Bindung, Angst und Aggression

Theorie, Therapie und Prävention

Herausgegeben von Karl Heinz Brisch
und Theodor Hellbrügge

Logo

Impressum

Die Herstellung dieses Buches erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Theodor-Hellbrügge-Stiftung München (www.theodor-hellbruegge-stiftung.de).

Die Beiträge der englischsprachigen Autorinnen und Autoren wurden von Ulrike Stopfel übersetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2010 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © Fotolia/Carl Coffman

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94945-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10449-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20295-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

HENRI PARENS
Bindung, Aggression und die Prävention bösartiger Vorurteile

STEPHEN J. SUOMI
Bindung, Angst und Aggression bei Rhesusaffen

FRANK DAMMASCH
Ritter ohne Schwert – unruhig-aggressive Jungen und ihre inneren Beziehungsmuster

LUTZ-ULRICH BESSER
Bindungssehnsucht und der Einfluss der Medien

JO GROEBEL
Mediengewalt, reale Gewalt: Ergebnisse der UNESCO-Globalstudie

THOMAS SALZBERGER
Kinderpornografie im Internet

MICHAELA HUBER
Gequält, verkauft und im Netz angeboten
Opfer und Überlebende von »Internet-Pornografie« fordern uns heraus

NICHOLAS B. ALLEN, SARAH WHITTLE, MARIE B. H. YAP UND LISA SHEEBER
Das Wechselspiel zwischen einer aggressiven Familienumgebung und der Gehirnentwicklung in der Adoleszenz und sein Einfluss auf das Depressionsrisiko

ANNETTE STREECK-FISCHER
Traumatisierte Bindung – Chancen und Gefahren in der Psychotherapie von Jugendlichen mit selbst- und fremddestruktivem Verhalten

HORST-EBERHARD RICHTER
Über Elterlichkeit, die Sorge um das andere und das künftige Leben

GEORGE DOWNING
Videointervention bei gestörten Eltern-Kind-Beziehungen

INGE SEIFFGE-KRENKE
Verschiedene Formen der Aggression unter Schülern als Quelle von Schulstress und die Rolle der Elternbindung

ULRICH TIBER EGLE
Körperschmerz und Seelenschmerz
Die somatoforme Schmerzstörung als Langzeitfolge früher Stresserfahrungen. Konsequenzen für die Therapie

ROYSTON MALDOOM
Tanz als physische, emotionale und soziale Aktivität: Arbeit am positiven Potential von Menschen

KARL HEINZ BRISCH
Prävention von aggressiven Störungen in der kindlichen Entwicklung

Adressen der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Es ist für die individuelle Entwicklung von Kindern, die Eltern-Kind-Beziehung sowie für jede soziale Gruppe von großer Bedeutung, die Entstehung von Ängsten, bösartigen Vorurteilen und feindseliger Aggressivität zu verstehen, sie frühzeitig zu erkennen und durch Präventionsmaßnahmen zu verhindern. Aus Längsschnittstudien wissen wir, dass aggressive Störungen im Laufe der kindlichen Entwicklung oftmals nicht einfach wieder verschwinden, sondern, besonders im Jugendalter, zu schwerwiegenden emotionalen und sozialen Störungen bis hin zur Dissozialität und Kriminalität führen können. In den Beiträgen international renommierter Forscher und Kliniker werden die Zusammenhänge zwischen Bindungsentwicklung, Angst und Aggressivität dargestellt. Auch Formen von Gewalt in Medien werden in ihren Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft betrachtet. Es wird aufgezeigt, wie diese Entwicklungen etwa durch Tanz, aber auch durch eine Psychotherapie behandelt oder durch Präventionsprogramme verhindert werden können.

Durch seine bahnbrechenden und einmaligen Längsschnittstudien zur Aggressionsentwicklung von Kindern konnte Professor Henri Parens aus Philadelphia/USA genau diejenigen Ursachen in den frühen Eltern-Kind-Beziehungen entdecken, die schon bei Säuglingen aggressiv-feindselige Verhaltensweisen entstehen lassen. Es ist sein großes Verdienst, dass er seine Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung konsequent in Präventionsprogramme zur Förderung von Empathie bei Kindern umgesetzt hat und nachweisen konnte, dass es in allen Altersstufen möglich ist, die Entwicklung von aggressiven Verhaltensstörungen und bösartigen Vorurteilen bei Kindern zu verhindern.

Zu Ehren von Herrn Professor Henri Parens wurde von der Internationalen Akademie für Entwicklungsrehabilitation und der Theodor-Hellbrügge-Stiftung am 29. und 30. November 2008 an der Kinderklinik und Poliklinik am Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München ein Internationaler Kongress mit dem Titel Bindung, Angst und Aggression. Theorie, Therapie und Prävention (Attachment, Anxiety and Aggression. Theory, Therapy and Prevention) durchgeführt. Im Rahmen dieses Kongresses wurde Herr Prof. Henri Parens als Zeichen der Würdigung seines außergewöhnlichen wissenschaftlichen Lebenswerkes und als Anerkennung seiner bahnbrechenden Forschungsergebnisse mit dem »Arnold-Lucius-Gesell-Preis« der Theodor-Hellbrügge-Stiftung ausgezeichnet. Die überwältigende Resonanz der Konferenz ermutigte die Veranstalter, die Beiträge mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen.

Wir danken allen Autoren und Autorinnen, dass sie ihre Beiträge für die Publikation zur Verfügung gestellt haben. Unser besonderer Dank gilt Frau Ulrike Stopfel, die mit großem Engagement und Zuverlässigkeit die englischsprachigen Beiträge übersetzt hat. Dank der ausgezeichneten Arbeit von Herrn Thomas Reichert konnten die einzelnen Manuskripte rasch editiert werden. Wir danken Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Christel Beck vom Verlag Klett-Cotta, dass sie sich mit großem Engagement für die Herausgabe dieses Buches und die rasche Herstellung beim Verlag eingesetzt haben. Ein ganz herzlicher Dank gilt der Theodor-Hellbrügge-Stiftung München, die mit großzügiger finanzieller Unterstützung sowohl die Konferenz als auch die Herstellung dieses Buches ermöglicht hat.

Wir hoffen, dass dieses Buch allen, die Eltern mit ihren Kindern in Therapie und Prävention von aggressiven und ängstlichen Verhaltensproblemen und Störungen begleiten – wie etwa Geburtshelfer, Hebammen, Kinderärzte, Krankenschwestern, Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Richter und Politiker –, zahlreiche Anregungen gibt, die sie in ihrer täglichen Arbeit fruchtbar umsetzen können.

