„Beziehungen brauchen viele Ressourcen. Dieses Buch zeigt, wie man sie findet und selbst erzeugen kann.“

Prof. Dr. Alfred Pritz, Rektor der Sigmund Freud Privatuniversität und Präsident des World Council for Psychotherapy

„Dieses Buch erhellt Dynamiken und Konfliktfelder und steuert Paare versiert durch Krisen.“

Mag. Eva Pritz, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin, Leiterin der Ambulanz der Sigmund Freud Privatuniversität

„Ein sehr intelligent geschriebenes Buch, das Lust macht, sich liebevoll und ganz individuell mit seiner Beziehung zu beschäftigen.“

Dr. Susanne Glass, Korrespondentin der ARD, Leiterin des Studio Wien

Margot Schmitz & Michael Schmitz

Liebe, Lust und Ehebett

Ein Buch zur Sache

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0580-7
Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus, Wien
Unter Verwendung eines Fotos von Photographerlondon/Dreamstime.com
Typografische Gestaltung, Satz: Birgit Mayer, Extraplan
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALT

VERLIEBTHEIT – EIN RAUSCH

Wie von Sinnen

Eins-Sein

Märchenhafter als ein Märchen

Grimms Rache

Angestrengte Helden

Ausstieg aus dem Liebeswahn

LIEBE IST VIEL VERLANGT. SORRY!

Ein Herz und eine Seele. Ein Irrtum

Langeweile im Bett

Funktionier – für mich

Gottmans apokalyptische Reiter

Frauen wollen reden, Männer wollen Sex

Langweile – der Preis für Sicherheit

WIE UNROMANTISCH! LIEBE IST ARBEIT

Wie wir liebesfähig werden

Liebe ist Ich und Ich

Liebe ist: sich einlassen!

Zukunftsbilder – Visionen, nicht Halluzinationen

Verstellte Fluchten

Kinder – die kleine Katastrophen

Anspruchsfallen

Der Eltern langer Schatten

Jeder für sich

Gut kommunizieren

LIEBES-KILLER

Schlechte Gewohnheiten

Karriere statt Liebe

Aufreibender Alltag

Überzogene Erwartungen

Wie viel Freiheit verträgt Bindung?

Wo Betrug anfängt

UND DANN KOMMT SIE DOCH – DIE AFFÄRE

Beschwingte Affären

Berauschende Geheimnisse

Gut lügen können – eine Beziehungskompetenz

Gefahr im Vollzug

Das Ende der Lässigkeit

Wahrheits-Tribunale

Wir lieben unsere Illusionen

Keiner kann für einen alles sein

Affären im Kopfkino

Gleichzeitige Lieben

Eifersucht – kann heilen. Und fertigmachen.

Grundregel der Offenheit

DIE GRÖSSTE BEDROHUNG – DIE HEIMLICHE LIEBE

Mehr als Sex

Schluss ist lange nicht

Zu dritt auf der Gefühls-Achterbahn

Sich Liebe aus dem Herzen reißen?

Partner tragen füreinander Verantwortung

KRISEN BIETEN CHANCEN – AUCH IN DER LIEBE

Kampf der Gefühle

Katastrophen bestehen, Chancen entdecken

Akut-Maßnahmen

Treue ohne Reue?

Affären-Prophylaxe

Achtsam bleiben, um nicht misstrauisch zu werden

Lust miteinander, nicht nur beim Sex

Gute und schlechte Therapeuten – Anleitung für einen Check

Paar-Therapeuten und selbst ein Paar – ein zusätzliches Plus

Sich Geheimnisse lassen

Gemeinsam und jeder für sich

Verbündeter und Anwalt der Beziehung

GUTER SEX, TROTZ LANGER LIEBE

Sex mit und ohne Liebe

Vagina und Penis – die unbekannten Wesen

Por-No-No

Meister der Lust

Lust zelebrieren

Nach dem Sex ist vor dem Sex

Aus der Traum

Berauschende Fantasien

Im Laufe der Jahre

LITERATUR

VERLIEBTHEIT – EIN RAUSCH

Wie von Sinnen

Katja ist frisch verliebt. In Sven. Ihrer besten Freundin schwärmt sie von ihm vor: „Mit Sven ist alles ganz anders. Er ist so aufmerksam und einfühlsam. Ich habe mich noch von niemandem so verstanden gefühlt wie von ihm. Sven ist so zärtlich. Er hat nur Augen für mich. Und er sieht toll aus. Ich fühl mich großartig an seiner Seite. Er weiß schon, was ich möchte, ohne dass ich irgendetwas sage. Wir lachen viel zusammen, über jeden Blödsinn. Wenn wir nicht zusammen sein können, schreiben wir uns andauernd kleine Nachrichten auf WhatsApp – dass wir aneinander denken, was wir gerade tun, dass wir scharf sind aufeinander. Sex ist aufregend. Wir können voneinander nicht genug kriegen. Und wenn wir mal keine Lust aufeinander haben, ist es auch gut. Es muss gar nichts passieren, dass wir uns wohl fühlen. Es ist wunderbar, einfach zusammen zu sein.“

Sven erzählt seinen Freunden mit strahlenden Augen von Katja: „Sie sieht klasse aus, sehr sexy. Sie ist völlig unkompliziert, auch im Bett. Sie ziert sich nicht. Vorspiel kann sein, muss aber nicht sein. Wir können genauso gut einfach übereinander herfallen. Alles geht spontan, ohne Gebrauchsanweisung. Sie weiß, was sie will, und lässt mich das genau spüren. Sie ist witzig und kann sogar über meinen schrägen Humor lachen. Sie interessiert sich für alles. Sie sagt mir, dass sie mich toll findet, als Liebhaber und überhaupt als Typ. Wenn ich sie dabei so verliebt anschaue, schwillt mir alles Mögliche, auch die Brust.“

Verliebte sind voneinander berauscht. Alles finden sie aneinander toll. Was vielleicht nicht so toll ist, nehmen sie nicht wahr, oder es fällt nicht ins Gewicht. Es hat für sie keine Bedeutung. Würde jemand sie darauf hinweisen, würden sie nur darüber lachen, es nicht ernst nehmen. Freunde, die Bedenken hegen, mischen sich besser nicht ein. Sie sollten den Zustand schlicht zur Kenntnis nehmen – und sich mitfreuen.

