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Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage März 2014)

© 2014 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel und Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi unter Verwendung einer Fotografie von plainpicture/neuebildanstalt/Baeppler

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-444-4

 

 

Thomas Kastura

(Hrsg.)

 

To die,

or not to die

 

14 Shakespeare-Krimis

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Inhalt

Vorwort

 

Friedrich Ani · Allerseelen

Richard III.

 

Ralf Kramp · Das Geheimnis der zwölften Nacht – Ein Lord-Merridew-Krimi

Was ihr wollt

 

Christian Klier · An angel is like you, Kate – act number six

König Heinrich V.

 

Nina George · Ein Sommernachtsalbtraum

Ein Sommernachtstraum

 

Anke Gebert · Theaterblut

Othello

 

Richard Birkefeld · Es war der Wickert, nicht der Jobatey …

Romeo und Julia

 

Ewald Arenz · Tod in Venedig

Der Kaufmann von Venedig

 

Tessa Korber · Wintermärchen – Sommerhorror

Das Wintermärchen

 

Roland Spranger · Der Macbeth-Kandidat

Macbeth

 

Elmar Tannert · Alle wollen Karolina

Der Sturm

 

Petra Nacke · Blutsbande

Titus Andronicus

 

Gisbert Haefs · Learum, larum, Löffelstiel – Ein Totengespräch

König Lear

 

Jürgen Alberts · Lasst mich den Falstaff auch noch spielen … – Ein Krimi in zwei (bis drei) Stimmen

Die lustigen Weiber von Windsor

 

Thomas Kastura · Hamlet Remurdered

Hamlet

 

Die Autoren

 

Vorwort

»Wem der Neid, die krumme Arglist, Nahrung gibt, des Biss wagt an die Besten sich«, heißt es in Heinrich VIII. Wer auch immer die Theaterstücke verfasste, die gemeinhin dem Stratforder Handschuhmachersohn William Shakespeare zugeschrieben werden (oder einer Reihe anderer mehr oder weniger unwahrscheinlicher Kandidaten): Als Krimiautor könnte man tatsächlich neidisch werden auf diesen frühen King of Suspense. Vor allem die Tragödien und Historiendramen lassen sich oftmals als Paradebeispiele für handlungsstarke Thriller lesen, für verzwickte Intrigen und düstere Racheorgien, für scharfsinnige Dialoge und blutige Action. Ob Plot, Figuren oder Sprache: Hier hat jemand so gute und gründliche Arbeit geleistet, dass einem heute fast alles, was an Spannungsliteratur nachfolgte, als Imitation oder Variation erscheint.

Neidisch könnte man übrigens auch auf die Epoche Shakespeares werden, zumindest in künstlerischer Hinsicht: Das Theater diente im elisabethanischen und jakobäischen Zeitalter noch vorwiegend der Unterhaltung, es war überaus populär und publikumsorientiert – eine Ausrichtung, die gleichermaßen auf den Krimi zutrifft. Freilich gelang es Shakespeare und anderen seines Faches, eine packende Story mit Macht- und Gesellschaftskritik zu verbinden, wenn auch nur zwischen den Zeilen. Doch die grundlegenden Fragen des Lebens wurden schon damals verhandelt, und dafür eignen sich besonders gut Kapitalverbrechen: »Denn Mord, hat er schon keine Zunge, spricht mit wundervollen Stimmen«, mutmaßt Hamlet in Sherlock-Manier.

Da liegt es nahe, sich einmal literarisch zu verbeugen vor dem großen Ahnherrn. 14 deutsche Krimiautoren haben sich je ein Shakespeare-Stück vorgenommen und es neu interpretiert, um- und weitergedichtet, abgewandelt, ironisiert und vieles mehr. Zuerst hatte ich als Herausgeber die Befürchtung, dass jede zweite Kurzgeschichte einen Mafia-Paten zur Hauptfigur haben könnte. Heinrich IV., Macbeth, König Lear und einige andere wären dafür prädestiniert. Aber wenn man Autoren mit Shakespeare allein lässt, treibt ihre Fantasie die üppigsten Blüten. So sind für den Band To die, or not to die Texte entstanden, die selbst für eine Krimianthologie außergewöhnlich vielfältig sind – woran die jeweilige Vorlage wohl einen erklecklichen Anteil hat.

Shakespeare inspiriert eben nach wie vor, zeugt Stoffe und Formen fort und fort und löst eine mitunter obsessive Zitierlust aus. Kein Wunder, denn zahlreiche Sentenzen aus seinen Stücken sind in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. »Was wir ersinnen, ist des Zufalls Spiel« – diese stark untertriebene Beteuerung des Schauspieler-Königs im Hamlet möge als Motto dieses Bandes dienen.

