Cover

 "Das ist hohe Krimikunst, und nur wenige beherrschen sie hierzulande so gut wie Anne Chaplet." (Tagesspiegel)

Paul Bremer erbt überraschend zwei Weinberge in Wingarten am Rhein. Jahrelang hat er nicht an seinen alten Heimatort gedacht. Doch Wingarten hat sich verändert: Hinter der gemütlichen Fassade herrscht eine feindselige Atmosphäre. Und dann kommen zwei Weinkritiker ums Leben! Ein Fall, in dem Staatsanwältin Karen Stark und Hauptkommisar Gregor Kosinski mehr als einmal aneinander geraten...

"Anne Chaplet schreibt virtuos: dicht, mit ironischen Wendungen und einem unerbittlichen Scharfblick für Milieus ... Ein Glücksfall für die deutsche Kriminalliteratur." (SPIEGEL)

Anne Chaplet

Wasser zu Wein

Der zweite Fall für Stark & Bremer

Edel Elements

Teil I

Magnum

1

Lambsheim am Rhein

Agata Perski seufzte und rutschte auf der kalten Bank hin und her, bis sie bequem saß – auch wenn's nicht lange anhalten würde. Hinter ihr wisperte jemand das Vaterunser. Die Kirche hallte wider vom Hüsteln und Flüstern und dem Geräusch, das Mäntel und Jacken machen, wenn Menschen sich zurechtsetzen. Der weiße Flieder unter dem Kreuz duftete, sie roch es noch hier hinten, und die Pfingstrosen leuchteten tiefrot im Schein der geweihten Kerzen. Auch damals hatten Blumen auf dem Altar gestanden, am Pfingstsonntag vor einem Jahr. Fast vor einem Jahr.

Schon konnte man die Spuren kaum noch erkennen – nur, wenn man genau hinsah. Die Säule unter der Kanzel rechts vom Gang war ausgebessert worden. Das Gestühl in der Mitte war heller als das, wo sie jetzt saß. Hinten, so wie damals. Sie saß immer hinten, wenn sie in die Kirche ging. Sie wollte nicht bei den deutschen Frauen sitzen, bei diesen falschen Hennen, dachte sie, zog die Schultern hoch und drückte die Ellenbogen an den Leib. Und ihren sauer riechenden Kerlen.

»Erbarme dich unser, erbarme dich«, murmelte Agata mit dem Chor der Kirchengemeinde. Und plötzlich war alles so wie damals. Die Kirchentür gab einen sehnsüchtigen Laut von sich, den sie immer machte, wenn sie behutsam geöffnet wurde. Dann ein Luftzug. Und jetzt, dachte sie, jetzt müßte Else sich umdrehen, mit ihren dünnen Lippen und den funkelnden Brombeeraugen unter der weißgescheitelten Frisur. So hatte sie damals nach hinten geschaut, nach dieser unmöglichen Person, die noch nicht einmal zu Pfingsten pünktlich in den Gottesdienst kommen konnte. Das Kyrie war schließlich längst gesungen!

Aber Else war nicht mehr da. Und wer sich jetzt hastig in die Kirche duckte, war Timo, der Junge von Bäckers.

Agata aber sah die Frau vor sich, die damals in die Kirche gekommen war, die dunkel gekleidete Frau im Kopftuch, die kurz neben ihr stehengeblieben war, bevor sie langsam den Gang entlang nach vorne ging, etwas zusammengekrümmt, so, als ob sie etwas Verbotenes tue. Sie rümpfte die Nase beim Gedanken an den Geruch, der von der Frau zu ihr herübergeweht war. Nach Schweiß, frischem Parfüm und alten Kleidern. Und nach etwas anderem, das sie nicht definieren konnte. Aber vielleicht bildete sie sich das nach all der Zeit nur ein.

Sie faltete die Hände im Schoß und merkte erst gar nicht, wie sich die Gemeinde erhob – wie eine Gänseherde von der Weide, in einer Welle und mit rauschenden Kleidern. Fast hätte sie vergessen, mit aufzustehen. Die Gestalt der Frau stand so überdeutlich vor ihrem Auge. Wie sie im Gang gezögert hatte, wohl unschlüssig, ob sie nach rechts oder nach links in eine der Stuhlreihen gehen sollte. Nicht auszudenken, wenn sie nach links gegangen wäre! Agata schüttelte sich, als ob ihr kalt wäre. Dabei war es draußen schon recht warm – so warm wie damals. Deshalb war ihr auch aufgefallen, wie dick die Frau sich angezogen hatte, eingemummelt in einen Mantel, mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf.

Geistesabwesend murmelte sie das Glaubensbekenntnis mit, das die Gemeinde routiniert herunterbetete, mittendrin der trockene Husten des alten Karnack, der wie immer auf seinem Stammplatz saß: in der Mitte der Reihe ganz vorne. Der hatte auch Glück gehabt. Wenn die Frau nicht nach rechts gegangen wäre – dann säße der heute nicht da. Und sie auch nicht, mit all den Erinnerungen an den schlimmsten Tag ihres Lebens. Fast der schlimmste Schlimmer war nur noch der Tag gewesen, an dem Vater gestorben war. Der Unfall. All das Blut. Sein bleiches Gesicht. Sie bekreuzigte sich hastig. Gott hab ihn selig.

Agata hatte die Frau nicht gekannt. Andere wohl: Maria und Theo hatten zu ihr hinübergegrüßt. Sie hatte völlig unbewegt zurückgeschaut und war dann weitergegangen. Unhöflich, hatte Agata damals gedacht. Heute sah sie das anders. Sie preßte die Lippen zusammen. Heute wußte man auch mehr.

Eine Frau aus der Nachbarschaft war sie gewesen – in Wingarten aufgewachsen, aber das war schon eine Weile her. Am nächsten Tag wußte plötzlich jeder irgend etwas über sie zu berichten – auch die, die sie gar nicht gekannt hatten: Sie galt als freundlich, ein bißchen schüchtern, lebte sehr zurückgezogen, in Scheidung von ihrem Mann. Der Sohn war tot, noch gar nicht lange, jung war er gestorben, kurz vor seinem zwanzigsten Geburtstag.

Also eher unwahrscheinlich, daß die Frau schwanger war. Aber sie hatte so ausgesehen. Auch das Mädchen hatte ihr neugierig auf den Bauch geschielt, als sie sich endlich in die Reihe hinter dem Kind zwängte.

Das Kind, das Kind. Agata schloß die Augen und atmete tief die feuchte Kirchenluft ein, die vertraute Mischung aus Putzmittel und Blumenduft und Weihrauch und Mottenkugeln. Manche Leute hatten die auch heute noch in den Taschen ihrer Festtagsgarderobe stecken, die sie seit zwanzig, dreißig Jahren schonten und nur sonntags aus dem Schrank holten. So hatte Vater feiertags gerochen: nach Bier, Rasierwasser, Zigarettenrauch und Mottenkugeln. Unter der Woche hatte sie der Bierdunst weit weniger gestört, da rasierte er sich nicht, und alles wurde übertönt vom trockenen, warmen Geruch von Sägespänen in seinen Arbeitsklamotten. Wenn er nur weniger getrunken hätte – nur ein paar Biere und Schnäpse weniger. Dann wäre nichts passiert. Vielleicht nicht.