Wer verliebt ist, für den ändert sich zunächst das ganze Leben. Nichts ist mehr bedrückend. Probleme schrumpfen zu Bagatellen oder lösen sich in Luft auf. Die Zeit setzt aus. Alltag als Last gibt es nicht mehr. Jede Langeweile ist verflogen. Tristesse adieu. Verliebte sind fröhlich. Sie fühlen sich beschwingt. Sie schweben in scheinbar unendlicher Leichtigkeit des Seins. Mit strahlenden Gesichtern. Schöner könnte es nicht sein. Es ist wie im Märchen.

So fängt es an: Plötzlich tritt jemand in unser Leben, der uns vereinnahmt, uns beseelt, jemand, der uns mehr bedeutet als jeder sonst und wichtiger ist alles andere. Wir sind nicht mehr, wer wir waren. Weil wir begehren, verehren, umschwärmen, weil wir selbst begehrt, verehrt, umschwärmt werden. Wir fühlen uns erweckt, bewundert dafür, dass wir sind, wie wir sind. Nichts an uns ist unzureichend, nichts peinlich oder blöd. Mehr Selbstwert können wir nicht empfinden. Grenzen scheinen zu schwinden, die Zeit scheint stehen zu bleiben. Verliebtheit kommt wie ein großer Knall. Und hüllt uns in Illusion.

Jonas sieht Marie in einem weißen Bikini auf der steinernen Plattform, von der Sportler zwanzig Meter hinabspringen in den Rio Santos. Lange dunkle Haare, gebräunte Haut. „Sie wandte sich um, und nun erst sah Jonas, wie umwerfend diese Frau wirklich war. Da war etwas Geheimnisvolles in ihrem Gesicht, das er nicht einordnen konnte. Sie war nicht perfekt, ihre Bewegungen waren etwas ungelenk, fast schüchtern, und sie ließ die Schultern hängen, aber sie hatte eine Aura von Größe, von Einzigartigkeit, er konnte es nicht erklären, und er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Er war ihr verfallen, sofort.“ (Thomas Glavinic: „Das größere Wunder“. S. 202)

Es kann sehr schnell gehen. In Romanen wie im richtigen Leben. Ohne dass es dafür eine richtige Erklärung geben muss. Jedenfalls keine, die mit Vernunft zu tun hat. Alles ist plötzlich entfesseltes Gefühl. Deshalb ist die Literatur ja so fasziniert von dem Phänomen und deshalb fahren Leser und Leserinnen so sehr darauf ab. Jedem kann es widerfahren.

„Ich habe viele Frauen gekannt, die schöner und geistreicher waren als sie, die eine bessere Figur und einen besseren Geschmack hatten. Aber diese Vergleiche sind völlig bedeutungslos. Denn, ich weiß nicht, warum, sie ist für mich ein besonderes Wesen. Vielleicht könnte man es eine Synthese nennen? Alle Eigenschaften, die sie besitzt, sind in einem Kern verdichtet. Zerlegt man alle Einzelteile, lässt sich daran nicht messen oder analysieren, wem sie unterlegen oder überlegen ist. Und das Wesen mit diesem Kern zieht mich unwiderstehlich an. Wie ein starker Magnet. Jenseits jeder Vernunft.“ (Haruki Murakami: „Von Männern, die keine Frauen haben“. S. 102)

Beschreibungen, wie alles anfängt, wie der Blitz einschlägt, was so besonders ist, ohne dass zu erklären wäre, warum, berühren uns. Schilderungen, wie das Faszinierende, Betörende, Vereinnahmende daherkommen kann als etwas Unscheinbares, Normales, Gewöhnliches und sich mit einem Schlag als dessen Gegenteil erweisen kann, setzen Fantasien und Sehnsüchte frei. Jeder kann sich hineinversetzen, sich selbst in der Rolle sehen, erleben.

Im Märchen verändert Liebe das betrüblichste Dasein. Mit einem Mal. Auf immer und ewig. Verliebtheit macht aus elenden Kreaturen unbeschwerte und glückliche Menschen. Wer – anscheinend oder scheinbar – „den Richtigen“ oder „die Richtige“ findet, erlebt das als Befreiung. Alles Unglück schwindet dahin. Alle Widerstände heben sich auf. Wer sich kümmerlich, unnütz, unbeachtet fühlte, blüht auf in grenzenloser Bewunderung. Die Gebrüder Grimm erzählen uns drastische Beispiele, die das schlagend deutlich machen. Es sind Geschichten, die noch immer die Blaupausen für die Filmindustrie und für Illustrierte liefern, die unsere Wünsche und Hoffnungen nähren: Auch wer lange verkannt wurde, darf Erlösung erwarten. Aus schrecklichen Biestern werden strahlende Helden, an ihre Seite drängen bezaubernde Beauties. Ekelige Frösche verwandeln sich, kurz gegen die Wand geschmettert, in wohlgebaute und betörende Prinzen, charmant und sexy. Aschenputtel streifen alles Hässliche von sich und erobern als Schönheitsköniginnen die Männer ihrer Träume. Lustlos erstarrte Dornröschen erweckt ein Kuss zu feuriger Liebe.

Märchen sind Märchen. Das sagt uns unser Verstand. Und trotzdem wünschen wir sie uns herbei. Sie sollen stattfinden – in unserem Leben. Die Vorstellung, es gäbe „den Richtigen“ oder „die Richtige“, schließt ein, dass alle anderen die Falschen sind. Nur „der Richtige“/„die Richtige“ besitzt all die Eigenschaften, die zu uns passen, uns wunderbar ergänzen. Verliebtheit, mit all ihrem hormonellen Überschwang, gaukelt uns die ersehnte Einzigartigkeit vor, die so aber nie existiert. Verliebtheit geht einher mit der dramatisch übertriebenen Überhöhung einer einzelnen Person und damit, wie Bernhard Shaw bemerkte, der stark übertriebenen Unterscheidung zwischen einer Person und allen anderen.

