Impressum

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die S. Fischer Stiftung angehören.

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Erste Auflage Berlin 2013

Copyright © 2013

MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Göhrener Str. 7, 10437 Berlin

info@matthes-seitz-berlin.de

Alle Rechte vorbehalten.

Titel der Originalausgabe: Sestrata na Zigmund Frojd

Copyright © 2011 Goce Smilevski

Umschlaggestaltung: Falk Nordmann, Berlin

ISBN 978-3-88221-052-1

eBook-ISBN 978-3-88221-062-0

www.matthes-seitz-berlin.de

1. Kapitel

Eine alte Frau lag im dunklen Zimmer und spürte mit geschlossenen Augen ihren frühesten Erinnerungen nach. Drei Eindrücke tauchten auf: Zu der Zeit, als vieles in der Welt für sie noch keinen Namen hatte, gab ihr ein Junge einen scharfen Gegenstand und sagte »Messer«; zu der Zeit, als sie noch an Märchen glaubte, erzählte ihr eine Stimme flüsternd vom Vogel, der sich mit seinem Schnabel die Brust aufhackt und das Herz herausreißt; zu der Zeit, als ihr Berührungen mehr sagten als Worte, näherte sich eine Hand ihrem Gesicht und streichelte mit einem Apfel ihre Wange. Der Junge aus ihren Erinnerungen, der sie mit einem Apfel streichelte, der ihr ein Märchen zuflüsterte, der ihr ein Messer gab, war ihr Bruder Sigmund. Die alte Frau, die sich erinnerte, war ich, Adolfine Freud.

»Adolfine«, erklang es im dunklen Zimmer. »Schläfst du?«

»Ich bin wach«, sagte ich. Neben mir im Bett lag meine Schwester Pauline.

»Wie spät ist es?«

»Wahrscheinlich so um Mitternacht.«

Meine Schwester wachte jede Nacht auf und begann mit den immer gleichen Worten die immer gleiche Geschichte:

»Das ist das Ende Europas.«

»Das Ende Europas ist schon oft gekommen.«

»Sie werden uns totschlagen wie Hunde.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Und du hast keine Angst?«

Ich schwieg. »In Berlin war es 1933 auch so«, fuhr Pauline fort.

Ich hatte es aufgegeben, unterbrechen zu wollen, was sie mir schon so oft erzählt hatte: »Adolf Hitler war mit der nationalsozialistischen Partei kaum an der Macht, da marschierte die Jugend auch schon im Takt der Militärmusik durch die Straßen. Wie sie jetzt hier marschiert. Von den Häusern wehten die Hakenkreuzfahnen. Wie sie jetzt hier wehen. Aus den Radioapparaten und Lautsprechern, die auf Plätzen und in Parks aufgestellt waren, hörte man die Stimme des Führers. Wie man sie jetzt auch hier hört. Er versprach ein neues Deutschland, ein besseres Deutschland, ein reines Deutschland.« Das war 1938. Drei Jahre zuvor hatten meine Schwestern Pauline und Marie Berlin verlassen und waren in die Wohnung zurückgekehrt, aus der sie nach ihrer Heirat fortgezogen waren. Pauline war fast blind und es musste ständig jemand bei ihr sein, also schlief sie in dem Bett, in dem früher unsere Eltern geschlafen hatten, und an ihrer Seite wechselten Marie und ich uns ab. Wir wechselten uns ab, weil Pauline jede Nacht aufwachte und Marie oder ich, je nachdem wer mit ihr im Zimmer war, dann keinen Schlaf mehr fand.

»Genauso wird es hier sein«, fuhr meine Schwester fort. »Und weißt du, wie es dort war?«

»Ich weiß«, sagte ich schläfrig. »Du hast es mir doch gesagt.«

»Ich habe es dir gesagt. Uniformierte sind abends in die jüdischen Wohnungen gekommen, haben dort alles zertrümmert, haben uns verprügelt und uns gesagt, dass wir uns davonmachen sollen. Alle, die nicht so dachten wie der Führer und es wagten, offen ihre Meinung zu sagen, sind sofort spurlos verschwunden. Man munkelte, dass die Gegner der Ideale, auf denen das neue Deutschland aufgebaut werden sollte, in Lager gebracht und zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wurden. Dort soll man sie gefoltert und umgebracht haben. So wird es auch hier sein, glaub mir.«

Ich glaubte ihr, schwieg aber, denn jedes Wort von mir hätte sie nur darin bestärkt, noch mehr zu erzählen. Vor ein paar Wochen waren die deutschen Truppen in Österreich einmarschiert und hatten eine neue Regierung eingesetzt. Unser Bruder Alexander war, die Gefahr vorausahnend, mit seiner Familie in die Schweiz geflüchtet. Einen Tag später waren die Grenzen geschlossen, und jeder, der Österreich verlassen wollte, musste sich an die neue Stelle zur Erteilung von Ausreisevisa wenden. Tausende reichten Anträge ein, aber nur wenige erhielten die Erlaubnis, das Land zu verlassen.

»Wenn sie uns nicht frei ausreisen lassen, heißt das, sie haben etwas mit uns vor«, sagte Pauline. Ich schwieg. »Erst nehmen sie uns alles weg, und dann werfen sie uns in eine Grube.«

Vor ein paar Tagen waren Uniformierte in die Wohnung unserer Schwester Rosa eingedrungen und hatten ihr ein Dokument gezeigt, in dem stand, dass ihre Wohnung und die gesamte Einrichtung enteignet würden. »Jetzt schlafen irgendwelche Offiziere in den Betten meiner Kinder«, hatte Rosa an jenem Nachmittag bei ihrem Einzug in die Wohnung gesagt, in der Pauline, Marie und ich lebten. Sie war mit ein paar Fotografien und etwas Kleidung gekommen. Und so wohnten wir vier Schwestern jetzt zusammen, wie früher, in derselben Wohnung.

»Hörst du? In eine Grube werden sie uns werfen«, sagte Pauline lauter.

»Jede Nacht erzählst du mir das Gleiche«, sagte ich zu ihr.

»Und trotzdem tust du nichts.«

»Was könnte ich denn tun?«

»Du kannst zu Sigmund gehen und ihn überreden, Ausreisevisa für uns vier zu beantragen.«

»Und wohin sollen wir dann gehen?«

»Nach New York«, sagte Pauline. In New York lebte ihre Tochter. »Du weißt, dass Beatrice sich um uns kümmern wird.«

Als wir am nächsten Tag aufwachten, war es schon Mittag. Ich nahm Pauline an der Hand und wir gingen zu einem Spaziergang hinaus. Vom Gehsteig aus sah ich auf der Straße Lastwagen vorbeifahren. Sie hielten an, Männer in Uniform sprangen heraus und stießen uns auf eines der Fahrzeuge. Der Lastwagen war bereits voller verängstigter Menschen.