Was für ein nutzloser, hilfloser Gedanke, dieses »Wenn, dann«. Agata Perski, nach eigener Einschätzung gerade eben noch jung, blond, polnisch, fleißig, seufzte und rutschte auf der Bank ein Stück nach hinten, bis sie wieder bequem saß. Die beiden Frauen neben ihr hatten die Handtaschen an die Haken in der Rückenlehne der Vorderbank gehängt und den Kopf über die gefalteten Hände gesenkt. Pfarrer Warnhart las aus dem Evangelium. Er hatte eine tiefe, tönende Stimme und war bei den Frauen sehr beliebt. Er hatte auch damals die Predigt gehalten. Kurz, bevor es passierte. Agata merkte plötzlich, daß sie schon eine ganze Zeitlang den Atem angehalten hatte, und atmete aus. Und tief wieder ein. Was war der Frau wohl im Kopf herumgegangen – kurz, bevor es passierte?

Hatte sie sich gefragt, ob sie auch die Geschirrspülmaschine ausgemacht hatte? Ob die Wäsche gebügelt war und der Mülleimer geleert? Agata schlug sich erschrocken mit der Hand auf den Mund – fast hätte sie laut gelacht. Schon ihr leises Prusten hatte die Schultern der Alten in der rosafarbenen Strickjacke zwei Reihen vor ihr ganz steif werden lassen. Noch einen Laut, und der Kopf mit den akkurat gekringelten blaugrauen Locken hätte sich langsam umgedreht. Agata atmete wieder aus. Die Frau hatte ihre Wohnung tipptopp hinterlassen und sogar das Telefon abgemeldet, hatte in der Zeitung gestanden. So einer hätte man das alles doch nie zugetraut!

Hatte die Frau nicht gewußt, welche Katastrophe sie auslösen würde? Warum war sie dafür in die Kirche gekommen? Hatte sie etwa einkalkuliert, daß sie fünf Menschen mitnehmen würde? Wer so etwas tat – konnte der noch hoffen, in den Himmel zu kommen? »Ist sie ja auch nicht. Nur bis unter die Kirchenkuppel«, flüsterte eine Stimme in Agata, die sich sofort bekreuzigte. So etwas dachte man noch nicht einmal.

Die Orgel setzte mit einem strahlenden Akkord ein. Agata krümmte sich. So hatte die Orgel damals eingesetzt, genau so. Zum Vorspiel von »Großer Gott, wir loben dich«. Alle hatten schon das Gesangbuch aufgeschlagen, sich geräuspert, sich bereit gemacht für den Einsatz. Und dann – dieser Höllenlaut. Dieser betäubende Knall. Der gewaltige Luftdruck, der Holzstücke, Stoffetzen und Menschenteile durch den Raum peitschte. Und die entsetzliche Stille danach. Sie hatte sich neben der Bank auf dem Boden wiedergefunden. Und sah noch heute alles vor sich, wie sie es damals gesehen hatte, als sie endlich aufgestanden war: zerborstenes Holz, überall menschliche Körperteile, Blut auf dem Boden, an den Wänden. Und sie hörte die Geräusche, die Entsetzensschreie, die stöhnenden Menschen. Agata stöhnte in der Erinnerung mit, in die jubelnden Orgelklänge hinein, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Stirn an das kühle Holz der Bank vor ihr gelehnt.

Bevor die Gemeinde einsetzte, hatte die Frau die beiden Handgranaten gezündet, die sie sich um den Leib gebunden hatte, und sich in die Luft gesprengt. Sie mußte sofort tot gewesen sein. Laura, Martin und Therese auch. Bei der alten Else dauerte es ein bißchen länger. Noch länger brauchte das Kind, die kleine Bettine, bis sie im Himmel war.

Agata würde immer daran denken. Das Kind, das wimmernde Kind. Wer tat einem kleinen Mädchen so etwas an? Was hatte sich die Frau dabei gedacht?

Warum?

2

Klein-Roda in der Rhön

Paul Bremer wog das Messer in der rechten Hand. Er zögerte einen Moment. Dann beugte er sich vor und zog die scharfe Schneide durch den schlanken, glänzenden Leib. Die sich windenden zwei Teile kickte er mit der Schuhspitze an den Rand des Gartenwegs. Er bückte sich wieder, stieß die Klinge zum Säubern zweimal in die feuchte Gartenerde und griff zum Paket mit dem Schneckenkorn. Ein Häufchen neben den Salat. Ein Häufchen neben den Rittersporn. »Verendet, ihr gefräßigen Ungeheuer«, murmelte er.

Er kannte vier sichere Arten, die Schnecken in seinem Garten umzubringen. Die Methode, sie einfach in der Mitte durchzuschneiden, war die schnellste und umweltfreundlichste. Nichts für jedes Gemüt. Die zweite Methode war auch nicht netter. Gestern abend war er durch den Garten gegangen, mit der Taschenlampe in der Hand, und hatte auf alle Schnecken, die er erkennen konnte, Salz gestreut. Und eine gehässige Befriedigung gespürt, während er zusah, wie die schlanken Tiere mit den eleganten Fühlern auf dem Kopf sich zusammenkrümmten, Blasen schlugen und langsam zerflossen. Grausam? Und ob. Aber auch Schneckenkorn, die chemische Keule, verhieß den Tieren keinen schnellen Tod. Und erst recht nicht die Bierfalle, das mörderische Maximum in Ökogartenfibeln.

Empfinden Schnecken Schmerz? Bremer war das mittlerweile ziemlich egal – spätestens, seit er eines Abends vor vielen Jahren in einer lauen Frühlingsnacht draußen im Garten gesessen und dabei zugehört hatte, wie ganze Bataillone von Schnecken mit ihren Sägewerkzeugen seinen Salat abraspelten. Am nächsten Morgen waren von zehn Salatpflanzen nur noch Stummel zu sehen gewesen. Ein trostloser Anblick. Seither wurde bei Bremer das Essen nicht mehr geteilt – jedenfalls nicht mit Schnecken, Blattläusen und Wühlmäusen.

Er ging zum Schuppen und stellte das Schneckenkorn wieder zurück ins Regal, in dem er ein Giftsortiment für alle erdenklichen Fälle aufbewahrte. Wo war der Wühlmausköder? Hinter dem Spritzmittel gegen Rosenrost und Mehltau, wo er nicht hingehörte. Unter den Glockenblumenbüscheln am Fliederbaum hatte er ein großes rundes Loch gesehen, wahrscheinlich der Eingang zu einem Wühlmaustunnel. Pfeifend zog er sich die Gartenhandschuhe an, nahm das Paket aus dem Regal und ging wieder in den Garten.

