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Lewis Carroll

Alice hinter den Spiegeln

Illustriert und neu übersetzt

Lewis Carroll

Alice hinter den Spiegeln

Illustriert und neu übersetzt

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Nadine Erler
Illustrationen: John Tenniel
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-74-9

www.null-papier.de/alice

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1. Das Spie­gel­haus

2. Der Gar­ten der spre­chen­den Blu­men

3. Die Spie­gel-In­sek­ten

4. Tweed­le­dum und Tweed­le­dee

5. Wol­le und Was­ser

6. Hum­pty Dum­pty

7. Der Löwe und das Ein­horn

8. »Es ist mei­ne Er­fin­dung!«

9. Kö­ni­gin Ali­ce

10. Die Rote Kö­ni­gin wird ge­schüt­telt

11. Das Er­wa­chen

12. Wer hat es ge­träumt?

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1. Das Spiegelhaus

Eins stand fest: An al­lem war nur das schwar­ze Kätz­chen schuld. Das wei­ße Kätz­chen hat­te nichts da­mit zu tun, denn ihm hat­te die alte Kat­ze wäh­rend der letz­ten Vier­tel­stun­de das Ge­sicht ge­putzt, und das Kätz­chen hat­te ei­gent­lich wa­cker durch­ge­hal­ten). Es war also klar, dass es nichts mit dem Un­fug zu tun ha­ben konn­te.

Und so putz­te Di­nah ih­ren Kin­dern das Ge­sicht: Erst pack­te sie das arme Ding mit ei­ner Pfo­te am Ohr, drück­te es zu Bo­den und schrubb­te ihm dann mit der an­de­ren Pfo­te das Ge­sicht, wo­bei sie das Fell ge­gen den Strich bürs­te­te. Sie be­gann bei der Nase, und jetzt hat­te sie sich wie ge­sagt das wei­ße Kätz­chen vor­ge­nom­men, das still­hielt und ver­such­te zu schnur­ren. Zwei­fel­los wuss­te es, dass al­les nur zu sei­nem Bes­ten ge­sch­ah.

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Aber das schwar­ze Kätz­chen hat­te sei­ne Wä­sche schon frü­her am Nach­mit­tag be­kom­men, und wäh­rend Ali­ce zu­sam­men­ge­kau­ert in ei­ner Ecke des großen Lehn­ses­sels saß und im Halb­schlaf mit sich sel­ber sprach, hat­te es sich groß­ar­tig mit dem Woll­knäu­el amü­siert, das Ali­ce ei­gent­lich auf­wi­ckeln woll­te. Das Kätz­chen hat­te das Knäu­el vor sich her­ge­trie­ben und es wie­der ab­ge­wi­ckelt, und nun war die Wol­le ver­hed­dert und vol­ler Kno­ten über den Tep­pich dra­piert. In­mit­ten des Wirr­warrs jag­te das Kätz­chen sei­nen ei­ge­nen Schwanz.

»Oh, du fre­ches klei­nes Ding!« rief Ali­ce. Sie nahm das Kätz­chen auf den Arm und gab ihm ein Küß­chen, um ihm zu zei­gen, dass es in Un­gna­de ge­fal­len war. »Wirk­lich, Di­nah hät­te dir bes­se­re Ma­nie­ren bei­brin­gen sol­len! Das hät­test du, Di­nah, du weißt es ganz ge­nau!« füg­te sie hin­zu.

Sie sah die alte Kat­ze vor­wurfs­voll an und sprach so streng sie nur konn­te. Dann klet­ter­te sie wie­der auf den Stuhl, nahm das Kätz­chen und die Wol­le auf den Schoß und ver­such­te, das Knäu­el wie­der auf­zu­wi­ckeln. Aber sie kam nicht weit, weil sie die gan­ze Zeit re­de­te – manch­mal mit dem Kätz­chen und dann wie­der mit sich selbst.

Das Kätz­chen saß brav auf ih­rem Knie und tat so, als sähe es beim Wol­le­wi­ckeln zu. Ab und zu streck­te es eine Pfo­te nach dem Knäu­el aus, als wür­de es nur zu gern mit­hel­fen.

