Das Buch

Gleich bei ihrem ersten Turnier mit ihrem Traumpferd Won Da Pie gewinnt Charlotte ein Springen! Und Simon, in den sie seit Langem verliebt ist, fragt sie, ob sie seine Freundin sein möchte. Charlotte schwebt im siebten Himmel! Bis es immer häufiger mit ihrer besten Freundin Doro zum Streit kommt. Ist sie eifersüchtig? Auf Simon? Oder auf Katie, mit der Charlotte sich inzwischen richtig gut versteht? Als Doro im Stall beinahe einen schweren Unfall verursacht, kracht es zwischen den beiden Mädchen endgültig. Und Charlotte weiß nicht mehr: Wem kann sie noch vertrauen?

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Es war noch dunkel und die Luft war frisch, als Doro und ich die lange Auffahrt des Reitstalls entlanggingen. Die letzten Sterne leuchteten am Himmel, aber im Osten graute schon der Morgen herauf und die Vögel hatten ihr Frühkonzert angestimmt. Mitten im Hof stand der große silberne Pferdetransporter mit heruntergelassener Verladerampe im hellen Lichtschein des Strahlers über der Stalltür und ich wurde ganz nervös bei der Vorstellung, dass ich gleich mein Pferd diese Rampe hinaufführen sollte. Heute war der Tag, auf den ich hingefiebert hatte, seitdem unser Reitlehrer Herr Weyer mich vor zwei Monaten auf der Stallgasse gefragt hatte, ob ich einen Reitausweis besäße: Denn ich sollte mit Won Da Pie mein allererstes Turnier reiten, gleich ein A-Springen und ein L-Springen, und das nicht etwa auf einem unbedeutenden Vereinsturnier, sondern beim großen Osterturnier in Bischofsheim.

»Ich bin echt aufgeregt«, gestand ich meiner besten Freundin. »Aber ich freu mich auch total!«

»Ich beneide dich!«, erwiderte Doro. »Beim nächsten Turnier reite ich auch.«

Doro hatte sich vor ein paar Wochen den Arm gebrochen und deshalb eine Weile nicht reiten und trainieren können, aber dennoch war geplant gewesen, dass sie mit Cornado, ihrem Schimmelwallach, in Bischofsheim zwei A-Springen reiten sollte. Vor drei Tagen hatte sie jedoch verkündet, ihr Arm täte noch immer weh und ihre Eltern hielten es für vernünftiger, auf einen Turnierstart zu verzichten. Das hatte mich ziemlich überrascht, denn eigentlich war Doro viel ehrgeiziger als ich und hatte es kaum erwarten können, zum ersten Mal auf einem Turnier zu reiten.

»Hoffentlich ist dein Arm bis dahin okay«, sagte ich. »Ich find’s auf jeden Fall cool, dass du mitkommst.«

»Ich würde mir doch niemals deinen ersten Turnierstart entgehen lassen!« Doro grinste. »Du brauchst ja irgendjemand, der die ganzen Pokale nach Hause schleppt.«

»Na ja, gewinnen werde ich wohl kaum. Da reiten eine Menge Leute mit, die wahnsinnig viel Erfahrung haben. Ich bin schon zufrieden, wenn ich durchs Ziel komme, ohne Wondy und mich zu blamieren.«

Das stimmte nicht ganz. Insgeheim hatte ich mir schon oft vorgestellt, wie der Turnierrichter Won Da Pie bei der Siegerehrung die goldene Schleife an die Trense heftete und ich lässig lächelnd die Ehrenrunde im Galopp anführte. Aber diese Tagträume verriet ich nicht einmal meiner besten Freundin, die sonst fast alles von mir wusste.

Won Da Pie, der in einer der Außenboxen stand, hatte mich in der Dunkelheit erspäht und wieherte laut. Diese freudige Begrüßung machte mich jeden Tag glücklich, auch wenn mein Bruder behauptete, Wondy würde sich nicht über mich freuen, sondern wegen der Möhre, die ich ihm immer mitbrachte.