»Sie führen uns in den Tod«, sagte Pauline.

»Nein, wir führen euch bloß in den Park, um ein bisschen mit euch zu spielen«, lachte einer der Uniformierten, die uns bewachten. Die Fahrzeuge kurvten durch das jüdische Viertel, in dem wir lebten, und hielten hin und wieder an, um noch mehr Menschen aufzunehmen. Dann wurden wir wirklich in den Park gebracht, in den Prater. Wir wurden von den Lastwagen gezogen und gezwungen, zu rennen, in die Hocke zu gehen, wieder aufzustehen und zu hüpfen, und wir waren fast alle alt und schwächlich. Wenn wir vor Gebrechlichkeit hinfielen, versetzten uns die Uniformierten Tritte. Die ganze Zeit hielt ich Pauline an der Hand.

»Verschonen Sie doch wenigstens meine Schwester. Sie ist blind«, sagte ich zu den Uniformierten.

»Blind?!«, lachten die. »Das ist ja eine hübsche Gelegenheit, noch mehr Spaß zu haben.«

Sie zwangen sie, allein zu gehen, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen, damit sie nicht vor sich her tasten konnte, und Pauline lief, bis sie gegen einen Baum stieß und zu Boden stürzte. Ich holte sie ein, kniete neben ihr nieder und wischte ihr die Erde und das von ihrer Stirn rinnende Blut vom Gesicht. Die Uniformierten lachten mit dem süßen Klang der Unbekümmertheit, mit dem sauren Klang der Lust am Schmerz anderer. Dann brachten sie uns ans Ende des Parks, stellten uns in einer Reihe auf und richteten ihre Gewehre auf uns.

»Umdrehen!«, sagten sie.

Wir wandten den Gewehren den Rücken zu.

»Und jetzt – lauft heim, wenn euch euer Leben lieb ist!«, schrie einer der Uniformierten, und Hunderte Greisenbeine rannten los; wir rannten, fielen hin, standen auf und rannten weiter, und hinter uns hörten wir das Gelächter der Uniformierten, voll des süßen Klangs der Unbekümmertheit, des sauren Klangs der Lust am Schmerz anderer.

An diesem Abend saßen Rosa, Pauline, Marie und ich schweigend beisammen. Pauline zitterte – vielleicht nicht so sehr vor Angst um ihr eigenes Leben, sondern wegen des Gedankens, dass sie das Geschöpf, das ihr am nächsten stand, das aus ihrem Schoß gekommen war, nie mehr sehen würde. Die Kinder von Rosa und Marie waren tot, und von der Familie, die ich nicht gegründet hatte, war nichts als eine verblichene Blutspur an der Wand neben meinem Bett geblieben. Man sagt, dass es denen schwerer fällt, aus dieser Welt zu gehen, die Nachkommen zurücklassen – der Tod trennt das Leben, das ihnen gegeben wurde, von dem Leben, das sie geschenkt haben. Pauline saß in der Zimmerecke und zitterte, da sie diese Trennung vorausahnte.

Am nächsten Tag ging ich zu Sigmund. Es war Freitagnachmittag, die Zeit, die er mit der rituellen Reinigung der Antiquitäten in seinem Arbeitszimmer verbrachte. Ich wollte ihm erzählen, was Pauline und ich am vorigen Nachmittag durchgemacht hatten, er jedoch zeigte mir einen Zeitungsausschnitt.

»Sieh mal, was Thomas Mann geschrieben hat«, sagte er.

»Marie und Pauline fürchten sich immer mehr«, sagte ich.

»Sie fürchten sich … Wovor?«, fragte er und legte den Zeitungsausschnitt auf den Tisch.

»Sie glauben, dass auch hier geschehen wird, was sie in Berlin gesehen haben.«

»Was sie in Berlin gesehen haben …« Er nahm einen der antiken Gegenstände vom Tisch, einen Affen aus Stein, und begann die kleine Figur mit einem Pinsel zu reinigen. »Nichts davon wird sich hier ereignen.«

»Es ereignet sich aber schon. Mordgesindel dringt in die Wohnungen in unserem Viertel ein und schlägt zusammen, wen es erwischen kann. Allein letzte Woche haben Hunderte dem Druck nicht mehr standgehalten und sich das Leben genommen. Tollwütige Menschen sind ins jüdische Waisenhaus eingefallen, haben Fensterscheiben zerschlagen und die Kinder gezwungen, durch die Glasscherben zu laufen.«

»Haben die Kinder gezwungen, durch die Glasscherben zu laufen …« Sigmund fuhr mit dem Pinsel über den Körper des Äffchens. »Das wird hier alles nicht lange andauern.«

»Wenn das so ist, warum flieht dann jeder, der ein Ausreisevisum bekommen kann, aus diesem Land? Bist du den Flüchtlingen auf der Straße begegnet? Sie gehen aus ihren Häusern fort, für immer, nur das Allernötigste in einer oder zwei Taschen zusammengerafft, sie gehen fort, um ihr Leben zu retten. Man spricht davon, dass auch hier Todeslager eingerichtet werden sollen. Du hast einflussreiche Freunde hier und in der Welt, die können dir doch dazu verhelfen, Ausreisevisa für so viele Leute zu bekommen, wie du willst. Verlang welche für die ganze Familie. Halb Wien beantragt solche Visa, bekommt sie aber nicht. Nutze deine Freunde, damit wir von hier fortkommen.« Sigmund stellte das Äffchen auf den Tisch, nahm von dort die Figurine einer Muttergottheit und begann, ihren nackten Körper abzuwischen. »Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte ich ihn mit trockener und müder Stimme.

Mein Bruder schaute mich an und fragte:

»Und wohin würdet ihr dann gehen?«

»Zu Paulines Tochter.«

»Was soll denn Paulines Tochter mit euch vier alten Frauen in New York?«

»Dann versuch doch wenigstens, nur für Pauline ein Ausreisevisum zu bekommen.« Er betrachtete die nackte Muttergottheit und ich war nicht sicher, ob er meine Worte gehört hatte. »Hörst du mir zu? Nach Rosa, Marie und mir verlangt niemand. Aber Pauline hat das Bedürfnis, bei ihrer Tochter zu sein. Und ihre Tochter hat das Bedürfnis, bei ihrer Mutter zu sein. Sie will ihre Mutter in Sicherheit wissen. Jeden Tag ruft sie an und bittet uns, dich zu bewegen, ein Ausreisevisum für ihre Mutter zu beantragen. Hörst du mir zu, Sigmund?«

Er stellte die Muttergottheit zurück auf den Tisch.

