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°luftschacht

© Luftschacht Verlag – Wien

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuß – www.matthiaskronfuss.at

Satz: Luftschacht

ISBN: 978-3-902844-51-4

eISBN: ISBN-ebook: 978-3-902844-81-1

Giuliano Musio

Scheinwerfen

Roman

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Der Autor dankt ganz besonders Christian de Simoni und Rainer Götz. Ein herzliches Dankeschön geht an Adrian Baumgartner, Thorsten Dönges, Axel von Ernst, Monika Jenni, Matthias Kronfuß, Jürgen Lagger, Karin Maurer, Romeo Musio, Vero Trüb und das Café Kairo.

FOLGE 1

GEBURTSTAG

Eines Abends öffnete sich in der Decke ein Loch, und Toni begriff, dass zuoberst im Haus noch gar nicht Schluss war. Eine Leiter im Flur führte an einen rätselhaften Ort, den seine Eltern Dachboden nannten. Toni kroch über den Teppich, hielt sich an einer Sprosse fest und schaute hinauf in die viereckige Öffnung. Er sah in einen Raum, der ganz anders war als die Zimmer des Hauses: mit schummrigem Licht und schrägen Holzwänden. Trockene, nach Staub riechende Luft sank zu ihm herab. Er versuchte hochzuklettern, seinem Vater hinterher. Aber seine Mutter nahm ihn auf den Arm und trug ihn in sein Zimmer. Er schrie.

Lange dachte er, das gesamte Haus sei von dieser fremden Welt umgeben. Er glaubte, das Loch, das er gesehen hatte, sei nur einer von zahlreichen Zugängen. Vor dem Einschlafen betrachtete er die Wände um sich herum. Dahinter vermutete er ein Universum aus verzweigten Gängen, verborgenen Türen und vergessenen Räumen. Er träumte davon, wie er durch dieses Labyrinth schlich, manchmal mit seinem Bruder, aber meistens allein, um dann am Ende unbemerkt in sein Zimmer zurückzukehren.

Als er groß genug war, dass er die Leiter selbst von der Decke herunterziehen konnte, stieg er ab und zu auf den Dachboden, um sich die Umgebung von oben anzusehen. Er rückte eine Kiste zum Dachfenster und stellte sich darauf. Dann blickte er hinunter in den Garten mit dem Mirabellenbaum und dem kleinen Teich. Hinter der Mauer lagen die Straße, das Freibad, der Fluss. Wenn er sich ans Fenster auf der anderen Seite stellte, sah er zum Bundeshaus und zur Drahtseilbahn, die von der Altstadt ins Quartier hinabführte. Direkt unter ihm die Vorgärten der Nachbarhäuser, Blumenbeete und Wäscheleinen mit flatternden Bettlaken.

Einmal kam er von der Schule nach Hause und hörte, wie in einem dieser Vorgärten zwei Nachbarinnen über seinen Vater redeten. Sie fragten sich, was er in seiner Praxis eigentlich anbot. Sie hatten die Kunden beobachtet, die ins Haus gingen: Eine stark Geschminkte sei dabei gewesen, ein Mann im Rollstuhl, eine Rentnerin, auch ein Araber oder etwas Ähnliches. Ein System sei nicht erkennbar. Sie sprachen darüber, was das Wort auf dem Schild am Eingang bedeuten könnte, ob vielleicht ein Rechtschreibfehler vorliege und es eigentlich „Scheinwerfer“ heißen sollte.

Toni hatte sich bis dahin nie die Frage gestellt, warum sein Vater zu Hause arbeitete und was er mit seinen Kunden überhaupt machte. Jetzt hakte er nach. „Das verstehst du nicht“, sagte seine Mutter, „du bist noch zu klein.“ Sein Vater aber legte ihm die Hand auf den Bauch und ließ ihn vom letzten Schulausflug erzählen. Dann lächelte er und sagte: „Im Zug habt ihr Kühe gezählt.“

Von nun an sah sich Toni die Menschen, die ins Haus kamen, genau an. Er schaute zu, wie sein Vater mit ihnen die Treppe hochstieg, lauschte dem Knarren der zweiten und der obersten beiden Stufen und hörte schließlich, wie sich oben die Tür schloss. Er versuchte zu erraten, wegen welcher Probleme die Kunden seinen Vater aufsuchten. Ob er richtig lag, erfuhr er aber nie. Denn wenn seine Eltern nach der Sitzung noch mit einem Besucher plauderten, ging es immer um Belangloses: Man vereinbarte den nächsten Termin oder redete über Ferienpläne. Einige Kunden interessierten sich für das Haus und wollten wissen, aus welcher Zeit der Bau stammte. Tonis Vater faselte dann irgendwas von Jugendstil, worauf die Mutter ihn immer mit weitschweifigen Ausführungen korrigierte.

Tonis Mutter bezeichnete das Haus manchmal als ihr drittes Kind – eine Formulierung, die sie für äußerst schöpferisch hielt. Immer wieder erwähnte sie das Glück ihrer Familie, im schönsten Stadtteil von Bern zu leben. Je älter Toni wurde, desto weniger konnte er ihr Urteil nachvollziehen. Er glaubte die Beobachtung zu machen, dass die Menschen in der Nachbarschaft fleischigere Gesichter hatten als anderswo. Vielleicht war es eine Folge von zu ausgewogener Ernährung, zu vielen Grünflächen, zu verkehrsberuhigten Straßen, schlicht zu viel davon, was man Lebensqualität nannte. In diesen Sumpf aus Gesundheit und Wohlbefinden passte er nicht rein. Und obwohl er nun im Haus am Erlenweg derselben Arbeit nachging wie einst sein Vater, mietete er eine Wohnung in einem nördlichen Außenquartier der Stadt, wo ihm alles etwas schmutziger vorkam.

Heute redete man in der Nachbarschaft längst nicht mehr so viel über die Praxis wie noch während Tonis Kindheit. Denn in den Jahren, seit er ausgezogen war, waren an den Häusern der Umgebung etliche weitere Schilder wie Popups hervorgeschossen. Die Angebote reichten von Shiatsu, Reiki und Qigong über Tanz-, Mal- und Edelsteintherapie bis zu Fußreflexzonenmassage und Schröpfen. Der Familienbetrieb der Weingarts fiel zwischen all den anderen Praxen gar nicht mehr auf. Inzwischen hatte sich Tonis Mutter im obersten Stock ihren Wohnbereich eingerichtet, in der Mitte lagen die drei Behandlungsräume, im Erdgeschoss die Diele mit dem Empfang sowie die Küche und der Salon, der auch als Wartezimmer diente.

Toni war es nun schon ein paar Jahre gewohnt, täglich kurz nach neun Uhr im Erlenweg einzutreffen. Eines Morgens im Frühherbst saß ein alter Mann mit graugelbem Haar auf den Stufen vor der Eingangstür. Toni warf die Zigarette weg und verlangsamte seinen Schritt. Der Alte hatte dünne Arme und Beine, aber einen runden Bauch. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt und lächelte Toni an. Toni grüßte knapp und versuchte, an ihm vorbei zur Tür zu kommen.

„Sie sind ziemlich unverschämt“, sagte der Alte, immer noch lächelnd.

„Sie versperren mir den Weg. Ich arbeite hier.“

„Gestern klang das aber ganz anders“, entgegnete der Mann. Er betrachtete Toni und versuchte offenbar, ein Gähnen zu unterdrücken.

