an manchen Stellen. Zum ersten Mal bekam sie eine Ahnung von ihrem Verließ. Es war viel schmaler, als sie gedacht hatte. Ein Schatten trat auf sie zu. Im Gegenlicht konnte sie nur den Schemen eines Mannes erkennen. Sie rutschte über den Boden, drängte sich an die Wand hinter ihr.

»Was wollen Sie von mir?«, wimmerte sie. »Wer sind Sie? Bitte, lassen Sie mich doch gehen. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe. Meine Eltern werden umkommen vor Angst. Ich habe doch nichts getan, bitte … haben Sie doch Erbarmen!« Sie redete immer weiter, einfach drauflos.

Der Schattenmann ging in die Hocke und stellte ein Tablett mit zwei Plastikschalen vor ihr auf den Boden. Er trug Handschuhe aus Latex. Wie sie, wenn sie Kundinnen die Haare färbte. Dann erhob er sich wieder und trat einen Schritt zurück. »Trink«, sagte er.

Sie verstummte. Ja, sie hatte Durst. Großen Durst sogar. Sie schaute ihn an. Er bewegte sich nicht. »Wie … wie soll ich das denn machen? Binden Sie mich los, bitte, bitte.«

Der Schatten rührte sich nicht.

»Bitte, machen Sie mich doch los. Nur damit ich trinken kann.«

Schweigend stand er da und schaute auf sie hinunter. Sie bettelte und flehte: »Bitte, bitte, bitte … warum … ich habe doch niemandem etwas getan.« Nichts. Irgendwann kroch sie auf die beiden Schalen zu, bis ihre Arme durch die Kette schräg nach oben gezogen wurden. Sie konnte die Schalen nicht erreichen.

Der Schatten streckte einen Fuß vor. Ein schwarzer Turnschuh schob das Tablett etwas näher zu ihr. Wieder versuchte sie, die Schale mit dem Wasser zu erreichen. Sie kam immer noch nicht ran. Der Turnschuh schob das Tablett noch etwas weiter zu ihr. Jetzt erreichte sie die Schüsseln. Auf den Knien, weit vorgebeugt, den Kopf gesenkt, sodass ihre roten Haare über die Schalen fielen, begann sie mit der Zunge das Wasser aufzulecken wie ein Hund. Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften in die Schale.

Sie trank und konnte nicht sehen, wie der Mann sich bewegte. Ein, zwei leise Schritte und er stand hinter ihr. Mit dem Kopf nach unten schlürfte sie das Wasser, das ein bisschen bitter schmeckte. Plötzlich löste sich die Kette, die ihre Arme festhielt, und sie wäre beinahe mit dem Gesicht in die Schüssel gefallen. Jetzt erst hörte sie die Kette klirren. Für einen Moment dachte sie, dass er sie losbinden würde. Aber schon trat er wieder zurück. Er hatte die Kette nur etwas verlängert, ihr ein paar Zentimeter mehr Spielraum gegeben. Jetzt kam sie besser an die Schalen heran. In der zweiten lagen Kartoffelchips. Der würzige Geruch ließ das Hungergefühl explodieren, und sie nahm mit der Zunge und den Lippen die dünnen Scheiben auf.

Der Schattenmann ging in die Hocke. Legte ihr eine Hand auf das Haar, streichelte es sanft, während sie aß.

»So ist es brav«, flüsterte er mit verstellter Stimme. Dann stand er plötzlich auf, zog sie an den Armen hoch, bis auch sie stand, und begann am Gürtel ihrer nassen Hose zu zerren. Panisch wich sie zurück, quetschte sich an die Wand, schüttelte den Kopf, drehte und wand sich, schluchzte und wimmerte: »Nein … bitte nicht … tun Sie das bitte nicht, bitte, bitte … nicht.«

Seine Hände folgten ihr. Ließen den Gürtel nicht los, zerrten ihn auf. Sie begann zu kreischen. Rhythmisch, in einem hohen, hässlichen, sich überschlagenden Ton. Warf ihren Körper hin und her, so weit, wie es die Kette zuließ. Schüttelte tatsächlich seine Hände ab. Sank mit geöffneter Hose zu Boden, schwer atmend, jaulend, wimmernd. Zog die Knie an ihren Körper. Lag wie ein Fötus auf den kalten Steinen, bebte vor Verzweiflung und Todesangst.

Der Schattenmann trat nach hinten, verließ den Raum. Wenig später kam er zurück. Mit einem Eimer und einer Rolle Toilettenpapier. Stellte beides neben sie auf den Fußboden. Nahm das Tablett mit, kam mit gefüllten Näpfen zurück. Legte eine kleine batteriebetriebene Lampe auf den Boden. Ging und schloss die Tür hinter sich ab.

Sie schaute auf, keuchte. Im weißen Licht der Leuchtdioden huschte eine dicke Spinne über den Boden.

Er hatte sie nicht vergewaltigt. Noch nicht.

Sie weinte leise.

Und auch noch nicht geschlagen.