Es war nach einem kurzen Gewitterregen schwülwarm geworden, und man konnte den Salat, das Gras und den Rittersporn wachsen hören. Pfeifend schob er einen vergifteten Johannisbrotköder in die Tunnelöffnung und verschloß sie mit einem Stein. Wühlmäuse liebten angeblich Johannisbrot. Seltsame Vorliebe. Das Gift im Köder bewirkte innere Blutungen, an denen sie verendeten. Langsam, natürlich. Bremer schüttelte sich – aber er bereute nichts. Nur im Garten konnten sonst friedfertige Menschen hemmungslos ihre niederen Triebe ausleben. Morden, schneiden, sengen, vergiften, ertränken. Und das alles der paar Salatköpfe und Kohlrabi wegen.

Er war nicht der einzige, der, von Mordlust gepackt, Vernichtungsfeldzüge veranstaltete. Alle Bewohner von Klein-Roda zogen regelmäßig in die Schlacht, vor allem um diese Jahreszeit, wenn kleine, schwache Kulturpflanzen umzingelt waren von Freßfeinden oder »Dreck«, wie man hierzulande Unkraut nannte. Sein Nachbar Gottfried hatte sich einen Riesenkanister auf den Rücken geschnallt, in Schutzkleidung geworfen und lief mit konzentriertem Blick den Friedhofsweg hinunter, eine lange Spritzdüse in den behandschuhten Händen. Bremer konnte die Lust im Gesicht eines Mannes sehen, der sonst mit friedfertigen Dingen wie dem Züchten preisgekrönter Zwergwyandottenhühner beschäftigt war – die rachsüchtige Lust an der Vernichtung.

»Round up!« rief er zu seinem Nachbarn hinüber, dessen Dreiseitenhof mit der großen Linde vor dem Hoftor oben am Friedhofsweg stand. Paul wohnte unten, in einem unter die Traufe des Nachbargehöfts geduckten Haus, direkt dort, wo der Friedhofsweg auf die Hauptstraße traf. Gottfried hob mit siegesgewisser Geste den Daumen der linken Hand, drehte sich um und ging auf der anderen Seite der Straße den Weg wieder hoch. Seine Spritzdüse erfaßte jedes Kräutlein im Rinnstein und in den Ritzen der Gartenmauer. Round up klang gemütlich – nach Cowboyleben und Zigarettenwerbung. Aber so nannte sich das landesübliche Unkrautvernichtungsmittel, das man beim Raiffeisenmarkt hektoliterweise kaufen konnte. Völlig harmlos, außer für Unkraut, behaupteten hier alle. Bis auf Gottfried – »wer's glaubt, wird selig«, pflegte der zu sagen, wenn sich jemand über seinen Schutzanzug lustig machte.

Bremer legte die Handschuhe auf den Gartentisch, griff sich die Rosenschere, ging durchs Gartentor auf die Straße und auf dem schmalen Bürgersteig rechtsum, immer am Zaun entlang. Der Spalierapfelbaum, der dort stand, hatte nach einer üppigen Blüte viel zu viele Äpfel angesetzt. Prüfend nahm er den Baum in Augenschein und hob die Schere. Mindestens die Hälfte mußte abgeschnippelt werden, damit die anderen besser gedeihen konnten. Als der wuchtige Akkord durch das kleine Dorf dröhnte, wäre ihm die Schere beinahe aus der Hand gefallen. Er guckte zum Nachbarhaus hinüber. »Um Himmels willen, Erwin!« stöhnte er.

»Spiel mir das Lied vom Tod« war wieder angesagt. Erwin, der Mann mit dem Rancherzaun um sein penibel gepflegtes Grundstück, unterlegte seine Vernichtungsfeldzüge stets mit klassischen Hits. Normalerweise erklang der Gefangenenchor aus »Nabucco«, wenn er auf seinem golffähigen Rasen kniete, um in Maulwurfshügel, die das Grün entweihten, komplizierte Todesmaschinen einzubauen. Heute war es ausgerechnet O Fortuna aus den »Carmina Burana« von Carl Orff – die Musik aus der Kaffeewerbung, ja, so kam abendländische Kultur aufs Land –, zu der er Ameisentod ausbrachte und seine mickrige Strauchrose mit Giftschwaden einnebelte. Sors immanis et inanis – ungeheures und ungewisses Schicksal. Wie passend.

Friedliches Landleben. Bremer seufzte auf. Stille Idylle. Sanfte Natur.

In Wirklichkeit war das Landleben, wie jeder wußte, der hier lebte, laut, grausam und gefährlich. Er steckte die Schere in die Hosentasche, lehnte sich an den Pfosten neben dem Gartentor und sah seinen Nachbarn beim Morden zu. An Tagen wie diesem wußte er, daß er nie wieder in die Stadt zurück wollte. Wo sonst durfte man die Sau derart rauslassen?

3

Wingarten am Rhein

Ein Mann mit Glatze steht im Weinkeller und trinkt. Der Traum begann immer mit der gleichen Szene.

Auf dem Schädel des massigen Mannes spiegelt sich das Licht der vielen bunten Glühbirnen, die wie eine Girlande unter der gewölbten Kellerdecke hängen. Der Mann hat die Nase in das hohe Glas mit der tiefroten Flüssigkeit versenkt. Ein satter Seufzer erfüllt den Gewölbekeller, prallt von der aus roten Klinkern gemauerten Decke ab, fängt sich am Halbstückfaß, auf das der Mann sich mit dem rechten Ellenbogen stützt, fliegt eine endlos scheinende Reihe von Fässern entlang zu einer Nische an der Schmalseite des Gewölbes, in der in einem vielarmigen Leuchter weiße Kerzen flackern, und fällt schließlich erschöpft auf den feuchten Kellerboden. Der Mann hat die Nase aus dem Glas gehoben, hält es ans Licht der Kerze, die in einem Hügel aus Wachs auf dem Faß steckt, läßt den Inhalt kreisen. Setzt dann das Glas an, mit geschlossenen Augen, nimmt den ersten Schluck und schickt dem Seufzer ein lautes Schlürfen hinterher.

Der Mann steht am dritten Faß rechts in der langen Reihe von Fässern aus dunklem, aschefarbenen Holz; die Fässer links an der Gewölbewand haben eine hellere, noch goldene Tönung. Nebenan, im Nachbargewölbe, in das man über die Fässer hinweg hineinschauen kann, stehen weitere Reihen von Holzfässern.

Der Mann läßt den Schluck Wein in der Mundhöhle von einer Seite auf die andere wandern, kaut, schmatzt mit gespitzten Lippen und richtet beseligt die Augen nach oben, bevor er die Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen läßt. Dann schmatzt er noch einmal und federt auf den Zehenspitzen nach, bevor er das Glas wieder ansetzt.