»Möchtest du, dass ich dir wenigstens ein paar Worte aus Manns Artikel vorlese? Er heißt ›Bruder Hitler‹.« Er nahm den Ausschnitt vom Tisch und begann zu lesen: »›Wie muss ein Mensch wie Hitler die Analyse hassen! Ich habe den stillen Verdacht, dass die Wut, mit der er den Marsch auf eine gewisse Hauptstadt betrieb, im Grunde dem alten Analytiker galt, der dort seinen Sitz hat, seinem wahren und eigentlichen Feinde, – dem Philosophen und Entlarver der Neurose, dem großen Ernüchterer, dem Bescheidwisser und Bescheidgeber selbst über das ›Genie‹.« Dann legte er den Artikel auf den Tisch und sagte: »Mit wie viel subtiler Ironie Mann das geschrieben hat!«

»Von dem, was du mir da vorgelesen hast, stimmt nur ›alter Analytiker‹. Das sage ich dir ohne subtile Ironie. Und die Behauptung, dass du Adolf Hitlers eigentlicher Feind bist, egal ob das nun ironisch gemeint ist oder nicht, ist ganz gewöhnlicher Blödsinn. Du weißt, dass die Besetzung Österreichs nur der Beginn des großen Feldzugs ist, den Hitler plant und mit dem er die Welt erobern will. Damit er dann jeden von der Erde tilgen kann, der nicht zur arischen Rasse gehört. Das weiß jeder, auch du und Mann; sogar ich, eine lächerliche alte Frau, weiß das!«

»Du brauchst dich nicht so aufzuregen. Hitlers Ambitionen können gar nicht verwirklicht werden. In wenigen Tagen zwingen Frankreich und Großbritannien ihn dazu, sich aus Österreich zurückzuziehen, und dann erleidet er auch in Deutschland eine Niederlage. Dort werden ihn die Deutschen selbst besiegen; die Unterstützung, die sie ihm derzeit zuteilwerden lassen, ist nur eine vorübergehende Verdunkelung ihres Geistes.«

»Diese Verdunkelung hält aber schon seit Jahren an.«

»Das ist richtig – sie hält schon seit Jahren an. Doch sie wird enden. Die Deutschen werden jetzt von dunklen Mächten geleitet, aber irgendwo in ihnen glimmt jener Geist, auf dessen Fundamenten auch ich groß geworden bin. Der Irrsinn dieses Volkes kann nicht ewig dauern.«

»Er wird lange genug dauern«, sagte ich.

Für den deutschen Geist hatte sich mein Bruder schon in seiner Kindheit begeistert; auch uns, seine Schwestern, hatte er bereits damals in diese Liebe eingeweiht. Er hatte uns davon überzeugt, dass die deutsche Sprache die einzige sei, in der man das höchste Emporschwingen des menschlichen Gedankens vollkommen wiedergeben könne, hatte uns seine Liebe zur deutschen Kunst weitergegeben, hatte uns beigebracht, stolz darauf zu sein, dass wir zur deutschen Kultur gehörten, obwohl wir dem Blut nach Juden waren, die auf österreichischem Boden lebten. Und jetzt, wo er seit Jahren zusah, wie der deutsche Geist zerfiel und die Deutschen selbst auf den wichtigsten Früchten dieses Geistes herumtrampelten, wiederholte er unablässig – als wolle er sich selbst etwas einreden –, dass das nur eine vorübergehende Geistesverwirrung sei und dass der deutsche Geist wieder aufleuchten werde.

Von diesem Tag an sagte man uns immer, wenn wir bei Sigmund anriefen, er sei nicht zu Hause oder er sei mit Patienten beschäftigt oder es gehe ihm nicht gut, und deshalb könne er nicht ans Telefon kommen. Wir fragten nach, ob er österreichische Ausreisevisa beantragen werde, aber seine Tochter Anna, seine Frau Martha und deren Schwester Minna sagten, davon wüssten sie nichts. So verging seit dem letzten Treffen mit unserem Bruder ein ganzer Monat. Am 6. Mai, seinem zweiundachtzigsten Geburtstag, entschloss ich mich, mit Pauline zu ihm zu gehen. Wir nahmen ein kleines Geschenk mit, ein Buch, von dem wir dachten, dass es ihm gefallen würde, und gingen Richtung Berggasse 19.

Im Haus meines Bruders öffnete uns Anna die Tür.

»Wir sind gerade bei der Arbeit«, sagte sie und ließ uns zwischen sich und der Tür durch.

»Arbeit?«

»Wir packen. Gestern und vorgestern haben wir schon zehn große Pakete abgeschickt. Jetzt müssen wir nur noch auswählen, welche von den Geschenken, die mein Vater bekommen hat, wir mitnehmen.«

»Reist ihr ab?«, fragte ich.

»Nicht sofort, aber wir wollen möglichst bald alles fertiggepackt haben.«

Im Arbeitszimmer meines Bruders lagen und standen überall Souvenirs, Bücher, kleine und große Kisten und Antiquitäten herum – alles, was ihm irgendwann einmal geschenkt worden war und was er aufbewahrt hatte. Sigmund saß auf dem großen roten Sofa in der Mitte des Raums und betrachtete die am Boden liegenden Gegenstände. Er drehte sich zu uns um, nickte nur und starrte dann weiter auf das Durcheinander. Ich sagte ihm, wir seien gekommen, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Er bedankte sich und legte unser Geschenk neben sich auf den Tisch.

»Wie du siehst, gehen wir fort. Nach London«, sagte er.

»Ich könnte euch helfen«, sagte ich. »Beim Packen.«

Anna schlug vor, mir die Gegenstände zu geben, die weggeworfen werden sollten, damit ich sie in die Kiste mit überflüssigem Kram legte. Sie selbst würde die ausgewählten Gegenstände in die Kisten stapeln, die dann mit der Post nach London geschickt werden sollten. Pauline blieb an der Wand stehen.

»Diese Tabatiere?« fragte Anna, wandte sich ihrem Vater zu und zeigte ihm die kleine Silberschachtel mit ein paar eingelassenen grünlichen Steinchen.

»Das ist ein Geschenk von deiner Mutter. Wir nehmen sie mit.«

Anna legte die Tabatiere neben sich in den Karton.

»Dieses Domino aus Elfenbein?«

Sigmund dachte kurz nach und sagte dann:

»Ich erinnere mich nicht, von wem es ist. Wirf es weg.«

Anna gab mir das Domino und ich ließ es in die Kiste neben mir fallen, in der sich Bücher, Souvenirs und andere Kleinigkeiten zum Wegwerfen häuften.

»Das hier?«, fragte Anna, hob ein Buch hoch und hielt es nahe vor Sigmunds Augen.

»Diese Bibel ist ein Geschenk deines Großvaters Jakob zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag. Wir nehmen sie mit.«

Anna sagte, sie habe den ganzen Tag gearbeitet, sei müde geworden und wolle ein bisschen durchatmen. Sie ging ins Esszimmer, um sich die Beine zu vertreten und Wasser zu trinken.