Was wollte er? Was um Gottes willen wollte er von ihr?, fragte sie sich wieder und wieder und merkte kaum, wie sie immer ruhiger wurde.

4

Pastor Grotewohl war ein hochgewachsener Mann Anfang sechzig und seit vielen Jahren Priester in der Liebfrauengemeinde in Hildesheim. Und Notfallseelsorger. Gewöhnlich wurde er zu furchtbaren Unfällen gerufen, bei denen die abgerissenen Gliedmaßen zerstückelter Unfallopfer in der Gegend herumlagen und grausam zugerichtete Verletzte vor Schmerzen brüllten. Da betreute er die Helfer, die Rettungssanitäter, Feuerwehrmänner und Polizeibeamten. Menschen, die angesichts der zerrissenen Leiber und herausquellenden Eingeweide an Gott zweifelten.

Heute war das Opfer abwesend. Es gab kein Blut und keine gebrochenen Knochen. Keine Schmerzensschreie und keine sich übergebenden Helfer. Heute war der Schmerz ganz leise und fraß sich umso tiefer in die Seele hinein.

Grotewohl seufzte und richtete sich auf. »Möchten Sie noch einen Tee, Frau Lehnert?« Frau Lehnert schüttelte den Kopf. Sie hatte ein Taschentuch in der Hand und tupfte sich Tränen ab. Gott, was ein Mensch heulen konnte.

»Sie, Herr Lehnert?«

»Nein!«, sagte Jacquelines Vater scharf, ohne sich umzudrehen. Seit Minuten starrte er schweigend aus dem Fenster hinein in den gepflegten Garten, in dem an einem Bäumchen noch immer bunte Plastikostereier hingen. Hilflos ballte er die Hände zu Fäusten. Öffnete sie, ballte sie wieder zusammen. Ein breiter, kräftig gebauter Mann mit Stoppelhaarschnitt, speckigen Backen, einem dichten Schnurrbart und rundem Bauch.

»Ich weiß, die Untätigkeit ist zermürbend«, sagte der Priester und strich seine Stoffweste glatt. »Aber wir müssen abwarten.«

»Abwarten!«, schrie Herr Lehnert und drehte sich um. Sein Gesicht war gerötet. »Abwarten! Wie lange denn noch? Wo ist denn die Polizei! Was tun die denn? Nichts! Seit drei Tagen rein gar nichts! Heute haben wir den ganzen Tag noch keinen Ton von denen gehört. Wozu bezahlt man überhaupt Steuern! Bei jedem Fußballspiel, ja, da sind sie zu Tausenden! Aber wenn ein Mensch verschwindet, dann lässt sich keiner von denen blicken!«

»Herr Lehnert, ich bin überzeugt, dass sie ihr Bestes tun, um Jacqueline so schnell wie möglich zu finden. Polizisten sind auch nur Menschen.« Und wäre Ihre Tochter nicht in die Diskothek gegangen, sondern in die Ostermesse, säße ich jetzt nicht hier, dachte der Priester. In der Kirche hatte er das Mädchen lange nicht mehr gesehen. Keine Beichte, kein Gebet, kein Gottesdienst. Er schaute zu Frau Lehnert hinüber. Eine einfache Frau in einer orangefarbenen Strickjacke. Klein und untersetzt, die blonden Haare am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie sah er öfter in der Kirche, nicht nur an Karfreitag und Weihnachten, so wie Herrn Lehnert.

»Andere werden mit Hubschraubern gesucht! Mit Hundestaffeln! Und hier? Hier passiert gar nichts!«

»Das sind Kinder, die so gesucht werden. Ihre Tochter ist erwachsen. Sie kann gehen, wohin sie will. Gott hat ihr einen freien Willen gegeben.«

Frau Lehnert sagte leise: »Jacqueline ist immer nach Hause gekommen. Wenn es mal später wurde, was sehr, sehr selten vorkam, hat sie uns angerufen. Sie wurde entführt, Herr Pastor. Ganz bestimmt. Sie ist noch nie weggelaufen.«

Ach, das Schäfchen unschuldig, dachte Grotewohl. Hat nie etwas Böses getan. Wenn ich da an ihre Beichten denke, als sie noch ein Kind war … als wenn Diebstahl nichts ist. Ein Lippenstift hier, eine CD da. Und als sie gelogen hat, um eine »blöde Kuh« aus der achten Klasse bei der Lehrerin anzuschwärzen. Das ist alles nichts? Aber so waren die Menschen: Lügen und Betrügen allenthalben. Sie haben sich von Gott abgewendet. Gehen nicht mehr in die Kirche. Die Welt ist verkommen. Bis in die Kurie hinein. Gehen auf die Verlockungen kindlicher Körper ein. Sind nicht stark genug, die Sünde zu überwinden. Unterliegen den Einflüsterungen des Bösen und brechen das Zölibat. Sie halten der Prüfung nicht stand und ergeben sich den Versuchungen der Fleischeslust. Auch das Schäfchen unschuldig hatte sicher schon vorehelichen Verkehr gehabt.