Toni wollte gerade erwidern, dass sie sich ja überhaupt noch nie gesehen hatten, als sich die Tür öffnete und seine Mutter heraustrat. „Hier sind Sie also“, sagte sie freundlich zu dem Alten. „Haben Sie die Toilette nicht gefunden? Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.“ Sie griff nach seinem Arm und führte ihn hinein. Kurz schaute sie Toni an und flüsterte: „Du bist bleich, geh mal früher ins Bett.“

Er betrat die Diele. Nebenan, im Salon, knarrte der Boden. Toni neigte den Kopf etwas zur Seite, um hineinzuspähen. Ein junger Mann mit roten Haaren stand vor einem der Bilder an der Wand. Sein Blick war trüb, um die Lider bläuliche Schatten. Er ging weiter zum nächsten Bild und blieb schließlich vor der Kommode stehen. Er griff nach dem Kerzenlöscher auf der Ablagefläche, betrachtete ihn von allen Seiten, betastete die Löschkappe. Nach einer Weile schien er endlich darauf gekommen zu sein, wofür das Ding gut war. Er spielte den Vorgang durch, indem er die Kappe über den unbenutzten Docht einer Kerze auf der Kommode stülpte. Dabei stellte er sich so ungeschickt an, dass der Kerzenständer beinahe umfiel. Er konnte ihn gerade noch mit der freien Hand festhalten. Dann schaute er sich um. Toni kratzte sich am Kopf und ging in die Küche.

Seine Mutter bediente die Kaffeemaschine. „Ich hoffe, du warst freundlich zu Herrn Ott“, sagte sie. „Wir haben morgen eine Probesitzung mit ihm, und wenn ihm die Behandlung guttut, will er regelmäßig vorbeikommen.“

„Und der Typ im Salon?“, fragte Toni.

Sie stellte drei volle Tassen auf ein Tablett, nahm die Milch aus dem Kühlschrank. „Das ist sein Sohn. Sieht man doch. Der Arme muss ihn wahrscheinlich überallhin begleiten. Herr Ott kann ja keine drei Schritte mehr gehen, ohne sich zu verirren.“ Mit dem Tablett in den Händen ging sie an Toni vorbei.

Er rief sie zurück. „Darf ich den Alten behandeln?“

„Wieso?“, fragte sie.

„Nur so. Teilst du ihn bitte mir zu?“

„Das ist ein anspruchsloser Fall.“ Sie drehte sich ab und sagte im Gehen noch: „Etwas für Julius.“

Julius hatte alle Einladungen für Flücks Geburtstagsfeier verschickt, die Nachbarn waren informiert, die Lautsprecher und die Lichtanlage hatte er abgeholt. Ihm blieb noch Zeit, um sich um ein Geschenk für Sonjas Rückkehr zu kümmern. Er kaufte ihr einen Indischen Lorbeer, den er neben ihr Bett stellte, und klebte Gegenstände an den Stamm, die er mit ihr in Verbindung brachte: ein winziges Stück eines Wespennests, eine versteinerte Schnecke, einen Papagei aus Plastik.

„Vergiss es“, hatte sie am Telefon zu ihm gesagt, „ich bin nicht so eine.“ Er stand trotzdem rechtzeitig am Bahnsteig. Sie stieg aus dem Zug aus und wiederholte, sie gehöre nicht zu den Frauen, die gern abgeholt würden. „Ich hätte den Bus nehmen können“, sagte sie. „Mein Rucksack ist nicht schwer, und den Weg nach Hause finde ich auch.“ Sie war braungebrannt, trug die Kopfhörer um den Hals, das Haar darunter, sodass es eng anlag, die Sonnenbrille in der Hand. Im Zug hatte sie sich offenbar noch geschminkt. Sie freute sich, dass er gekommen war. Er sah es ihr an.

Im Auto erzählte Sonja von einem Haus auf dem Vulkan, das wegen des Windes mit Stahlseilen befestigt war, von einem Rumoren unter der Erde, von schwarzem Sand. Wahrscheinlich ahnte sie, dass Julius ihre Rundmails nur flüchtig gelesen hatte.

„Früher hab ich mir nach jeder Ferienreise eingeredet, ich hätte mich verändert“, sagte sie, als sie das Länggassquartier erreichten. „Und eigentlich habe ich mir vorgenommen, das diesmal nicht zu tun. Aber drei Wochen unter dem Eindruck von solchen Naturgewalten – so was geht nicht spurlos an dir vorbei.“

Er hätte Lavagestein nehmen sollen, dachte er, als er ihr das Bäumchen zeigte, das er für sie besorgt hatte. Das wäre besser gewesen; ein paar verschiedenartige Vulkanite um den Stamm herum. Doch sie lachte über jede einzelne Idee und gab ihm einen Kuss. Dann ging sie duschen.

„Ich will nicht mehr für deine Mutter arbeiten“, sagte sie beim Abendessen. „Inzwischen verbringen wir in ihrem Haus mehr Zeit zusammen als hier. Und von den ganzen Kunden mit ihren Sorgen und Problemen habe ich auch genug. Zwei Jahre mache ich das jetzt schon. Das reicht.“ Sie drehte Nudeln auf die Gabel und hielt sie vor den Mund, während sie weitersprach: „Ich möchte wieder was Seriöses arbeiten. Geht’s dir nicht auch so? Wenn mich Leute während der Reise nach meinem Beruf gefragt haben, musste ich immer ausweichen. Manchmal habe ich einfach behauptet, ich sei immer noch Exportsachbearbeiterin. Obwohl mir das fast genauso peinlich ist.“

Julius fragte sie, ob sie sich wirklich wieder an einen Schreibtisch setzen wolle, sagte, dass sie im Büro nie glücklich gewesen sei und dass sie nirgendwo so häufig Urlaub nehmen könne wie bei seiner Mutter.

„Dir würde ein bisschen Abstand von ihr auch guttun“, sagte sie. „Ich habe es ja auch geschafft, mich von meiner Familie zu lösen.“

Er aß schweigend weiter, Sonja erzählte wieder von Aschewolken und Lavaströmen. Wenn sie nicht schon so lange ein Paar gewesen wären, dann hätten sie wohl als Erstes miteinander geschlafen. Noch bevor geredet, geduscht oder gegessen wurde. Vielleicht hatte sie während ihrer Wanderungen ja Männer getroffen. Abenteurer. Italiener. Typen, die sich als Lebenskünstler bezeichneten.

„Es war besser, dass du nicht dabei warst“, meinte sie. „Mit Steffi hättest du dich sowieso nicht verstanden.“

Am nächsten Tag hatte der neue Kunde seine erste Sitzung. Kaspar Otts rosiges Gesicht ließ Julius vermuten, dass er noch keine siebzig war. Ein junger Mann mit auffällig roten Haaren begleitete ihn und sprach an seiner Stelle. Julius’ Mutter lächelte ernst. Man werde alles tun, um Herrn Ott zu helfen. Julius stellte sich den beiden vor. Sonja stand daneben, reichte ihnen nach einem kurzen Zögern auch die Hand und sagte leise: „Sonja Laurent.“

Julius führte Kaspar Ott hinauf in sein Behandlungszimmer. Dort half er ihm, auf dem Ledersofa Platz zu nehmen, und sagte: „Dann schauen wir mal.“ Der Alte strich mit einer Hand ein paar Mal über die Armlehne. Julius hatte seiner Mutter nie gesagt, wie ungern er ältere Menschen berührte. Manchmal wünschte er sich, er dürfte Handschuhe benutzen.