»Weißt du, was mor­gen ist, Kätz­chen?« be­gann Ali­ce. »Du könn­test es dir den­ken, wenn du oben mit mir am Fens­ter ge­ses­sen hät­test – aber da hat Di­nah dich ja ge­ra­de sau­ber­ge­macht. Ich habe ge­se­hen, wie die Jun­gen Rei­sig für das Freu­den­feu­er ge­sam­melt ha­ben – und dazu braucht man viel Rei­sig, Kätz­chen! Aber dann wur­de es kalt und fing an zu schnei­en, also muss­ten sie auf­hö­ren. Kei­ne Sor­ge, Kätz­chen, wir wer­den das Freu­den­feu­er mor­gen se­hen.«

Hier wi­ckel­te Ali­ce dem Kätz­chen die Wol­le zwei- oder drei­mal um den Hals, nur um zu se­hen, wie es aus­se­hen wür­de. Das Kätz­chen be­gann zu zap­peln, das Knäu­el fiel zu Bo­den und wi­ckel­te sich wie­der ab.

»Weißt du, Kätz­chen«, fuhr Ali­ce fort, als sie es sich wie­der be­quem ge­macht hat­ten, »als ich ge­se­hen habe, was du an­ge­stellt hast, war ich so böse, dass ich am liebs­ten das Fens­ter auf­ge­macht und dich in den Schnee ge­setzt hät­te! Und das hät­test du ver­dient, du sü­ßer klei­ner Nichts­nutz! Was hast du zu dei­ner Ver­tei­di­gung zu sa­gen? Un­ter­brich mich nicht!« sag­te sie und hob den Fin­ger. »Ich zäh­le all dei­ne Un­ta­ten auf. Ers­tens: Du hast zwei­mal ge­quiekt, als Di­nah dir heu­te Mor­gen das Ge­sicht ge­putzt hat. Du kannst es nicht leug­nen, Kätz­chen, ich habe dich ge­hört! Was sagst du?« (Sie tat so, als wür­de das Kätz­chen re­den). »Du hast ihre Pfo­te ins Auge be­kom­men? Nun, das ist dei­ne Schuld, weil du die Au­gen of­fen hat­test – wenn du sie zu­ge­knif­fen hät­test, wäre es nicht pas­siert. So, jetzt kei­ne wei­te­ren Aus­re­den, son­dern hör zu! Zwei­tens: Du hast Snow­drop am Schwanz weg­ge­zerrt, als ich ihr ge­ra­de die Schüs­sel Milch hin­ge­stellt hat­te! Was – du hat­test du Durst? Wo­her weißt du, dass sie nicht auch Durst hat­te? Und nun drit­tens: Du hast die gan­ze Wol­le ab­ge­wi­ckelt, als ich nicht hin­ge­se­hen habe! Das sind drei Strei­che, Kätz­chen, und du bist noch für kei­nen be­straft wor­den. Ich schie­be all dei­ne Stra­fen bis Mitt­woch auf. Stell dir mal vor, man wür­de mei­ne Stra­fen auf­schie­ben!« fuhr sie fort und sprach mehr mit sich selbst als mit dem Kätz­chen. »Was wür­de dann am Ende ei­nes Jah­res pas­sie­ren? Ich müss­te wohl ins Ge­fäng­nis, neh­me ich an, wenn es so­weit wäre! Oder – war­te mal – an­ge­nom­men, die Stra­fe be­stün­de je­des Mal dar­in, dass ich kein Abendes­sen be­kom­me! Dann müss­te ich an dem schreck­li­chen Tag auf fünf­zig Abendes­sen auf ein­mal ver­zich­ten! Also, das wür­de mir nicht viel aus­ma­chen! Ich wür­de lie­ber ver­zich­ten, als sie alle zu es­sen! Hörst du, wie der Schnee ans Fens­ter rie­selt, Kätz­chen? Wie schön und sanft das klingt! Als ob je­mand drau­ßen das Fens­ter von oben bis un­ten küs­sen wür­de. Ich fra­ge mich, ob der Schnee die Bäu­me und Fel­der lieb­t, weil er sie so lie­be­voll küsst? Und dann deckt er sie mit ei­ner wei­ßen De­cke zu, und viel­leicht sagt er: ›Schlaft jetzt, mei­ne Lie­ben, der Som­mer kommt wie­der.‹ Und wenn sie im Som­mer wie­der auf­wa­chen, Kätz­chen, zie­hen sie sich ganz in Grün an und tan­zen, wenn der Wind weht – oh, das ist sehr schön!« rief Ali­ce, ließ das Woll­knäu­el fal­len und klatsch­te in die Hän­de. »Und ich wünsch­te, es wäre wahr! Ich bin si­cher, dass die Wäl­der im Herbst schläf­rig aus­se­hen, wenn die Blät­ter braun wer­den. Kätz­chen, kannst du Schach spie­len? Lach nicht, mei­ne Lie­be, ich mei­ne es ganz ernst. Denn als wir ge­ra­de eben ge­spielt ha­ben, hast du zu­ge­se­hen, als wür­dest du al­les ganz ge­nau ver­ste­hen. Und als ich ›Schach!‹ ge­sagt habe, hast du ge­schnurrt! Also, es war ein gu­ter Zug, Kätz­chen, und ich hät­te wirk­lich ge­win­nen kön­nen, wenn nicht die­ser ge­mei­ne Sprin­ger ge­we­sen wäre, der mir al­les ver­dor­ben hat. Kätz­chen, wir wol­len spie­len, dass…«