Karl Heinz Brisch und Theodor Hellbrügge

Einleitung

Das vorliegende Buch fasst verschiedene Beiträge aus den Breichen Forschung, Klinik und Prävention zusammen, die das Thema Bindung, Angst und Aggression mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandeln. Es werden zum einen Ergebnisse aus der Grundlagenforschung dargestellt wie auch zum andern anhand von Beispielen Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit aggressiven Kindern sowie Präventionsprogramme veranschaulicht.

Henri Parens gibt zu Beginn einen umfassenden Überblick aus seiner Forschung über die Zusammenhänge zwischen Bindung, Angst und Aggression und die Entstehung von bösartigen, feindseligen Vorurteilen. Er berichtet auch von seinen Präventionsprogrammen, die er erfolgreich in Kindergärten und Schulen mit Kindern und Jugendlichen aller Altersstufen durchführen und evaluieren konnte.

In seinen Labor- und Feldstudien konnte Stephen Suomi nachweisen, wie aggressive Verhaltensstörungen bei Rhesus-Affen entstehen und welche Bedeutung sie für das Bindungs- und Sozialverhalten der Tiere in der Gruppe haben.

Frank Dammasch berichtet als Kinderpsychotherapeut und Psychoanalytiker über seine psychodynamischen Erkenntnisse, die er aus Kindertherapien mit Jungen gewonnen hat. Er lässt uns teilhaben an seiner therapeutischen Arbeit mit aggressiven Jungen und ihrer Fantasiewelt.

Wie die modernen Medien Internet und Computerspiele die Gehirne von Kindern und Jugendlichen in der Entwicklung ihres Fühlens und Denkens sowie der Affektregulation und des Sozialverhaltens beeinflussen können und an der Entstehung von aggressiven Verhaltensstörungen beteiligt sind, wird anschaulich von Lutz-Ulrich Besser beschrieben.

Jo Groebel untersuchte in seiner umfassenden UNESCO-Studie, in welcher Weise Gewaltdarstellungen im Fernsehen zur Aggressionsentwicklung beitragen können. Hierbei zeigten sich transkulturelle Unterschiede sowie die Bedeutung des familiären Umfelds, in dem die Kinder aufwachsen, sowie die Zusammenhänge von in TV-Filmen gesehener Gewalt und realer Gewalt.

Internet-Pornographie ist ein weltweit wachsender Bereich, in dem Kinder sexueller Folter ausgesetzt sind. Als Sachverständiger für digitale Forensik erklärt Thomas Salzberger anhand von Fakten und Einschätzungen die Möglichkeiten der Ermittlung im Bereich der Internet-Pornographie.

Michaela Huber beschreibt eindrücklich die Folgen für die kindlichen Opfer und die langfristigen Auswirkungen auf ihre körperliche und psychische Entwicklung.

Nicholas B. Allen konnte in einer Grundlagenstudie nachweisen, wie aggressive Erfahrungen von Kindern in ihrer Familie mit der Gehirnentwicklung im Jugendalter und depressiven Erkrankungen zusammenhängen.

Solche Kinder, die schon sehr früh Bindungstraumatisierungen in Folge von Gewalterfahrungen durch ihre Bindungspersonen entwickelt haben, fallen oft durch selbst- und fremddestruktives Verhalten auf. Sie stellen eine große Herausforderung für die Psychotherapie dar, was eindrücklich anhand von Beispielen von Annette Streeck-Fischer beschrieben wird.

Horst-Eberhard Richter verdeutlicht, wie sich die Erfahrungen und psychischen Probleme der Elterngeneration auf die Erziehung der Kinder auswirken können. Er fordert eine neue »Elterlichkeit«, sowohl für die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern als auch im Hinblick auf ein neues Engagement und eine neue Haltung der Fürsorge gegenüber Mitmenschen.

Video-Bilder können sehr gut für die Diagnostik und Therapie von gestörten – etwa aggressiven – Eltern-Kind-Beziehungen genutzt werden. George Downing beschreibt die Grundlagen der Video-Intervention und verdeutlicht an Behandlungsbeispiele die therapeutischen Möglichkeiten.

Gerade in Schulen wird eine Zunahme von aggressiven Verhaltensstörungen beklagt, die auch Bullying und Mobbing umfassen. Inge Seiffge-Krenke berichtet aus ihren Studien über verschiedene Formen der Aggression unter Schülern, über die Auswirkungen auf das Stresserleben der Schüler und die Bedeutung der Eltern-Kind-Bindung.

Frühe aggressive Erfahrungen von Gewalt und Vernachlässigung prägen nach verschiedensten Längsschnittstudien die Stressregulation, die Körperwahrnehmung und das Schmerzerleben von Kindern. Ulrich Tiber Egle erklärt in seinem Beitrag die Grundlagen dieser Zusammenhänge und zeigt an einem klinischen Modell, wie erwachsene Patienten, die als Folge frühkindlicher Traumatisierungen an Körperschmerzen leiden, erfolgreich stationär psychotherapeutisch behandelt werden können.

Wenn die Körperwahrnehmung und das Körpererleben schon früh durch Gewalterfahrungen geprägt wurden, kann Tanz eine Ausdrucksmöglichkeit des Körpers werden, die keiner Worte bedarf, wie Royston Maldoom in seinem Beitrag aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verdeutlicht.

Karl Heinz Brisch zeigt auf, wie aggressive Verhaltensstörungen entstehen, wenn grundlegende motivationale Bedürfnisse von Säuglingen nicht beachtet werden. Auf diesem Hintergrund werden verschiedene Präventionsprogramme beschrieben, die schon sehr früh – teilweise in der Schwangerschaft – ansetzen, um den werdenden Eltern zu helfen, dass sie eigene traumatische Erfahrungen aus ihrer Kindheit erst gar nicht mit ihren Kindern wiederholen, sondern ihre Kinder auf dem Weg einer sichern Bindungsentwicklung begleiten.

Alle Beiträge zusammen ergeben einen umfassenden Überblick darüber, welche Ursachen und Risiken sowohl familiäre Bedingungen, frühe Gewalterfahrungen als auch gesellschaftliche Prozesse – wie etwa durch die neuen Medien –, die auch durch politische und kulturelle Gegebenheiten beeinflusst werden, auf die Entwicklung von aggressiven Verhaltensstörungen und psychischen Symptomen bei Kindern haben können und wie sich diese über die frühe Beeinflussung der Gehirnentwicklung bis ins Erwachsenenalter auswirken können. Auf dem Boden der Grundlagenforschung und der verschiedenen Längsschnittstudien werden psychotherapeutische Hilfestellungen sowie Wege zur Psychotherapie und Prävention eindrücklich aufgezeigt.