Jetzt faßt seine linke Hand in die Außentasche des Sakkos, kommt wieder heraus und hält einen handlichen silbernen Gegenstand. Der Mann legt den Kopf in den Nacken und schaut zur Decke. Dann hält er sich den silbernen Gegenstand vor den Mund und sagt mit andächtiger Stimme »Spätburgunder Goldkapsel 1997« hinein, »Faßprobe bei Müller-Dernau im November«. Er läßt den Rest des Weines im Glas kreisen, das er zwischen Daumen und Zeigefinger am Fuß festhält, hebt es wieder in Augenhöhe und murmelt: »Farbe: sattrubin. Geruch«, fügt er nach einer Pause hinzu: »Röstaromen; Haselnuß.« Er steckt seine Nase ein weiteres Mal ins Glas: »Schokolade, Waldbeeren.«

Filmriß. Und dann eine neue Szene: gleicher Ort, gleiche Person. Das Licht in dem großen Keller ist jetzt merklich dunkler geworden, man sieht nur noch verschwommen, was passiert. Der Mann mit der Glatze geht langsam, den Rücken an ein Faß gelehnt, in die Knie, in der rechten Hand noch immer ein halbgefülltes Rotweinglas. Trinkt. Und trinkt. Und schließlich sitzt er vor dem Faß auf dem Hosenboden. In etwas, das wie eine Pfütze aussieht. Wie eine dunkelrote Pfütze. Wieder hat er das kleine silberne Ding in der Linken, diesmal lallt er hinein: »Susi.« Und noch einmal: »Susi.«

August M. Panitz knipste die Nachttischlampe an, setzte sich auf und hielt sich mit spitzen Fingern die schweißgetränkte Jacke des seidenen Pyjamas vom Leibe. Er träumte diesen Traum immer wieder – er wuchs sich langsam zum Alptraum aus. Ohne Zweifel: Die Sache war rätselhaft. Doch wenn er ehrlich war: Das größte Rätsel dabei war er sich selbst.

Er mußte zuviel getrunken haben, damals, bei der Faßprobe im Weinkeller von Müller-Dernau. Aber warum? Panitz kratzte sich die Brust unter dem nassen Pyjama. Normalerweise trank er bei Weinproben keinen Wein. Für das Urteil eines Fachmannes reichte es völlig aus, den Wein im Mund gehabt zu haben. Man muß nicht schlucken, was die Geruchsrezeptoren in der Nase und die Geschmacksknospen in der Mundhöhle geprüft haben.

Er verzog das Gesicht. Damals hatte er aus irgendeinem Grund nicht nur riechen und kauen und analysieren und ausspucken wollen, sondern trinken. Trinken. Trinken. Er schielte mit zusammengekniffenen Augen nach seinem Wecker und stellte fest, daß es noch viel zu früh zum Aufstehen war. Er würde trotzdem nicht wieder einschlafen können. Der Traum verfolgte ihn. Dabei war die ganze Sache ein gutes halbes Jahr her.

Er hatte sein Diktiergerät mehrmals abgehört. Erst seine Notizen, völlig korrekt abgegeben. Danach Funkstille. Und dann das gelallte »Susi«. In merklich weggetretenem Zustand gesprochen. August M. Panitz, besoffen auf dem Boden sitzend und an »Susi« denkend – er ließ sich wieder ins Bett zurücksinken. Lächerlich. Peinlich! So kannte er sich nicht.

Susanne hieß sie in Wirklichkeit, die kleine Blondine mit den schönen Rundungen an der richtigen Stelle. Na ja – an den Waden hätte es ruhig ein bißchen weniger sein dürfen. Er hatte sie bei der Geburtstagsparty von Walter Prior getroffen, der zur Feier des Tages ein paar verstaubte Flaschen aus dem Keller geholt hatte. Sie war in Begleitung eines Winzers aus Geisberg gekommen. Er hatte sie beobachtet – schließlich war ein hübsches Mädchen in dieser Szene selten –, hatte zugeguckt, wie sie wiederum all die anderen beobachtete, die Weinprofis, manch einer auch schon ziemlich angestaubt, die sich um den mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch drängten, auf dem die Raritäten präsentiert wurden, und ihre Nasen in die Gläser hielten.

Auf ihrem Gesicht hatten sich Verblüffung und Belustigung abgezeichnet – das wunderte ihn nicht. Für Laien und aus der Distanz betrachtet, sind Weinproben seltsame Veranstaltungen. Wichtig blickende Männer blähen ihre Nüstern, pumpen die Backen auf, spitzen die Münder, nicken oder schütteln die Köpfe, schlürfen, mampfen und spucken. Eine ekstatisch quakende Horde von Ochsenfröschen. Und er gehörte dazu. Susanne hatte alle ausgelacht – auch ihn. Und das hatte ihm gefallen.

Mann, hast du dich verguckt, alter Knabe, dachte er und rutschte tiefer in die Kissen. Er spürte, wie ihn noch heute der Gedanke an sie erregte. Und das mußte des Rätsels Lösung sein: Weil er damals im November an die junge blonde Susanne Eggers aus Bersenbrück gedacht hatte, hatte er sich betrunken. Und deshalb nichts gemerkt. Er hatte in Müller-Dernaus Keller lallend in einer Weinlache gesessen und nicht gemerkt, daß der Kerl sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr blicken ließ. Hatte statt dessen – wie oft? er wußte es nicht mehr – die gläserne Gärspirale oben aus dem Faß mit Müller-Dernaus bestem Wein genommen, den Stechheber vollaufen lassen und das Glas bis an die Oberkante mit dem roten Saft gefüllt. Und es ausgetrunken.

Es war Susannes Naivität gewesen, die ihm gefallen hatte. Oder, besser gesagt, ihr Unwissen. »Mein Onkel hat mich mitgenommen, damit ich mal was anderes kennenlerne als Lüttje Lage«, hatte sie gesagt.

»Lüttje Lage?« Er hatte erstaunt getan. »Ich kenne nur große Lagen.« Den Witz fand er auch heute noch gut.

»Lüttje Lage ist Bier mit Korn!« Susanne hatte ihn angestrahlt.

Das war's. Soviel charmanter Unkenntnis konnte er nicht widerstehen. Er hatte ihr ein Privatissimum erteilt – er erinnerte sich noch, wie verächtlich ihn Maximilian von der Lotte angeguckt und »Predigt Nr. 23, Vers 5, Absatz 16« gemurmelt hatte. Der reine Neid.

Er hatte ihr erklärt, warum diese Männer den Wein berochen, durchkauten, schlürften und dann wieder ausspuckten – weil das Riechen an erster Stelle kommt beim Weingenuß, der Geschmack im Mund an zweiter. Und die Kehle keine Rolle spielt. Das war das ABC des Weintrinkens: Nur die Nase kann den Duft des Weines, die Vielzahl von Aromen wirklich erfassen. Und nur in der Mundhöhle können Süße oder Säure, Perlenbildung, Temperatur, Dichte, Geschmeidigkeit und vor allem, beim Rotwein, Tanninhaltigkeit festgestellt werden. Tannine riecht man nicht; es sind die Geschmacksknospen im Mund, die uns einen Wein als hart, bitter, ledrig oder holzig empfinden lassen. Und das ist der Grund, warum der Kenner grimassiert und kaut und den einen Schluck hin und her wendet. Der Wein soll mit all den vielen Geschmacksknospen, die da drinnen auf ihn warten, in Berührung kommen.