Mein Dank gilt allen Beiträgern des Buches, den Lektoren Dr. Felicitas Igel und Stefan Imhof sowie dem Verleger Norbert Treuheit, der die Geister aus ihren Bezirken herbeirief, seine Idee auszuführen.

 

Thomas Kastura

Bamberg, im Februar 2014

 

Wer hoch steht, bietet manchem Sturm ein Ziel,

Und wenn er fällt, zerschlägt er sich in Stücke.

 

aus: Richard III., I, 3

 

Friedrich Ani · Allerseelen

Sie lässt ihn zwei Minuten warten, bevor sie in den Vernehmungsraum geht und sich ihm gegenüber an den Tisch setzt. Er hält die Arme verschränkt, zeigt keine Regung. Die Protokollantin an der Kopfseite des Tisches blickt konzentriert auf ihren Laptop. Heute Morgen hat sie mit ihrem sechsundzwanzigjährigen Sohn in Sydney telefoniert, der ihr mitteilte, er werde trotz der sich ausbreitenden Buschbrände weiter durchs Land reisen, fotografieren, sich jeden Abend betrinken und keinen Gedanken an die Rückkehr verschwenden. Seine Mutter, Lisbeth Fernau, ist achtundfünfzig, seit zwanzig Jahren Single mit wechselnden Männerbekanntschaften, und wenn sie über ihr Leben nachdenkt, gerät sie in einen Strudel aus Schatten und Verzweiflung, gegen den sie sich mit einem Übermaß an Überstunden zu wehren versucht. Seit jeher gilt sie im Dezernat als eine der zuverlässigsten Protokollantinnen. Auch in schwierigen Situationen behält sie die Kontrolle und lässt sich offenbar von keinen noch so grauenhaften Schilderungen irritieren. Einige Kommissare fordern für ihre Befragungen ausschließlich sie an, weil sie dann sicher sein können, dass Lisbeth Fernau auch die stummen Momente präzise wiedergeben wird und die Niederschrift mit den nötigen Randnotizen zum Verhalten des Zeugen oder Beschuldigten versieht.

Am Morgen dieses 2. November wäre Lisbeth am liebsten zur Corneliusbrücke gegangen und in den Fluss gesprungen.

Von solchen Gedanken ist in ihrem schmalen, dezent geschminkten Gesicht mit den wachen blauen Augen und der leicht schräg stehenden Nase nichts zu lesen. Oberkommissarin Anna Welz hat sie auf dem Flur begrüßt und gedacht, dass sie selbst gern so ausgeglichen und tatendurstig wäre wie die ehemalige Postangestellte, die damals eher zufällig im Polizeipräsidium gelandet ist.

Für Anna Welz, einundvierzig, bedeutet die erneute Begegnung mit dem Zeugen, der für acht Uhr einbestellt worden und auf die Minute pünktlich erschienen ist, eine Herausforderung, die ihre kriminalistischen Fähigkeiten nur untergeordnet betrifft.

Es fällt ihr schwer, den Mann überhaupt nur anzuschauen und seinen vollkommen undefinierbaren Körpergeruch zu ertragen.

Sie ertappt sich bei Vorurteilen. Seine Gegenwart hat sie vom ersten Augenblick an mit Misstrauen und einer Art von Abscheu erfüllt, wie sie es bisher von sich nicht gekannt hat. Manchmal dreht sie den Ton des Fernsehers leiser, wenn die Greuel eines fernen Krieges in ihr Wohnzimmer dringen. Oder sie wendet sich beim Anblick von Gästen in einem Restaurant ab, die ihr Essen maßlos in sich hineinstopfen. Und sie hat kein Problem damit, gewisse Politiker zu verachten und ihre Einstellung vor Kollegen oder Freunden offen zu zeigen.

Aber wenn sie als Polizistin oder einfache Bürgerin mit Personen in Kontakt kommt, die Nähe und Aufmerksamkeit von ihr einfordern, versteckt sie ihr Herz so wenig, wie sie eine vorgefasste Meinung in ihrem Kopf zulässt. Sie hört zu und versucht zu verstehen. Ihre Fragen sind nicht suggestiv, sondern entspringen ihrer Neugier oder einer professionellen Notwendigkeit. Und wenn die Dinge, die sie erfährt, sie erschrecken, verwirren oder verstören, reagiert sie darauf mit noch intensiverem Zuhören und ihrer erlernten Fähigkeit, Wichtiges von Belanglosem, blanke Lügen von unmittelbarer Not gehorchenden Unwahrheiten zu unterscheiden.