HENRI PARENS
Bindung, Aggression und die Prävention bösartiger Vorurteile

Die positive Korrelation zwischen Bindungsqualität und Aggressionsprofil

Unsere 1970 begonnene und ursprünglich für eine Laufzeit von sieben Jahren geplante Beobachtungsstudie mit Müttern und ihren neugeborenen Kindern, die dann in Form von Nachbeobachtungen und Folgestudien über nahezu vier Jahrzehnte weitergeführt wurde, hat bei den kindlichen Probanden eine verlässliche positive Korrelation zwischen Bindungsqualität und Aggressionsprofil offengelegt. Später stellte ich fest, dass diese Korrelation, die sich unmittelbar aus den im Verlauf unserer Studie von uns zusammengetragenen Beobachtungen ergab, bereits von Aichhorn (1925) und Bowlby (1946) postuliert und später von Eissler (1949) und Kernberg (1966) implizit bestätigt worden war. Ausdrücklich wurde sie dann auch von Gilligan (1997), Egeland et al. (2001) und Sroufe et al. (2005) behauptet und in den Arbeiten von Brazelton (1981) und Beebe (2005) vorausgesetzt.

Von Anfang an war ich entschlossen, mich an die Empfehlung von Ernst Kris (1950) und Heinz Hartmann (1950) zu halten, dass wir nämlich unsere psychoanalytischen Hypothesen bezüglich der frühen Entwicklung anhand dessen testen müssen, was sich bei Kindern in deren ersten Lebensjahren beobachten lässt. Werden unsere Theorien dem, was wir bei dieser Gruppe beobachten oder zumindest mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen können, wirklich gerecht? Natürlich stieg ich in dieses Unternehmen schon mit gewissen Ideen und mit einer Orientierung ein, die mein Denken und meine klinische Tätigkeit bestimmten, aber ich war entschlossen, mich an Charcots weise Bemerkung zu halten, dass »die Theorie die Fakten nicht daran hindert, so zu sein, wie sie nun einmal sind«. Wie viele andere wollte ich mir meinen Weg zwar anhand der mir bekannten Theorien bahnen, mich dabei aber unbedingt von den Fakten antreiben lassen, nicht von den Theorien.

Innerhalb von 18 Monaten nach Beginn unserer Untersuchungen im Jahr 1970 (Parens 1979a) beobachteten wir eine Entwicklung, die von den Folgestudien nach 19, nach 32 und nach 37 Jahren (Parens 1993, 2008a) bestätigt wurde: dass nämlich die Interaktion der Mütter mit ihren Kindern – unter dem Einfluss unserer Interventionen zur Optimierung des elterlichen Erziehungsverhaltens – eine signifikante Verlagerung weg vom »entwicklungsbehindernden« und hin zu einem »entwicklungsfördernden« Erziehungsverhalten zeigte. Auf einer 10-Punkte-Skala betrug diese Verlagerung nach Ansicht der Mütter mehr als 5 Punkte, während unsere Forschungsassistenten eine Verlagerung von knapp unter 4 Punkten festhielten, und zwar nach drei von insgesamt vier Parametern (Parens 1993):

Tabelle 1: Veränderungen des elterlichen Erziehungsverhaltens (EEV)*

EEV (10-Punkte-Skala)

df = 6

 

df = 9

 

 

Selbst-
einschät-
zung der Mütter x

Stan-
dard-
abwei-
chung
(SA)

x
Diff.

t

p

Ein-
schätzung
der
Forschungs-
assistenten
x

Stand-
ard-
abwei-
chung
(SA)

x
Diff.

t

p

Das Kind
verstehen
und erziehen

Vorher:
Nach-
her:

3.0
8.71

1.29
0.76

 
5.71

 
–8.4

 
<.001

3.4
7.3

1.17
1.06

3.9

–16.7

<.000

Veränderung
in der Ambi-
valenz

Vorher:
Nach-
her:

3.0
8.43

2.08
1.27

5.43

–6.9

<.001

5.5
8.2

1.72
1.23

 
2.7

 
–7.36

 
<.000

Effektivität
des
Erziehungs-
verhaltens

Vorher:
Nach-
her:

3.14
8.71

1.68
1.11

 
5.57

–7.8

<.001

4.3
8.1

1.34
1.00

 
3.8

 
–11.6

 
<.000

Selbstwert-
und
Kompetenz-
gefühl

Vorher:
Nach-
her:

3.0
9.00

2.16
1.15

 
6.00

–7.3

<.001

4.1
8.1

.88
.99

 
4.0

 
–9.5

 
<.000

* Eine Mutter lieferte keine Selbsteinschätzung; eine andere Mutter, die aus dem Projekt ausgestiegen war, blieb nur in Form der Einschätzung durch die Forschungsassistenten präsent.

Angesichts der anfänglichen Einschätzung der teilnehmenden Mütter platziert eine Verlagerung um 4 Punkte auf diesem Kontinuum von »entwicklungsbehindernd« bis »entwicklungsfördernd« sie in ihrem elterlichen Erziehungsverhalten nunmehr eindeutig in den entwicklungsfördernden Bereich (Tabelle in Parens 2007c, S. 274).

Ein Schlüsselfaktor, der den Zusammenhang zwischen Bindungsqualität und Aggressionsprofil herstellt, zeigt sich in der Revision der auf dem Destruktionstrieb basierenden psychoanalytischen Aggressionstheorie, auf die unsere Befunde für mich hinausliefen, nämlich in der »multi-trends theory of aggression«, einer Aggressionstheorie also, die eine Mehrzahl von Trends in die Betrachtung einbezieht (Parens 1979a [2008]). Die direkte Beobachtung des Verhaltens der Kinder von Geburt an führte dazu, dass wir vier Kategorien des aggressiven Verhaltens aufstellten:

  1. auf Unlust beruhende Destruktivität (die Wutreaktion des Kleinstkindes);
  2. nichtaffektive Destruktivität (Vorgang der Nahrungsaufnahme);
  3. nichtdestruktive Aggression (unter Druck generierte sensomotorische Aktivität);
  4. vergnügliche Destruktivität (necken, verspotten bzw. verhöhnen).

Diese Kategorisierung wiederum führte dazu, dass wir drei Trends im Rahmen von Aggression dingfest machten, nämlich:

  1. feindselige Destruktivität (Kategorien a und d);
  2. nicht-affektive Destruktivität (Kategorie b);
  3. nichtdestruktive Aggression (Kategorie c),

und unsere Theorie der Aggression folgerichtig als »multi-trends«-Theorie bezeichneten. Eine Schlüsselrolle innerhalb des Zusammenhangs von Bindung und Aggression nimmt unter diesen Trends die feindselige Destruktivität (a) ein:

Feindselige Destruktivität (FD: der Trend von Zorn zu Feindseligkeit, Wut, Hass usw.):

  • Sie ist nicht angeboren und nicht biologisch begründet;
  • aber der Mechanismus ihrer Entstehung ist angeboren;
  • dieser Mechanismus muss allerdings aktiviert werden, um FD aufkommen zu lassen;
  • er wird durch die Erfahrung exzessiver Unlust/psychischen Schmerzes (EU) aktiviert;
  • EU, d. h. exzessiver psychischer Schmerz, ist eine Voraussetzung für das Entstehen von FD.
  • Psychischer Schmerz fügt der Aggression die affektive Qualität hinzu, die für Zorn, Feindseligkeit, Hass usw. charakteristisch ist.
  • Von entscheidender Bedeutung ist also, dass FD = feindselige Destruktivität durch Erfahrungen reduziert oder erhöht werden kann.