Und jetzt wünsch­te ich, euch nur die Hälf­te der Din­ge er­zäh­len zu kön­nen die Ali­ce zu sa­gen pfleg­te. Sie be­gann im­mer mit ih­rem Lieb­lings­satz »Wir wol­len spie­len, dass…«.

Erst ges­tern hat­te es eine lan­ge De­bat­te mit ih­rer Schwes­ter ge­ge­ben – und das nur, weil Ali­ce ge­sagt hat­te: »Wir wol­len spie­len, dass wir Kö­ni­ge und Kö­ni­gin­nen sind!«

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Ihre Schwes­ter, die al­les sehr ge­nau nahm, hat­te ge­sagt, dass das nicht gin­ge, weil sie nur zu zweit sei­en, und zu­letzt hat­te Ali­ce geant­wor­tet: »Na ja, dann kannst du eine von ih­nen sein, und ich bin all die an­de­ren!«

Und ein­mal hat­te sie ihr al­tes Kin­der­fräu­lein fast zu Tode er­schreckt und plötz­lich ge­ru­fen: »Fräu­lein! Wir wol­len spie­len, dass ich eine hung­ri­ge Hyä­ne bin und Sie ein Kno­chen!«

Aber zu­rück zu dem, was Ali­ce zu dem Kätz­chen sag­te.

»Wir wol­len spie­len, dass du die Herz­kö­ni­gin bist, Kätz­chen! Weißt du, ich glau­be, wenn du dich hin­setzt und die Vor­der­bei­ne ver­schränkst, siehst du ge­nau­so aus wie sie. Jetzt sei lieb und ver­such es!«

Und Ali­ce nahm die Herz­kö­ni­gin vom Tisch und hielt sie dem Kätz­chen hin, da­mit es die Hal­tung der Kö­ni­gin nach­ma­chen konn­te. Aber es schei­ter­te dar­an, dass das Kätz­chen sei­ne Vor­der­bei­ne nicht rich­tig ver­schrän­ken woll­te.

Um es zu be­stra­fen, hielt sie es vor den Spie­gel, um ihm zu zei­gen, wie un­ge­zo­gen es war.

»Und wenn du nicht brav bist«, füg­te sie hin­zu, »ste­cke ich dich durch den Spie­gel und set­ze dich ins Spie­gel­haus. Wie fin­dest du das? Also, wenn du nur zu­hörst, Kätz­chen, und nicht so viel re­dest, er­zäh­le ich dir, wie ich mir das Spie­gel­haus vor­stel­le. Zu­nächst ist da das Zim­mer, das man im Spie­gel se­hen kann. Es sieht ge­nau­so aus wie un­ser Wohn­zim­mer, nur dass al­les auf der ver­kehr­ten Sei­te ist. Ich kann al­les se­hen, wenn ich mich auf einen Stuhl stel­le – al­les bis auf die Ecke hin­ter dem Ka­min. Oh! Ich wünsch­te, ich könn­te auch die Ecke se­hen! Ich möch­te so gern wis­sen, ob sie im Win­ter Feu­er ma­chen! Man weiß es nicht ge­nau, es sei denn, un­ser Feu­er qualmt, und dann sieht man den Rauch auch im Spie­gel­zim­mer – aber das ist viel­leicht nur eine Täu­schung, da­mit es so aus­sieht, als hät­ten sie auch ein Feu­er. Nun ja, die Bü­cher sind un­ge­fähr die glei­chen wie un­se­re, nur dass sie na­tür­lich in Spie­gel­schrift sind – das habe ich ge­se­hen, als ich eins von un­se­ren Bü­chern vor den Spie­gel ge­hal­ten habe. Wür­dest du gern im Spie­gel­haus le­ben, Kätz­chen? Ob sie dir dort wohl Milch ge­ben wür­den? Vi­el­leicht schmeckt Spie­gel­haus-Milch nicht, aber – oh, Kätz­chen! Da ist der Flur. Man kann nur ein klei­nes Stück­chen da­von se­hen, wenn man die Tür un­se­res Wohn­zim­mers weit of­fen lässt – und er sieht ge­nau­so aus wie un­ser Flur, so­weit man ihn se­hen kann, aber wer weiß, viel­leicht sieht es da­hin­ter ganz an­ders aus. Oh, Kätz­chen, wenn wir nur in das Spie­gel­haus hin­ein könn­ten! Ich bin si­cher, dass es da drin­nen so schö­ne Sa­chen gibt! Wir wol­len spie­len, dass man ir­gend­wie hin­ein­kom­men kann, Kätz­chen. Wir tun so, als wäre das Glas ein Sei­den­vor­hang, durch den wir hin­durch­ge­hen kön­nen. Also, ich glau­be, das Glas löst sich ge­ra­de in Ne­bel auf! Es wäre ganz ein­fach, hin­durch­zu­ge­hen…«