»Du hast also trotzdem Visa für die Ausreise aus Österreich beantragt«, sagte ich zu meinem Bruder.

»Ja, habe ich«, antwortete er.

»Du hast mich doch davon überzeugen wollen, dass es nicht notwendig sei, zu flüchten.«

»Dies ist keine Flucht, sondern eine vorläufige Abreise.«

»Wann reist ihr ab?«

»Martha, Anna und ich Anfang Juni.«

»Und der Rest?«, fragte ich. Mein Bruder schwieg. »Wann reisen Pauline, Marie, Rosa und ich ab?«

»Ihr kommt nicht mit.«

»Wir kommen nicht mit?«

»Es ist nicht nötig«, sagte er. »Ich gehe ja nicht, weil ich das etwa selbst gewünscht hätte, sondern weil einige meiner Freunde – Diplomaten in Großbritannien und Frankreich – bei den hiesigen Behörden darauf insistiert haben, dass mir Ausreisevisa ausgestellt werden.«

»Und?«

Er hätte eine Posse aufführen können, hätte uns sagen können, dass ein ausländischer Diplomat darum gebeten habe, seine Kinder, ihn und seine Frau aus dem Land zu lassen, und dass er selbst keinerlei Macht habe, was auch immer zur Rettung anderer zu tun; er hätte eine Posse aufführen können, aber das war nicht sein Genre.

»Man hat mir erlaubt, eine Namensliste von Menschen anzufertigen, die mir nahe stehen und die mit mir zusammen aus Österreich ausreisen würden«, sagte er.

»Und du hast keinen Augenblick daran gedacht, dass du auch unsere Namen darauf setzen könntest.«

»Keinen Augenblick. Dies ist nur vorläufig. Wir werden zurückkommen.«

»Und auch wenn ihr zurückkommt, uns wird es dann nicht mehr geben.« Er schwieg.

Dann sagte ich: »Ich habe kein Recht, danach zu fragen, aber trotzdem: Wer steht denn auf der Liste mit den dir nahestehenden Menschen, die du retten wirst?«

»Ja, das will ich auch wissen, wer steht auf dieser Liste?«, fragte Pauline.

Mein Bruder hätte eine Posse aufführen können, hätte sagen können, dass er nur die Namen seiner Kinder, seinen Namen und den Namen seiner Frau darauf geschrieben habe, denn diese seien von den Behörden für die Liste zur Rettung seiner engsten Familienangehörigen zugelassen worden, und deshalb habe er nur diese Namen angeführt, nur die der allerengsten Familienangehörigen; er hätte eine Posse aufführen können, aber das war nicht sein Genre. Irgendwoher nahm er ein Blatt Papier und sagte:

»Hier ist die Liste.«

Ich betrachtete die auf dem Papier stehenden Namen.

»Lies sie auch mir vor«, sagte Pauline.

Ich las laut vor. Auf der Liste standen mein Bruder, seine Frau, ihre Kinder mit deren Familien, die Schwester von Sigmunds Frau, die zwei Hausangestellten, der Leibarzt meines Bruders und dessen Familie. Und ganz am Ende der Liste – Jofie.

»Jofie«, lachte Pauline und drehte sich in die Richtung, aus der sie Sigmunds Stimme gehört hatte. »Aber ja doch, von deinem Hündchen trennst du dich ja nie.«

Anna kam ins Zimmer zurück und sagte:

»Ich habe euch gar nicht gefragt, ob ihr etwas trinken wollt oder ob ihr vielleicht hungrig seid.«

»Weder hungrig noch durstig«, sagte ich.

Als habe sie die Worte von Anna und mir nicht gehört, fuhr Pauline fort:

»Es ist wirklich nett von dir, dass du an alle diese Leute gedacht hast. Du hast sogar an dein Hündchen gedacht, und an deine Hausangestellten, und an deinen Arzt samt Familie, und an die Schwester deiner Frau. Aber du hättest auch an deine Schwestern denken können, Sigmund.«

»Wäre es notwendig, dass ihr fortgeht, hätte ich ja an euch gedacht. Aber dies ist nur vorübergehend, nur weil meine Freunde darauf bestanden haben, dass ich ausreise.«

»Und warum haben deine Freunde darauf bestanden, dass du ausreist, wenn es nicht wirklich gefährlich ist, hier zu bleiben?«, fragte ich.

»Weil sie nicht begreifen, so wie ihr, dass diese Situation nicht lange anhalten wird«, sagte Sigmund.

»Aber wenn dieser Schrecken nicht lange anhalten wird, warum gehst dann nicht nur du, nur mal kurz, gerade lang genug, um deine Freunde zu beruhigen? Warum gehst nicht nur du, sondern nimmst deine Familie mit und auch noch deinen Arzt samt Familie, die beiden Hausangestellten und sogar das Hündchen und die Schwester deiner Frau?«, fragte ich.

Sigmund schwieg.

»Aber ich, Sigmund«, sagte Pauline, »ich, im Gegensatz zu Adolfine, glaube dir. Ich glaube dir, dass dieser ganze Schrecken nicht lange dauern wird. Aber mein Leben wird kürzer dauern als dieser Schrecken. Und ich habe eine Tochter. Du, Sigmund, hättest an deine Schwester denken können. Du hättest an mich denken müssen, und daran, dass ich eine Tochter habe. Sicher hast du daran gedacht, denn seit ich aus Berlin gekommen bin und meine Beatrice nach New York gegangen ist, spreche ich nur von ihr. Seit drei Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen. Und du hättest mir mit nur einer Niederschrift meines Namens dazu verhelfen können, meine Tochter noch einmal zu sehen«, sagte sie, und beim Wort »sehen« verdrehte sie ihre Augen, die nur noch Konturen erkennen konnten. »Du hättest meinen Namen dorthin setzen können, zwischen den Namen der Schwester deiner Frau und den Namen des Hündchens. Du hättest mich auch unter das Hündchen schreiben können, auch das hätte mir genügt, um Wien verlassen und Beatrice treffen zu können. Aber so, das weiß ich, wird sie mich nie mehr wiedersehen.«

Anna versuchte, uns wieder auf die Aufteilung der Gegenstände zu bringen, die eingepackt oder weggeworfen werden sollten.

»Und das?«, fragte sie. Auf der Handfläche hielt sie ein hölzernes Souvenir: eine Gondel, klein wie ein Daumen.

»Ich weiß nicht, von wem das ist«, sagte Sigmund. »Wirf es weg.«

Anna reichte mir die Gondel, mein Geschenk zum sechsundzwanzigsten Geburtstag meines Bruders. Ich hatte sie seitdem nicht mehr gesehen, und jetzt war sie hier, als habe sie die Zeit durchschwommen. Langsam legte ich sie in die Kiste zwischen die anderen Gegenstände, die weggeworfen werden sollten.