Sie hatte ihm geduldig zugehört und ihn mit großen blauen Augen immerfort angesehen. Obwohl sie der ganze Sermon wahrscheinlich einen feuchten Kehricht interessiert hatte. Panitz gähnte und runzelte die Stirn. Das war ja das Problem – die mangelnde Weinerziehung im Land. Wenn die Konsumenten mehr wüßten, hätten die Betrüger keine Chance!

Aber Betrüger starben nicht aus – trotz der neuen Generation von Winzern wie Prior. Oder Blasius. Oder Müller-Dernau. Die erstklassigen Winzer hatten längst umgedacht – weg von der Massenproduktion, hin zu individuellen, qualitätsvollen Weinen. Bei denen man Wind, Wetter und Boden schmeckt, dachte er und schmatzte laut. Müller-Dernau gehörte zu der neuen Generation von Winzern, die dem deutschen Wein wieder zu Weltruhm verhelfen würden. Weltruhm – er liebte dieses Wort. Er wollte der Verkünder des neuen deutschen Weinwunders sein. Um so unnachsichtiger mußte man gegen Panscher und Betrüger vorgehen.

Vielleicht hatte auch Müller-Dernaus Keller dazu beigetragen, daß er sich damals so selbstvergessen aufgeführt hatte. Müller-Dernaus 200 Jahre alter Gewölbekeller war groß genug, um als Gärkeller und als Lagerkeller zugleich zu dienen. Im Lagerkeller ruhte Flasche um Flasche, die Raritäten lagen in Wandnischen, die wie Grüfte aussahen: bestaubt und von Spinnweben überzogen und von flackernden Kerzen erleuchtet, die Müller-Dernau ansteckte, wenn er bei hohem Besuch einige seiner besseren Bouteillen öffnete. Der Keller hatte die perfekte Temperatur und Luftfeuchtigkeit, seine Wände waren bedeckt von Cladosporium cellare, dem dunkelgraugrünen Kellerpilz, der Kelleratmosphäre und -feuchtigkeit natürlich regulierte. Laien ekelten sich davor. Er aber bewunderte die Natur, die eine so häßliche, schleimige Kreatur noch nützlich sein läßt.

Im Gärkeller hatten sich Müller-Dernaus beste Weißweine mitten im Gärprozeß befunden. Es gab kein schöneres Geräusch als das Glucksen, Rülpsen und Stöhnen, das entsteht, wenn die Gärgase aus den aufs Faß gesteckten Gärspunden und Gärspiralen entweichen. Müller-Dernau war mit der Lese spät dran gewesen, was auch gut so war, denn der Oktober war zum Schluß doch noch einmal sonnig und warm geworden, das hatte die Öchslegrade in die Höhe getrieben. Panitz war umgeben gewesen von besten Weinen bei der Arbeit. Gibt es einen schöneren Ort als einen Weinkeller?

Er zog sich die Bettdecke bis unter das Kinn. »Das war's«, sagte er laut. Das alles mußte zusammengewirkt haben: Der vorzügliche Spätburgunder, der Gedanke an die blonde Susanne und die wohligen Geräusche des Gärkellers hatten ihn eingelullt, hatten eine perlende Euphorie in ihm aufsteigen lassen. Er hatte glücklich auf dem Boden gehockt, an ein großes, beruhigendes Faß gelehnt, den Wein im Glas kreisen und schwappen lassen und sich betrunken.

Du Idiot, dachte er, richtete sich wieder auf und stopfte sich das Kopfkissen hinter den Kopf. Ausgerechnet ihm mußte das passieren. Dabei hatte er alles noch am Tag zuvor der hübschen Susanne erklärt.

»Hefen verwandeln Zucker in Alkohol.« Sie hatte genickt. »Diese Gärprozesse setzen Kohlendioxid frei, das aus den Gärspunden oder Gärröhren in die Luft entweicht. Kohlendioxid verdrängt Sauerstoff, weshalb jeder vernünftige Keller gut belüftet wird – mit Ventilatoren, wenn der Keller tief liegt.« Wieder hatte sie genickt. Hoffentlich hatte sie es auch verstanden. Erst kürzlich war ein Winzergehilfe bei Reinigungsarbeiten in einem der großen Weintanks erstickt. Kohlendioxid war schwerer als Luft und konzentrierte sich unten, am Boden.

Dummheit war eben verdammt verbreitet. Auch da, wo man Verstand vermutet hatte. Auch bei Weinkritikern von einem gewissen Renommee wie August M. Panitz – der sich gar nicht gefragt hatte, warum er in Müller-Dernaus tiefem Keller kein Ventilatorengeräusch mehr hörte. Warum Müller-Dernau nicht zurückkam. Und warum ihm so schwer und süß zumute war, so wohlig und geil. Dabei blakten die Kerzen – die auf dem mehrarmigen Kerzenleuchter waren bereits ausgegangen, den Müller-Dernau auf den Boden am Ende des langen Ganges gestellt hatte, in dem die Fässer mit dem neuen Riesling-Jahrgang standen. Die Zeichen konnten nicht deutlicher sein.

Irgendwann war die Botschaft bei ihm angekommen. »Gärprozesse setzen Kohlendioxid frei«, hatte er Susanne erklärt. Kohlendioxid verdrängt Sauerstoff. Sauerstoffmangel macht erst euphorisch – und dann tot. Wie ein Blitz hatte ihn die Erkenntnis durchzuckt: Er mußte hier raus. Und zwar sofort.

Panitz stöhnte auf und krampfte seine Hände um die Bettdecke. Er hatte sich so unendlich hilflos gefühlt. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis er sich hochgerappelt hatte, hoch vom kalten, glitschigen Kellerboden. Und die ganze Zeit hatten sich die Finger seiner rechten Hand um das Rotweinglas gekrampft, als ob er sich daran festhalten wollte.

Fluchend und mit berstendem Kopf, schwankend und rutschend hatte er sich zur Kellertreppe vorgearbeitet und hätte dann fast aufgegeben: Wie sollte er da hochkommen? Na wie schon! Auf den Knien, dachte er, die Szene vor Augen. Demütig.

Auf den Knien also war er hochgekrochen, hoch zur Tür; mit letzten Kräften hatte er sich aufgerichtet, die Klinke heruntergezogen und sich gegen die Tür gestemmt. Nichts. Die Tür war zu, verschlossen. Auf sein Klopfen und Rufen hatte niemand geantwortet. Er hatte sich hingesetzt, den Kopf auf die Brust sinken lassen und einen letzten Gedanken an Susanne geschickt.

An Susanne? Oder hatte sich, bevor er weggedämmert war, ein anderes Gesicht vor Susannes geschoben? Das Gesicht einer anderen blonden Frau. Eva?

Panitz schob den Gedanken resolut von sich und schlug die Bettdecke zur Seite. So sterben, hatte er irgendwann einmal feierlich erklärt. Mit einem Glas Wein in der Hand. In einem der schönsten Weinkeller, die er kannte. Umgeben von Hektolitern der feinsten Weine der Welt. So sterben. So möge der Tod ihn ereilen.