Dass die Erfahrung »exzessiver Unlust/psychischen Schmerzes« (EU) bei Menschen zur feindseligen Destruktivität (FD) führt, ist der entscheidende Faktor, der den Zusammenhang zwischen Bindungsqualität und Aggressionsprofil herstellt. Und das wiederum bedeutet: Das Erziehungsverhalten der Eltern ist – eine durchschnittlich zu erwartende biologische Ausstattung des Nachwuchses vorausgesetzt – von unmittelbarem Einfluss auf das Aggressionsprofil der Kinder. Ich zeige gern dieses dramatische Bild:

Erfahrung ist der erste Auslöser feindseliger Destruktivität.

Die generelle Hypothese lautet: »Unlust erzeugt feindselige Destruktivität«.

Die biologische Grundlage von »U → FD« ist das Roux-Experiment (Parens 1979a).

Die im Blick auf die Prävention wichtigste Hypothese lautet:

Exzessive Unlust erzeugt hochgradige FD: »EU H-FD«.

Das Tatsachenmaterial, in großem Umfang beobachtet und sowohl während der Laufzeit des Projekts (Parens et al. 1974; Parens & Pollock 1978) als auch in den Folgestudien filmisch dokumentiert, spricht sehr stark dafür, dass die Optimierung der Erziehungsstrategien der Mütter sowohl zu positiven (= sicheren) Bindungen als auch zu günstigen Aggressionsprofilen der Kinder führte (Tab. 2, [in Parens 2007c, S. 274]):

Tabelle 2: Wut und Feindseligkeit

* FAI-Parameter

** ECDP-Durchschnitt
(n=12)

FAI-Durchschnitt

»Cut off«-Wert: mild bis moderat

Statistische Signifikanz
(zweiseitiger T-Test)

Wutzustände (manifest)

37.8

50.10

45.0

p < 0.05

Vertrauen/Misstrauen

6.1

6.07

6.0

ns

Passive Aggression

8.8

10.11

9.0

ns

Gewaltpotential

5.1

7.96

7.0

p < 0.05

** FAI = Fitzgibbons Anger Inventory (1984; ein standardisierter Fragebogen zur Erfassung des Aggressionspotentials von Kindern und Jugendlichen); der FAI-Fragebogen von 2 Kindern ist nicht verfügbar, weil der Vater seine Zustimmung verweigerte; 2 weitere Kinder gingen dem Projekt vor der Folgeuntersuchung nach 19 Jahren verloren; 1 Kind erkrankte und fiel deshalb aus der Studie heraus.

** ECDP = »Early Child Development Program«, später das »Parenting for Emotional Growth«-Programm.

Die Zahl der Kinder, die an der Studie teilnahmen, ist zwar klein (16 Kinder), aber die beiden für die nach außen gekehrte Wut und Feindseligkeit entscheidenden Parameter – manifeste Wutzustände und Gewaltpotential – sind bei diesen Kindern signifikant günstiger, d. h. die Werte sind geringer als die entsprechenden Werte in der größeren Population, aus der die Kinder kommen; tatsächlich erreichte der Unterschied zwischen den beiden Gruppen den Signifikanzlevel von 0,05.

Angesichts der während der ganzen Laufzeit der Studie anfallenden überzeugenden Anzeichen dafür, dass sich das Erziehungsverhalten der Mütter und die Mutter-Kind-Beziehungen gebessert hatten, und ermutigt von den Müttern selbst, beschlossen wir, Materialien zu einer Erziehung zur Elternkompetenz zu entwickeln, in die ebendiese im Rahmen unseres Projekts gewonnenen Erkenntnisse einfließen sollten. So entstanden unsere Parenting for Emotional Growth-Materialien, nämlich ein Textbook (Parens et al. 1997a), das Curriculum for Students in Grades K thru 12 (Parens et al. 1997b) und The Workshops Series (Parens & Rose-Itkoff 1997). Die in nahezu vier Jahrzehnten zusammengetragenen Erkenntnisse flossen unlängst in eine Dokumentation mit dem Titel The Urgent Need for Universal Parenting Education (Parens 2008a) ein. Die erwähnten Materialien zielen sämtlich auf die Verhinderung bzw. Reduzierung erfahrungsbedingter emotionaler Störungen bei Kindern und sollen deren Feindseligkeits-, Hass- und Gewaltpotential vermindern. Dieses Bemühen um die Verminderung von Feindseligkeit, Hass und Gewaltbereitschaft öffnete mir eines Nachts die Augen für eine weitere Möglichkeit der Intervention.

Vom Zusammenhang zwischen Bindung und Aggression zur Beschäftigung mit dem Vorurteil

Angesichts meiner Lebenserfahrung erscheint es mir in der Rückschau als sinnvoll, dass ich – zunächst mit Strategien zur Reduzierung exzessiver Feindseligkeit befasst – mich nun der Frage zuwandte, welche Möglichkeiten wir haben, bösartigen Vorurteilen entgegenzutreten. Das Thema des Vorurteils musste mich ja interessieren; hatte es bisher gleichsam schlafend in meinem Unbewussten gelegen, so wurde es mir nun zum Wegweiser. Es ist nur logisch, dass ich diesen Weg einschlagen musste. Warum ich es tat, habe ich in meinem Buch Heilen nach dem Holocaust (Parens 2007d) ausführlich dargelegt.

Angestachelt von der so häufig zitierten ärgerlichen Behauptung, dass »wir doch alle voreingenommen sind«, war ich von meinen eigenen Erkundungen überrascht. Vor dem Hintergrund meines Verständnisses der psychoanalytischen Entwicklungstheorien ging mir nämlich auf, dass es eine Erklärung für diese unliebsame Annahme gibt, der zufolge wir alle unsere Vorurteile haben.