Mein Bruder stand auf, reckte sich und näherte sich dem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand, auf dem wir sieben Jahrzehnte zuvor abgebildet worden waren – wir, die Geschwister Freud. Der zur Entstehungszeit des Gemäldes anderthalbjährige Alexander erinnerte sich später daran, dass Sigmund, als er ein bisschen größer geworden war, auf das Gemälde zeigte und zu ihm sagte: »Wir und unsere Schwestern sind wie ein Buch. Du bist der jüngste und ich der älteste, und wir müssen wie feste Buchdeckel sein, die unsere nach mir und vor dir geborenen Schwestern stützen und beschützen.« Und jetzt, viele Jahre später, streckte mein Bruder die Hände nach diesem Gemälde aus.

»Das Bild packen wir gesondert ein«, sagte Sigmund, während er sich reckte, um es von der Wand zu nehmen.

»Du hast kein Anrecht auf dieses Bild«, sagte ich.

Mein Bruder drehte sich mit dem Bild in Händen zu mir um.

»Es ist Zeit, dass wir gehen«, sagte Pauline.

An der Haustür trafen wir mit der Schwester von Sigmunds Frau zusammen, die gerade von irgendwoher zurückkam. Sie sagte, sie sei fortgewesen, um ein paar unabdingbare Kleinigkeiten einzukaufen, da sie am nächsten Tag Österreich verlassen müsse.

»Gute Reise«, sagte Pauline.

Ich führte meine Schwester zu unserer Wohnung, hielt sie an der Hand. Ihre verkrampften Finger verrieten mir, wie sie sich fühlte. Hin und wieder blickte ich sie an. Auf ihrem Gesicht flackerte jenes Lächeln, das manche Blinde ständig zeigen, sogar wenn sie Angst, Zorn oder Entsetzen spüren.

An einem schwülen Morgen Anfang Juni gingen Pauline, Marie, Rosa und ich zum Bahnhof, um meinen Bruder, Martha und Anna zu verabschieden, die letzten von Sigmunds Liste, die Wien verlassen sollten. Die drei standen am offenen Fenster ihres Abteils, wir vier standen auf dem Bahnsteig. Mein Bruder hielt sein Hündchen auf dem Arm. Der die Abfahrt des Zuges signalisierende Pfiff gellte. Vor Angst zitternd und völlig außer sich biss der Hund Sigmund in den Zeigefinger. Anna holte ein Taschentuch hervor und verband seinen blutenden Finger. Die Sirene des Zuges gellte noch einmal, der Zug fuhr los. Mein Bruder hob die Hand, um sich zu verabschieden; sein einer Finger war verbunden, die anderen vier zur Faust geballt, und so, mit dem ausgestrecktem Zeigefinger in einem blutigen Taschentuch, winkte er durch die Luft. Wenn ich mich später an diese Verabschiedung und den blutigen Zeigefinger meines Bruders erinnerte, musste ich immer an sein Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion denken, das er uns, seinen Schwestern, vor der Abreise als Manuskript überlassen hatte, wahrscheinlich aus Furcht, sein Handschriftenexemplar zu verlieren.

»Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört«, so beginnt Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Mit diesem Satz legte mein Bruder das Ziel seines Buches klar: Moses seinem Volk wegzunehmen, zu beweisen, dass Moses kein Jude war. Er machte Moses nicht nur zum »vornehmen Ägypter – vielleicht Prinz, Priester, hoher Beamter«, sondern beschrieb die Juden jener Zeit als Gegenteil von Moses, als »eingewanderte, kulturell rückständige Fremdlinge«. Er fragte sich, weshalb ein so vornehmer Mann sein Land gemeinsam mit diesen »eingewanderten, kulturell rückständigen Fremdlingen« verlassen würde, und fand eine Antwort: Moses war ein Anhänger der ersten monotheistischen Religion, eingeführt vom Pharao Echnaton, der im vierzehnten Jahrhundert vor unserer Zeit die Vielgötterei verbot, mittels der Todesstrafe sein Volk daran hinderte, die Götter zu verehren, an die es seit Jahrtausenden geglaubt hatte, und Aton zum einen und einzigen Gott erklärte. Siebzehn Jahre, nachdem er die neue Religion eingeführt hatte, starb der Pharao. Die früheren Priester, die unter der Herrschaft Echnatons gedemütigt worden waren, brachten das den alten Göttern insgeheim immer treu gebliebene Volk dazu, die neuen Tempel mit rachsüchtiger Wut und fanatischem Vergeltungsdrang zu zerstören, verboten den Monotheismus und führten die alte Religion der Vielgötterei wieder ein. Moses, von dem mein Bruder annahm, dass er dem Pharao Echnaton nahestand, wollte sich vom Gott Aton nicht lossagen und fasste so den Plan, ein »neues Reich zu gründen, ein neues Volk zu finden, dem er die von Ägypten verschmähte Religion zur Verehrung schenken wollte«. Und so wurden die Juden, wie es in Der Mann Moses und die monotheistische Religion heißt, nicht von Gott auserwählt, sondern vom Ägypter Moses: »Diese wählte er aus, dass sie sein neues Volk sein sollten.« Meinem Bruder zufolge waren die Juden zu dieser Zeit eigentlich noch kein Volk, sondern, wie er schrieb, bisher nur in der »Grenzprovinz« angesiedelte »semitische Stämme«, doch Moses, der sich ihnen anschloss, bildete aus ihnen ein Volk, mit dem Ziel, den Glauben an den einen und einzigen Gott Aton zu verbreiten, und machte sich mit ihnen auf die Suche nach dem Gelobten Land. Doch sie konnten ihren alten Glauben nicht aufgeben, ihre semitische Vielgötterei, und jeder, der den Glauben an den neuen Gott verriet, wurde auf Moses Befehl von dessen engsten Vertrauten bestraft. Deshalb meinte mein Bruder, dass Moses nicht an Altersschwäche gestorben ist, wie es in der Bibel steht, sondern dass »der ägyptische Moses von den Juden erschlagen, die von ihm eingeführte Religion aufgegeben« wurde.