Trotz ihrer harten Erfahrungen im Drogen- und Morddezernat gesteht Anna Welz noch immer den meisten Menschen das Recht auf Irrtümer zu und hält den Willen zur Umkehr nicht von vornherein für Selbstbetrug. Für Zynismus, meint sie, habe sie nach ihrer Pensionierung noch Zeit. Vorher gelte für sie das Naturgesetz der Nächstenliebe, welche nicht einem abstrakten religiösen Prinzip entspringe, sondern Teil jenes ungeschriebenen Vertrages sei, den jeder Mensch bei seiner Geburt als Mitglied einer aufeinander angewiesenen Gemeinschaft unbewusst unterschreibe. Zwar weichen die meisten ihrer Kollegen derartigen Betrachtungsweisen großräumig aus, doch Anna kümmert das nicht. Manches von dem, was sie denkt und anstrebt, hat sie von ihrer Mutter gelernt, manches von den unscheinbaren Gestalten der Straße, um die auch die Sonne keinen Bogen macht.

»Ich belehre Sie noch einmal, dass Sie hier als Zeuge vernommen werden und die Pflicht haben, auszusagen«, sagt sie.

»Hab ich verstanden«, sagt Richard Gloster. »Kam eindeutig rüber heut Nacht.« Sein Mund, denkt Anna, ich darf nicht auf seinen Mund schauen, nur in seine Augen, nur in die Augen.

Die Protokollantin hebt den Kopf und wundert sich über den stockenden Beginn der Befragung. Zögerliches oder gar verunsichertes Verhalten ist sie von der Kommissarin nicht gewohnt. Sie wirft einen Blick auf den weißen, unlinierten Block, der neben dem Laptop liegt und auf dem sie sich Notizen über scheinbare Nebensächlichkeiten zu machen pflegt. Über das wiederkehrende Kopfzucken des Zeugen zum Beispiel, das Zittern seines linken Beines, seinen durch den Raum irrenden Blick.

Seit seiner Geburt hat Richard Gloster einen verkrümmten Rücken, der sich zu einem Buckel ausgewachsen hat. Seine Beine sind kurz und stämmig, seine Arme dagegen knochig und bleich. Sein aufgedunsen wirkendes Gesicht ist übersät von Pockennarben, sein Mund mit den beiden wulstigen Lippen ein schiefes, halb geöffnetes Gebilde, aus dem regelmäßig weißer Speichel tropft, den Gloster mit der Zunge aufschleckt. Aus seinen wässrigen Augen fixieren schwarze, reglose Pupillen die Welt, Menschen wie Dinge gleichermaßen. Beim Gehen zieht er das linke Bein nach. Und wer ihn auf seinen Mundgeruch anspricht, muss damit rechnen, angespuckt zu werden.

Richard Gloster ist dreiundfünfzig, er verwaltet ein fünfstöckiges Wohnhaus, das er von seinem Vater geerbt hat. Seine Mieter lässt er eine Klausel unterschreiben, die es ihm erlaubt, sie jederzeit und ohne Angabe von Gründen zu kündigen. In einer Stadt, in der Mietraum rar ist und die Zahl der Wohnungssuchenden ständig steigt, brauche er seiner Überzeugung nach keine Rücksicht auf Befindlichkeiten zu nehmen. Wer die Miete nicht bezahlen kann oder über Verträge verhandeln will, solle anderswo Ausschau halten oder unter der Brücke schlafen. Auf Nachmieter musste er noch nie länger als einen Tag warten.

»Sie wohnen in der obersten Etage Ihres Hauses«, sagt Anna Welz und rückt unmerklich mit dem Oberkörper zur Seite. Sie muss versuchen, den Atem des Mannes zu ignorieren.

»Hab ich ausbauen lassen, ja. Angenehm da. Kennen Sie das Eck? Direkt bei der Isar, sehr beliebt bei den jungen Leuten.«

»Ich war am Tatort.«

»Klaro. Sorry. Verwirrt heut. Genau, ich wohn oben und hab den Überblick.«

»Bis runter in den ersten Stock.«

»Nicht direkt natürlich. Aber ich krieg mit, was im Haus passiert. Muss ich. Muss ja aufpassen, dass nichts schiefläuft.«

»Trotzdem wurden in Ihrem Haus drei Menschen ermordet, und kein Mieter hat etwas gesehen oder gehört. Nur Sie, wie Sie den Kollegen und mir heute Nacht erklärt haben.«

»Hab was gehört, ja.«

»Sie waren im Treppenhaus«, sagt Anna Welz. Seit fünf Uhr morgens hat sie ihre Aufzeichnungen von der Tatortbegehung studiert, sich ein paar Informationen über die Vergangenheit von Richard Gloster besorgt, und sie ist überzeugt, sich alles gut eingeprägt zu haben, deshalb hat sie ihre Unterlagen auch nicht mitgenommen. Doch jetzt vermisst sie die Mappe. Sie hätte sie, wie in Gedanken, vor die Nase halten und sich ein wenig Luft zufächeln können. So bleibt ihr nur, die Arme auf der Tischkante abzustützen und die Hände gefaltet vor Mund und Nase zu legen.