Gerade als er beginnen wollte, klopfte es. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und Sonja schaute mit einem fordernden Schweigen herein. Julius entschuldigte sich bei dem Alten, trat auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. „Was denn?“, flüsterte er.

„Überlässt du mir den Kunden?“, fragte sie leise. „Ich wünsche mir schon lange so jemanden.“

„Einen alten Mann?“

„Einen Dementen. Jemanden mit Alzheimer zu behandeln, muss wie eine Art Drogentrip sein, nur ohne Suchtgefahr und Nebenwirkungen: intensiv, farbenfroh, temporeich.“

„Ich dachte, du willst kündigen.“

„Du hörst mir nie richtig zu, aber wenn ich mal dumm daherrede, nimmst du es gleich ernst.“

Hinter der Tür hatte der Alte zu summen begonnen. Tonleiter rauf, Tonleiter runter.

„Bitte“, sagte Sonja.

Er küsste sie auf die Wange. „Schön, dass du hierbleibst.“ Dann öffnete er ihr die Tür zu seinem Zimmer. Sie umarmte ihn kurz und trat ein.

Julius übernahm um halb zehn den Kunden von Sonja. Danach suchte er sie. Er wollte wissen, ob ihr die Sitzung gefallen hatte. „War es so, wie du es dir vorgestellt hast?“, fragte er, als er sie im Garten fand.

„Sicher“, antwortete sie nur.

Es überraschte ihn, wie gelangweilt sie sprach. „Erzähl mal.“

„Was soll ich schon sagen? Es war toll.“ Wenn sie müde oder in Gedanken war, hatte sie einen leichten Silberblick.

An diesem Abend ging er vor ihr ins Bett. Er hörte sie in der Wohnung umhergehen, die Balkontür, dann das Wasser am Waschbecken. Ein lang anhaltendes Rauschen, völlig gleichmäßig. Kein Geräusch deutete darauf hin, dass sie etwas unter den Strahl hielt. Irgendwann tastete sie sich durch die Dunkelheit, stieß mit dem Fuß gegen den Schrank. Im Bett umarmte Julius sie und sagte ihr, wie gern er sie hatte. Er hätte ihr das sowieso gesagt, hatte es sich vorgenommen, aber es stimmte auch tatsächlich. Sie begann, ihm einen runterzuholen, schnell und mechanisch, als müsste sie eine Aufgabe erledigen. Als sie merkte, dass er nicht kommen konnte, wandte sie sich ab.

In der Nacht erwachte er, weil sie im Schlaf mehrmals zusammenzuckte. „Der Kotflügel“, murmelte sie. Und: „Zu Fuß im Dunkeln.“ Den Rest verstand er nicht. Unruhig drehte sie sich gegen ihn. Im schwachen Licht sah es für einen Moment so aus, als wäre ihr Gebiss weit aufgerissen.

Er hatte sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Damit kann man Frauen in den siebten Himmel bringen, hatte er mal gehört. Beim Tauchgang, wohlverstanden.

Er spritzte sich Parfüm auf die Kleider, bis er überall gut roch. Dazu spielte er seinen liebsten Rocksong ab: „Unskinny Bop“ von Poison. Er stand vor dem Spiegel neben dem Bett und sang dazu. Das Parfüm war sein Mikrofon. Den Text konnte er nicht richtig. Er sang immer nur „Bam bam bam“ oder bewegte einfach den Mund. Aber Englisch verstand er sehr gut. „Please“ und „baby“ und „forever“, das kannte er alles. Und er konnte auch gut so sprechen, dass es wie echtes Englisch klang.

Sein Name war Res Kobel. Also Andreas, aber eigentlich Res. Und er wohnte in einer Einzimmerwohnung im Neufeld, dort, wo früher ein Teil des Videoverleihs drin gewesen war. Die Eingangstür war durchsichtig, also mit so einer Glasscheibe, und wenn Res dort rausschaute, sah er direkt auf eine Kreuzung mit einer Ampel. Im ehemaligen Schaufenster hatte er seine Elektrogitarre aufgehängt. Spielen konnte er nur ein bisschen, deshalb hing sie meistens dort. Als Kind hatte er sich in der Videothek immer Trickfilme ausgeliehen, dann auch mal einen Sex-Trickfilm. Und dann nur noch normale Sexfilme.

Res hatte eine Lederjacke mit einem weißen Streifen auf der Seite. Er hätte gern etwas mehr Haare auf dem Kopf gehabt, aber wenn er genug Wachs benutzte, konnte er sich trotzdem eine tolle Frisur machen. Er war überhaupt ein geiler Typ, da fiel es gar nicht auf, dass er ein bisschen Bauch hatte. Bei den Frauen kam er jedenfalls extrem gut an. Zum Beispiel hatte er einmal eine ehemalige Schulkameradin angerufen, und die kam sogar etwas mit ihm trinken, aber musste dann wieder weg. Oder er hatte eine Frau beim Einkaufen in der Migros angesprochen. Die war sehr nett gewesen und hatte ihm auf alles Antwort gegeben und ihm auch den richtigen Namen gesagt, denn er hatte sie später im Internet gefunden. Er hatte sofort gewusst: Der könnte er es richtig besorgen. Also hatte er ihr geschrieben, dass er sich verliebt hat und immer an sie denkt und so Zeug. Das mochten Frauen ja.

Und heute Abend wollte er eben ins Florida Rock gehen, denn es war sein Geburtstag. Er hatte die zwei letzten Nächte gar nicht schlafen können. Oder vielleicht nur ein bisschen, denn er hatte etwas geträumt, das wusste er. Aber er wusste nicht mehr was. Res wurde fünfundzwanzig. Die meisten schätzten ihn älter, weil er so reif und erfahren wirkte. Angerufen hatte niemand außer die Periodenruth. Das machte aber nichts. Er würde heute Abend richtig feiern. Im Florida Rock kannte ihn jeder. Das Florida Rock war überhaupt die beste Bar, die es gab auf der ganzen Welt. Dort gab es eine Jukebox mit alten Liedern und verschiedene Biersorten. Aber er nahm immer Feldschlösschen oder Egger, weil die anderen so komplizierte Namen hatten, die kein Mensch aussprechen konnte. Und hinter der Bar war manchmal eine, die war vielleicht eine Französin. Und dann stand dort ein Automat mit Rubbellosen. Der war toll, also: Da kostete ein Los zwei Franken und wenn man bei den sechs Feldern dreimal den gleichen Betrag aufrubbelte, gewann man diesen Betrag. Einmal hatte er zwanzig Franken gewonnen. Das war vielleicht der schönste Tag in seinem Leben gewesen.