Doch was ist aus ihnen geworden, nachdem sie den erschlagen hatten, der sie zu seinem Volk gemacht und ihnen zugesagt hatte, sie seien ein von Gott auserwähltes Volk? Später vereinigten sie sich mit anderen, ihnen nahe verwandten Stämmen in der Region zwischen Palästina, der Sinai-Halbinsel und Arabien, und dort, an einem wasserreichen Ort namens Qadeš, nahmen sie unter dem Einfluss der Midianiter eine neue Religion an: die Anbetung des Vulkangottes Jahve. Meinem Bruder zufolge wurde der Jahvekult von einem midianitischen Schäfer unter den Juden verbreitet, der den gleichen Namen trug wie der ägyptische Anführer: Moses. Aber dieser zweite Moses, unter dessen Führung das jüdische Volk das Land Kanaan eroberte, verkündete einen Gott, der das vollkommene Gegenteil zu Aton war: Jahve wurde von dem arabischen Stamm der Midianiter als ein »unheimlicher, blutgieriger Dämon« verehrt, der »bei Nacht umgeht und das Tageslicht scheut«, er war »ein roher, engherziger Lokalgott, gewalttätig und blutdürstig«. Seinen Anhängern hatte er versprochen, ihnen »das Land zu geben, in dem ›Milch und Honig‹ fließt«, und forderte sie auf, dessen gegenwärtige Einwohner »auszurotten ›mit der Schärfe des Schwertes‹«. Dies stand in direktem Widerspruch zu den Verkündigungen des ägyptischen Moses, der den Juden ja eine »andere, höher vergeistigte Gottesvorstellung« gegeben hatte, die »Idee einer einzigen, die ganze Welt umfassenden Gottheit, die nicht minder allliebend war als allmächtig, die, allem Zeremoniell und Zauber abhold, den Menschen ein Leben in Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel setzte.« Obwohl der ägyptische Moses »nie in Qadeš war und den Namen Jahve nie gehört hatte« und der midianitische Moses »Ägypten nie betreten hatte und von Aton nichts wusste«, gingen sie als ein Mann in die Überlieferung ein. Denn »im Laufe der langen Zeiten – vom Auszug aus Ägypten bis zur Fixierung des Bibeltextes unter Esra und Nehemia verflossen etwa achthundert Jahre« – hatte die Jahvereligion sich zurückgebildet »zur Übereinstimmung, vielleicht bis zur Identität mit der ursprünglichen Religion des Moses«, und die beiden Moses waren zu jener Zeit bereits zu einer Gestalt, Aton und Jahve zu einem einzigen Gott geworden, in sich so unterschiedlich wie Tag und Nacht, eben weil sich zwei Götter zu einem vereint hatten.

»Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört. Aber man wird sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler Interessen zurückzusetzen …« Mit diesen Worten begann mein Bruder sein letztes Werk, aber Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist nicht nur eine Suche nach der Wahrheit. Das Werk beinhaltet auch eine Negation: dass Moses kein Jude ist; und eine Verurteilung: dass die Juden Moses getötet haben. Und deshalb klingt es nach Hass und nach Rache am eigenen Volk. Hass gegen die Seinen, Rache an den Seinen. Aber warum? Ein Jude zu sein war für meinen Bruder Teil des Schicksals, etwas, das ihm bei der Geburt zuteil geworden war, etwas, das er nicht gewählt hatte. Da, wo es keine Wahl gibt, im Blut, war er Jude. Da, wo man wählen kann, hatte er die deutsche Kultur gewählt: Er wollte ihr zugehören, so wie die Früchte dieser Kultur nach seinem Empfinden ihm zugehörten. An seinem Lebensende sagte er: »Meine Sprache ist Deutsch, meine Kultur, meine Erziehung sind deutsch. Ich hielt mich geistig für einen Deutschen, bis ich das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland und Deutsch-Österreich bemerkte. Seitdem ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen.« Genau so sagte er es: »ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen«, und nicht: »fühle ich mich als Jude«. Als er gefragt wurde, was in ihm jüdisch geblieben sei, wo er doch alles aufgegeben hatte, was seinen Volksgenossen und ihm gemeinsam gewesen war – die Religion, das Nationalgefühl, die Tradition und die Gebräuche –, antwortete er: das »Wesentliche«. Er sagte nie, was das sei, aber es war klar: das Blut; das, was man nicht ändern kann. Gegenüber diesem Blut empfand er einen gewissen Ekel. Moses, der dem jüdischen Volk Befreier, Gesetzgeber und Glaubensstifter ist, machte er gar zum Nicht-Juden, und aus jedem seiner Sätze, in denen der Nicht-Jude Moses und die Juden vorkamen, konnte man heraushören, was er für den Nicht-Juden und was er für sein Volk fühlte: »Wie ist es möglich, dass ein einzelner Mensch eine so außerordentliche Wirksamkeit entfaltet, dass er aus indifferenten Individuen und Familien ein Volk formt, ihm seinen endgültigen Charakter prägt und sein Schicksal für Jahrtausende bestimmt?«

Am Ende von Der Mann Moses und die monotheistische Religion machte mein Bruder die Juden sogar selbst für die Leiden verantwortlich, die sie durch Jahrtausende erduldet haben. Zu Beginn des religiösen Glaubens, so meinte er, steht der Vatermord – die Religion ist in ihren Ursprüngen ein Versuch, sich von der Sünde zu befreien, die die Söhne begangen haben, als sie ihren Vater, den sie fortan als göttlichen Vorfahren feiern würden, im Kampf um die Vorherrschaft töteten. Das Christentum, behauptete mein Bruder, ist die Anerkennung dieses Mordes – durch den Opfertod Christi hat das Menschengeschlecht anerkannt, einst seinen Vater getötet zu haben. Ihm zufolge wurde das Christentum zwar von den Juden geschaffen und durch Juden verbreitet, doch »nur ein Teil des jüdischen Volkes nahm die neue Lehre an. Jene, die sich dessen weigerten, heißen noch heute Juden. Sie sind durch diese Scheidung noch schärfer von den anderen abgesondert als vorher. Sie mussten von der neuen Religionsgemeinschaft, die außer Juden Ägypter, Griechen, Syrer, Römer und endlich auch Germanen aufgenommen hat, den Vorwurf hören, dass sie Gott gemordet haben. Unverkürzt würde dieser Vorwurf lauten: Sie wollen es nicht wahrhaben, dass sie Gott gemordet haben, während wir es zugeben und von dieser Schuld gereinigt sind. Man sieht dann leicht ein, wieviel Wahrheit hinter diesem Vorwurf steckt. Warum es den Juden unmöglich gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Entstellung enthielt, wäre Gegenstand einer besonderen Untersuchung. Sie haben damit gewissermaßen eine tragische Schuld auf sich geladen; man hat sie dafür schwer büßen lassen.« Und so wurde den Juden selbst die Schuld an ihren Leiden zugewiesen. Für alle an ihnen begangenen Untaten fand mein Bruder eine Entschuldigung. Und er tat das gerade dann, als sein Volk Unterstützung brauchte, dann, als der gleiche Schrecken das Blut in unseren Adern erzittern ließ, der auch unsere Ahnen hatte erzittern lassen.