Alles Quatsch, wußte er heute. Sterben? Mußte das sein?

4

Klein-Roda in der Rhön

Bremer liebte sein Dorf und das ganze grelle stinkende laute Landleben. Was konnte ein gerade mal fünfzehn Familien umfassender Weiler bloß für ein Spektakel veranstalten! Aus einem langgestreckten Stall drei Höfe weiter, auf der linken Straßenseite, kam eine Wolke von Ammoniak herübergeweht – und durchdringendes Schreien. Bauer Knöss fütterte seine hysterischen Mastschweine. Ein Haus weiter heulte die Töle der Tröllers. Der Terrier hatte schon die ganze Nacht hindurch geklagt. Hoffentlich war das Vieh bald heiser.

Bremer hatte sich im Laufe der Jahre an alles gewöhnt: an Lärm, Gestank und Tod. In Klein-Roda wurde immer irgend etwas vergiftet oder sonstwie umgebracht. Und es wurde immer irgendwas gebrüllt. Gottfried, dessen Hof etwas oberhalb lag und der deshalb Bremers Haus voll unter Kontrolle hatte, brüllte ihm jeden Tag einen Morgengruß zu. Die Bekkers von nebenan brüllten nach ihren ungezogenen Kindern. Alle brüllten nach Bello, dem Bernhardiner, der gerne auf Trebe ging, um in jedem zugänglichen Garten riesige Krater für seine Geschäfte auszuheben. Und am meisten mußte man brüllen, wenn Erwin auf seinem Bulldog vorbeigedieselt kam, auf dem alten Lanz, einem Trecker, der gebaut worden war, bevor die Welt Lärmschutzverordnungen kannte.

Von rechts, von der Hauptstraße her hörte Bremer jetzt ein vertrautes Hämmern und Wummern, das sich zu einem rhythmischen Crescendo steigerte. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er zu, wie sein Nachbar Willi versuchte, den Zigarettenautomaten zur Freigabe eines Päckchens Zigaretten zu überreden. Dramatische Szenen hatten sich hier schon abgespielt, der Automat war getreten, geschüttelt, geschlagen worden. Ein völlig frustrierter Raucher hatte vor zwei Monaten eine Flasche Bier daran zertrümmert. Und ein Ferienbesucher aus dem Ruhrpott hatte ihn mit Handkantenschlägen traktiert.

»Gib's auf, Willi«, rief er ihm zu. Aber Willi hatte seine eigenen Methoden und deshalb heute schon nach etwa drei Minuten Erfolg. Resigniert sah Bremer dem Unausweichlichen entgegen: die Zellophanhülle um das Zigarettenpäckchen herum, die Willi jetzt herunterriß, würde unter Garantie wieder da landen, wo sie immer landete. Oder? Willi schien zu zögern. Aber dann holte seine Hand zu einer eingespielten Bewegung aus. Die Zellophanhülle landete in den Rosen in Bremers Vorgarten. Wie immer. Damit du was zu tun hast, schien Willis Gesichtsausdruck zu sagen, eine Mischung aus Unschuld und Unverfrorenheit. Bremer mußte gegen seinen Willen lachen.

Willi grinste zurück und schlurfte auf ihn zu, in grünen Gummistiefeln über dem ebenfalls olivgrünen Overall. Er hatte sich die erste Zigarette schon zwischen die Lippen gesteckt, das Feuerzeug aus der Tasche geholt.

»Und wie?« sagte er zur Begrüßung.

Bremer wunderte sich zum zigsten Mal, warum sein um ein Jahr jüngerer Nachbar zu jeder Jahreszeit ein farbloses, lappiges Hütchen auf den dunklen Locken trug. Das Kleidungsstück war kreisrund, hatte eine mit sechs Steppnähten in Form gehaltene schmale Krempe und ein mit einem Druckknopf verschlossenes Täschchen, das Willi meist an der rechten Seite trug. Oben war der Hut ein bißchen eingedellert, wie ein ausgebeulter Kochtopf. Das formlose Gebilde, wie es auch Angler und deutsche Touristen in Italien tragen, schien keine sichtbare Funktion zu erfüllen. Außer, vielleicht, etwaige kahle Stellen an Männerhinterköpfen zu verdecken. Unwillkürlich fuhr Bremer sich über den eigenen Kopf, durch die knisternden, kurzgeschnittenen Haare. Sie waren zwar weiß – schon seit er 28 war –, aber flächendeckend.

»Und selbst?« Er schlug mit der Hand nach den Zigarettenrauchschwaden.

»Bess hat geworfen«, sagte sein Nachbar. Plötzlich sah der Mann wie ein junger Vater aus, der vor Stolz fast platzte. »Ganz allein!«

»Herzlichen Glückwunsch!« Bremer wußte manchmal nicht genau, ob er seinen Nachbarn rührend oder ein bißchen spinnert finden sollte. Bess und Blume und Zeus, Zottel, Liesel und Brezel waren die Sterne an Willis Firmament. Bauer Knöss hatte ihm deshalb schon mal hinter seinem Rücken den Vogel gezeigt – Bremer hatte es gesehen – und »Der tickt doch nicht richtig, der Willi« gesagt. Vielleicht stimmte das ja – aber Bremer war als ehemaliger Städter der festen Überzeugung, es könne gar nicht schaden, wenn auch ein knüppelharter Bauersmann mal ein bißchen Gefühl für die Kreatur entwickelte.

»Man kann zugucken, wie es wächst.« Willi richtete den Blick in unbekannte Fernen. Genau das wird er getan haben, dachte Paul und klopfte seinem Nachbarn auf die Schulter. Bauern haben keine Zeit. Und Willi schon mal gar nicht. Nur für seine kleine Herde hatte er alle Zeit der Welt. Gestern früh um sechs war Bremer mit dem Rennrad an der Koppel vorbeigefahren und hatte ihn gesehen, wie er, die Arme aufs Gatter gelegt, seinen Tieren dabei zuschaute, wie sie mit ihren weichen Mäulern die Gräser und Kräuter aus der Wiese rupften.

Willi war in Ordnung. Daß seine Frau dauernd an ihm herumnörgelte, hielt Bremer für ungerecht. »Und dann ist er wieder mit der Bierflasche in der Hand vor der Glotze eingeschlafen«, hatte Marianne vor ein paar Tagen geschimpft, »und jetzt hab ich die ganze Sauerei in den Sofapolstern.« Paul fand seine Nachbarin und ansonsten gute Freundin in diesem Punkt kleinlich. Willi arbeitete wie ein Pferd, hatte Humor und sah auch noch gut aus mit seinem gebräunten Gesicht und den dunklen Locken, mit den sehnigen Armen und der immer noch ansehnlichen Figur – wenn man vor Augen hatte, welche Mengen der Bauer morgens, mittags und abends zu verdrücken pflegte. Und zum Saufen kam er offenbar gar nicht erst – er schlief ja, Marianne zufolge, schon vorher ein.