Hört die Verliebtheit auf, liegt im Bett nicht mehr der Traumpartner. Solange die Illusion vorherrscht, es könne den tadellosen Richtigen geben, offenbart sich jeder – wenn der Hormonrausch endet – als Mensch mit persönlichen Eigenheiten, die Harmoniebedürfnisse aus der Balance werfen. Dann zeigt er sich als doch der Falsche – und muss verlassen werden, und die Suche nach dem Richtigen beginnt aufs Neue.

Wir ahnen, dass wir mit solchen Hoffnungen und Wünschen Illusions-Bedürfnisse nähren. Doch in unserem tiefsten Inneren halten wir an unserem Glauben fest, dass nur der oder die Richtige kommen muss, um in uns und für uns Liebe zu entfachen, die nie vergeht. So lange irren wir rastlos umher, damit wir es nicht verpassen, zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort zu sein – wo die entscheidende Begegnung stattfindet. Dann soll alles wie von selbst gehen. Verliebt, verlobt, verheiratet. Wobei „verheiratet“ heute nicht mehr den Trauschein verlangt. Es reicht das Versprechen der Verliebten, sich immer zu lieben und füreinander da zu sein – in guten und in schlechten Zeiten. Für Verliebte ist das gewiss.

Sie sehen in sich Wahlverwandte. Sie glauben, in dem anderen ihre ideale Ergänzung zu finden – als Bestätigung eigener Eigenschaften und/oder komplementäre Ergänzung, mit der sie erst richtig komplett werden. Verliebte sehen, was sie sehen wollen. Eigenschaften und Eigenheiten können Verliebte sich aus Sehnsucht danach zuschreiben, ohne genau hinzuschauen oder zu prüfen, wie es wirklich um sie bestellt ist, welchen Bestand bezaubernde Erscheinungen haben.

Aus dieser Sehnsucht und der ihr folgenden Wahrnehmung ist eine weitere Illusion zu verstehen: Verliebte meinen, sich gefunden zu haben und eigentlich schon lange zu kennen. Sie glauben, einander blind zu verstehen. Jedenfalls wünschen sie es sich eindringlich. Gerade das soll der Beweis für ihre innige Verbundenheit sein. Kleine Unstimmigkeiten können sie zutiefst betrüben. Alles gerät außer Proportion. Sie müssen sich sogleich versichern, dass Unstimmigkeiten eigentlich gar nicht bestehen oder nur auf dummen Missverständnissen beruhen. Interessensgegensätzen räumen sie keinen Platz ein. Alles, was ihnen wichtig ist, wollen sie gemeinsam erleben. Lust erscheint ihnen nur miteinander möglich – oder zumindest legitim. Keine Zeit darf schöner sein als die miteinander verbrachte, kein Gespräch intimer, ehrlicher, vertrauter als das zu zweit. Ihr Sex muss aufregender, außergewöhnlicher sein als jeder, den sie zuvor erlebt haben. Dann ist die wechselseitige Bestätigung komplett. Aus Verliebtheit wächst Eigenliebe. Sie zerstört alle Selbstzweifel. Sie lässt das Selbstbewusstsein aufblühen.

Eins-Sein

Katja und Sven fassen sich unaufhörlich an, greifen nach ihren Händen, streicheln Arme oder Rücken, drücken ihre Nasen aneinander, funkeln mit den Augen. Auch wenn sie mit Freunden unterwegs sind. Zwischen sie kommt so leicht keiner.

Sie kennen sich nun seit drei Monaten, möchten sich andauernd sehen, beisammen sein und alles scheint ihnen so wunderbar wie am ersten Tag. Noch hat jeder von ihnen seine eigene Wohnung. Aber sie sprechen schon darüber, dass sie zusammenziehen möchten. Sie finden, Svens Wohnung biete sich dafür an. Schon jetzt sind sie, wenn sie nicht arbeiten oder um die Häuser ziehen, die meiste Zeit dort. Ab und an haben sie mal einen Tag für sich. Aber sie stimmen ihre Tagesabläufe weitgehend ab, planen, was sie gemeinsam unternehmen könnten, halten sich Zeit frei, wenn noch unklar ist, wie der andere es einrichten kann, dass sie sich treffen.

Verliebte sind unzertrennlich. Vertrauen entsteht aus körperlicher Nähe. Aus Zärtlichkeit und Sex. Mehr als aus Beteuerungen. Obwohl auch die ununterbrochen gegeben werden. Verliebte suchen Halt und Geborgenheit – Sicherheit, die sie sonst so oft vermissen, in einer Welt, die unübersichtlich ist und keine Verlässlichkeit bietet. Übersichtlich und sicher schien es vielleicht vor langer Zeit einmal, als die Verliebten noch Kinder waren, wenn sie aufmerksame, umsorgende, liebende Eltern hatten. In Liebesbeziehungen, vermutet der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, suchen wir immer auch einen Elternersatz. Wir wünschen uns Personen, die Gefahren von uns fernhalten, uns Geborgenheit schenken, für uns einen sicheren Raum schaffen.

In der Verliebtheit schwindet jede Angst. Denn nichts ist so bedeutend wie die Liebe. Selbst der Tod verliert seinen Schrecken. Ein ewiges Thema auch in der Kunst. Goethes Werther erschießt sich, weil er nicht diejenige begehren darf, die er liebt. Verdis Gilda opfert sich für den Geliebten, der sie verschmäht, und lässt sich bereitwillig erdolchen. Höchste Vereinigung bringt der Tod als gemeinsamer Liebestod. Selbst bitteres Gift schmeckt süß. Shakespeare, Puccini, Wagner schufen mit dem Stoff große Klassiker. Romeo und Julia, Cavaradossi und Tosca, Tristan und Isolde. Im Tod ewig ein Paar. Unzertrennlich.

Jeder von uns möchte besonders sein. Besonderheit macht unsere Individualität aus. Wir möchten sie bewahren, einzigartig sein. Damit sind wir allerdings auch für unser Leben verantwortlich, für alles, was wir tun oder nicht tun. Wir sind gefordert, andauernd Entscheidungen für uns zu treffen, obwohl wir nicht vorhersehen können, welche Konsequenzen sie für uns haben. Das ist anstrengend und oft erschreckend. Freiheit, bemerkte schon Erich Fromm, geht einher mit der Furcht vor Freiheit. Aus Furcht suchen wir Geborgenheit.