Viele Jahre bevor mein Bruder Der Mann Moses und die monotheistische Religion schrieb, hatte er mit der Muttermilch auch die Verbitterung der von Land zu Land Getriebenen aufgesogen, der einer anderen Religion und einer anderen Abstammung wegen Verfluchten, der auf Scheiterhaufen Verbrannten, weil die Anderen, die sich für rechtgläubig hielten, sie seit Jahrhunderten fälschlich beschuldigten, sie hätten Brunnen vergiftet, die Pest ausgelöst, Verträge mit dem Teufel geschlossen. Schon mit der Milch unserer Mutter hatte er diesen bitteren Geschmack in sich aufgenommen. Wir haben die bittere Erfahrung unserer Ahnen mit der Muttermilch aufgesogen und dann vergessen – weil wir zum neuen Europa gehören und nicht wahrhaben wollten, dass uns Europa eines Tages wieder seine blutgierigen Lefzen zuwenden würde. Weil wir an das neue Europa glaubten, vergaßen wir das Schicksal unserer nahen und entfernten Ahnen, vergaßen wir das Blut, das sie vergießen mussten, da sie anderen Blutes waren, vergaßen wir das Schicksal der unzähligen Erniedrigten, fälschlich Angeklagten, Verfolgten, Gefolterten, Erschlagenen, von Gott und Teufel Vergessenen. Wir vergaßen sie, vergaßen unser Blut; wir, Blut von ihrem Blute. Und als mein Bruder sich ihrer entsann, ihrer, deren Blut in uns floss, erwähnte er ihr Leiden nur am Rande, als er sie, die Leidenden, selbst für dieses Leiden verantwortlich machte: »Sie haben damit gewissermaßen eine tragische Schuld auf sich geladen; man hat sie dafür schwer büßen lassen.«

Sein ganzes Leben lang hat mein Bruder durch seine Werke zu beweisen gesucht, dass die Essenz des Menschengeschlechts die Schuld ist: Jeder ist ein Schuldiger, weil jeder einst ein Kind gewesen ist und weil jedes Kind im Wettstreit um die Liebe seiner Mutter den Tod seines Widersachers herbeiwünscht: des Vaters. So redete mein Bruder Sigmund. Er beschuldigte die Unschuldigsten, die Unschuldigsten und Hilflosesten sollten die Erbsünde tragen: Die gerade erst ins Leben Getretenen beschuldigte er, den Tod derer herbeizuwünschen, die ihnen das Leben gegeben hatten. Dieser Schuld, die ihm zufolge jedem menschlichen Wesen eigen ist, fügte er für sich selbst noch eine weitere hinzu: Er behauptete, sich daran zu erinnern, als Anderthalbjähriger den Tod seines neugeborenen Bruders Julius gewünscht zu haben, der sechs Monate später starb. So war mein Bruder also auch Kain, und auf ihn bezogen sich die göttlichen Worte: »Was hast du getan? Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde.« Doch er war auch Noah, der vor der Sintflut seine Familie und »allerlei Tiere von allem Fleisch, von den Vögeln nach ihrer Art, von dem Vieh nach seiner Art und von allerlei Gewürm auf Erden nach seiner Art« in der Arche versammelte. Nur für uns vier gab es auf der Liste meines Bruders keinen Platz. Er war Ödipus, er war Kain, er war Noah. Doch in den Wünschen, die er sich selbst nicht eingestehen wollte, verlangte er danach, ein Prophet zu sein, und deshalb nahm er den Juden Moses weg – er selbst wollte einzig sein, niemandem zugehörig, aus eigener Kraft geboren, und so malte er sich auch den aus, der von den Menschen zu dem ernannt worden war, was er selbst, mein Bruder, sein wollte. Er wollte, so wie Moses ein Volk in die Freiheit des versprochenen Landes geführt hatte, das Menschengeschlecht zur Befreiung des Ichs führen, zur Befreiung des menschlichen Wesens von den Fesseln des Verdrängens und den finsteren Schlünden des Unbewussten. Und deshalb ist es, als schrie mein Bruder von jeder Seite seines Buches über Moses: »Weder er noch ich sind Juden, ich bin wie er ein aus eigener Kraft geborener Führer und Prophet!«

Am Abend des Tages, als mein Bruder Wien für immer verlassen hatte, sprachen meine Schwestern leise davon, wie wichtig es jetzt sei, dass er uns von London aus mit Hilfe seiner Freunde ermögliche, möglichst bald auch auszureisen. Ich hörte die Worte meiner Schwestern, die Gräuel heraufbeschworen – vor meinen geschlossenen Augen aber erschien statt der apokalyptischen Ereignisse, von denen sie sprachen, nur der verbundene, durch die Luft winkende Zeigefinger meines Bruders.

In den Monaten nach ihrer Abreise riefen uns Martha und Anna manchmal aus London an. Sie sagten, dass Sigmund neue Operationen an der Mundhöhle gehabt habe, dass er genese, aber nicht mehr sprechen könne. Der Krebs hatte auch sein Gehör so geschädigt, dass er sich schriftlich mit ihnen verständigen musste. Ich erinnerte mich an die Zeit, als wir Kinder waren und mein Bruder mir Schreiben beibrachte. Martha und Anna erzählten uns, dass sie in einem schönen Haus in einem ruhigen Londoner Vorort lebten, und versicherten uns ständig, Sigmunds Freunde täten alles, damit auch wir Schwestern Ausreisevisa aus Österreich bekämen und zu ihnen ins Haus ziehen könnten.

Wir vier aber lernten, mit der Angst zu leben. Es war keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Gequältwerden. An der Kleidung mussten wir einen Davidstern tragen, damit sich die Verbote, die für alle Juden galten, durchsetzen ließen: Wir durften nicht mehr ins Theater, die Oper, in Konzerte gehen, wir durften keine Restaurants und Parks besuchen, wir durften kein Taxi nehmen, wir durften zwar mit der Tram fahren, aber nur im letzten Wagen, wir durften zwar das Haus verlassen, aber nur zu genau festgelegten Zeiten, unsere Telefonleitungen waren gekappt worden, und wir durften nur zwei Postämter in der Stadt benutzen.

Es war ein Septembertag, als ein Neffe meiner Freundin Klara zu uns kam und mir mitteilte, dass sie in der Heil- und Pflegeanstalt Nest, in der sie seit Jahren gewohnt hatte, gestorben war. Er fragte mich, ob ich mit ihm zur Beerdigung gehen würde. Meine Schwestern waren gerade bei einer Nachbarin; ich hinterließ ihnen auf einem Zettel eine Nachricht, wohin ich gegangen war.

Einige Monate zuvor hatte die neue Stadtverwaltung als eine der zahlreichen Veränderungen in Wien verfügt, dass die in speziellen Heil- und Pflegeanstalten Verstorbenen nicht mehr auf den städtischen Friedhöfen bestattet werden durften, sondern nur noch in den Parks der Spitale. Und so würde man nun auch sie dort begraben, in einer flachen Grube im Park, in einem Laken statt in einem Sarg.