Er wusste übrigens extrem viel über Schlangen. Was sie aßen, wie sie kämpften, alles. Er hatte sicher schon zehn Bücher über Schlangen gelesen. Wenn er irgendwo ein Bild von einer Schlange sah, dann konnte er sofort sagen: Das ist soundso eine und die lebt da und da. Zehn Bücher oder sicher noch mehr. Gestern war im Bus ein Mädchen gewesen, und die hatte er damit total beeindruckt. Er hatte sich auch gleich in sie verliebt. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie gefragt, wie sie heißt, und sie hatte Sandra gesagt. Und deswegen kannte er sie jetzt. Den Nachnamen hatte sie nicht verraten wollen. Aber vielleicht kam sie heute ins Florida Rock. Er hatte sie eingeladen und ihr gesagt, dass er dort alle kennt. Sein Bett war frisch bezogen.

Kaspar Ott sollte von nun an wöchentlich vorbeikommen. Bevor der Alte zu seiner zweiten Sitzung eintraf, ging Julius in Sonjas Behandlungszimmer. Sie saß am kleinen Rundtisch und trug ein Karohemd, das etwas zu groß war. Im Hintergrund ihre afrikanischen Skulpturen, die Kamasutrabildchen mit Zeichnungen von Männern, Frauen und Kühen, das Regal mit ihrer Muschelsammlung, dem Mammutzahn aus Alaska und dem türkischen Schmuck. Das Fenster war geöffnet.

Sie beugte sich über einen Kinogutschein, das Haar fiel ihr vor die Stirn. „Ich glaube, aus der Eins lässt sich eine Sieben machen“, sagte sie. Sie klemmte sich eine Strähne zurück hinters Ohr und zog sorgfältig einen kurzen Strich ins Ablaufdatum. Dann lächelte sie Julius bübisch zu.

Er griff nach dem Gutschein, schaute ihn kurz an und stellte sich ans Fenster. Im Garten bauten Handwerker die Bühne auf, bohrten und hämmerten.

„Mir ist klar, wie lange du und Toni schon mit Flück befreundet seid“, sagte Sonja. „Aber ein Konzert und ein Feuerwerk? Für einen dreißigsten Geburtstag ist das völlig übertrieben. Warum nicht gleich Elefanten mit Stripperinnen auf dem Rücken?“

Julius legte die Arme um sie. „Ist es in Ordnung, wenn du heute Abend die Gäste empfängst, während Toni und ich uns mit Flück am Bundesplatz treffen? Dann locken wir ihn unter einem Vorwand hierher.“

In der Diele waren Stimmen zu hören. „Der Ott ist da“, sagte sie und nickte dann. „Ja klar, mache ich.“

Auf Julius wartete auch eine Kundin, eine junge Arzthelferin. Er führte sie in sein Zimmer, wo sie sich auf das Sofa setzte. Sie rückte ganz an den Rand. „Ich habe einen Namen vergessen“, sagte sie.

So wie sie hatten die Frauen Anfang der Neunziger ausgesehen. Diese Ohrringe, das lockige Haar. Vermutlich hätte sie damals als hübsch gegolten.

„Eine Freundin meinte noch, sie würde mich nach Hause begleiten. Aber ich bin ja oft allein unterwegs. Ich dachte immer, ich bin eine Frau, der das nicht passiert. Einer der beiden Männer sprach den anderen mit Namen an. Ich habe es genau gehört. Aber als ich den Namen der Polizei nennen wollte, war er weg.“ Sie rieb sich die Arme, schaute sich im Zimmer um. „Sie sind mir von einem Bekannten empfohlen worden. Eigentlich glaube ich ja nicht an so was.“

Er verschränkte die Arme. „Und was genau verstehen Sie unter ‚so was‘?“

„Meistens verdienen Menschen ihr Geld mit solchen Dingen, wenn sie in allen anständigen Bereichen gescheitert sind. Oder wenn sie aus einem anderen Grund einen Minderwertigkeitskomplex haben.“

„Ich habe Psychologie und Literatur studiert.“

„Und wieso arbeiten Sie nicht als Psychologe?“

Julius schaute aus dem Fenster. Ein Flugzeug am Himmel, ein hinter den dichten Zweigen ungleichmäßig blinkender Fleck. Er ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich. In seinem Raum gab es keine Bilder, Pflanzen oder Kerzen. Auf dem Tisch lagen nur ein Kugelschreiber und die Akte der Kundin. Er schlug die Beine übereinander und schrieb. Name, Geburtsdatum, Problem. Er ließ etwas Platz für die Lösung. Unten rechts war das Feld für seine persönliche Erinnerungsstütze. Pechmarie? Das Mädchen mit den Schwefelhölzern? Er betrachtete sie, drückte mehrmals das Ende des Kugelschreibers gegen sein Kinn und notierte: „Gretel“.

„Können Sie wirklich verdrängte oder vergessene Erinnerungen sehen?“, fragte die Arzthelferin. „Müssen Sie mich dafür berühren?“

Julius setzte sich neben sie aufs Sofa. „Wenn es nicht klappt, bezahlen Sie nur eine Grundgebühr.“ Er legte die Hand auf ihre Schulter, war überrascht, dort ihren Puls zu fühlen, schloss die Augen. Seine Hand hob und senkte sich mit ihrer Atmung. „Rob? Ist das der Name? Oder Ron?“

Die Arzthelferin verspannte sich.

„Der Name beginnt mit R, oder?“ Als Julius die Augen öffnete, schaute sie ihn ratlos an.

Er brachte sie zur Tür. „Die Verdrängung sitzt zu tief, es tut mir leid.“

„Ich wollte eigentlich zu Ihrem Bruder“, sagte sie, als sie ging.

Die Hausnummer, die Toni suchte, befand sich in einer schmalen Passage, in der es nach Müll und Katzenpisse stank. Die Tür war mit Tags verschmiert. Toni drückte die Klingel, wartete, drückte sie noch mal. Eine Männerstimme ertönte durch die Gegensprechanlage.

„Ich möchte Knöpfe kaufen“, sagte Toni.

Es surrte und Toni trat ein. Das Licht im Treppenhaus funktionierte nicht. Er suchte nach dem Geländer und stieg die Stufen hoch. Im zweiten Stock stand der Mann in der Tür: Er hatte ein öliges Gesicht, nur noch wenig Haar und war so groß und breit, dass sich sein Trägerhemd an jeder Stelle spannte. Er sah aus, als würde er aus einer einzigen klumpigen Masse bestehen, irgendwas zwischen Muskel- und Fettgewebe. „Bist du ein Freund von Tarik?“

Toni bejahte. Der Mann führte ihn in ein Zimmer, eine Matratze am Boden, daneben ein fleckiges Sofa. Die Luft war schwer und süßlich, die Läden waren geschlossen. Von einer Schreibtischlampe am Boden kam ein tristes Licht. Dann hörte Toni einen langen, leisen Ton. Er schaute sich um und stellte fest, dass er von einem Huhn stammte, das in einer Ecke einfach auf einem Handtuch lag.

„Wie viel willst du?“, fragte der Mann.

„Für hundert, wenn’s geht.“

Der Mann schaute ihn an, als hätte er gegen irgendeine Regel verstoßen. Toni wusste allerdings nicht, ob er mit mehr oder mit weniger gerechnet hatte. „Ist für eine Feier heute Abend“, fügte Toni unbeholfen an. „Ein Freund hat Geburtstag.“

„Tarik?“

„Nein, nicht Tarik.“

„Warte hier.“

Der Mann ging ins Nebenzimmer und Toni setzte sich aufs Sofa. Das Huhn auf dem Handtuch drehte den Hals zu ihm und öffnete hilfesuchend den Schnabel, krächzte heiser. Toni wandte den Blick ab. Das Krächzen wurde eindringlicher, als suchte das Huhn Tonis Aufmerksamkeit. Er griff nach einem Supermarktprospekt, der am Boden lag, und gab vor, darin zu lesen. Endlich kam der Mann mit einem Päckchen Gras zurück und drückte es Toni in die Hand. Als Toni den Hunderter hervorsuchte, schrie das Huhn laut auf.