Psychogenetische Faktoren in ihrem Einfluss auf die Prädisposition für bösartige Vorurteile

Ich erkannte, dass es Faktoren in der psychischen Entwicklung gibt, die uns in der Tat dazu prädestinieren, voreingenommen zu sein. Zwei dieser Faktoren sind von essenzieller Bedeutung für die im Werden begriffene Identität des Kindes, für sein Selbstgefühl, also für eine Errungenschaft, die sich reziprok zur Ausbildung seiner frühen Beziehungen entwickelt. An anderer Stelle (Parens 2007a) habe ich mir ein Netzwerk aus Theorien1 zusammengestellt, das meine These stützt, dass es nämlich (1) die Identifikation und (2) die Fremdenangst sind, die uns dazu prädestinieren, Vorurteile zu entwickeln. Ich will mich nacheinander mit beiden befassen.

Identifikation und Selbst-Spezifizierung

Neugeborene Säugetiere sind für die Bindung an andere bereits biologisch »vorverdrahtet«, während beim Homo sapiens (wie auch bei anderen altrizialen2 Neonaten) die Begründung von Beziehungen, die Konstituierung des libidinösen Objekts (Spitz 1967) und das Bindungsverhalten (Bowlby 1975) im Wesentlichen durch die Erfahrung bestimmt werden. Und um mit Freud (1939, S. 129) zu sprechen, trägt das menschliche Kind als Resultat dieser Bindung den »untilgbaren Stempel seiner Herkunft« (etwa wie »Made in …[Land]«) und ist, spezifischer, »Produkt der (Familie X)«. Zwei gewichtige Faktoren beeinflussen diese spezifische, distinktive Identität:

  1. unsere Gene, die einen ganz erheblichen biologisch-genotypischen Beitrag dazu leisten, dass wir so sind wie unsere Eltern, und
  2. insbesondere diejenigen Identifikationen mit unseren primären Liebesobjekten, die uns unseren spezifischen phänotypischen Stempel »Produkt der (spezifischen Familie)« verleihen. Das sorgt dafür, dass wir Mitglieder unserer spezifischen Gemeinschaft werden, die, wiederum laut Freud (1939), für uns durch unsere Eltern repräsentiert wird.

Für die Entstehung von Vorurteilen spielt dieser wichtige, das Selbst spezifizierende Faktor Identifikation insofern eine erhebliche Rolle, als er gewissermaßen nebenher auch die Internalisierung der familialen und damit gesellschaftlich-kulturellen Kodizes einschließt. Dazu zählen familial-kulturelle Vorurteile, die einerseits vielleicht die Akzeptanz und unterschiedslose Wertschätzung von Menschen nahelegen, die »anders sind als wir«, andererseits aber auch eine negative Einstellung gegenüber solchen als »anders« angesehenen Menschen aufkommen lassen können. Die multimodalen Kommunikationen von Seiten der Eltern und später auch der Nachbarn, durch die derartige Voreingenommenheiten weitergegeben werden, sind zwingend und machen die positiven (akzeptierenden) und negativen (zurückweisenden oder feindseligen) Zerrbilder derer, die »anders« sind, zu einer unumgehbaren Komponente der Identifikation. Betont werden soll schon an dieser Stelle – später werde ich mehr dazu sagen –, dass Erziehung, die ja eine programmierte Fortsetzung der Identifikation darstellt, einen großen Anteil am Zustandekommen von Vorurteilen hat.

Die Studien von Spitz über die Bindung des Kindes an seine Mutter offenbarten einen weiteren vorurteilsträchtigen Faktor. Im Rahmen seiner Beschäftigung mit der Konstituierung des Liebesobjekts stieß Spitz auf komplementäre Faktoren der Objektspezifizierung, die er als Trennungsangst und Fremdenangst identifizierte (Spitz 1946, 1967). In diesem Zusammenhang muss man bedenken, dass Identifikation ein Faktor der Selbst- oder Identitätsspezifizierung ist, während es sich bei Trennungsangst und Fremdenangst um durchaus beachtenswerte Faktoren der Objektspezifizierung handelt. Der objektspezifizierende Faktor Fremdenangst birgt schon in sich ein Generalisierungspotenzial, das zur Zurückweisung von Objekten führen kann, die anders sind als die, an die das Kind gebunden ist und mit denen es sich ganz unmittelbar identifiziert. Wir wollen uns das näher ansehen.

Fremdenangst und die Wurzeln der Xenophobie

Von großer Tragweite für die Frage des Vorurteils ist der Umstand, dass Fremdenangst, die früheste Manifestation der Zurückweisung »anderer«, eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer liebevollen Beziehung spielt. Spitz erfasste die Bedeutung der »social smiling response«, des sozialen oder Antwortlächelns, und machte sich vor diesem Hintergrund daran, die innerpsychische »Konstituierung des Liebesobjekts« zu erkunden (1946, 1967). Er gelangte (1967) zu vier Hauptindikatoren dieses Prozesses:

  1. Antwortlächeln. Mit seinem Antwortlächeln beginnt und erbittet das kleine Kind einen emotionalen Dialog mit denjenigen, die mit seiner Pflege und Versorgung befasst sind und seiner unmittelbaren Umgebung zugehören. Die Spezifizierung des Objekts ist ein progressiver Vorgang und stabilisiert sich nur allmählich über eine Spanne von Monaten hinweg, in der die Bindung des kleinen Kindes sich noch in einem Zustand der Ungewissheit befindet. Das zeigt sich an den nachstehend genannten weiteren Verhaltenselementen des Kindes.
  2. Trennungsangst. Sie manifestiert sich, wenn das Kind – das ja noch nicht imstande ist, die innere Repräsentation seines Bindungsobjekts aufzurufen – sich vom Objektverlust bedroht fühlt.3
  3. Wiedervereinigungsreaktionen. Sie bezeugen die »Wiederherstellung« und die beginnende Bindung an spezifische Objekte.
  4. Fremdenangst. Die Fremdenangst, besonders relevant in unserem gegenwärtigen Zusammenhang, erweist und bestätigt die Erkenntnis des Kindes, dass nicht alle Objekte seine Bindungsobjekte sind.

Aus Beobachtungen können wir – vielleicht teleologisch – zuversichtlich schließen, dass auf Seiten des kleinen Kindes ganz spezifische komplementäre Ängste aktiviert werden, die es auf sein primäres Objekt hin orientieren: eben um seine Bindung an diese primäre Fürsorgeperson zu sichern. Trennungsangst deutet an, dass das Kind, das soeben dabei ist, sich an eine spezifische Fürsorgeperson zu binden, sich vom Verlust dieses Objekts bedroht fühlt. Fremdenangst steht ebenfalls für eine spezifische Objektbindung: Sie besagt nämlich, dass das Kind mittlerweile erkennt, dass nicht jedes Objekt Mutter oder Vater ist. Meine These ist, dass Fremdenangst dazu dient, die angeborene Bindungstendenz des Kindes sozusagen beisammenzuhalten, sie nämlich weg von jedem nicht-versorgenden Objekt und hin zum versorgenden Objekt/zu den versorgenden Objekten zu lenken. Etwa vom fünften Lebensmonat an wird jede Begegnung mit einem Objekt, das nicht schon wiederholt gesehen wurde, beim normalen Kind wahrscheinlich Angst auslösen. Offensichtlich erfährt das Kind dieses ihm unbekannte Objekt als eine Bedrohung seiner Bindung (siehe Anm. 3).