»Ich komme sofort!«, rief ich meinem Pferd zu.

Noch vor einem Jahr war ich ein Riesenangsthase gewesen. Schon zwei Tage vor einer Springstunde hatte es mir den Appetit verschlagen und ich war mit schlotternden Knien in den Reitstall gelaufen – beinahe so, als ob ich zu meiner Hinrichtung ginge. Während sich Doro immer auf die Reitstunden gefreut hatte, war mir jedes Mal schlecht gewesen. Niemals hätte ich das zugegeben, aber ich hatte mich schrecklich davor gefürchtet, die Schulpferde Hanko, Farina oder gar den hinterhältigen Flocki reiten zu müssen, die fies buckeln konnten und das auch gerne taten. Unser ehemaliger Reitlehrer Kessler hatte das gewusst und mich meistens für meine Lieblingspferde Goldi, Tanja oder Liesbeth eingeteilt. Alex, der Sohn des zweiten Vorsitzenden unseres Vereins, der hin und wieder die Reitstunden gab, wenn Herr Kessler verreist oder krank war, hatte mir hingegen mit Vorliebe die Schulpferde zum Reiten gegeben, vor denen ich mich zu Tode fürchtete.

Diese Angst hatte ich erst dank Won Da Pie besiegt, von dem ich in den letzten Monaten unglaublich viel gelernt hatte. Der braune Wallach war temperamentvoll und sensibel, und obwohl ich schon oft genug von ihm heruntergefallen war, hatte ich Vertrauen zu ihm. Seitdem ich ihn besaß und jeden Tag reiten konnte, fürchtete ich mich nicht mehr vor dem Springen, im Gegenteil – ich liebte es mittlerweile, denn mein Pferd konnte fantastisch springen und störte sich nicht daran, wenn ich mal einen Fehler machte. Die Albträume, die mich früher regelmäßig nachts heimgesucht hatten, blieben schon seit Monaten aus.

Doro und ich betraten den Stall.

»Guten Morgen!«, rief Katie, die Asset, ihren Fuchswallach, auf der Stallgasse angebunden hatte und gerade die Strohhalme aus seinem Schweif zupfte. »Na, gut geschlafen?«

Sie trug schon ihre weiße Reithose, hatte aber zum Schutz vor Flecken eine pinkfarbene Jogginghose drübergezogen.

»Hey«, erwiderte ich. »Klar, wie ein Stein.«

Katie von Richter und ihr Bruder Sven waren schon in ihrem ehemaligen Stall Schüler unseres neuen Reitlehrers gewesen, und als Herr Weyer im Januar im Bad Sodener Reitverein angefangen hatte, waren sie mit ihren Pferden Asset und Star Appeal hergekommen. Ich hatte die beiden von Anfang an nicht leiden können, denn sie hatten sich furchtbar arrogant benommen und alles, was uns an unserem Reitstall gefiel, miesgemacht. Ihre Mutter, der Doro den heimlichen Spitznamen »Dragon-Mum« verpasst hatte, hatte ständig versucht, ihren Kindern irgendwelche Vorteile zu verschaffen. Doch eines Tages hatte ich Katie dabei überrascht, wie sie im Umkleideraum auf dem Boden gesessen und geheult hatte, und da hatte ich begriffen, wie unglücklich sie eigentlich war. Sie hatte keine Freunde und hasste es, dass sich ihre Mutter in alles einmischte und sich damit unbeliebt machte. Ich hatte ihr vorgeschlagen, bei unserem Ritt durch die Stadt mitzumachen und am Tag der offenen Tür hatten Thierry, Katie und ich mit unseren Pferden eine Springvorführung gegeben. Sie war sogar mit zur Stadtverordnetenversammlung gegangen, auf der über das Schicksal unseres Reitstalles entschieden worden war! Seitdem war sie wie verwandelt und wir hatten festgestellt, dass sie eigentlich total nett war. Ihr Bruder Sven, den wir Draco nannten, war nie gerne geritten und hatte schließlich den Mut gefunden, das seiner Mutter zu sagen. Und als die von Richters eine Reitbeteiligung für Svens Pferd »Schtari« gesucht hatten, hatte ich ihnen Simon Orthmann empfohlen. Simon! Wenn ich an ihn dachte, bekam ich unwillkürlich Herzklopfen.