Ich betrat das Zimmer, in dem die tote Klara lag. Man sagte mir, sie sei im Schlaf gestorben. Ihr Gesicht war so friedlich, dass man darauf weder eine Spur des Schlafes noch des Lebens noch des Sterbens erkennen konnte. Sie lag zusammengerollt da, wie immer, wenn sie schlief, mit angezogenen Beinen, den Kopf auf der Brust und die Hände gegen den Bauch gepresst. Ihr Körper war bereits erstarrt. Also wickelten wir sie in dieser Haltung in das Laken ein.

»Wie ein Fötus«, sagte ich, als man sie aus dem Zimmer trug, das sie als Gebärmutter bezeichnet hatte.

»Für einen Fötus zu groß, für einen Menschen zu klein«, sagte ein Arzt.

Und wirklich hätte sich niemand vorstellen können, dass da ein menschlicher Körper ins Laken eingewickelt war.

Es goss in Strömen, und wir waren kaum zwanzig, die in den Park hinausgingen. Die anderen standen an den Fenstern des Spitals und blickten durch die Gitterstäbe. Wir legten das Laken mit dem Körper in die ausgehobene Grube. Die Männer mit den Spaten warfen lehmige Erde darauf.

Als ich spätnachmittags nach Hause kam, saßen meine Schwestern um den Esstisch. Rosa schaute mich mit geröteten Augen an und sagte:

»Anna hat angerufen. Sigmund ist letzte Woche gestorben.«

»Klara ist gestorben. Letzte Nacht«, sagte ich.

»Er wurde eingeäschert.«

»Heute haben wir sie im Garten des Spitals begraben. Wir haben ein flaches Grab ausgehoben. Sie hatte keinen Sarg. Wir haben sie in ein Laken gewickelt. Es hat geregnet.«

Draußen regnete es. Die Regentropfen schlugen heftig gegen das Fenster. Das Geräusch, das sie machten, schlug gegen unsere Worte.

Ich ging in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und dachte an meinen Bruder. Ich versuchte nicht, mir die letzten Augenblicke seines Lebens vorzustellen. Ich versuchte, in meiner Vorstellung nicht das Bild entstehen zu lassen, wie er fast unbeweglich dalag, wollte nicht hören, wie ihn die letzten Tropfen Lebenskraft dazu zwangen, einzuatmen und auszuatmen, wollte nicht einmal wissen, was ihm in diesen letzten Augenblicken durch den Kopf ging – ob ihn der Gedanke an die Schwestern quälte, die ständig bei ihm zu Hause anriefen und darum baten, ihnen irgendwie das Verlassen Wiens zu ermöglichen, ob er aufgrund der Annahme, dass man auch sie in die Todeslager bringen würde, ein schlechtes Gewissen hatte. Ich versuchte zu vermeiden, mir die letzten Augenblicke seines Lebens vorzustellen. Es genügte mir zu wissen, dass er tot war, dass er ruhig war, ohne körperlichen Schmerz, ohne seelische Qual, da sich die Seele im Jenseits sicher von aller Mühsal und allen Selbstvorwürfen befreit. Nur solange die Seele noch hier ist, kann sie sich nicht ganz davon überzeugen, dass alles so ist, wie es sein soll, und dass sie getan hat, was sie tun musste, um einen höheren, für uns unbegreiflichen Plan zu erfüllen.

Ich wachte schweißgebadet auf. Draußen hatte es aufgehört zu regnen, und Finsternis fiel durch das Dunkelblau der Wolken. Ich hatte geträumt. In meinem Traum war Sigmund tot.

»Ich bin sehr allein«, sagte er. »Obwohl ›allein‹ nicht das richtige Wort ist. Man kann nur allein sein, wenn es auch andere gibt. Schau, um mich herum gibt es niemanden. Hier ist niemand.«

»Alle sind da«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, niemand ist da.«

»Alle sind da«, wiederholte ich. »Du musst sie nur suchen.«

»Ich suche sie«, sagte er. »Aber es gibt niemanden. Und alles hier ist leer. Schau – nur Licht, sonst nichts. Und wenn das Licht ganz allein ist, ist es leer, hohl, ein fürchterlicher Kerker, aus dem man nicht fliehen kann, denn es gibt kein Wohin. Überall totes Licht. Und in diesem Licht niemand sonst.«

»Alle sind da«, sagte ich noch einmal. »Aber du schaust zu viel auf dich selbst, deshalb kannst du die anderen nicht sehen.«

»Nein«, antwortete er. »Niemand ist da. Aber vielleicht ist das der Tod: für immer zu existieren, sich dessen bewusst zu sein, und ganz allein zu sein. Ganz allein. Es wäre besser gewesen, nach dem Tod einfach zu verschwinden, sich aufzulösen. Früher habe ich geglaubt, dass es nach dem Tod so kommen würde. Auch die Vision der schreckenerregendsten Hölle ist weniger fürchterlich als dieses verfluchte Abgesondertsein, als dieses ewige Wachen in der Leere des Todes.«

»Nein«, sagte ich zu ihm. »Wir sind alle da. Nimm nur den Blick von dir selbst. Wir sind alle da, die Toten und die Lebenden.«

»Bleib wenigstens du«, bat er.

»Ich bleibe. Wir bleiben alle. Du musst uns nur sehen.«

»Das ist eine Strafe«, sagte er, krampfte die Hände zu Fäusten zusammen und hob sie langsam vor sein Gesicht.

»Ich werde mit dieser fürchterlichen Leere bestraft.« Er ließ den Kopf fallen und schlug mit der Stirn gegen seine Fäuste. »Und ich weiß, warum ich bestraft werde.«

»Du wirst nicht bestraft«, sagte ich.

»Ich weiß um meine Schuld.« Er blickte auf seine Fäuste. »Vergib mir.«

»Ich habe dir nichts zu vergeben«, sagte ich. »Du hast nichts Böses getan. Du hast es versäumt, eine gute Tat zu tun. Wir alle versäumen es häufig im Leben, gute Taten zu tun. Und wir können nicht einschätzen, welches dieser Versäumnisse es dem Bösen erlaubt, jemanden zu verschlingen.«

»Vergib mir«, sagte er.

Sein Gesicht veränderte sich langsam, es ging in der Zeit zurück, viele Jahre zurück. Dann wurde er kleiner, er kehrte in das Alter zurück, in dem ich ihn nicht gekannt hatte, das Alter der Jahre vor meiner Geburt; er wurde immer kleiner und kleiner, und zuletzt war er ein Säugling geworden. Ein nackter, weinender Säugling. Ich nahm ihn auf den Arm, legte meine schlaffe, runzelige Brust frei und führte sie an seinen Mund. Während mein Bruder Milch aus meiner welken Brust trank, ließ mich die Berührung seiner Lippen mit meiner Brustwarze eine seltsame Wollust verspüren. Und als ich wach wurde, war mir bewusst, dass ich wach wurde, und ich bedauerte, dass diese Seligkeit des Stillens nicht länger andauern würde.