Ebenso wie Spitz (1967) und andere habe auch ich (Parens 2007a) den Gedanken vorgetragen, dass dieses normale Phänomen, die Fremdenangst, eine Tendenz in uns prädestiniert, die unter Umständen die Form der Xenophobie annimmt.4 Diese Überlegung veranlasst mich zu der These, dass Fremdenangst eine Schlüsselrolle in der Prädestination für Vorurteile spielt. Ich will das im Folgenden näher ausführen.

Margaret Mahler (Mahler et al. 1978) betont in ihrer Theorie der Loslösung und Individuation, dass die Konstituierung des Liebesobjekts und die intrapsychische Entwicklung des Selbst – die Ausbildung von Objektkonstanz und von Selbstkonstanz – reziprok zueinander erfolgen. Unter Entwicklungspsychologen auch unterschiedlicher Ausrichtungen besteht weithin Einigkeit darüber, dass Objektbeziehungen und Selbst-Identität im gleichen »Schmelztiegel« entstehen. Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der Entwicklung von Bindungsbeziehungen und, komplementär dazu, einer gelungenen Identitätsbildung nähren den Boden für die Diskriminierung von Menschen anderer Identitäten. Abbildung 1 (vgl. Parens 2007a, S. 27) zeigt die Summe der Überlegungen, die ich hier zusammengeführt habe:

001.eps

Abb. 1: Was uns alle dazu bringt, Vorurteile zu hegen

Ich will damit Gedankengänge miteinander verbinden, die über eine Spanne von 50 Jahren hinweg von Theoretikern der Psychoanalyse entwickelt wurden und Licht auf jene normalen Entwicklungsfaktoren werfen, die das Entstehen von Vorurteilen begünstigen. Damit wird klar, warum »wir alle Vorurteile haben«. Aber um welche Art von Vorurteilen handelt es sich: um wohlmeinende bzw. gutgemeinte, um bösartige Vorurteile? Führt die normale Präferenz für »unseresgleichen«, diese unvermeidliche Voreingenommenheit, zu dem Wunsch, »andere« zu verachten, ihnen zu schaden und sie zu zerstören? Ich behaupte, dass die bisher angesprochenen Faktoren unsere Tendenz, wohlmeinende, nicht-schädliche Vorurteile zu entwickeln, ohne weiteres erklären.

Damit wird deutlich, dass Vorurteile, die zur Schädigung oder Zerstörung anderer führen, allein auf der Basis dieser Entwicklungsfaktoren nicht nachzuvollziehen und nicht zu erklären sind – meiner Meinung nach selbst dann nicht, wenn die Identifikation mit den familialen und kulturellen Kodizes starke negative Vorurteile gegen »andere« mit sich bringt. Ein guter Freund von mir, ein Deutscher, erzählte mir nach Lektüre meiner Holocaust-Erinnerungen, er habe als Kind, das nie in seinem Leben einem Juden begegnet war, Juden hassen gelernt, weil man ihm gesagt hatte, »die Juden« hätten Christus umgebracht – eine Meinung, von der das Zweite Vatikanische Konzil (1962  1965) sich in dem Konzilstext Nostra Aetate vom 4. November 1965 mit den Worten distanziert hat: »… kann man dennoch die Ereignisse seines [= Christi] Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen«. Weiter unten werde ich auf die Rolle der Erziehung zu sprechen kommen. Vorerst möchte ich aber den Umstand aufgreifen, dass wir, um die Natur bösartiger Vorurteile zu verstehen, den Komplex »Hass und Zerstörungswunsch« in Betracht ziehen müssen.

Es ist feindselige Destruktivität in der Form von Hass, die sich, ausgehend von unserem wohlmeinenden Vorurteil, ihre Bahn bricht, ein Vorurteil einer sehr anderen Art gegenüber denjenigen, die anders sind als wir. Ohne Hass führt die Abgrenzung zwischen dem Selbst und dem anderen nicht zu dem Druck, diesen erkennbar anderen zu schädigen oder zu zerstören. Von welchem Hass, von welchem Zerstörungswunsch sprechen wir hier? Wie ich weiter oben ausgeführt habe, weise ich die Annahme zurück, dass kleine Kinder mit einem Destruktionstrieb geboren werden, der sie zur Zerstörung drängt, oder schon mit einer angeborenen Xenophobie auf die Welt kommen. Unsere Forschungen (Parens 1979a) und meine klinischen Beobachtungen haben mich zu der Ansicht geführt, dass es die Ambivalenz in den primären Beziehungen ist, die einen zentralen und ganz erheblichen Anteil daran hat, dass in menschlichen Wesen der Wunsch aufkommt, »andere« zu schädigen oder zu zerstören. Ich muss diese Hypothese im Einzelnen darlegen.

Ambivalenz – das große Dilemma des Kindes

Ambivalenz, die Erfahrung »nebeneinander bestehender Liebes- und Hassgefühle gegenüber dem gleichen libidinösen Objekt« (Parens 1979b, S. 385), bereitet uns allen Schwierigkeiten. Bedenken wir also, um wie viel schwieriger sie für das kleine Kind ist, dessen adaptive Funktionen noch längst nicht voll ausgebildet sind und dessen Ich noch im Werden begriffen ist. Ich habe es in der unmittelbar beobachtenden Forschung wie auch in der klinischen Situation immer wieder erlebt, dass ein Kind durch die feindselige Destruktivität, die es gegenüber seinen Liebesobjekten empfindet, in ein großes Dilemma gerät (Parens 1979a, 1999). Seine »ambivalenten Gefühlseinstellungen« (Freud 1921) erzeugen einen Ambivalenzkonflikt, der es in enorme Angst und Unruhe versetzt (Parens 1979b).

Nach der klinischen Erfahrung ist ein Kind, das starke Angstgefühle hat, zu seinem eigenen Schutz gezwungen, Abwehrmechanismen ins Spiel zu bringen (A. Freud 1968), die der Intensität seiner Angstgefühle gewachsen sind. Wie ich ausführlich berichtet habe, haben wir bei unseren Beobachtungen zur Aggressionsentwicklung festgestellt, dass Kinder angesichts des Dilemmas, das ihre feindseligen Gefühle gegenüber der eigenen Mutter ihnen eintragen, schon gegen Ende des ersten Lebensjahres eine erstaunliche Gesamtheit von Abwehrmechanismen ins Spiel bringen können (Parens 1979a).