»Ah, da seid ihr ja! Guten Morgen!« Dragon-Mum kam mit einem Becher Kaffee in der Hand aus der Sattelkammer und warf einen Blick auf ihre Uhr. »In einer halben Stunde müssen wir verladen.«

»Alles klar, wir beeilen uns«, erwiderte ich.

Gestern Abend hatten Katie und ich bereits das Sattelzeug und unsere Turnierklamotten in den Lkw gepackt, sodass wir heute Morgen nur noch die Pferde putzen und verladen mussten. Katie, die schon seit Jahren auf Turnieren startete, hatte uns auch schon via Internet für unsere Prüfungen eingetragen.

Won Da Pie schnaubte und stupste mich an, als ich die Tür seiner Box öffnete und ihm das neue Lederhalfter überstreifte, das ich extra für die Fahrt zum Turnier gekauft hatte. Seine schönen dunklen Augen blitzten unternehmungslustig.

»Ob er weiß, dass heute ein besonderer Tag ist?«, fragte ich Doro.

»Ganz sicher!« Meine Freundin nickte. »Er hat den Lkw gesehen und er spürt bestimmt, wie aufgeregt du bist. Außerdem haben wir ihn gestern eingeflochten.«

»Hoffentlich lässt er sich verladen und macht kein Theater!« Ich führte ihn aus seiner Box in die Schmiedeecke und band ihn dort an, dann nahm ich ihm seine Decke ab. Doro kontrollierte die Zöpfchen, die alle noch perfekt aussahen.

»Wenigstens hat er heute Nacht wohl auch gut geschlafen«, stellte ich fest. »Sein Schweif ist voller Stroh.«

Ich bürstete Won Da Pies Fell, das nach dem Scheren vor ein paar Wochen wieder ein wenig nachgewachsen war und herrlich glänzte. Dann kratzte ich die Hufe aus, fettete sie ein und versuchte, die neuen dunkelblauen Bandagen mit den wattierten Unterlagen an seinen Beinen zu befestigen, aber das gelang mir nicht, denn mein Pferd wollte keine Sekunde still stehen. Ich war nach ein paar Minuten schweißgebadet.

»Ich krieg’s nicht hin«, keuchte ich und wischte mir die Haare aus dem Gesicht. »So ein Mist!«

»Warte, ich helfe dir.« Dragon-Mum tauchte wie aus dem Nichts in der Schmiedeecke auf. Sie klopfte Won Da Pie den Hals und band ihn los. »Halte ihn einfach nur fest.«

Ich gehorchte und beobachtete staunend, wie schnell und gekonnt Katies Mutter mein Pferd einbandagierte. Sie konnte einfach alles und das doppelt so schnell wie andere Menschen.

»So. Jetzt kann er sich nicht verletzen, wenn er auf dem Transporter unruhig werden sollte.«

Dann fiel ihr Blick auf mich und ein Ausdruck der Missbilligung flog über ihr Gesicht.

»Charlotte, du siehst ungepflegt aus«, sagte sie und ich fühlte mich prompt wie ein Schmuddelkind. »Komm, ich flechte dir einen Zopf.«

Doro grinste spöttisch und wandte sich ab. Katies Mutter schnappte sich die Schweifbürste und löste das Haargummi aus meinem Pferdeschwanz, der eigentlich keiner war. Mit energischen Strichen bürstete sie mein dunkelblondes Haar durch, dann flocht sie mir in Windeseile einen Zopf.

»Autsch!«, protestierte ich. »Das ist viel zu straff! Ich kann ja kaum noch meine Augenbrauen bewegen.«

»Das musst du auch nicht«, erwiderte sie, begutachtete kritisch ihr Werk und war zufrieden.