„Ist traumatisiert, das arme Ding“, erklärte der Mann. „Es wurde von einem Marder angegriffen. Sag Tarik, ich lasse ihm gratulieren.“

Toni verließ das Gebäude und fuhr zurück, drehte das Autoradio laut auf. Bei einer Ampel entzifferte er die Schrift eines Aufklebers, der sich auf der Heckscheibe vor ihm befand: „Wenn ich noch mal von vorn beginnen könnte, würde ich nichts anders machen.“ Wie selbstverliebt man wohl sein musste, um sich eine solche Anmaßung aufs Auto zu kleben. Toni hupte.

Die Scheibe wurde hinuntergefahren. „Was ist dein Problem?“, schrie ein frustrierter Typ aus dem Fenster. „Es ist noch rot, du Depp!“

Toni kicherte und hupte zwei weitere Male.

Über dem Licht, das auf die Straße fiel, lag ein herbstlicher Schleier. Wegen einer Baustelle nahm Toni einen Umweg, fuhr den Fluss entlang zurück. Das Glitzern des Wassers brannte in seinen Augen nach, als er auf die Straße blickte. Er bog in den Erlenweg ein.

Der Rothaarige stand vor dem Haus. Er lehnte an einem Auto und rauchte, die Augen leicht zusammengekniffen, unklar, ob er etwas beobachtete oder nachdachte. Insgesamt war er eher schmächtig, aber er hatte starke Unterarme. Vielleicht kletterte er oder arbeitete als Gärtner. Wenn er an der Zigarette zog, legte sich seine Stirn in Falten.

Toni stellte den Motor aus und trommelte kurz mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Er löste den Gurt, griff nach einer Zigarette. Sein Daumen rutschte mehrmals auf dem Rädchen des Feuerzeugs ab, bevor er sie anzünden konnte. Er nahm vier kräftige Züge, dann stieg er aus dem Auto und warf die Zigarette weg.

Er holte die Getränke aus dem Kofferraum. Der Rothaarige griff nach dem Handy. Mit zwei Kästen Bier ging Toni an ihm vorbei, machte etwas mehr Lärm als nötig. Er bereitete sich auf einen Gruß vor, doch da er nicht angeschaut wurde, verschluckte er ihn. Er befand sich schon auf der Eingangstreppe, als er hörte, wie der Rothaarige ins Handy sagte: „Okay, dann um acht im Florida Rock.“

Tonis Mutter stand am Empfang, hinter der gebogenen alusilbernen Theke, die sie vor ein paar Jahren in der Diele hatte aufstellen lassen. Täglich dekorierte sie den Empfang mit frischen Rosen. Sie kaufte sie jeweils einem Inder ab, der auf seiner frühabendlichen Tour durch die Restaurants einen Schlenker an den Erlenweg machte. Wann immer möglich, erwähnte sie vor den Kunden, woher die Rosen stammten, wahrscheinlich in dem Glauben, weltoffen zu erscheinen.

Toni trug das Bier in die Küche, seine Mutter rief ihm etwas nach, was er nicht verstand. Ob sie am Abend beim Fest auch willkommen sei, wiederholte sie, als er wieder bei ihr war. „Ist ja dein Haus“, antwortete er, „sicher.“ Er erkundigte sich nach Julius.

„Der ist oben“, sagte sie. „Er hat es sich mal wieder mit einer Kundin verscherzt.“

Julius saß schreibend am Tisch. In der linken Hand hielt er drei verschiedenfarbige Marker. Er schaute kurz auf. „Das Bier? Ich komme gleich und helfe dir.“

Je schlechter es mit den Kunden lief, umso größer war der bürokratische Aufwand, den Julius betrieb. Toni hatte nie verstanden, was es bei ihrem Beruf überhaupt aufzuschreiben gab. Julius hatte diesen Tick schon als Kind gehabt – das Bedürfnis, alles alphabetisch oder chronologisch zu ordnen, Listen zu erstellen. Er verzeichnete alle Orte, an denen er jemals übernachtet hatte, Kino- und Konzertbesuche, Städte, die er bereist, und Frauen, die er mindestens geküsst hatte. Eine Liste beinhaltete Geräusche, die er mochte: wenn man eine Wassermelone zerschnitt, wenn man auf der Computertastatur die Leertaste drückte oder wenn eine leere Kaffeekapsel zerquetscht wurde. Einige Listen hatten nicht mal was mit ihm zu tun, waren reiner Zeitvertreib: die Aufstellung aller Huftiere zum Beispiel, auch der ausgestorbenen, oder die Sammlung von Wörtern, die nur in festen Wendungen auftauchten, wie „Braus“, „Nu“ oder „weder“. Lauter solches Zeug.

Tonis Behandlungszimmer lag denen von Julius und Sonja gegenüber. Von seinem Fenster aus sah er hinunter auf die Straße. Er rauchte durch den Spalt. Von oben betrachtet, bestand der Rothaarige nur aus den dunklen Schuhen, dem unordentlichen orangen Haar, das als feuriger Fleck vor dem blau-weißen Hintergrund seiner Jacke lag, und einer Nase, die trotz mäßiger Ausprägung hervorstand.

„Kommst du?“ Julius stand bereits neben ihm und hustete. „Du weißt schon, dass man das bis rüber zu mir riecht?“

Toni drückte die Zigarette auf dem Fensterbrett aus. Als er mit Julius die Treppe hinunterstieg, sagte er: „Besser, wir gehen mit Flück nicht zum Bundesplatz. Kennst du das Florida Rock?“

Als es dunkel wurde, nahm Res das Tram ins Weißenbühl, dann ging er den Kiesweg hinunter. Wenn er sich freute, musste er immer so schnell atmen. Fünfzig Franken hatte er dabei. Das reichte, um voll zu werden und vielleicht noch jemanden einzuladen. Am Ende der Straße sah er schon den leuchtenden Schriftzug des Florida Rock. Beim Brunnen wollte er sich in der Wasseroberfläche noch mal anschauen, aber es war zu dunkel. Also ging er vor dem Seitenspiegel eines Autos in die Knie. Alles perfekt. Jetzt noch ein Kaugummi.

Da wartete ja auch schon der Heinz vor der Tür und winkte ihm von Weitem zu. Res grinste und winkte zurück. Und als er vor dem Florida Rock stand, sagte Heinz: „Mensch, Res, mach es mir doch nicht so schwer. Jetzt bist du schon wieder hier. Du weißt doch, dass du Hausverbot hast.“

In der Fensterscheibe konnte man die bunten Lichter von drinnen sehen, und dumpf hörte man Gotthard. Oder vielleicht Meatloaf. „Ich habe heute Geburtstag“, sagte Res.

Da lächelte Heinz. „Ich kann dich nicht reinlassen, wenn du ständig alle Frauen belästigst, verstehst du? Die kommen sonst nicht mehr.“

Res schaute ihn an und wartete.