Bei die­sen Wor­ten stand sie schon auf dem Ka­min­sims, ob­wohl sie kaum wuss­te, wie sie dort hin­ge­langt war. Und wirk­lich, das Glas ver­schwamm und lös­te sich auf, wie ein leich­ter silb­ri­ger Ne­bel.

Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te Ali­ce das Glas durch­schrit­ten und sprang mit ei­nem Satz leicht­fü­ßig in den Spie­gel­raum. Zu­erst sah sie nach, ob im Ka­min ein Feu­er brann­te, und sie freu­te sich sehr, als sie sah, dass es ge­nau­so hell fla­cker­te wie das, das sie zu­rück­ge­las­sen hat­te. Also ist es hier ge­nau­so warm wie ne­ben­an, dach­te Ali­ce – ja so­gar wär­mer, weil kei­ner mir sagt, dass ich vom Feu­er weg­ge­hen soll. Oh, es wird lus­tig, wenn sie mich im Spie­gel se­hen und nicht an mich her­an­kom­men!

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Dann sah sie sich um. Sie fand al­les, was man vom al­ten Zim­mer aus se­hen konn­te, all­täg­lich und un­in­ter­essant, aber al­les üb­ri­ge war ganz an­ders. Die Bil­der an der Wand ne­ben dem Ka­min schie­nen zum Bei­spiel ganz le­ben­dig zu sein, und die Uhr auf dem Ka­min­sims (wie man weiß, kann man sie im Spie­gel nur von hin­ten se­hen) hat­te das Ge­sicht ei­nes klei­nen al­ten Man­nes und grins­te Ali­ce an.

Die­ses Zim­mer ist nicht so or­dent­lich wie un­se­res, dach­te Ali­ce bei sich, als sie sah, dass in der Ka­mi­na­sche ei­ni­ge Schach­fi­gu­ren la­gen. Aber im nächs­ten Au­gen­blick hock­te sie sich mit ei­nem klei­nen über­rasch­ten »Oh!« hin und starr­te die Fi­gu­ren an. Sie gin­gen näm­lich paar­wei­se auf und ab!

»Das sind der Rote Kö­nig und die Rote Kö­ni­gin«,1 sag­te Ali­ce (sie flüs­ter­te, um die Fi­gu­ren nicht zu er­schre­cken), »und da sit­zen der Wei­ße Kö­nig und die Wei­ße Kö­ni­gin auf dem Feu­er­ha­ken! Und da ge­hen zwei Tür­me Arm in Arm – ich glau­be, sie hö­ren mich nicht«, fuhr sie fort und beug­te sich tiefer hin­ab, »und ich bin fast si­cher, dass sie mich nicht se­hen. Ich habe ir­gend­wie das Ge­fühl, dass ich un­sicht­bar bin –«

Da be­gann et­was auf dem Tisch hin­ter Ali­ce zu quie­ken, und sie wand­te den Kopf ge­nau im rich­ti­gen Mo­ment, um zu se­hen, wie ei­ner der Wei­ßen Bau­ern um­fiel und an­fing, um sich zu tre­ten. Sie war­te­te ge­spannt, was als nächs­tes pas­sie­ren wür­de.