»Danke«, murmelte ich. »Es ist total nett, dass Sie mich und Wondy mit aufs Turnier nehmen und dafür extra so früh losfahren.«

Mein A-Springen fing nämlich schon um neun Uhr an, Katie war jedoch erst um zwei Uhr mittags dran.

»Kein Thema. Jetzt leg deinem Pferd noch die Abschwitzdecke auf und mach den Deckengurt drüber, dann können wir verladen.« Und schon marschierte sie davon.

»Charlotte, du siehst ungepflegt aus«, äffte Doro sie nach, als sie außer Hörweite war. »Die hat sie wohl nicht mehr alle! Ich hätte mir von der keinen Zopf flechten lassen!«

Sie schüttelte ihre Locken und schnaubte empört.

»Verglichen mit Katie sehe ich wirklich schlampig aus«, gab ich zu und warf Won Da Pie die hübsche graue Decke über, die ich ebenfalls neu gekauft hatte. »Ich verstehe gar nicht, wie sie es schafft, immer picobello auszusehen! Ich muss nur den Stall betreten, schon habe ich schwarze Fingernägel und überall Flecken.«

»Simon findet dich auch so toll«, entgegnete Doro und sofort flatterten die Schmetterlinge in meinem Bauch. »Lass dir von der bloß nichts erzählen!«

Ich hatte die Verachtung in der Stimme meiner Freundin bemerkt, sagte aber nichts. Dabei fand ich den geflochtenen Zopf ziemlich cool und wünschte, ich wäre geschickter, um mir selbst auch mal andere Frisuren machen zu können als immer nur den langweiligen Pferdeschwanz.

Mittlerweile war es heller geworden. Die Vögel stimmten ihr Morgenkonzert an, der Misthaufen dampfte in der kühlen Luft des frühen Apriltages. Der nahe Wald verströmte jenen köstlich erdigen Geruch, der so typisch für den Frühling war. Ich fand, der Wald roch in jeder Jahreszeit anders, und ich würde die Nähe zum Wald schmerzlich vermissen, wenn der Reitstall auf die andere Seite der Stadt umzog. Es war nämlich der letzte Frühling, den wir hier mit den Pferden erlebten. Ende des Jahres sollte die neue Reitanlage fertig sein und dann würden hier die Bagger anrücken, um den alten Stall nach über sechzig Jahren abzureißen und Platz für irgendwelche Wohnblöcke zu schaffen.

Herr Weyer stand neben Frau von Richter vor der Stalltür, als ich mit Won Da Pie aus der Schmiedeecke kam.

»Viel Erfolg heute Morgen! Und denk an das, was ich dir gesagt habe. Das erste Springen ist ein Stil-Springen«, erinnerte er mich. »Heute Nachmittag komme ich nach Bischofsheim zum L-Springen.«

Katie führte Asset aus dem Stall und der Fuchs trottete gelassen neben ihr die ziemlich steile Verladerampe hoch. Er hatte das schon Hunderte von Malen gemacht und für ihn war eine Fahrt mit dem Transporter längst kein Abenteuer mehr. Won Da Pie hingegen machte wie befürchtet ein Riesentheater: Er wieherte und tänzelte, unter seinen Hufeisen stoben Funken, und er zerrte mich einfach hinter sich her. Wahrscheinlich spürte er meine eigene Nervosität.

»Hoho, gaaaanz ruhig!«, versuchte ich mein Pferd zu beruhigen, aber vergeblich.

»Lass mich das mal machen«, sagte Dragon-Mum und nahm mir den Führstrick aus der Hand. Sie ruckte einmal nachdrücklich daran, Won Da Pie besann sich prompt auf seine gute Erziehung und war mit einem Mal lammfromm. Bevor ich mir Sorgen darüber machen konnte, ob er wohl auf den Lkw gehen würde, polterte er schon gehorsam neben Katies Mutter die Rampe hoch. Katie klappte die zweite Trennwand hinter ihm zu und schob den Metallsplint in das dafür vorgesehene Loch.