„Verstehst du das, Res? Ich hab dir das doch jetzt schon oft genug erklärt.“

„Nur kurz, es ist ja mein Geburtstag. Ich bin ganz ruhig und anständig.“

„Das sagst du immer. Sei mir nicht böse. Ich gebe dir ein Bier mit auf den Weg, ja? Umsonst. Zum Geburtstag.“

Heinz klopfte ihm auf die Schulter und ging hinein. Und dann kamen drei Typen, und die gingen auch hinein, einfach an Res vorbei. Nach einer Weile kam Heinz mit einer Flasche Lager zurück, gab sie ihm und lächelte.

Es machte nichts. Kein Problem. Res kannte viele Bars. Er konnte überall Freunde finden. So toll war das Florida Rock gar nicht. Als er wegging, hörte er am Lauterwerden der Musik, dass sich die Tür noch mal geöffnet hatte. Er drehte sich um, und da stand der Meyer. Der Meyer, dem er noch einen Hunderter schuldete, wegen dieser blöden Wette. Und der fragte auch schon nach seinem Geld und kam auf ihn zu. Res wollte wegrennen, der Meyer riss ihn aber am Arm zurück. Das Bier knallte auf den Boden und ging kaputt. Der Meyer noch mal: „Hast du das Geld?“ Eine lange Narbe in seinem Gesicht.

„Welches Geld?“

Res kriegte mit der Faust eins mitten auf die Nase und dann eins in den Bauch, mit dem Knie wahrscheinlich. Wieder eins ins Gesicht. Er krümmte sich am Boden. Der Meyer griff in seine Tasche und nahm die fünfzig Franken.

Res fühlte den kühlen Asphalt unter seinem Kopf. Das zerbrochene Glas glitzerte in einer Pfütze aus Bier. Er zählte, wie oft sich die Straßenlampe in den Scherben widerspiegelte.

Eins, zwei, drei, vier, fünf. Nein, eine Spiegelung war von der Pfütze. Viermal also.

Das Bier schwappte über, als Toni die drei Gläser mit den Händen umschloss und sie an den Tisch trug. Julius und er stießen mit Flück an, gratulierten ihm mit bemühter Belanglosigkeit. Dann schaute Toni sich unauffällig um: auf den Barhockern des Florida Rock ein paar alte Männer mit strähnigem Haar, an einem Spielautomaten drei dicke Jugendliche in Jogginghosen, am Billardtisch eine Gruppe, die schrie und lachte. Den Rothaarigen sah er nirgendwo. Mit der Enttäuschung spürte er einen Moment auch das Bedürfnis, sich selbst eine schwule Sau zu nennen. Es einfach laut auszusprechen. Dann lenkte ihn aber ein Typ mit einem blutverschmierten T-Shirt ab, der an ihnen vorbeiging, eine Hand zur Faust geballt.

Julius saß in einem frisch gebügelten lachsfarbenen Hemd und einem Sakko vor Toni, das Haar zur Seite gekämmt. „Mir war ja sofort klar, mit welcher Absicht du in diese Bar gehen wolltest“, sagte er. Sein Stolz, Toni durchschaut zu haben, war unerträglich. Dabei hätte er bereits darauf kommen können, als Toni ihn nach dem Vornamen des Rothaarigen gefragt hatte. Und erst recht, als er sich darüber geärgert hatte, dass Julius Unbekannte prinzipiell siezte und ihm deshalb keine Auskunft geben konnte.

„Ein Typ, der in solchen Lokalitäten verkehrt, wird sich allerdings kaum für Männer interessieren“, sagte Julius. „Und selbst wenn: Das kann es ja wohl nicht sein. Hier sind Alkoholiker, ungepflegte Frauen in aufdringlichen Kleidern, und wenn man pinkeln geht, tummeln sich Fruchtfliegen ums Gemächt. Das spricht nicht gerade für ihn.“

„Nun lass ihn doch“, sagte Flück.

„Würde ich ja gern“, erwiderte Julius. „Aber ich sehe schon jetzt, worauf das rausläuft: Toni wird frustriert sein, sich gehen lassen, und am Ende leidet wieder die Praxis darunter. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie er auf die Trennung von Dominik vor zwei Jahren reagiert hat? Er ist noch Monate später vor dessen Hauseingang herumgeschlichen. Er hat versucht, ein Muster darin zu erkennen, zu welchen Zeiten Licht brennt, und die abstrusesten Deutungen daraus gezogen. Unsere Kunden empfing er dann übernächtigt, unrasiert und mit selbst geschnittenen Haaren. Er hat kaum noch gegessen, dafür aber umso mehr getrunken und geraucht.“

„Gekifft hast du vergessen“, sagte Toni.

Flück grinste Toni zu. „Vielleicht hast du diesmal ja mehr Erfolg.“

Julius wandte sich an Toni. „Du weißt ja, wie das geht: Zuerst strömen lauter körpereigene Drogen durch deine Blutbahnen. Neutrophin, Oxytocin und so weiter. Die Substanzen verursachen Träumereien, Besitzansprüche und das Verlangen, jemanden zu berühren. Dann sondert die Haut Pheromone ab. Die sollen die Aufmerksamkeit des Gegenübers erregen. Wenn man Glück hat, strömen die Pheromone bald in beide Richtungen und die Spannung kann sich entladen. Ist das allerdings nicht der Fall, schüttet der Körper einfach weiter Substanzen aus, die den Wunsch nach Nähe ins Unerträgliche steigern. Wer sich aus so einer Situation befreien will, braucht Selbstkontrolle, Disziplin und einen klaren Verstand.“

„Und diese Eigenschaften fehlen mir“, komplettierte Toni seine Ausführungen. Er nahm einen Schluck Bier. „Vielleicht hast du recht: Ich frage mich, ob Rothaarige überhaupt vom andern Ufer sein können. Überlegt mal: Rotes Haar ist ein rezessiver Erbfaktor. Rothaarige haben es im Evolutionsprozess also ohnehin schwer, sich durchzusetzen. Dann können sie sich nicht auch noch Homos leisten. Sonst sterben sie aus.“

Flück lachte, und Julius sagte: „So ein Schwachsinn. Lies mal was über Evolutionsbiologie, bevor du solche Theorien aufstellst. Warum überhaupt willst du den Typ in dieser Bar treffen? Es ist doch viel einfacher, ihn vor unserem Haus anzusprechen. Er bringt seinen Vater ja jeden Freitag vorbei.“

„Hat Flück dir nie von seiner Zwei-Orte-Strategie erzählt?“

Flück übernahm sofort, offenbar erfreut, dass seine Methode angewandt wurde: „Es ist ganz einfach. Wenn man einem Menschen immer am selben Ort begegnet, dann findet man schlicht keinen Grund, ihn anzusprechen. Sieht man ihn aber ausnahmsweise mal woanders, ist es viel einfacher, auf ihn zuzugehen und zu sagen: ‚Hey, dich kenn ich doch von irgendwo.‘ Will man jemanden kennenlernen, dann braucht es zwei Orte. Man muss rausfinden, wo sich die Person so rumtreibt, und dann selbst dort aufkreuzen, das ist alles.“

Es war schon halb neun, und Julius sagte: „Vielleicht hat er sein Treffen ja verschoben. Oder du hast ihn falsch verstanden. Womöglich kommt er auch mit seiner Freundin hierher.“

Toni fragte sich inzwischen tatsächlich, ob er sich verhört haben könnte, und nickte schließlich. „Noch ein Schlummertrunk am Erlenweg?“, sagte er zu Flück.