Im nächsten Moment rückt sie ein Stück vom Tisch weg.

Der Protokollantin entgehen die unruhigen Bewegungen der Kommissarin nicht.

»Was wollten Sie um die Zeit im Treppenhaus, Herr Gloster?«

»Wie gesagt, ich war beim Aufräumen, da hör ich was. Geh weiter runter, war ja schon im zweiten Stock oder im dritten, weiß nicht mehr. Da hör ich Stimmen im ersten Stock, aus der Wohnung der Jana.«

Anna Welz schaut ihn an und wartet ab. Am liebsten würde sie die Hände in die Taschen ihrer Jeansjacke stecken, aber sie weiß, wie unmöglich und unprofessionell das aussähe. Das Kribbeln in den Fingern irritiert sie eine Weile, sie vermutet, es kommt vom vielen Kaffee, den sie nach dem Aufstehen in aller Herrgottsfrüh getrunken hat.

»Sie nennen Ihre Mieter beim Vornamen?«, sagt sie, winkelt den Arm an und streicht mit dem Zeigefinger über ihre Nase.

»Niemals«, sagt Richard Gloster. »So was macht man nicht. Die Jana Bilgri wohnt seit sechs Jahren bei mir, wir sind per Du. Hat sich so ergeben, und dabei ist’s geblieben. Passt schon.«

»Und Sie haben Janas Stimme erkannt, im Treppenhaus?«

»Kann sein. Wusst ja nicht, dass sie nicht allein da drin war. Dass eine andere Frau auch hätt schreien können. Dann war’s auch schon wieder still. Hab ich mir gedacht, alles ok, lass die Frau in Ruhe, die hat ihren Spaß.«

»Was für einen Spaß?«

»Spaß halt. So, wie man Spaß hat. Sexmäßig, mein ich.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Hab meinen Müll rausgebracht und bin wieder in meine Wohnung. Fernseher war an, mag gern Krimis in der Nacht.«

»Beim Zurückgehen haben Sie nicht an der Tür von Frau Bilgri gelauscht.«

»Bin ich ein Lauscher? Natürlich nicht. Nein, hab ich nicht. Hinterher macht man sich natürlich Vorwürfe. Vielleicht hätt ich das alles verhindern können.«

»Was genau meinen Sie?«

»Bittschön?«

»Was meinen Sie mit ›das alles‹?«

»Alles. Den Mord. Den Tod. Dass die sich da abgeschlachtet haben.«

»Wer hat wen abgeschlachtet?«

»Was?«

»Waren Sie in der Wohnung?«

»In welcher Wohnung jetzt genau?«

»In der Wohnung von Jana Bilgri.«

»Die ist doch versiegelt, die Wohnung, da waren lauter Kollegen von Ihnen in der Nacht.«

»Wie kommen Sie dann darauf, dass jemand abgeschlachtet wurde?«

»Hat die Pieke Schumann erzählt.«

»Die Nachbarin von Frau Bilgri.«

»Genau so.«

»Verstehe.« Die Kommissarin schlägt die Beine überei­nander und streckt den Rücken. »Ihre Fingerabdrücke sind in der Wohnung von Frau Bilgri. In unmittelbarer Umgebung des Bettes. Was hat das zu bedeuten?«

»Bittschön? Sagen Sie’s mir. Natürlich war ich in der Wohnung, oft schon. Die Jana ist nicht die erste Mieterin da. Ich geh da ein und aus, wenn jemand auszieht und jemand Neues einzieht. Muss den Zustand kontrollieren, die Übergabeprotokolle schreiben, den Bürokram machen. Wissen Sie doch.«

»In der Wohnung wurde vor elf Jahren schon einmal ein Mord begangen.«

»Ist wahr. Esther Hagn. Schlimme Sache. Sexualmord. Den Täter haben sie nicht gekriegt.«

»Hatten Sie ein Verhältnis mit Jana Bilgri?«

»Niemals. Wer so was sagt, lügt. Fliegt sofort raus, wenn ich in der Richtung was erfahren sollte.«

»Kennen Sie den Namen Alina Fürst?«

»Nö.«

»Nö?«

»Nein. Ich kenn die Frau nicht, wieso?«

»Kennen Sie einen Mann mit dem Namen Steffen Seidl?«

Gloster schüttelt den Kopf, lässt die Arme sinken und verschränkt sie sofort wieder vor der Brust. Sein Gesicht ist gerötet, seine Augen scheinen zu tränen. Er denkt an vieles gleichzeitig und hat nicht den Eindruck, dass die Dinge hier aus dem Ruder laufen könnten. Bist nicht blöde, denkt er, warst du nie, mein Freund, auch wenn die Leute dich für einen bescheuerten, halb behinderten Raffzahn halten, alles gut, alles super.