Nur die Hände, dachte Paul, als er Willi zusah, wie er die Kippe mit Daumen und Zeigefinger an den Mund hob und mit zusammengekniffenen Augen inhalierte – nur die schwieligen, rissigen, fleckigen Hände, die würde Willi nie mehr sauber kriegen. Hände, die Katzen und Hühnern das Genick umdrehen, die Mistforke in Rekordtempo schwingen und Kälbchen aus dem Mutterleib ziehen konnten. Und die verblüffend zärtlich waren, wenn er bei seinen Hochlandrindern stand und ihnen die Stirnlocken zwischen den Hörnern kraulte. Er guckte auf seine eigenen Hände. Die waren ein bißchen verkratzt, von den Rosen, aber sahen im wesentlichen noch so aus wie damals, als er in Frankfurt und nur am Schreibtisch arbeitete. Und das war auch besser so. Gigantische Pranken, die auf keine Tastatur mehr paßten, konnte er sich nicht leisten.

»Und die anderen?« Er drehte sich so, daß der Zigarettenqualm an ihm vorbeizog.

»Blume ist in drei Wochen dran.« Willis Augen glänzten.

Was für eine Wandlung. Willi, der Unsentimentale. Für den das Wort »Öko« ein Schimpfwort gewesen war. Der seinen Mastschweinen in ihrem stinkenden Stall ein kurzes Leben zumutete, wie es fürchterlicher kaum vorstellbar war. Denselben Willi hatten ein paar wuschelige Rinder plötzlich in einen Tierfreund verwandelt. Noch vor eineinhalb Jahren war Willi der Kopf des Widerstands gegen den grünen Ortsbeirat Moritz gewesen, der einsam und mit wachsender Verzweiflung versucht hatte, wenigstens ein Minimum an Umweltbewußtsein im Dorf zu schaffen. Und jetzt das.

Zugegeben: Bremer mochte Moritz nicht. Wer sich jenseits der vierzig noch immer die ergrauten Haare zum Pferdeschwanz band, war in seinen Augen lächerlich. Außerdem hielt er ihn für einen Besserwisser. Und am meisten störte ihn, daß er in Moritz eine Karikatur seiner selbst erkannte – des hundertfünfzigprozentig zum Landleben Bekehrten.

Aber damals hatte der grüne Über-Öko einfach recht gehabt. »Es wird nachts Gülle gefahren«, hatte Moritz in der Ortsbeiratssitzung mit ganz ruhiger Stimme begonnen. Kein Bauer durfte den Inhalt von Vieh- und Hausgruben zu jeder Jahreszeit und in jeder Menge auf die Felder bringen. Aber einige Dickköpfe ließen sich von keinerlei Vorschrift davon abhalten, genau das zu tun. Es ließ auf immerhin eine Spur von Schuldbewußtsein schließen, daß sie es wenigstens nicht mehr am hellichten Tag taten.

Moritz guckte vorsichtshalber niemanden an, als er anfügte: »Und ganz offenkundig wurde Gülle in der Flußaue abgelassen.« Im naturgeschützten Sumpfgebiet am Streitbach. Also dort, wo das Übermaß an Stickstoffverbindungen am verheerendsten wirkte.

»Na und?« hatte Willi geantwortet und gegrinst dabei. »Ist doch alles Öko!«

»Außerdem ist mir aufgefallen, daß sich auf dem Brandplatz am Auwiesenweg auffällig viele Blechdosen in der Asche befinden. Es ist nicht gestattet …«

»Und wo steht das geschrieben?« war Willi, immer noch lächelnd, dazwischengegangen.

»In der Gemeindesitzung vom Donnerstag zur Sondermüllverordnung wurde noch einmal bekräftigt …«

»Wo?« fragte Willi, lächelte noch sanfter und sagte dann ganz leise: »Hier hat nur einer was zu sagen: ich. Wir. Sonst keiner.« Alle hatten zugesehen, wie Moritz' Gesicht sich langsam rötete – es war gar nicht so einfach, einem gestandenen Bauern Aug' in Aug' zu widersprechen. »Und so«, fügte Willi hinzu, »so ist es immer schon gewesen. Verstehste?«

Willis Vorstellung von Recht und Gesetz ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Grund und Boden, Flora und Fauna sind dem individuellen bäuerlichen Willen untertan. Um so verblüffender, daß dieser sortenreine Vertreter bäuerlicher Sturheit vor einem Jahr auf den Ökotrip gegangen war. Auf der Landwirtschaftsausstellung in Pfaffenheim hatte er sie kennengelernt, die Wundertiere aus Schottland: kleine, gehörnte Rinder mit dickem, lockigem, schwarzem bis rotgoldenem Fell, wahre Muster an Ausdauer und Robustheit, Meister des Überlebens. Zwei Monate später hatte er seine ersten Hochlandrinder gekauft und auf die Weide gebracht. Highlander, die Rinder der Zukunft.

»Tierarztkosten gleich Null«, hatte Willi damals jedem erzählt. Der Kostenfaktor war so ziemlich das stärkste Argument, was man in der Landwirtschaft auffahren konnte. »Die sind kerngesund und winterhart!«

Das halbe Dorf war nach einer besonders kalten Nacht im letzten Winter auf die Weide gezogen, um nachzuschauen, ob die Tiere auch wirklich sagenhafte 20 Grad Kälte überlebt hatten. Bremer sah das Bild noch vor sich: Die Rinder standen mit Eiszapfen im Zottelfell an der Heuraufe und mampften gelassen, dicht aneinandergedrängt, leise schnaubend und Dampfwölkchen aus den Nüstern pustend.

In Willis Augen gab es nur gute Argumente für die Tiere. Man mußte keinen Tierarzt bezahlen. Sie brauchten keinen Stall. Sie verbesserten sogar die Weidequalität. Vor allem aber wurden, dank dem Rinderwahnsinn-Skandal, vernünftige Preise für das Fleisch der Bio-Kälber gezahlt. Doch all das zählt im Grunde nicht, dachte Bremer: Der Mann liebt seine Tiere auch so. Ganz ohne Kosten-Nutzen-Kalkül. Was an ein Wunder grenzte.

»Hast du's gelesen?« fragte Willi mit plötzlich düsterem Gesicht.

Paul nickte. Es hatte vor einigen Wochen ganz in der Nähe, in Oberhunden, eine Tragödie gegeben. Ein Zuchtbulle war Amok gelaufen: Erst hatte das Tier den 54 Jahre alten Bauern angefallen und getötet. Die Ehefrau, auf der Suche nach ihrem Mann, fand ihn nach Stunden leblos auf der Weide liegen. Als sie ihm helfen wollte, wurde sie ebenfalls von dem Bullen angegriffen. Rinderwahn? Man hatte lange nichts mehr von neuen Fällen gehört. Und der Bulle war kein gewöhnliches Mastrind, kein Exemplar dieser armen Viecher, denen schon immer alles mögliche zugemutet wurde, was ihr Wachstum beschleunigen und ihr Leben verkürzen sollte: Hormone. Kraftfutter. Tiermehl. Beim Todesbullen handelte es sich um ein schottisches Hochlandrind. Das Bio unter den Rindern. Also eigentlich alles unverdächtig.