Die größte Geborgenheit finden wir durch Menschen, die uns lieben, die nichts an uns auszusetzen haben, für die wir ok sind, so wie wir sind. Wir sehnen uns nach Übereinstimmung, weil sie uns eine Harmonie der Gefühle verspricht. Sie scheint uns Sicherheit zu geben. In jedem von uns steckt die Sehnsucht, für einen anderen alles zu sein und von ihm alles zu bekommen, was wir selbst brauchen. Unser Ideal ist die symbiotische Liebe. In völliger Übereinstimmung freilich lösen wir unsere Individualität auf.

In der Verliebtheit setzt unser Verstand aus. Sehnsüchte nach Harmonie, seelische Bedürfnisse, Erotik und sexuelle Begierden bestimmen das Fühlen und Handeln. Das Denken ist eingeengt, exaltiert und hochgradig labil. Das menschliche Hirn produziert dazu sämtliche Rauschmittel – Hormone, Peptide, Botenstoffe wie Dopamin, Oxytocin und körpereigene Opiate. Der Rausch ist genussvoll, wunderbar. Er soll nie aufhören. Solange wir die nötigen Rauschmittel produzieren, ist die Welt großartig – dank des Menschen, in den wir verliebt sind, den wir berauscht umkreisen als unseren strahlenden Himmelsstern. Schon Plato nannte die Verliebtheit einen „göttlichen Wahnsinn“. Dort hat der Verstand nichts zu suchen. Der Psychiater Luc Ciompi ist kritischer. Er glaubt, „manche Übereinstimmung mit der Struktur einer krankhaft affektiv-kognitiven Verrücktheit“ zu erkennen.

Glücklich bis ans Ende unserer Tage. So wie es Märchen uns versprechen. Märchen enden, wenn Verliebtheit sich ihre Bahn gebrochen hat. Dann herrscht endlose Seligkeit. Es geschieht nichts weiter. Es gibt nichts mehr zu erzählen. Alles scheint nur noch Glück. Nichts Überraschendes geschieht. Es gibt kein Staunen mehr. Neugier stirbt. Jede persönliche Entwicklung kommt zum Stillstand. Das Leben geht weiter und ist so doch zu Ende.

Glück ist nicht Euphorie. Euphorie ist Bekifft-Sein. Unsere körpereigenen Drogen versetzen uns in euphorische Zustände. Diese Stoffe werden in Illustrierten gerne als „Glückshormone“ bezeichnet. Doch der Begriff führt in die Irre. Drogen bescheren kurzweilige Rauschzustände. Sie bieten Fluchten aus tristem Alltag. Und machen abhängig, wenn der Alltag nur mit ihnen auszuhalten ist. Sie wecken die Illusion von Glück, aber schenken kein Lebens-Glück. Glück ist kein biologisches Programm. Es entstammt keinem körperlichen Reiz-Reaktions-Schema. Glück kann berauschen und ist doch nicht bloßer Rausch.

Wir wollen Glück als Lebens-Glück. Das fällt nicht vom Himmel. Es erwartet uns kein Paradies. Lebens-Glück entsteht nicht aus glücklichen Umständen. Zwar gibt es Zufalls-Glück, doch das verfällt, wenn wir nicht selbst daraus das Richtige machen. Lebens-Glück schaffen wir uns, wenn uns unser Leben gelingt. Wir müssen unser Leben selbst in die Hand nehmen, es nach unseren Möglichkeiten, Wünschen und Zielen gestalten, dabei akzeptieren, dass wir nicht alles bestimmen und „im Griff“ haben können. Doch mit dem, was wir tun und lassen, sollte es für uns „unter dem Strich“ stimmen. Wir sollten uns oft sagen können, so wie es ist, ist es gut, wir hätten nichts anders machen sollen. So sollten wir auch der Liebe begegnen. Sie passiert uns nicht. Wir müssen sie uns erobern, sie gestalten und bewahren. Und das geht nie allein. Es geht immer nur gemeinsam mit anderen – als Beziehung kompletter und komplexer Menschen. Liebe speist sich aus der Neugier am Anderssein, in wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung von Individualität.

Märchenhafter als ein Märchen

Von Sex, Lust und Geilheit ist in Märchen nicht die Rede. So gesehen wünschen wir uns eine Liebe, die noch märchenhafter als die Märchen ist, von denen wir uns so gerne vorschwärmen lassen – von alten und von neuen Geschichtenerzählern. In Romanen, Soap Operas und Kinofilmen. Damit führen wir uns selbst hinters Licht: Liebe soll wie Verliebtheit sein. Aber das geht nicht. Verliebtheit schickt uns auf einen Drogen-Trip. Wir haben nicht gelernt, mit Drogen so umzugehen. Um von diesem Trip runterzukommen, ohne Absturz, um aus Verliebtheit Liebe entwickeln zu können, müssen wir uns zu kundigen Drogenbeauftragten ausbilden, anstatt zu Drogenabhängigen zu werden.

Verliebte genügen im Rausch sich selbst. So soll es immer währen. Das ist das Sucht-Programm. Verliebte setzen auf spontane Stimulation. Sie nehmen nichts aneinander wahr, das sie trennen könnte. Oder sie nehmen, was sie vage ahnen, nicht ernst. Es rauscht unbeschwert und unbedacht durch ihre Köpfe. Ihre beiderseitigen Empfindungen, Begehrlichkeiten, Eigenschaften, Ambitionen erleben Verliebte als Gleichklang. Hinweise, was mit dem anderen womöglich nicht zusammenpassen könnte – Eigenheiten, Interessen, Wünsche, Ängste, Persönlichkeitsmerkmale –, blenden sie aus. Die Grenzen des Ich lösen sich auf. Der Wunsch, du bist ich und ich bin du, nimmt Fühlen und Denken in Beschlag. Verliebte sind aufeinander fixiert, empfinden sich als eins, vereinnahmen sich. Dabei bleibt für sie die Zeit stehen. Darum denken sie nicht darüber nach, wie sie miteinander Beziehung leben wollen, wenn der Rausch nachlässt und sie nicht mehr ineinander verliebt sind. Sie verwechseln akute Verliebtheit mit beständiger Liebe, oder wie Paartherapeut Hans Jellouschek sagen würde, Liebe mit Liebeserlebnissen.