»Nein«, sagt er.

»Sind Sie sicher?«

»Sicher bin ich sicher.«

Anna Welz nickt. Die Aussagen des Zeugen stimmen schon jetzt nicht mehr mit denen überein, die er in der Nacht gemacht hat. Doch solange keine weiteren Ergebnisse der Spurensicherung und aus den verschiedenen Labors vorliegen, wird sie Gloster wie einen gewöhnlichen Zeugen behandeln und jede Äußerung hinsichtlich eines Verdachts vermeiden.

»Sie wussten also nicht«, sagt sie und nickt wieder, scheinbar zustimmend, »dass sich außer Jana Bilgri noch eine weitere Person in der Wohnung aufhielt.«

Er zögert kurz. Dann schiebt er seinen Buckel hoch und zuckt mit dem Kopf. »So ist es.«

»Haben Sie an dem Tag mit Frau Bilgri gesprochen?«

»Weiß ich nicht mehr. Nö. Nein.«

Eine zufällig aus dem Fenster schauende Nachbarin aus dem zweiten Stock hat Gloster und Jana Bilgri am Nachmittag des 31. Oktober vor der Haustür gesehen, wie sie miteinander redeten. Es sei offensichtlich kein harmonisches Gespräch gewesen. Die neunundzwanzigjährige Frau habe den Hausbesitzer schließlich stehen lassen und sei die Zeppelinstraße in Richtung Isar gegangen.

»Sie haben Jana auch nicht mit jemand anderem gesehen?«

»Nein.«

»Das heißt, Sie können uns im Grunde nicht weiterhelfen.«

»Tut mir leid. Hab gesagt, was ich weiß und gehört hab.«

»Wissen Sie noch, wann Sie zum letzten Mal in der Wohnung von Frau Bilgri waren?«

»Muss ich nachdenken. Lang her, mindestens fünf oder sechs Monate. Da war was mit dem Abfluss in der Küche, der war verstopft. Hab den Schaden beseitigt, Rohr gereinigt, fertig.«

»Sie machen auch die Hausmeisterarbeiten«, sagt Anna Welz.

»Größere Probleme erledigt die Firma Bergstaller, mit der arbeite ich seit zwanzig Jahren zusammen, extrem zuverlässig. Wenn Sie mal einen Installateur oder Elektrotechniker brauchen, rufen Sie da an, sagen Sie einen schönen Gruß von mir. Spitzenfirma.«

»Nachdem Sie die Krimis im Fernsehen zu Ende angeschaut haben, sind Sie ins Bett gegangen.«

»Sowieso.«

»Sie sind nicht verheiratet.«

»War ich mal, hat nicht funktioniert. Dauernd Scherereien. Ärgernisse auf beiden Seiten, sinnlos. Wir haben uns nach zwei Jahren scheiden lassen. Besser so.«

»Seither leben Sie allein.«

»So ist es.« Gloster denkt an Jana und an Paula, die vorher in der Wohnung war, und an Esther, die überhaupt nicht kapiert hat, was Sache ist. Diese Frauen – und noch andere – gehen ihm nicht aus dem Sinn, so sehr er sich auch bemüht, sie zu vergessen. Es kommt ihm vor, als hausten sie in seinem Kopf wie ungebetene Untermieter, absolut illegal, ohne jede Berechtigung. So wie Alina. Die bringt dann auch noch ihren Freund mit, Steffen Soundso. Was hat die geglaubt, was passieren soll? Dass er da mitspielt, er? Wieso die Jana nicht hören wollt, wird er in diesem Leben nicht mehr begreifen, denkt er.

»Eine Nachbarin hat berichtet, Frau Bilgri habe in letzter Zeit eine Freundin bei sich wohnen lassen«, sagt Anna Welz. »Haben Sie diese Freundin kennengelernt?«

»Da wohnt keine Freundin, ist nicht erlaubt.«

»Hatten Sie deswegen Streit mit Frau Bilgri?«

»Kein Streit.«

Eine der Mieterinnen, die mit ihrem Freund gegen drei Uhr morgens von einer Halloweenparty nach Hause gekommen war, erzählte den Polizisten von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Gloster und Jana Bilgri und meinte, der Hausbesitzer habe sich so verhalten, als hätte er mal was mit Jana gehabt, und soweit die Mieterin wisse, stimme das auch.