»Das ist die Stim­me mei­nes Kin­des!« rief die Wei­ße Kö­ni­gin. Sie rann­te am Kö­nig vor­bei und rem­pel­te ihn da­bei so hef­tig an, dass er um­fiel und kopf­über in der Asche lan­de­te. »Mei­ne teu­re Lily! Mein ge­lieb­tes Kätz­chen!« Und sie be­gann, mit hek­ti­schen Be­we­gun­gen das Ka­min­git­ter hin­auf­zu­klet­tern.

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»Mein ge­lieb­ter Haus­dra­chen!« sag­te der Kö­nig und rieb sich die Nase, die er sich bei sei­nem Sturz ge­sto­ßen hat­te. Es war sein gu­tes Recht, ein biss­chen är­ger­lich auf die Kö­ni­gin zu sein, denn er war von Kopf bis Fuß mit Asche be­su­delt.

Ali­ce woll­te un­be­dingt hel­fen, und da die arme klei­ne Lily einen re­gel­rech­ten Schrei­krampf hat­te, hob sie die Kö­ni­gin has­tig auf und stell­te sie ne­ben ihre krei­schen­de klei­ne Toch­ter auf den Tisch.

Die Kö­ni­gin schnapp­te nach Luft und setz­te sich. Der Weg in luf­ti­ge Hö­hen hat­te ihr den Atem ver­schla­gen, und zu­nächst konn­te sie die klei­ne Lily nur schwei­gend um­ar­men. Als sie wie­der et­was zu Atem ge­kom­men war, rief sie dem Wei­ßen Kö­nig, der schmol­lend in der Asche saß, zu: »Denk an den Vul­kan!«

»Was für ein Vul­kan? Wo?« frag­te der Kö­nig und sah ängst­lich ins Feu­er, als er­war­te er ihn am ehe­s­ten dort.

»Er – hat – mich in die Luft ge­jagt«, keuch­te die Kö­ni­gin, die im­mer noch et­was aus der Pus­te war. »Sieh zu, dass du her­auf­kommst – aber so wie ge­wöhn­lich – lass dich nicht in die Luft spren­gen!«

Ali­ce be­ob­ach­te­te den Wei­ßen Kö­nig, der lang­sam das Tisch­bein er­klomm.

Schließ­lich sag­te sie: »Hör mal, so wird es Stun­den dau­ern, bis du auf dem Tisch bist. Soll ich dir nicht lie­ber hel­fen?« Aber der Kö­nig nahm kei­ne No­tiz von der Fra­ge – es war klar, dass er sie we­der hö­ren noch se­hen konn­te.

Also hob Ali­ce ihn sehr be­hut­sam auf und trans­por­tier­te ihn lang­sa­mer als die Kö­ni­gin, da­mit er kei­nen Schreck be­kam. Aber be­vor sie ihn auf den Tisch setz­te, woll­te sie ihn ein biss­chen ab­stau­ben, denn er war über und über mit Asche be­deckt.

Hin­ter­her sag­te sie, dass sie nie im Le­ben so ein Ge­sicht ge­se­hen hat­te wie das des Kö­nigs, als er von un­sicht­ba­ren Hän­den hoch­ge­ho­ben und ab­ge­staubt wur­de. Er war viel zu ver­blüfft, um zu schrei­en, aber er riss Au­gen und Mund sperran­gel­weit auf, bis sie so la­chen muss­te, dass er ihr fast aus der Hand ge­fal­len wäre.

»Oh! Bit­te schnei­de nicht sol­che Gri­mas­sen, mein Lie­ber!« rief sie und ver­gaß ganz, dass der Kö­nig sie nicht hö­ren konn­te. »Ich kann dich kaum noch hal­ten vor La­chen! Und sperr den Mund nicht so weit auf, du ver­schluckst dich noch an der Asche! So, ich glau­be, jetzt bist du sau­ber ge­nug!« füg­te sie hin­zu, strich ihm die Haa­re glatt und stell­te ihn ne­ben die Kö­ni­gin auf den Tisch.