Der Verstand offeriert die Einsicht, dass Verliebtheit nicht von Dauer ist. Verliebte wissen es, aber der Gedanke lässt sie unberührt, er schwebt im Irgendwo als flaue Theorie, ohne spürbaren Bezug zu ihrer Wirklichkeit. Sie wissen es und wissen es doch nicht. Im Rauschzustand betört, können sie nicht erkennen, wann und wie der Rausch endet – und was dann auf sie zukommt. Das zeitweilige Aussetzen der Vernunft ist verliebtheitsbedingt und damit unvermeidbar. Vernunft ist die Fähigkeit, Denken und Fühlen zu verstehen und nicht getrennt und unvermittelt nebeneinander bestehen zu lassen. Die Gefühlsturbulenzen der Verliebtheit und das mit ihnen verbundene Aussetzen der Vernunft treffen Frauen grundsätzlich nicht anders als Männer. Beiden geht die Voraussicht gleichermaßen verloren. Oft verstehen sie nicht einmal im Rückblick, was mit ihnen geschehen ist – was sie selbst inszeniert haben. Allerdings werden mit dem Ende der Verliebtheit die Geschehnisse nun der Vernunft wieder zugänglich.

Aus Verliebtheit entsteht nur Liebe, wenn der wirkliche Mensch gewollt wird – mit seinen Eigenschaften und Eigenarten, Stärken und Schwächen, Bedürfnissen und Ambitionen. Wenn Partner sich annehmen und aufeinander einlassen, sich gegenseitig Anstöße geben, neugierig bleiben und sich neugierig machen, sich überraschen, gemeinsame Ziele verfolgen und sich eigene Ziele zugestehen, Freuden und Anstrengungen teilen, Erfolge gemeinsam erleben und Niederlagen zusammen wegstecken; wenn sie im wirklichen Leben zu Reisebegleitern und Mitstreitern werden, mal voranschreiten und mal folgen, sich auch eigene Erkundungen und Wege gestatten, sich anlehnen und den Partner sich anlehnen lassen können – dann ist es Liebe.

Grimms Rache

Menschen handeln gefühlsgetrieben. Stärker als der Verstand sind unsere Leidenschaften. Auf die Liebe, die mehr ist als Leidenschaft, die tiefste Sehnsüchte nach Sicherheit und Geborgenheit erfüllen soll, bereiten sich die meisten nicht vor. Das rächt sich – meistens. Die meisten Menschen haben kein Konzept, was ihre Liebe sein soll. Liebe „an sich“ gibt es nicht. Sie kann nur in wirklicher Beziehung entstehen, zwischen wirklichen Menschen, mit ihren jeweiligen Besonderheiten. Für Liebe gibt es kein Standard-Rezept, kein ABC, das zu lernen wäre, um „Erfolg“ zu haben, so wie Illustrierte es gerne behaupten. Die meisten Menschen haben keine Idee, wie ihre Liebe zu leben, zu nähren und zu bewahren wäre. Sofern sie der Liebe überhaupt begegnet sind, geht sie ihnen im Alltag leicht verloren. Gerade deswegen wünschen sich so viele ein Liebes-Rezept, fallen bereitwillig auf derartige Versprechen herein, geben sich unreflektierten Illusionen hin, die sie Träume nennen.

Wenn die Eigenheiten, die wir in der Verliebtheit so nett fanden, uns auf die Nerven gehen, sollten wir wissen: Es ist etwas kaputt gegangen.

Katja und Sven sind mittlerweile eineinhalb Jahre zusammen. Katja erzählt: „Sven hat nur noch seinen Beruf im Kopf. Morgens springt er beim Klingeln des Weckers aus dem Bett, duscht, kippt einen Espresso und rennt aus dem Haus. Kuscheln, das war mal. Abends kommt er meist spät nach Hause. Lieber geht er mit Kollegen noch einen trinken, als mit mir etwas zu unternehmen. Ich koche gerne und würde gerne mit ihm gemeinsam essen. Aber da wird selten etwas draus. Meist lass ich das Essen für ihn stehen. Das isst er dann kalt. Da lieg ich schon im Bett und schlafe. Er haut sich neben mich. Dass er da ist, merke ich, wenn ich von seinem Schnarchen wach werde. Oder wenn er anfängt, an mir rumzufummeln. Aber so habe ich keine Lust auf Sex. Außerdem stinkt er nach Kneipe. Das finde ich ekelig. Ich sag ihm sowieso, dass er sich das Rauchen abgewöhnen soll. Aber das lässt er sich nicht sagen.

Sex haben wir nur noch am Wochenende. Es ist dann so ein hastiges Rein-und-Raus, mal von vorne, mal von hinten, ganz ok, aber nicht atemberaubend. Wir reden auch nicht mehr richtig miteinander. Sven kann stundenlang über seine Arbeit reden. Er hält darüber regelrecht Vorträge. Aber andere Themen gibt es für ihn gar nicht. Was ich mache, interessiert ihn nicht sonderlich. Er redet auch nicht mehr darüber, ob wir heiraten und Kinder haben sollten. Wenn ich das Thema anschneide, verdreht er sofort die Augen. ‚Wir haben es doch nicht eilig‘, ist das einzige, was er dazu sagt. Dann versinkt er in seinem Tablet. Ich mach halt meinen Kram, mach meinen Job, halt die Wohnung in Schuss, treffe ein paar Freundinnen. Denen geht es auch nicht viel anders mit ihren Männern.“

Sven sieht es so: „Ich kümmere mich natürlich sehr um meine Karriere. Jetzt ist die Gelegenheit. Wenn ich jetzt nicht dranbleibe, ist der Zug schnell abgefahren. Katja versteht das nicht. Sie meint, ich könnte das alles – wie sie sagt – relaxter angehen. Aber das funktioniert so nicht. Das habe ich schon oft versucht ihr zu erklären, aber es kommt nicht wirklich bei ihr an. Sex ist nicht mehr wirklich prickelnd. Katja hat nur noch selten Lust. Sie ergreift nie die Initiative. Ich fände es ja geil, wenn sie mich mal lüstern im Bett erwartete, mir einfach mal sagen würde ‚fick mich‘ oder mir einen blasen würde. Aber meist schläft sie, wenn ich komme. Am Wochenende will sie dann eher Massage als bumsen. Mal ist ja ok, aber andauernd und dann noch anstatt …