Außerdem hat die Nachbarin aus dem Haus gegenüber, die um ein Uhr achtundvierzig die Polizei alarmierte, weil durch ein Fenster im zweiten Stock des Gloster-Hauses ein Stuhl und zwei Bierflaschen geflogen sind und das Klirren der Scheibe in der Straße widerhallte, Anna Welz erzählt, Gloster sei im ganzen Viertel bekannt für seine machohaften Allüren und sein rabiates Benehmen in der Gegenwart von Frauen. Gerüchten zufolge soll er Bewerberinnen Mietnachlässe versprechen, wenn sie ihm spezielle Dienste anbieten. Wie Anna Welz in der Nacht recherchiert hat, kam es bisher jedoch noch zu keiner Anzeige wegen sexueller Belästigung oder Nötigung gegen Richard Gloster.

»Als meine Kollegen von der Streife bei Ihnen klingelten, waren Sie noch nicht im Bett«, sagt die Kommissarin.

»Bittschön? Was? Stimmt, ja. Ich war noch auf, hab ein Bier getrunken.«

»Gegen zwei Uhr zwanzig.«

»Um die Zeit schau ich nicht mehr auf die Uhr.« Er grinst, aber das macht bei der Form seines Mundes keinen Unterschied.

»Gut.« Anna Welz verändert ihre Sitzhaltung und schaut zur Tür, in der Hoffnung, dass ihr Kollege Mischa endlich erste handfeste Hinweise auf Spuren an den Leichen bringt. Spuren von Richard Gloster.

»Können Sie den Schrei beschreiben, den Sie gehört haben?«

»Schrei? Was für einen Schrei? Die Stimme, meinen Sie, die aus der Wohnung? Ja, hoch war die, hohe Stimme, die von Jana, ziemlich sicher.«

»Es war also kein Schrei, sondern eine laute, hohe Stimme.«

»Genau so.«

»Dann haben Sie sich vorhin falsch ausgedrückt.« Anna Welz sieht in Glosters Augen und entdeckt nichts als schwarze, verächtliche Gleichgültigkeit.

»Bitte um Nachsicht.« Schon die ganze Zeit würde er gern mehr von der weißen Bluse sehen, die die Kommissarin unter ihrer Jeansjacke trägt. Für weiße Blusen hegt er eine Vorliebe, die er ebenso wenig los wird wie die Gesichter und Namen seiner Mieterinnen, die plötzlich Probleme mit ihm hatten und sich komplett danebenbenahmen. Wenn Frauen sich widersetzen, muss er was dagegen tun. Ist nie anders gewesen. Schon in der Kindheit. Seine Mutter könnte heute noch leben, hätte sie ihn ernst genommen und nicht ständig maßregeln und bevormunden wollen. So ist das Leben, denkt er und stößt einen tiefen Seufzer aus. Es amüsiert ihn, dass die Kommissarin zusammenzuckt und sich wahrscheinlich vor seinem Atem ekelt. Ist eine Magensache, manchmal besser, manchmal schlimmer, in den vergangenen Wochen ziemlich übel, das weiß er selbst. Ein einziges Wort über das Thema, und er würde auch der Staatsdienerin ins Gesicht spucken. Ist ein Reflex, was soll er tun? Wenn der Stürmer den Verteidiger ausdribbelt, muss der gefoult werden, steckt in der Natur des Verteidigers, weiß jeder.

»Sind wir fertig?«, fragt er.

Anna Welz fährt sich mit der flachen Hand übers Gesicht und unterdrückt ein Würgen. Das Beste wäre, eine Pause einzulegen, ein Fenster zu öffnen und dem Mann einen Kaffee oder Tee aufzuzwingen. Wo bleibt Mischa?, denkt sie.

»Sind wir fertig?«, wiederholt Gloster.

Sie weiß es nicht. Der Plan, den ihr Kollege, Hauptkommissar Vogel, und sie sich zurechtgelegt haben, sieht vor, auf die Laborergebnisse zu warten und anschließend Richard Gloster darüber zu belehren, dass er von nun an nicht länger als Zeuge, sondern als Verdächtiger vernommen werde. Er hätte dann das Recht zu schweigen, einen Anwalt hinzuzuziehen und Beweiserhebungen zu beantragen. Nichts davon findet statt.

Schlafen die noch im Labor?, denkt Lisbeth Fernau, die Protokollantin. Dann überlegt sie, ob ihr Sohn jetzt grad ins Bett geht und seine Mutter längst vergessen hat. Reiß dich zusammen, denkt sie und wartet auf Annas Stimme.