»So, dann kann’s losgehen.« Frau von Richter hatte mein Pferd angebunden und verließ mit Katie den Lkw. Zusammen mit Herrn Weyer klappte sie die Verladerampe hoch.

»Also, sie kann ja sein, wie sie will, aber deine Mutter ist echt ’ne Pferdeflüsterin«, bemerkte ich beeindruckt.

»Na ja.« Katie zuckte mit den Schultern und grinste schief. »Sie hat halt schon oft Pferde verladen.«

»Kommt, Mädels, einsteigen! Los geht’s!« Dragon-Mum klatschte in die Hände und wir kletterten in das große Führerhaus. Wenig später rumpelten wir die Auffahrt hinunter.

Katie saß auf dem Beifahrersitz, Doro und ich hatten es uns auf einer Bank in der luxuriösen Wohnkabine bequem gemacht. Hier gab es eine kleine Küchenzeile mit Kühlschrank, Spülbecken, Mikrowellenherd, Kochplatte und einer Kaffeemaschine, dazu eine gemütliche Sitzecke mit einem Tisch und sogar einen Fernseher! In einem der Einbauschränke hingen unsere Reitjacketts. Da ich selbst keines besaß, hatte Katie mir großzügig angeboten, ich könne eines ihrer alten Jacketts ausleihen, denn sie besäße einen ganzen Haufen in allen möglichen Farben. Ich hatte sie alle probiert und mich für ein dunkelgraues Jackett entschieden, das mir wie angegossen passte.

An einer Schnur an der Wand waren unzählige Schleifen in allen Farben von Gold bis Grün aufgereiht, und die meisten von ihnen hatte Katie errungen. Ihr Bruder war längst nicht so erfolgreich wie sie, obwohl Star Appeal auch ein sehr gutes Pferd war. Durch eine Tür konnte man von der Wohnkabine aus das Pferdeabteil betreten, aber vorne am Armaturenbrett befand sich auch ein Monitor, auf dem man die Pferde beobachten konnte. Won Da Pie war ein bisschen unruhig, obwohl Frau von Richter bei der Fahrt durch Bad Soden jede Kurve extrem langsam nahm.

»Soll ich die Adresse ins Navi eingeben?«, fragte Katie.

»Kannst du machen«, erwiderte Dragon-Mum. »Ich kenne die Strecke zwar, aber dann haben wir eine genaue Ankunftszeit.«

Katie tippte die Adressdaten des Turnierplatzes in das Navigationsgerät ein und widmete sich danach ihrem Smartphone. Sie konnte auf die Webseite des Turnierbüros gehen, das die Organisation der Veranstaltung übernommen hatte, und dort die Startlisten für die Springprüfungen abrufen.

»Ich glaub’s nicht!«, rief sie nach einer Weile. »Diese blöde Johanna Messner reitet den Aquino im L! Das ist ja wohl echt das Letzte!«

»Wieso?«, fragte Doro neugierig.

»Aquino wird normalerweise von Johannas Vater geritten.« Katie drehte sich zu uns um. »Und der hat mit dem Pferd schon S-Springen gewonnen.«

»Wenn die Prüfung so ausgeschrieben ist, dass sie das Pferd dort reiten darf, dann ist das auch okay«, sagte Dragon-Mum.

»Johanna hasst mich«, behauptete Katie und kicherte. »Ich war letztes Jahr in jedem Springen vor ihr platziert, da hat sie wohl keinen Bock mehr drauf, deshalb reitet sie jetzt Aquino. Aber Asset ist viel schneller als dieses Riesenschiff!«

»Kennst du ein paar von den anderen Reitern?«, erkundigte ich mich und bewegte meine Augenbrauen, um den Zopf etwas zu lockern.