Sie knatscht auch viel rum. Alles Mögliche passt ihr nicht. Und andauernd soll ich irgendetwas tun – aufräumen, mit ihr in die Stadt gehen, die Eltern besuchen. Habe ich aber keine Lust zu. Und wenn ich mir gemütlich eine Zigarette anstecke, schickt sie mich auf den Balkon, anstatt sich mal neben mich zu hocken. Quatschen will sie immer, aber nur über ihren Kram. Wenn ich ihr von meinem Job erzähle, fängt sie an, sich die Nägel zu lackieren. Kann sie mir doch gleich den Stinkefinger zeigen. Nun ja, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Das ist eben Alltag. So ist es wahrscheinlich normal.“

Wir alle haben ein Bedürfnis nach Illusionen. Deshalb lassen wir sie nicht los. Wir wünschen uns etwas, von dem wir ahnen, dass es dies nicht gibt. Dennoch bleibt unsere Sehnsucht danach bestehen. Meist handelt es sich um Wünsche, die sich gegenseitig ausschließen oder zumindest nicht auf Dauer gleichzeitig zu verwirklichen sind – wie eben wilde Leidenschaft und ungestörte Sicherheit, ungebändigte Liebe und ungebremste Karriere. Es ist nicht möglich, immer alles gleichzeitig zu bekommen. Aber wir können in einer Beziehung immer wieder Situationen inszenieren, die uns Hochgefühle, Ekstase und Rausch verschaffen. Wir wissen, sie vergehen, wie jede Berauschung, die wir uns suchen. Wir müssen uns anstrengen, solche Rausch-Situationen immer wieder herzustellen. Mit ihnen heben wir ab aus tristem Alltag und faden Routinen. So können wir – bewusst und gewagt – unsere Illusionsbedürfnisse bedienen, Ambivalenzen und Ängste in berauschter Glückseligkeit auflösen. Ein Stück weit kann es uns immer wieder gelingen.

Katja könnte Sven mit Reizwäsche erwarten. Sven könnte seine Kollegen öfter mal allein trinken lassen und mit seiner Frau ein romantisches Abendessen veranstalten, mit anschließender Massage. Sie könnten sich mehr aufeinander einlassen. Und wenn sie darin ihre Wertschätzung füreinander zeigen, können sie auch darüber verhandeln, wer wem bei welchen Wünschen entgegenkommt – so dass beide mehr kriegen, was sie sich wünschen.

Doch meist ziehen Partner sich frustriert zurück, wenn der andere ihnen nicht spontan offeriert, wonach sie sich sehnen. Sie selbst machen kaum Angebote. Beide wollen Spaß, verharren jedoch im Frust, wenn es nicht wie von selbst lustig bleibt.

In der Verliebtheit zeigen wir nicht, wie wir sind, und wollen nicht sehen, wie der andere ist. Jedenfalls nicht in vollem Umfang. Wir spielen ein Spiel, in dem wir uns so attraktiv wie möglich darstellen. Alles, was uns unvorteilhaft erscheint, versuchen wir zu kaschieren. Wir wollen den besten Eindruck machen und nutzen das gesamte Repertoire, das uns dafür zur Verfügung steht.

So funktioniert auch Anmache. Mancher macht daraus eine Masche. Bei Anmache geht es um Sex ohne Liebe. Bei Verliebtheit um Liebe und Sex. Wir verlieben uns nur, wenn die andere Person in uns eine Liebesfantasie auslöst, durch ihr Aussehen, ihr Auftreten, ihre Erscheinung, durch Bemerkungen, ein Lachen, Gesten, Blicke, Stimmlage, Geruch, Körpersprache, etwas, das wir in seiner Zusammensetzung meist gar nicht richtig beschreiben können. Daher ist die Sprache von Verliebten so geprägt von einfältigen Klischees.

Mit dem Verlieben beginnt es zu knistern. Es turnt uns an. Wir kämpfen um Beachtung. Im Flirt testen wir Wirkung und Interesse aus. Wir versuchen zu spüren, was wie ankommt, sind charmant, unterhaltsam, witzig, schlau, souverän oder das genaue Gegenteil, je nachdem. Wir haben mit unserer Inszenierung längst begonnen.

Wir bemühen uns, Signale des anderen aufzunehmen und zu verstehen, um auf ihn noch besser zu wirken. Das alles geschieht nicht aus kühler Überlegung, eher intuitiv, unbewusst, angetrieben von der Anziehung und Attraktivität der anderen Person, dem Wunsch, ihr zu gefallen, ihre Gefühle für uns zu wecken, auch um Selbstbestätigung zu bekommen, sie für uns zu gewinnen, sie zu erobern. Verliebte zeigen sich als unbekümmerte Erzähler und aufmerksame Zuhörer. Wie sonst nie. Sie sagen und schreiben sich unaufhörlich kleine Nettigkeiten – und große Bekenntnisse. Mit ihrer Beredsamkeit gehen sie über sich selbst hinaus. Sie verhalten sich generös, sind achtsam, zuvorkommend, verständnisvoll, geduldig, zärtlich – über all ihre sonstigen Maße. Sie machen die größten Versprechungen. Im Sex geht es nicht nur um eigene Lust. Sie wollen aufregend auch für den anderen sein, die eigene Potenz bestätigen, indem sie ihn/sie zu höchster Erregung und zu tiefster Befriedigung bringen.