So fanden wir z. B. eine Vielzahl von Anhaltspunkten für den Mechanismus der Verschiebung. Die 12 Monate alte Jane etwa, die sehr wütend auf ihre Mutter war, griff nach einem Klötzchen, schleuderte es von sich und traf damit eine neben ihrer eigenen Mutter sitzende Frau. Hemmung, die ebenfalls häufig zu beobachten ist, wird am Fall der 11 Monate alten Mary anschaulich, die, ebenfalls wütend auf ihre Mutter, den Arm hob, bereit, die Mutter zu schlagen, dann aber, den Arm noch halb in der Luft, in ihrer Bewegung innehielt: Am Punkt des Zuschlagens hemmte sie sich und ließ die Abfuhr der Feindseligkeit sozusagen auf halbem Weg gefrieren.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres stießen wir auch auf Indizien für eine Spaltung in böse und gute Objektrepräsentanzen, so bei der 12 Monate alten Jane, die in der Wut ihren Platz an der Seite ihrer Mutter verließ und sich neben die gerade zum Hausbesuch anwesende Beobachterin setzte – eine Person, die sie zuvor erst ein einziges Mal gesehen hatte, jetzt aber ausgesprochen »lieb« ansah. Während ihres freundlichen Miteinanders mit dieser ihr im Grunde unbekannten jungen Frau blickte Jane immer wieder einmal zu ihrer Mutter hinüber.

Dass Kinder spätestens im Alter von 18 Monaten auch den Mechanismus der Projektion benutzen, schlossen wir aus dem Verhalten des schwer traumatisierten 17 Monate alten Richie. Wir entdeckten, dass er einem Objekt eine feindselige Absicht zuschrieb, wo keine solche Absicht erkennbar war: Die zweieinhalbjährige Doris hielt den Ball, den die Kinder zuvor zwischen sich hin- und hergerollt hatten, zum Spaß versteckt, woraufhin Richie wütend wurde, sich impulsiv zurückwarf und hart mit dem Kopf auf den Teppichboden schlug. Ich schloss daraus, dass er die eigene Feindseligkeit projiziert hatte und folglich nun die Handlung des freundlichen kleinen Mädchens als feindselig empfand.

Auch stellten wir fest, dass Jane und Mary das Warum ihrer Handlungen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihrem Leben rationalisierten: Jane blickte überrascht, als ihr Wurfgeschoss, das Klötzchen, die Sitznachbarin ihrer Mutter traf. Ihr Gesichtsausdruck veranlasste die beiden Mütter zu der Bemerkung, das Ganze sei ein Zufall gewesen. Und in der Tat: Als die Kinder dann sprechen lernten, waren Rationalisierungen, gewöhnlich im Verein mit Leugnen, durchaus üblich: »Ich hab es nicht gemacht, es ist zufällig passiert.« Im Alter zwischen sechs und zehn Jahren zeigten die Kinder dann einen Mechanismus, der einen besonders großen Anteil an der Entstehung von Vorurteilen hat, nämlich eine bewusste Abwehr in Form von Realitätsverzerrung, also Reduktionismus, Karikieren, Herabwürdigen und Verunglimpfen. Alle diese Formen gehen häufig mit Generalisierungen einher.

Ich meine, dass sowohl die unbewusst als auch die bewusst errichtete Abwehr eine Reaktion auf die Angst ist, die bei dem betreffenden Kind unter dem Eindruck seiner hochgradig konfliktträchtigen Feindseligkeit gegenüber den im Grunde wertgeschätzten Fürsorgepersonen aufkommt. Wir mussten schmerzlich erfahren, dass die Kinder aus unserem Projekt, die doch nicht stärker als üblicherweise erwartbar traumatisiert waren, sich anscheinend häufig gehalten sahen, auf die frühen Abwehrmechanismen von Verschiebung, Hemmung, Leugnung und Projektion zurückzugreifen. Viele Kollegen sind schon seit langem der Ansicht, dass diesen Mechanismen eine Schlüsselrolle in der Organisation des Vorurteils zukommt, in der Organisation dessen, was ich von nun an als bösartiges oder malignes Vorurteil bezeichne.

Die Rolle des Traumas in der Prädisposition für bösartige Vorurteile

Bisher habe ich über ein eher geringes Maß an aufgestauter Feindseligkeit und über den Ambivalenzkonflikt gesprochen, zu dem diese Gefühle bei normalen und durchaus wohlversorgten Kindern führen. Stellen wir uns jetzt vor, welche Wirkung das Gift des Traumas und die feindselige Destruktivität, die unweigerlich daraus erwächst, auf die Dimensionen des Ambivalenzkonflikts ausüben, dem das Kind ausgesetzt ist. Traumata unterschiedlicher Intensität in der Kindheit sind bekanntlich ein universales Geschehen und ereignen sich vorwiegend in der Arena des Familienlebens. Entscheidend für die Disposition für Vorurteile ist der Umstand, dass ein Trauma, das durch die Handlungen der primären Fürsorgepersonen verursacht wird und dem Kind intensiven emotionalen Schmerz bereitet, alles intensiviert, was das Kind bereits an feindseligen und destruktiven Gefühlen gegenüber diesen Personen empfindet. Der zunehmende Druck, die aufgestaute Feindseligkeit gegenüber den geliebten Menschen zu entladen, intensiviert wiederum das Bedürfnis, die je variable Gesamtheit von Abwehrmechanismen zu mobilisieren, von denen ich weiter oben sprach.

Je stärker ein Kind also traumatisiert ist – und ich beziehe hier alles ein, die angeborenen Gaben des Kindes, seine Ichentwicklung, die Qualität seiner Objektbeziehungen und seine bisherigen traumatischen Erfahrungen (Cyrulnik 2008) –, desto schwerer lastet die feindselige Destruktivität auf seinem Ich und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es imstande sein wird, konstruktiv damit umzugehen. Feindselige Destruktivität, die sich nicht bewältigen und verarbeiten lässt, wird sich aufstauen, Konstanz gewinnen und dringend nach Entladung verlangen. Die Richtungen, in die eine Entladung erfolgen könnte, sind begrenzt: nach innen, nach außen. Je größer das Gewicht der aufgestauten Feindseligkeit, desto dringender werden entsprechende Mechanismen benötigt, um die Integrität der Selbsterfahrung zu schützen. Je länger die Abwehrmechanismen zur Bewältigung des starken Ambivalenzkonflikts aufrechterhalten werden, desto nachhaltiger schleifen sie sich ein. Die Erkenntnisse der Neurobiologie aus den vergangenen zwei Jahrzehnten können uns helfen zu verstehen, dass und wie solche Muster den Weg in die neuronalen Bahnen des Gehirns finden (Kandel et al. 1991) und damit Teil der Persönlichkeit werden. Mit einem Wort: Je stärker die aufgestaute feindselige Destruktivität, desto größer der Hass und desto größer auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Abwehrmechanismen ausbilden, die das bösartige Vorurteil begünstigen.