„Ein Schlummertrunk im Haus eurer Mutter? An einem Freitagabend um diese Zeit?“ Flück lachte. „Wusst ich’s doch.“

Das Blut war auf sein Hemd getropft. Das merkte Res erst im Tram. Mit Spucke ging der Fleck nicht weg. Es machte aber nichts. Viel schlimmer war, dass er kein Geld mehr hatte. Vielleicht hätte ihm die Periodenruth welches geben können, doch zu der wollte er jetzt nicht. Zum Glück hatte er eine bessere Idee: den Lagerraum – ein Club im Zentrum, wo man ein Gratisgetränk bekam, wenn man Geburtstag hatte. Das hieß: Es war alles gut.

Dort wurde er von einem Türsteher saublöd angeschaut. Als Res hineingehen wollte, versperrte der ihm den Weg und sagte: „Nichts da.“

Res dachte, er hat ihn vielleicht falsch verstanden, aber dieser Depp blieb vor ihm stehen.

„Heute ist mein Geburtstag.“

„Mit schmutzigen Klamotten kommst du hier nicht rein. Und was ist mit deinem Gesicht passiert? Du solltest besser zum Arzt.“

Wenn Res den Kopf streckte, konnte er auf die Tanzfläche sehen. Dort wackelten junge Mädchen mit ihren Hintern. Eine dicke Frau, die die Garderobe machte, mischte sich ein: „Jetzt lass ihn schon rein, den armen Kerl. Wenn er doch Geburtstag hat.“

Darauf zuckte der Türsteher mit den Schultern und schob Res an sich vorbei. Er ging durch die Leute hindurch, dort, wo es eng war, und konnte dabei das eine oder andere Mädchen berühren, ohne dass es auffiel.

Der Türsteher war vielleicht ein Vollidiot. Als müsste man wegen so was zum Arzt. Res war nicht so eine Memme. Er war selten beim Arzt. Das letzte Mal, als er sich bei einer Nutte was geholt hatte. Das war allerdings nicht das Schlimmste, was einem im Puff passieren konnte. Er hatte mal von einem gehört, der war zu einer gekommen, die einen Schwanz hatte. Das hatte man der gar nicht angesehen. So was wünschte er wirklich keinem. Aber es gab einen Trick, wie man es merkte. Das hatte ihm mal einer erklärt: Man musste sich den Adamsapfel anschauen, dann wusste man Bescheid.

Und im Krankenhaus war er erst einmal gewesen. Als man ihn besoffen auf der Straße gefunden hatte. Dabei hatte er nicht einmal eine Alkoholvergiftung gehabt, die hatten alle übertrieben. Jedenfalls: Manchmal schaute er Ärzteserien. Die Frauen, die dort in den Krankenhäusern arbeiteten, sahen immer aus wie Models. Die Haare, das Gesicht, die Titten. So eine, das wusste er, würde er nicht von der Bettkante stoßen. Doch als er im echten Krankenhaus erwacht war, stand da eine Ärztin vor ihm, die sah richtig schlimm aus: schiefe Zähne und etwa sieben Meter groß. Ihm fielen sofort die Kontaktlinsen raus, und die Ärztin dachte, das kommt daher, dass er sie zu lange getragen hat.

Die Bar war violett beleuchtet. Dahinter stand eine hübsche junge Frau mit kurzen Haaren und einer Brille, neben ihr irgendein Südländer oder so. Res wollte bei der Frau was bestellen, aber dann wandte sich der Typ an ihn und fragte mürrisch: „Ja?“

Res tat, als hätte er es nicht gehört. Er suchte Blickkontakt zur Frau, die gerade Schnaps und Saft in einen Becher goss. Der Typ schaute ihn wütend an: „Willst du nun was oder nicht?“

Res bestellte einen Whisky Cola und sagte, dass er Geburtstag hat.

„Ausweis“, sagte der Typ.

Res zeigte ihm seine Identitätskarte, und der Typ notierte sich den Namen auf einem Block. Es würde der einzige Drink für diese Nacht sein. Res nahm sich vor, langsam zu trinken. Nach fünf Minuten war das Glas leer.

Die hübsche Frau war richtig gut. Sie schnitt ganz zackig Zitronen, bereitete mehrere Getränke gleichzeitig vor und schüttelte den Schüttelbecher und ihre Titten gleich mit. Res stützte sich mit den Ellbogen auf den Tresen, um sie besser zu sehen.

„Willst du noch was bestellen?“, fragte sie.

„Weißt du, ich bin Schlangenspezialist.“

„Was?“

„Ich bin Schlangenspezialist! Ich habe sicher schon zwanzig Bücher über Schlangen gelesen.“

Sie nickte und sagte, sie hat keine Zeit zum Plaudern, sie muss arbeiten. Der Südländer fragte: „Macht er Probleme?“ Er schaute richtig böse.

Zwei braunhaarige Frauen, die an der Bar saßen, hatten Res beobachtet und lachten. Sie waren zwar weniger hübsch, trieben wohl zu wenig Sport, aber trotzdem okay. Sie trugen beide ein pinkfarbenes T-Shirt.

„Hast eins aufs Maul gekriegt?“, fragte diejenige mit dem leuchtenderen Pink.

„Wenn schon kriegt einer von mir eins aufs Maul“, sagte Res. „So läuft das.“ Er wollte wissen, ob sie mitbekommen hatten, dass er Schlangenspezialist war. „Fragt mich mal was über Schlangen.“

Die Frauen sahen sich an und kicherten beeindruckt.

„Nun fragt schon was. Ich kann euch alles beantworten.“

„Na gut“, sagte die Brünette mit dem weniger krassen Pink, „dann sag uns doch mal, aus welcher Zeit die ältesten Fossilfunde von Schlangen stammen.“

Res antwortete: „Nicht so was! Frag was Richtiges. Frag mich, was Schlangen essen oder wie sie kämpfen. Das weiß ich alles.“

„Ich habe eine Frage für dich!“, sagte die weniger Pinke. „Von welcher Schlange müsstest du dich beißen lassen, damit du möglichst schnell aufhörst, Blödsinn zu labern?“

Die Pinkere lachte laut und auch die weniger Pinke lachte. Sie gaben sich die Hand und gingen auf die Tanzfläche.

Res stellte sich zu einem Tischchen, an dem zwei knutschten. Vor ihnen standen zwei volle Gläser Bier. Er nahm beide und ging weiter. Eins davon trank er ex.

Toni lehnte sich gegen die mit Efeu überwachsene Mauer unterhalb des Sitzplatzes und blickte auf den Rasen. Er hatte eine Flasche Absolut-Wodka bei sich, nahm hin und wieder einen Schluck und stellte sie dann hinter seine Füße. Die Band, die Julius aufgetrieben hatte, spielte nur Coldplay-Cover. Oder selbst geschriebene Songs, die wie Coldplay-Cover klangen.

Toni sah zu, wie sich Flück, der kleiner war als die meisten um ihn herum, einen Weg durch die tanzende Menge bahnte, die Kapuze über dem Kopf. Alle paar Schritte unterhielt er sich mit jemand anderem, bis er zu einer Blondine in einem fleischkäsefarbenen Deuxpièces kam, die zum Tanzen in die Knie ging und vor Verausgabung rote Wangen gekriegt hatte. Er umarmte und küsste sie. Das war also seine Neue. Babsi oder so.