Verliebte jauchzen wie Elvis: „Only you, can make this world seem right. Only you can make the darkness bright …“ Schwören mit Robert Stolz: „Du sollst der Kaiser meiner Seele sein“. Oder schmeicheln und verlocken wie Don Giovanni: „Reich mir die Hand, mein Leben, komm auf mein Schloss mit mir, kannst du noch widerstreben, es ist nicht weit von hier …“ Das Non-plus-ultra besingt uns – mit erotisierendem Timbre – Tina Turner: „You’re simply the best, better than all the rest. Better than anyone, anyone I ever met.“

Sobald Verliebte die Eroberung geschafft und gesichert haben, sobald sie ihren Anspruch aufeinander anerkannt haben, legen sie sich nicht mehr so ins Zeug. Es ist schwer und auf Dauer gar nicht durchzuhalten, uns immer nur so zu zeigen, wie wir meinen, am besten zu wirken. Je mehr Zeit wir mit anderen verbringen, je mehr sie teilhaben an unserem alltäglichen Leben, mit all seinen Anforderungen, Widrigkeiten, Tücken und Enttäuschungen, um so weniger gelingt uns die Regie über uns selbst. Außerdem wissen wir häufig gar nicht, wie wir wirken. Wir denken darüber nicht einmal nach. Wir sind ja daran gewöhnt, dass wir so sind, wie wir sind. Simply the best? Weit gefehlt.

So sehr wir uns anstrengen, uns von unserer besten Seite zu zeigen, wir können die vielen anderen Seiten von uns auf Dauer nicht verbergen. Wie wir sind, wenn wir uns nicht inszenieren, wenn wir mit Belastungen fertig werden müssen, in lästigen Verpflichtungen stecken, angeraunzt wurden, uns Sorgen machen, unter Stress geraten, Kritik einstecken müssen, unseren Status gefährdet sehen, unter Stimmungsschwankungen leiden, unsicher, mit uns selbst beschäftigt, unaufmerksam, schlecht gelaunt, überfordert sind. Der Alltag, könnte der Wiener sagen, ist „ein Hund“.

„Früher hatte Olaf nur Augen für mich. Er hat mich umschwärmt. Ist leider schon lange her“, seufzt Elke. „Heute merkt er nicht einmal mehr, wenn ich ein neues sexy Kleid anhabe – eng, kurz, mit tiefem Ausschnitt. Aber auf der Straße starrt er andauernd anderen Frauen nach. Garantiert, wenn eine mit kurzem Röckchen und langen Beinen vorbeigeht. Und er merkt es nicht einmal.

Wenn er abends nach Hause kommt, will er hauptsächlich seine Ruhe haben. Da liest er Zeitung oder verschwindet hinter seinem Laptop und redet nichts. Er ist dann auch gar nicht ansprechbar. Ich frage ihn was und er hört nicht hin.

Wenn ich irgendwann auszucke und ihm, na ja, schon etwas lauter, vorhalte, dass er mich gar nicht mehr wahrnimmt, schaut er völlig perplex und tut so, als ginge ihn das alles nichts an.“

„Feierabend ist anders“, stöhnt Olaf. „Ich sitze friedlich in meinem Sessel, lege die Beine hoch, lese entspannt, auf einmal bricht ein Orkan über mich herein. Elke schreit rum, ‚hörst du mir überhaupt nicht mehr zu?‘ Erst tobt sie, dann heult sie. Ihr passt nicht, wenn ich mich zurückziehe und sie in Ruhe lasse. Wenn ich Lust auf sie habe, herrscht sie mich an, ich solle sie nicht so ‚abgrabschen‘. Dann lass ich es eben sein und zieh mich zurück. Und das ist dann auch wieder verkehrt.

Ich habe darüber schon öfter mit einer Kollegin gesprochen und sie gefragt, ob sie das für normal hält, bei Frauen, meine ich. Und sie meint auch, meine Holde sei wohl etwas zickig. Mit dieser Kollegin, Veronika, kann ich ganz locker reden und scherzen.“

„Ich mein, ich zieh doch nicht ein sexy Kleid an, damit Olaf durch mich durch schaut. Ich will ihm schon gefallen. Ich will auch, dass ich ihn anmache. Früher musste ich ihn nur meinen Rock ein wenig hochrutschen und bis ans Ende meiner Beine schauen lassen, dann konnte ich sehen, wie ihm der Schwanz in der Hose stramm wurde. Jetzt soll ich wollen, wenn er will, und sofort dahinschmelzen, wenn er mir an den Hintern greift. Aber wenn er sich ungerührt in seinen PC vertieft, während ich auffällig im Wohnzimmer hin und her gehe oder mich auf dem Sofa räkle, komme ich mir irgendwann doof vor. Am schlimmsten finde ich, wenn er mich dann, ohne hochzublicken, unvermittelt fragt, ob ich ,bumsen‘ will. Als ob er sich vorher an einem Porno aufgegeilt hätte. Er behauptet zwar immer, er liebe mich. Aber mir kommt es so vor, als sei das nur Gerede.

Immer kriege ich die Arschkarte. Dass ich den ganzen Scheiß zuhause erledigen muss, wenn ich meinen Job hinter mir habe – einkaufen, kochen, aufräumen, Wäsche waschen, geht mir gehörig auf den Nerv. Olaf hat mit all dem nichts am Hut. Wenn er mal drei Teller in die Spülmaschine packt, meint er schon, er hätte die Küche aufgeräumt. Er denkt wohl, die Wäsche bügle sich von alleine und die Wohnung verfüge über wundersame Selbstreinigungskräfte. Die Hausaufgaben der Kinder muss immer ich kontrollieren und er ist der nette Papi, mit dem sie anschließend eine Simpsons-Episode anschauen und sich kringelig lachen. Ich finde, Liebe ist: einen Partner umschwärmen. Und, mal platt gesagt, auch den Abfall rausbringen, ohne immer darum gebeten zu werden.“

„Ich bemühe mich ja. Aber wenn ich in der Küche helfe, raunzt Elke mich an, dass ich ihr im Weg stehe oder mich dusselig dabei anstelle, die Spülmaschine einzuräumen. ‚Da mach ich es lieber selbst‘, faucht sie. Also verziehe ich mich. Dieses Gemeckere geht mir auf den Keks. Und dann auch noch vor den Kindern. Außerdem bin ich nach einem langen Arbeitstag und ewigem Stop-and-go-Verkehr raus aus der Innenstadt nicht großartig zum Plaudern aufgelegt, sobald ich zuhause ankomme. Elke könnte das einfach mal akzeptieren. Wenn sie es schon nicht versteht.