Wie ich schon sagte, sind die Analytiker schon lange der Ansicht, dass ein von den primären Fürsorgepersonen zugefügtes Trauma ganz besonders pathogen ist (z. B. Aichhorn 1925; Bowlby 1946; Eissler 1949; Gilligan 1997) und das betroffene Kind in delinquente und kriminelle Verhaltensweisen treiben kann. Ich will die komplexen Zusammenhänge, auf die wir treffen, wenn wir das Verhalten traumatisierter Menschen zu erklären versuchen, nicht falsch darstellen. Selbstverständlich werden nicht alle Menschen, die schädlichen Kindheitserfahrungen ausgesetzt waren, deshalb zu Delinquenten und Verbrechern. Je nach den an ihrer Selbst-Spezifizierung beteiligten Faktoren nehmen viele schwer traumatisierte Individuen stattdessen eine depressive oder masochistische Entwicklung oder bilden Borderline- und narzisstische Störungen aus. Und auch wenn solche schwer traumatisierten Menschen in vielen Fällen die oben erwähnten Abwehrmechanismen errichten, muss das nicht notwendig dazu führen, dass sie bösartige Vorurteile ausbilden. Ihre Delikte organisieren sich nicht in dieser spezifischen Weise. Möglicherweise nehmen sie keine bestimmte Gruppe von »anderen« aufs Korn, um ihren Hass und ihre Wut zu entladen, und machen auch ihre Empörung nicht publik; sie handeln in Einsamkeit, wobei ihre Handlungen sich manchmal gegen spezifische Opfer richten, häufiger aber eher ungerichtet erfolgen. Ich sage noch einmal, dass ich die Wirkungen aufgestauter Hassgefühle und exzessiver Feindseligkeit auf das menschliche Verhalten keinesfalls vereinfacht darstellen möchte. Es geht mir ganz einfach darum, im Einzelnen aufzuzeigen, dass und wie ein von einer primären Fürsorgeperson induziertes Trauma die Prädisposition für bösartige Vorurteile begünstigt.

Es sind zwei unheilvolle Tendenzen, die sich aus diesen Dynamiken ergeben:

  1. Das Bedürfnis, anderen die Schuld zuzuweisen. Da ist zum einen die Tendenz des Kindes, die Eltern zu idealisieren, folglich also zu glauben, dass sie alles Schmerzliche und Böse verhindern können (Freud 1927). Sein primärer Narzissmus macht das Kind glauben, dass sie eben das tun sollten. Die fünfjährige Jane war die Treppe hinuntergefallen, und als ihre erschrockene Mutter dazukam, um ihr zu helfen, beschwerte Jane sich als Erstes mit der Frage: »Warum hast du nichts gemacht, damit ich nicht falle?« Diese Tendenz, unseren idealisierten und omnipotenten Repräsentanzen, der Mutter, dem Vater oder auch Gott, die Schuld zu geben, fördert die Neigung, einen bereits mit Feindseligkeit bedachten »anderen« zu beschuldigen. Wir wissen, dass viele Menschen, die an Gott glauben, ihm auch die Schuld für ihren tiefen Schmerz und ihre innere Not geben – wobei sie sich ihr Unglück gewöhnlich (»rational«) als Strafe für ihre Sünden zurechtreden.
  2. Das zwanghafte Bedürfnis nach Rache. Viele Kinder, die in ihrer Familie schwer traumatisiert wurden – sei es in der Form physischer oder emotionaler Misshandlung oder Vernachlässigung –, die folglich vergleichsweise stärker mit Feindseligkeit und Hass beladen sind, empfinden das zwanghafte Bedürfnis, sich durch die Entladung dieser Gefühle zu rächen (Gilligan 1997). In solchen Fällen ist ein ständiger innerer Druck am Werk, »andere« für diese Rache auszuwählen, ein Druck, der, wie Vamik Volkan (1988) ausführt, unter Umständen den Wunsch aufkommen lässt, Feinde zu haben.

Erziehung und die Identifikation mit der Gruppe

Unter dem Gewicht aufgestauter feindseliger Destruktivität wird aus der wohlmeinenden Voreingenommenheit des Einzelnen nur zu leicht ein bösartiges Vorurteil. Bösartige Vorurteile können aber auch auf andere Weise zustande kommen. Erheblich begünstigt werden sie unter Umständen selbst bei nicht schwer traumatisierten Individuen, deren feindselige Destruktivität sich in Grenzen hält – ein Nebenprodukt alltäglicher schmerzlicher Erfahrungen, das aber für sich genommen nicht ausreicht, um ein bösartiges Vorurteil entstehen zu lassen. Was in diesem Zusammenhang aber eine ganz wesentliche Rolle spielt, ist, wie ich schon sagte, jener Aspekt der Erziehung, der die Ausgestaltung der Identifikation leistet, im Grunde also ein gesellschaftliches Mandat, wenn nicht sogar eine erzwungene Identifikation mit der Gruppe. Dass mein deutscher Freund von klein auf gelernt hatte, Juden zu hassen, obwohl er keinen einzigen Juden kannte, lag nach seinen eigenen Worten daran, dass man ihm gesagt hatte, Christus sei von »den Juden« umgebracht worden.

Diese Lektion – einen »Feind«, wie ihn die größere Gruppe zu sehen meint oder als solchen etabliert hat, hassen zu müssen – wird weitgehend von der an das Kind gerichteten Forderung getragen, sich mit seinen Eltern und der Gesellschaft, die diese repräsentieren, zu identifizieren. Es ist eine »Identifikation auf Verlangen des Universums, in das das Kind hineingeboren worden ist«. Dogmatische Lektionen dieser Art bringen häufig »bösartige Verzerrungen« mit sich, verursacht durch Reduktionismus, durch Karikieren, Abwerten, Verunglimpfen und Generalisieren, durch jene Abwehrmechanismen also, die das bösartige Vorurteil mit einer »rationalen« Erklärung versehen. Unglücklicherweise wird Erziehung hier in den Dienst der Weitergabe des bösartigen Vorurteils gestellt. Diese Art der Belehrung entwürdigt die Erziehung.

An der Gesamtheit dieser interagierenden Kräfte wird deutlich, wie es zur Entwicklung bösartiger Vorurteile kommt (siehe Abb. 2, nach Parens 2007a, S. 34).

Dieses Modell des bösartigen oder malignen Vorurteils