Anna Welz hat lautlos Luft durch den Mund gesogen, sie will noch fünf Minuten rausschinden. »Im Fall der ermordeten Esther Hagn in Ihrem Haus standen Sie auf der Liste der Verdächtigen. Können Sie sich heute, nach all den Jahren, erklären, wieso?«

»Kann ich nicht. Brauch ich nicht. War damals ein Missverständnis, ist heut eins. Die waren halt ratlos, Ihre Kollegen. Muss man verstehen. In den Zeitungen stand, die Polizei hat schlechte Arbeit geleistet. So was liest niemand gern über sich in der Öffentlichkeit. Die Hagn war eine Mieterin wie meine neunzehn anderen auch. Unauffällige Person. Die Sache ist erledigt.«

»Solange wir den Mörder nicht finden, ist die Sache nicht erledigt.«

»Da kann ich nur sagen: weitersuchen!« Als Esthers Gesicht schon wieder in seiner Vorstellung auftaucht, blinzelt Gloster das Bild weg.

Die Protokollantin macht sich auf ihrem Block Notizen. Gloster beobachtet sie aus den Augenwinkeln, nach jedem Lidschlag, ununterbrochen.

»Sie gelten im Viertel als Frauenheld«, sagt Anna Welz. »Trifft das zu?«

»Wer so was sagt, fliegt raus.«

»Das hat mir keiner Ihrer Mieter erzählt. Sind Sie ein Frauenheld?«

»Was soll das sein? Erklären Sie mir das.«

»Sie wissen, was ein Frauenheld ist.« Anna Welz begreift, dass sie sich mit dieser Bemerkung ins Abseits manövriert hat. Zumindest vergehen ein paar Minuten, in denen im Labor etwas Entscheidendes passieren könnte.

Gloster stößt einen merkwürdigen Laut aus, wie ein Grunzen. Lisbeth schreibt auf ihren Block: »Er grunzt und windet sich«.

»Ich bin kein Frauenheld«, sagt er. »Ich mag Frauen, bin ja nicht schwul.«

»Damals haben Sie ausgesagt, Sie hätten kein Verhältnis mit Esther Hagn gehabt.«

»War so. Ist so. Bleibt so.«

»Noch einmal zurück zu Jana Bilgri.«

»Natürlich.«

»Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, dass Sie nicht gewusst haben, dass eine Freundin seit einiger Zeit bei Frau Bilgri übernachtet?«

»Natürlich.« Manchmal bereitet ihm das Lügen eine noch größere Freude als in der Kindheit und Jugend. Und eine Polizistin oder andere Ordnungshüter anzulügen, versetzt ihn jedes Mal in eine so aufgeladene Stimmung, dass er sich mit aller Macht zurückhalten muss, um nicht seinen Penis aus der Hose zu ziehen und damit herumzuwedeln. Inzwischen ist er fast ein wenig verknallt in diese Kommissarin mit der weißen Bluse, die so tut, als könne sie ihn aufs Kreuz legen. Dabei hat sie überhaupt keine Ahnung, denkt er und stülpt wieder ein Grinsen über seinen schiefen Mund. Die meisten Frauen mögen es nicht, wenn er sie küsst. Er bringt sie dazu, ihn wieder zu küssen, schon immer.

»Sie wurden gesehen, wie Sie mit Frau Bilgri gestritten haben«, sagt Anna Welz.

»Kann nicht sein.« Und zum dritten Mal fragt er: »Sind wir fertig?«

»Halten Sie sich für eine weitere Befragung bereit, wahrscheinlich schon heute Nachmittag.«

»Meine Telefonnummer haben Sie ja. Kein Problem. Einfach durchrufen. Passt schon.«

»Kennen Sie die Eltern von Jana Bilgri?«

»Nö. Nein.«

»Möchten Sie ihnen Ihr Beileid aussprechen?«, sagt die Kommissarin. »Sie sind hier im Dezernat.«

»Möcht ich nicht. Fremde Leute. Ich geh zur Beerdigung.« Er steht auf, lässt die Arme hängen, sieht Anna Welz und die Protokollantin ausdruckslos an, wendet sich um und hinkt zur Tür. Unter seiner orangefarbenen Windjacke wölbt sich der Buckel so massiv, als wäre er in den vergangenen achtzig Minuten gewachsen. Mit einer schnellen Bewegung drückt Gloster die Klinke und öffnet die Tür.

»Ich begleite Sie nach unten«, sagt sie.