Veronika findet übrigens auch, dass das unmöglich ist. Sie sagt, sie verstehe gar nicht, warum meine Frau nicht einfach froh sei, einen so tollen, gut aussehenden und beruflich so erfolgreichen Mann zu haben. Elke ist vielleicht zu sehr Emanze – ich weiß, dass ist politisch nicht korrekt, es so zu sagen, aber trotzdem. Gut findet sie mich nur, wenn ich ihre Ansprüche erfülle. Sonst hat sie an mir immer etwas auszusetzen. So ein Gegeneinander hat doch nichts Verführerisches. Da ist Veronika, nebenbei bemerkt, ganz anders.“

Olaf und Elke finden kein Arrangement, mit dem sie sich von ihrem Alltag nicht vereinnahmen lassen. Beide hängen sich zu viel an den Hals. Und dabei sind die Zuständigkeiten nicht so verteilt, dass jeder das Gefühl hat, dabei gut wegzukommen – so gut es halt geht. Aufmerksamkeit, Verständnis und Energie füreinander haben sie schwinden lassen. Sie sind sich als Paar nicht mehr das Wichtigste.

Olaf glaubt, das liege nicht an ihm. Elke grollt. Sie lädt Olaf nicht ein, mit ihr gemeinsam darüber nachzudenken, was sie als Paar besser machen könnten. Olaf beginnt, seine Frau mit seiner Kollegin Veronika zu vergleichen. Hier wird es noch heikler. Veronika erscheint ihm verständnis- und rücksichtsvoller, dabei muss sie gar nicht zeigen, dass sie „alltagstauglicher“ wäre. Sie hat es leicht, sich auf Olafs Seite zu schlagen. Sie kann ihn bewundern und anflirten. Damit stärkt sie dessen Sympathie und womöglich bald auch ihre Attraktivität. Und beide können sich in eine romantisierende Scheinwelt locken. So steuern sie mit ihrem vertrauten Geturtel am Arbeitsplatz leicht auf eine Affäre zu, die ihnen eine Flucht aus schnödem und frustrierendem Alltag anbietet.

Unter die Räder des Alltags geraten wir, wenn wir Zeit nicht mehr selbst gestalten und nur noch Verpflichtungen nachkommen – auch den fantasierten oder selbst geschaffenen. Dann geben wir uns in Zwängen auf. Wir verfolgen nicht mehr, was uns wirklich wichtig im Leben ist und wir eigentlich nicht aufgeben wollen. Wir machen uns zu Getriebenen. Unter dauernder Anspannung schwindet uns jede Spannung. Wir verlieren unsere Persönlichkeit. Die Aufgabe heißt also: Zeit selbst gestalten, Wünsche verwirklichen, sich weiter entwickeln, Spannung bewahren – und für den Partner spannend bleiben.

Angestrengte Helden

Männer neigen dazu, sich selbstbewusster darzustellen, als sie sind, als sicherer, souveräner, angeblich immer Herr der Lage. Männer wollen „cool“ sein. Ängste, den Erfordernissen des Lebens, den Erwartungen ihres sozialen Umfeldes und/oder den eigenen Ansprüchen womöglich nicht gerecht werden zu können, versuchen sie meist zu verdrängen, und wenn das nicht geht, zumindest vor anderen zu verleugnen. Sie möchten bewundert werden, stark sein, unbesiegbar, furchtlos, Helden eben. Täuschung und Selbst-Täuschung halten sie nicht auseinander. Wenn sie für ihre Frauen keine Helden mehr sind, erleben sie das als narzisstische Kränkung, als identitätsbedrohenden Liebesentzug. Sie antworten darauf mit Rückzug und Verweigerung. Sie werden unnahbar. Wenn Frauen ihnen das vorwerfen, ziehen sie sich noch mehr zurück. Männer wollen herausragen. Diejenigen sein, die das große Rad drehen. Die Leistung von anderen erscheint ihnen nebensächlich. Sie lieben Helden-Geschichten, ohne in ihnen die Blendung zu erkennen. Dass schon Wagners Siegfried eine lächerliche Figur abgegeben hat, kommt selbst Kennern des „Rings“ kaum in den Sinn.

Selbst-Täuschung lässt Liebesfähigkeit nicht zu. Wer die eigenen Unsicherheiten, Ängste und Unzulänglichkeiten nicht zur Kenntnis nimmt, wird gefühlsblind. Gefühlsblinde verstehen andere nicht, weil sich für sie deren Gefühlswelt nicht erschließen lässt. Sie mögen beredsam sein, reden aber an anderen vorbei. Sie machen sich nicht verständlich, weil sie sich selbst nicht verstehen.

Viele Männer, die den Helden geben, im Beruf sehr erfolgreich sind und sich zu Hause narzisstisch gehen lassen, können ihre Helden-Rolle nur spielen, weil sie eine Frau haben, die weitgehend für ihren Mann da ist. Als seelische Stütze, mitfühlende Herbergsmutter, Trösterin, Vagina zur Triebabfuhr, Dienstleisterin in allen Alltagsdingen, als Kinder- und Putzfrau. Manche Frau sieht darin den Sinn ihres Daseins. „Liebe ist die Karriere der Frauen“, bemerkt Bodo Kirchhoff.

Wer früh lernte, Anerkennung und Wertschätzung über Leistung zu erwerben – weil sie anders nicht gewährt wurde – übernimmt leicht die Rollen dauerhafter Funktionalität. Männer im Beruf, Frauen in der Ehe. Doch zunehmend mehr Frauen martert irgendwann die Einsicht, welche Genugtuung ihr Gatte in einer Rollen-Aufteilung nach dem Muster „Herr und Knecht“ findet. Ihm kommt es nie in den Sinn, dass seine Frau dabei auf ein eigenes Leben verzichten muss. Wiederum andere Frauen nehmen sich in ihren Ambivalenzen gefangen: Sie wollen den Helden und ein eigenes Leben. Allein, beides ist kaum zu haben. Höchstens, wenn die Partner ihre Rollen verstehen und sie – im besten Falle sogar spielerisch – wechseln können, so dass keiner von beiden auf eine Funktion festgelegt ist.