»Ja, ich kenn die alle«, antwortete Katie, ohne den Blick von ihrem Handy zu heben. »Immerhin verbringen wir seit Jahren fast jedes Wochenende auf irgendeinem Turnier. Irgendwann kennt man jeden Reiter, jedes Pferd und jeden Richter aus der Gegend.«

»Aha.«

»Im Stil-A richten übrigens der Werner und der Kirchberg, zwei Opas mit Brillengläsern dick wie Sektflaschenböden«, sagte sie mit einem verächtlichen Unterton. »Die muss man nur ganz lieb anlächeln beim Grüßen, dann hat man schon fast gewonnen, wenn man nicht gerade vom Pferd fällt.«

»Also wirklich, Katharina!«, tadelte Dragon-Mum ihre Tochter. »Der Herr Werner ist höchstens sechzig und kein Opa!«

»Bin mal gespannt, wie die die steile Treppe auf den Richterturm in Bischofsheim hochkommen. Und dann hocken sie da wie die zwei Opas in der Muppet Show!« Katie prustete los.

»Die beiden sind sehr korrekt und gerecht«, nahm Dragon-Mum die Richter in Schutz. »Ich weiß gar nicht, warum du so schlecht über sie redest. Du hast von ihnen immer gute Noten bekommen.«

»Was auf Turnieren auch extrem wichtig ist, ist das Futter.« Katie beachtete den Einwand ihrer Mutter nicht und steckte ihr Smartphone weg.

»Futter? Für die Pferde?«, fragte ich erstaunt.

»Nein, Quatsch! Das Essen.« Katie lachte. »Wenn man drei Tage lang von morgens bis abends auf einem Turnier rumhängt und es gibt nur fettige Bratwurst, Pommes, Kartoffelsalat aus dem Eimer und Mettbrötchen, bei denen einem die Fleischfetzen den ganzen Tag zwischen den Zähnen hängen, dann ist das grausam.«

Über so etwas hatte ich gar nicht nachgedacht.

»Deshalb habe ich immer was Anständiges zu essen dabei«, warf Dragon-Mum ein. »Viel wichtiger sind aber die äußeren Bedingungen: die Qualität der Böden auf Turnier- und Abreiteplatz, die Parkmöglichkeiten und die ganze Infrastruktur eines Turniers. Die Reitanlage in Bischofsheim liegt zwar nicht sehr idyllisch, aber ganz in der Nähe der Autobahn. Und die Turnierhalle ist größer als mancher Außenreitplatz.«

»Hoffentlich lassen sie einen wieder auf dem Reitplatz parken und nicht auf irgendeiner nassen Wiese«, bemerkte Katie. »Vor zwei Jahren mussten sie nämlich die Lkws mit einem Traktor auf den matschigen Acker ziehen und abends wieder raus. Ihr könnt euch vorstellen, wie alles ausgesehen hat: die Stiefel, die Pferde, das Sattelzeug und der Lkw, alles war total verschmoddert.«

Frau von Richter fuhr beim Main-Taunus-Zentrum auf die Autobahn Richtung Wiesbaden und Won Da Pie beruhigte sich, weil es nur noch geradeaus ging.

Ich hatte schon oft erlebt, wie Isa oder Nicole mit ihren Pferden auf ein Turnier gefahren sind. Hin und wieder hatten Alex oder Gunther sie mit dem uralten Vereins-Lkw gefahren, meistens verluden sie die Pferde jedoch auf einen Pferdehänger. Auch Herr Lauterbach, dem mein Pflegepferd Gento gehört hatte, war im Sommer an beinahe jedem Wochenende auf irgendein Reitturnier gefahren und ich hatte immer davon geträumt, das auch eines Tages tun zu dürfen. Nun war es endlich so weit und es war so ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Frau von Richter und Katie unterhielten sich während der Fahrt über so unspektakuläre Dinge wie einen lang verschollenen Lieblingspullover, der zufällig im Sack für die Altkleidersammlung aufgetaucht war, über Jacketts, die noch bei der Reinigung abgeholt werden mussten, und über einen Nachbarn, der seine gelben Säcke immer zu früh auf den Bürgersteig stellte, sodass sie von Elstern und Krähen aufgepickt wurden und der ganze Müll auf der Straße herumflog.