»Es soll eine Eilverordnung aus dem Landwirtschaftsministerium geben«, sagte er. In Wirklichkeit hatte er es heute früh im Radio konkreter gehört: Vom Totalschlachten aller Highlander in Hessen war die Rede gewesen.

»Mit mir nicht.« Willi hatte ein verdächtiges Glitzern in den Augen. »Zu mir solln die mal kommen. Da läuft nix. Gar nix.«

Paul verlagerte sein Gewicht vom linken aufs rechte Bein. Willis überschwengliche Liebe zu seinen Viechern machte ihn plötzlich verlegen. Im Grunde war er sich gar nicht sicher, ob es nicht besser war, den Rinderwahn bei jedem neuen Anzeichen systematisch auszurotten, so hart das auch im Einzelfall sein mochte. Hatte das nicht in der Vergangenheit schon geholfen? Er kickte mit dem Fuß die Zigarettenkippe in den Gully, die Willi in Grund und Boden getreten hatte. Besser, er hielt den Mund. Gegen Liebe kann man nicht argumentieren. Liebe, das las man heute in jedem Käseblatt in der Sonntagsbeilage, ist überlebensnotwendig – schon als vorbeugende Maßnahme gegen Bluthochdruck und Herzinfarkt. Warum also nicht Rinder lieben?

Marianne riß das Küchenfenster auf, das sich zu Pauls Garten hin öffnete. »Willi!« rief sie mit dieser ganz besonderen Härte in der Stimme, die sie für ihren Gatten reservierte.

»Was is!« brüllte der zurück. Die beiden waren ein eingespieltes Team.

»Essen!« brüllte Marianne.

Willi blickte Paul an, nickte ihm zu und sagte: »Verstehste?« Paul verstand. Nichts und niemand kam zwischen Willi und seine Highlander.

»Alles klar.« Er nickte zurück.

Willi klopfte ihn auf den Oberarm, brüllte: »Ich komm schon!« und schlurfte um die Ecke.

Paul sah ihm hinterher und schüttelte den Kopf. Muß Liebe schön sein. Ersatzweise nahm er den kleinen grauen Kater hoch, der sich schon seit einer Weile um seine Beine kringelte, und drückte ihn, bis das Tier protestierend mit den Pfoten fuchtelte. Dann ging auch er ins Haus.

5

Wingarten am Rhein

August M. Panitz hatte sich in seinen roten Kimono gewikkelt, stand in der Küche und beendete seine morgendliche Teezeremonie. Der »Pussimbing«, Darjeeling erster Güte, durfte nur in einer gut vorgewärmten Kanne und höchstens zwei Minuten ziehen, damit er ihm schmeckte. Er stellte die Kanne mit dem Stövchen auf das Tablett, auf dem schon die Tasse stand, und nahm beides mit in den Wintergarten. Von Herbst bis Frühling frühstückte er hier. Die Zeitung lag schon auf dem Tisch. Agata brachte sie jeden Morgen, während er noch im Bett lag, bevor sie ihrer anderen Arbeit nachging. Heute hatte er gehört, wie die polnische Zugehfrau den Schlüssel in der Haustür umdrehte, die Stufen hinaufging, die Zimmertür öffnete und dann das Haus wieder verließ. Dann war er aufgestanden. Zeitunglesen gehörte zu einem gelungenen Morgen, auch wenn sein Vergnügen daran seit einiger Zeit gelitten hatte. War das schon die neue Rechtschreibung oder die seuchenartige Verbreitung von Legasthenie unter den Redakteuren, was ihn jeden Morgen mehr irritierte?

Er schaltete das Radio ein – das Kulturprogramm, wenigstens dort wurden Fremdwörter richtig ausgesprochen und Sätze korrekt betont – und ließ sich in den Sessel sinken. Der Traum ließ ihm keine Ruhe. Und, wenn er es recht betrachtete, auch andere Ereignisse nicht, die er langsam in einem neuen Licht zu sehen begann. Oder war das beginnende Paranoia? Er goß sich Tee ein und faltete die Zeitung auf. Müller-Dernau jedenfalls hatte auch keine rechte Erklärung für das, was in seinem Keller passiert war. Wenigstens hatte er ihm das Leben gerettet. »Ist ja auch schon was«, brummte er und atmete den Teeduft ein.

Er erinnerte sich nur vage an den Moment, in dem die schwere Kellertür plötzlich aufging. Es war unerträglich hell, sein Kopf schmerzte, und Müller-Dernau schrie irgend etwas, das er nicht verstand. »Was ist denn los, zum Teufel«, hatte er gemurmelt. Dann mußte er umgekippt sein. Als er wieder bei Bewußtsein war, lag er mit dem Kopf an Müller-Dernaus Bein gelehnt, ganz nah vor Augen den gelb-braunen Ripp von dessen Kordhose, die nach abgestandenem Wein roch. Fast wäre ihm schlecht geworden.

»Dem Herrn sei Dank«, hatte Müller-Dernau ausgerufen, die Hände gefaltet, den Kopf zum Himmel gerichtet. Panitz hatte die Aufregung nicht verstanden – vor allem nicht, warum der Winzer Tränen in den Augen zu haben schien. »Kannst du mir verzeihen?«

»Schrei doch nicht so!« hatte er gestöhnt. Müller-Dernau half ihm auf.

»Ich muß völlig daneben gewesen sein. Ich kann gar nicht begreifen, wie das geschehen konnte!«

Panitz verstand das auch nicht.

»Ich muß im Hinauslaufen den Schlüssel umgedreht haben. So was ist mir noch nie passiert.«

Ist auch besser so, dachte Panitz und nahm einen Schluck Tee. Müller-Dernau hätte schließlich auch seine Leiche finden können.

Ein paar Tage später, als er wieder erholt war, hatten sie die Geschichte, so weit es ging, rekonstruiert. Panitz und Müller-Dernau hatten gerade mit der Faßprobe begonnen, als Elseliese hereingeplatzt war, obwohl sie wußte, daß beide bei diesem Ritual nicht gestört werden wollten. Es mußte also etwas Wichtiges sein.

Normalerweise war Müller-Dernaus Halbtagssekretärin, die ihm die Buchhaltung machte, eine nüchterne, unaufgeregte Person. »Ihre Tochter, Herr Müller-Dernau«, hatte sie ihm laut zugeflüstert. Das hatte genügt.

Er hatte sich hastig bei Panitz entschuldigt, war aus dem Keller gestürzt, in sein Büro gerannt, hatte nur kurz den Hörer ans Ohr gehalten – und war dann außer sich vor Angst wieder hinausgelaufen.

»Ich hätte fast Elisabeth über den Haufen gerannt, August« – Elisabeth Klar, die Chefin der »Traube«, war eine seiner treuesten Stammkundinnen und wohl gerade um die Hausecke gekommen. Dann hatte Müller-Dernau sich in sein Auto gesetzt und war losgefahren.