»Brauchen Sie nicht. Hab mir den Weg gemerkt. Wiederschauen, Frau Welz.«

Sie hat nicht damit gerechnet, dass er ihren Namen noch weiß, und stottert fast. »Wiedersehen, Herr … Gloster.«

Danach geht sie zum Tisch zurück, wo sie stehen bleibt und kein Wort mehr herausbringt. Auch Lisbeth Fernau hat keine Ahnung, wie sie die Befragung bewerten soll. Beide Frauen sind auf ihre Weise froh, dass der Mann mit der abstoßenden Aura nicht mehr im Raum ist, und jede von ihnen quält die Ungewissheit, ob er sie nicht nach Strich und Faden belogen hat und womöglich ein Geheimnis mit sich trägt, das über den aktuellen Dreifachmord weit hinausreicht, zurück in eine Zeit voller ungeklärter und im schlimmsten Fall noch unaufgedeckter Verbrechen.

Derweil schlendert Gloster durch die Innenstadt. Mürrisch, wütend auf die ahnungslose Kommissarin, die ihm die Zeit stiehlt und wie alle anderen Kommissare vor ihr glaubt, er wäre zu dumm für sie, ein körperlich und geistig beschädigter, von der Natur verunstalteter Idiot, dem man im Handumdrehen einen Mord nachweist.

Schon seine Mutter drehte ihre Hand tausend Mal um und durchschaute ihn nicht. Sie nannte ihn Monster, weil sie kein anderes Wort für ihn fand und dachte, Monster seien die geborenen Opfer für Menschen mit Gehirn. Noch im Sterben starrte sie ihn glühend vor Erstaunen an und konnte nicht begreifen, dass sie keine Macht über ihn besaß und nie besessen hatte. Genau wie Jana, von der er sich beschimpfen ließ, bis er einfach zusticht. Und als diese Alina eingreifen will, rammt er ihr vier Mal das Messer in den Bauch. Und als er Jana fragt, ob sie ihn noch ein weiteres Mal Drecksteufel nennen will, schüttelt sie tatsächlich den Kopf, bevor sie stirbt. Dann wartet er. Es klingelt. Wie verabredet, steht Alinas Freund vor der Tür. Steffen Soundso. Kommt rein, schaut sich um, und aus ist’s. Gloster schneidet ihm die Kehle durch und legt ihn aufs Bett zu den Frauen, die er inzwischen ausgezogen hat, weil er sie nackt lieber mag.

So war das, denkt er auf dem Weg durchs Gärtnerplatzviertel. Und weil er der Polizei was zum Rätseln aufgeben wollte, schleuderte er einen Stuhl und zwei Bierflaschen durchs geschlossene Fenster. Bravouröses Geräusch mitten in der Nacht. Danach hat er die Wohnung verlassen und sich oben geduscht. Bis der erste Polizist bei ihm geklingelt hat, verging, so kommt es ihm jetzt vor, eine Ewigkeit, und alles lief wie früher.

Das Messer hat er heute Morgen auf dem Weg zum Polizeipräsidium in die Isar geworfen. Ach, mein lieber Fluss, denkt er auf der Corneliusbrücke und schaut hinunter ins unwirklich grüne Wasser. Als er sich umdreht, rast ein schwarz gekleideter Fahrradfahrer auf ihn zu. Gloster lehnt an der Brüstung, der Radfahrer starrt ihn an und spuckt ihm beim Vorbeifahren ins rechte Auge. Schneller als der Radler je erwartet hätte, rennt Gloster, während er sich mit der Faust das Auge reibt, hinter ihm her. Nach wenigen Metern bekommt er den Gepäckträger zu fassen. Abrupt bremst der Radfahrer ab. Gloster stellt sich neben ihn, um ihm mit der Faust, an der noch Spucke klebt, ins Gesicht zu schlagen. Da zieht der Mann mit der schwarzen Mütze und dem schwarzen Schal vor dem Mund ein Messer aus seiner Jacke und sticht zu.

Lautlos sackt Gloster auf die Knie. Bevor er begreift, was geschehen ist, hat der Radfahrer die Brücke schon wieder verlassen und ist in eine Seitenstraße eingebogen und verschwunden. Passanten kommen gelaufen. Gloster kauert auf dem Bürgersteig, beide Fäuste auf die Brust gepresst. Du Sau, denkt er, ich krieg dich und dann töt ich dich wie die andern, du Sau, ich krieg dich.

Eine halbe Stunde lang versuchen die Sanitäter, Richard Gloster auf der Brücke wiederzubeleben. Er stirbt unter ihren Händen.

Auch nach einem Jahr fehlt vom Täter jede Spur. Die im Haus an der Zeppelinstraße sichergestellten Spuren reichen nicht aus, Richard Gloster des Mordes an Jana Bilgri, Alina Fürst und Steffen Seidl zu überführen.

In der Stadt geht seither die Angst vor einem Serientäter um.

 

Manche sind groß geboren, manche erwerben sich Größe, und manchen fällt die Größe in den Schoß.

 

aus: Was ihr wollt, II, 5