Der Kö­nig fiel so­fort hin­ten­über und blieb reg­los auf dem Rücken lie­gen. Ali­ce war et­was er­schro­cken über die Fol­gen ih­rer Tat. Sie sah sich um, ob es ir­gend­wo im Zim­mer Was­ser gab, mit dem sie ihn wie­der­be­le­ben konn­te. Aber sie fand nur ein Glas mit Tin­te, und als sie da­mit zu­rück­kam, war er schon wie­der zu sich ge­kom­men. Er und die Kö­ni­gin flüs­ter­ten auf­ge­regt mit­ein­an­der – so lei­se, dass Ali­ce kaum hör­te, was sie sag­ten.

Der Kö­nig sag­te: »Ich ver­si­che­re dir, mei­ne Lie­be, ich habe den Schock bis in die Spit­zen mei­nes Bar­tes ge­spürt!«

Worauf­hin die Kö­ni­gin sag­te: »Du hast doch gar kei­nen Bart!«

»Die­sen schreck­li­chen Au­gen­blick«, fuhr der Kö­nig fort, »wer­de ich nie, nie ver­ges­sen!«

»Doch, das wirst du«, sag­te die Kö­ni­gin, »wenn du kei­nen Ein­trag in dein Ta­ge­buch machst.«

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Ali­ce sah in­ter­es­siert zu, wie der Kö­nig ein rie­si­ges Ta­ge­buch aus sei­ner Ta­sche hol­te und an­fing zu schrei­ben. Plötz­lich kam ihr eine Idee: Sie griff über sei­ne Schul­ter hin­weg nach dem Blei­stift und be­gann für ihn zu schrei­ben.

Der arme Kö­nig sah ver­wirrt und un­glück­lich aus. Er kämpf­te eine Wei­le wort­los mit dem Stift, aber Ali­ce war stär­ker als er, und zu­letzt japs­te er: »Mei­ne Güte! Ich brau­che wirk­lich einen dün­ne­ren Blei­stift. Mit die­sem wer­de ich über­haupt nicht fer­tig – er schreibt al­les mög­li­che, das ich gar nicht will –«

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»Was schreibt er denn?« frag­te die Kö­ni­gin und warf einen Blick auf das Buch (in das Ali­ce ge­schrie­ben hat­te: »Der Wei­ße Läu­fer rutscht den Feu­er­ha­ken hin­un­ter. Er ver­liert das Gleich­ge­wicht.«). »Das ist wirk­lich kei­ne No­tiz über dei­ne Ge­füh­le!«

Auf dem Tisch lag ein Buch. Wäh­rend Ali­ce da­saß und den Wei­ßen Kö­nig be­ob­ach­te­te (denn sie mach­te sich im­mer noch ein we­nig Sor­gen um ihn und hat­te schon das Tin­ten­fass griff­be­reit, um es über ihm aus­lee­ren zu kön­nen, falls er wie­der in Ohn­macht fiel), blät­ter­te sie es durch, um eine Stel­le zu fin­den, die sie le­sen konn­te.

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»Aber es ist in ei­ner Spra­che ge­schrie­ben, die ich nicht kann«, sag­te sie zu sich selbst.

Und das stand in dem Buch:

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Sie grü­bel­te eine Wei­le dar­über, bis ihr end­lich die Er­leuch­tung kam: »Ach, es ist na­tür­lich ein Spie­gel­buch! Und wenn ich es vor einen Spie­gel hal­te, sehe ich die Wor­te rich­tig her­um!«

Die­ses Ge­dicht las Ali­ce:

Der Plap­per­schreck


Im Weg­wärts ist es end­lich Gril­lig,
Und das ist nur recht und bil­lig!
Schlak­ti­ve Spi­ral­wür­fe ei­ern
Und fei­ern!
Flau­rig sind die Zau­sel­hä­her,
Und aus­ge­höhlte Bleich­hörn­chen kom­men pfel­lie­send nä­her!

Vor­sicht vor dem Plap­per­schreck, mein Sohn!
Vor den Zäh­nen, den Klau­en, dem Hohn!
Vor­sicht vor dem Pick-Quak-Vo­gel mit der Klap­per,
Und mei­de den fru­mio­sen Bän­der­schnap­per!

Er griff zu sei­nem mör­de­ri­schen Schwert:
Der Kampf mit dem Feind ist das War­ten wert,
So ruh­te er un­ter dem Tamtam-Baum
Tief ver­sun­ken in einen Traum.

Und als er in Ge­dan­ken da­stand,
Kam der Plap­per­schreck her­bei­ge­rannt,
Kommt grun­zend durch die dich­ten Fich­ten
Und bur­belt, wenn sie sich dann lich­ten!

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