Flücks Beziehungen – wenn man sie überhaupt so nennen wollte – dauerten nie besonders lang. Gewöhnlich langweilte er sich nach ein paar Wochen und trennte sich dann mit wenigen Worten. Seine Frauen dagegen schrieben ihm manchmal noch Monate später böse Briefe oder SMS, die in drei Portionen gesendet wurden, weil sie so lang waren.

Babsi war eigentlich ganz hübsch, hatte aber in der Umsetzung dieses Potenzials irgendwas falsch gemacht. Neben ihr hüpfte ein unförmiger, kichernder Typ mit einem roten Schwabbelgesicht auf und ab. Er trug ein enges T-Shirt mit der Aufschrift „Fashion Victim“. Sein Bauch quoll nach allen Seiten heraus, ja selbst nach oben. Obwohl Toni bei dem Anblick eine Mischung aus Brechreiz und Panik überkam, konnte er nicht anders, als trotzdem hinzusehen.

Plötzlich stand Flück neben ihm, reichte ihm ein Bier und stieß mit ihm an. „Das ist ein Freund von Michaela“, sagte er.

Genau. Michaela hieß sie. Nicht Babsi. „Wer?“, fragte Toni.

„Na, der Typ, den du ins Visier genommen hast.“ Mit leiserer Stimme sagte Flück: „Und ich weiß aus sicherer Quelle: Er ist an Männern interessiert.“

„So eine Überraschung aber auch.“

„Und er ist Single.“

„Noch eine Überraschung.“

„Wär der nicht vielleicht was für dich?“

Toni stellte das Bier hin und griff nach dem Absolut. „Du hast Geburtstag. Und ich weiß, dass du Männer schlecht beurteilen kannst. Deshalb verzeihe ich dir diese Aussage.“

„Ich mache mir doch nur Gedanken“, sagte Flück. „Julius hat schon recht. Du bist in einem Alter, in dem du was erleben solltest. Diese Zeit darfst du nicht mit Träumereien verschwenden.“

„Sagt er das?“ Toni zündete sich eine Zigarette an. „Ist ja toll, dass einer Beziehungstipps verteilt, der mit seiner eigenen Cousine zusammen ist.“

Flück lachte, schaute sich um. „Mann, Toni“, sagte er dann. „Warum hast eigentlich nicht du dich um die Musik gekümmert? Ich meine, ich freu mich ja. Aber Coldplay? Geht’s vielleicht noch biederer?“

Drei Mädchen stellten sich um ihn herum. Flück kannte sie von seinem Biologiestudium, wenn Toni sich richtig erinnerte. Eine streckte Flück ein Päckchen hin. Sie zappelten alle drei vor Aufregung. Vermutlich war es eine bedruckte Unterhose. Oder irgendein Gebastel mit aufgeklebten Kondomen. Oder sonst was extrem Witziges.

Toni stieg die Treppe hoch zur Terrasse und warf einen Blick in den Salon, wo seine Mutter umherging. Sie trug ein lila Kleid, lange goldene Ohrringe und auffälligen blauen Lidschatten. Das Kastanienbraun ihres Haars war kräftiger als noch am Nachmittag. Sie wippte mit dem Kopf zur Musik und verteilte Flyer. Sobald er fertig geraucht hätte, würde er sie wieder einsammeln gehen. Ihre Blicke trafen sich, seine Mutter lächelte ertappt.

Ein paar Meter von Julius entfernt lehnte Sonja an der Wand, während ein langhaariger Typ in einem Muskelshirt auf sie und ihre Freundin Steffi einredete. „Ich war mit nicht mehr als fünf Dollar in der Tasche unterwegs“, hörte Julius ihn sagen. „Sonst nichts. Und das mitten in der Pampa!“ Sonja legte den Kopf zur Seite und spielte mit einer Strähne ihres Haars.

Julius wandte sich wieder Michaela zu, die neben ihm saß: „Wo war ich? Genau. Es war eine Arzthelferin. Sympathische Frau – mit einem tragischen Schicksal. Sie war völlig aufgelöst, als ich ihr den Namen mitteilte, aber erleichtert. Ich hoffe, jetzt findet die Polizei die beiden Kerle.“

„Du kannst stolz auf dich sein“, sagte Michaela.

Julius winkte ab. „Manchmal denke ich, dass ein Bauarbeiter oder ein Müllmann stolzer sein könnte als ich. Schließlich habe ich mir diese Fähigkeit nicht erarbeiten müssen. Sie ist genetisch bedingt. Mein Vater hat die Praxis aufgezogen und meine Mutter führt sie seit seinem Tod weiter, sozusagen als Verwalterin.“

Es war bereits nach ein Uhr. Die Kerzen im Salon waren fast niedergebrannt. Julius’ Mutter hatte den Raum kürzlich neu einrichten lassen: ein runder Tisch im Biedermeierstil, ein silbergraues Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, eine Tapete mit weißen Blumenornamenten vor einem matten, blaugrünen Hintergrund und an der Wand Bilder von Impressionisten: Pissarros „Boulevard Montmartre bei Nacht“, Manets „Olympia“, Berthe Morisots „Schmetterlingsjagd“. Die gläserne Tür nach draußen war von schweren schilfgrünen Vorhängen eingefasst. Sie stand offen; im Garten leuchteten orangefarbene Laternen.

Er hörte wieder die Stimme des Langhaarigen, der den üblichen Text für Leute seines Schlags aufsagte: Im Ausland merke man erst, wie distanziert die Schweizer seien. Andernorts wäre es undenkbar, im Zug nebeneinanderzusitzen, ohne zusammen zu reden.

Julius mochte genau das an der Schweiz. Er war froh, nicht in einem Land zu leben, wo ihm wildfremde Leute auf die Schulter klopften und ihn „mein Freund“ nannten.

„Menschen, die die Welt nicht bereist haben“, fuhr der Langhaarige gerade fort, „haben vom Leben nichts verstanden.“ Julius war gespannt, ob Sonja seine Meinung teilen würde, aber in diesem Moment gingen zwei laut lachende Männer vor ihr vorbei.

Neben ihm räusperte sich Michaela. „Ich hatte ja schon immer total ein Flair für Esoterik“, sagte sie. „Früher hab ich Tarotkarten gelegt. Vielleicht sollte ich mal bei euch vorbeikommen.“

„Besteht denn Bedarf?“

Sie unterdrückte ein Lächeln und flüsterte: „Ich kann mich nicht mehr richtig an mein erstes Mal erinnern. Ich war zu betrunken.“

Sonja hatte Steffi und den Langhaarigen allein gelassen und sich zu ihnen gestellt. Julius wollte sichergehen, dass sie mitbekommen hatte, worüber er sich mit Michaela unterhielt. „Du kannst dich nicht mehr an dein erstes Mal erinnern?“, wiederholte er sie. „Und ich soll dir helfen?“

Sonja setzte sich zu ihm auf die Armlehne, zeigte keine Reaktion, lächelte sogar. „Wo wir gerade beim Trinken sind“, sagte sie, „Flück hat sich die Schuhe über die Hände gestülpt und tanzt draußen auf der Mauer rum.“