Von Nervosität wegen des bevorstehenden Turniers war beiden nichts anzumerken. Ich war verwundert, ja, fast ein wenig enttäuscht darüber, wie gleichgültig den von Richters alles zu sein schien. Aber dann begriff ich, dass das, was für mich den absoluten Höhepunkt meines bisherigen Lebens als Reiterin bedeutete, für Katie und ihre Mutter längst zu einer alltäglichen Routine geworden war. Es war so ähnlich wie bei meinem großen Bruder Phil, der früher an beinahe jedem Wochenende zu Fußballspielen gefahren war. Eine ganze Weile war jedes Mal ein großes Trara darum gemacht worden, am Kühlschrank in der Küche hatte unübersehbar ein Spielplan der Jugendmannschaft gehangen, in den Phil akribisch jedes Ergebnis eingetragen hatte. Er hatte die ganze Familie nach einem Spiel mit ausführlichen Berichten über die Fahrt, den Zustand des Platzes, den Spielverlauf und jede Schiedsrichterentscheidung genervt, aber irgendwann hatte er nur noch beiläufig erwähnt, dass er wieder ein Spiel habe. Der Saisonspielplan war an das Pinnbrett im Flur gewandert, wo er zwischen einem Dutzend anderer Zettel im Laufe der Saison verschwand, und wenn man Phil abends fragte, wie das Spiel gelaufen wäre, antwortete er wortkarg. 2:1 gewonnen oder 3:2 verloren und das war’s.

Kein Zweifel, mein Bruder hatte das Fußballspielen immer geliebt und viel trainiert, aber im Laufe der Zeit war es für ihn ein normaler Bestandteil seines Lebens geworden. Ob es mir eines Tages auch so gehen würde? Würde ich, wie Katie, auch so oft auf Turniere fahren, dass es nichts Besonderes mehr war?

Mein Handy gab einen Piepston von sich und ich zuckte zusammen. Aber zu meiner Enttäuschung war es nur eine Nachricht von Mama, die mir viel Glück wünschte. Papa und sie wollten zusammen mit meinen jüngeren Geschwistern heute Nachmittag aufs Turnier kommen.

»Und? War er das?«, flüsterte Doro neugierig.

»Nein, nur meine Mutter«, erwiderte ich und tippte eine rasche Antwort. »Sie kommen heute Nachmittag. Meinst du, sie fragt mal nach, wie Wondy sich hat verladen lassen oder wie er sich auf dem Lkw benimmt? Kein Wort! Das interessiert sie überhaupt nicht!«

»Unsere Eltern haben eben keinen blassen Schimmer von Pferden«, antwortete meine Freundin. »Und ich bin echt froh darüber. Stell dir mal vor, wir müssten mit denen zum Turnier fahren oder sie wären andauernd im Stall, so wie Dragon-Mum! Das würde mir ganz schön stinken!«

»Stimmt auch wieder.« Ich steckte mein Handy weg, nachdem ich noch einmal gecheckt hatte, ob ich nicht eine Nachricht von Simon übersehen hatte. Leider nein. Er hatte mir heute noch nicht geschrieben und das wunderte mich, denn er wusste doch, dass es für mich ein ganz besonderer Tag war. Andererseits war er nicht verpflichtet, mir zu schreiben. War er vielleicht sauer, weil ich ihn nicht gefragt hatte, ob er mitfahren wollte?

Während ich mir darüber den Kopf zerbrach, setzte Dragon-Mum den Blinker und wir fuhren von der Autobahn ab. Wenig später bog sie hinter einem Auto mit Pferdehänger und einem anderen Lkw in den Feldweg ein, der zur Bischofsheimer Reitanlage führte.

»Sehr gut«, bemerkte Katie zufrieden. »Man darf in diesem Jahr wohl auf dem Springplatz parken.«

»Oh Mann!«, rief Doro beim Anblick der vielen Pferdetransporter, die bereits da waren. »Hier ist ja die Hölle los!«

»Irgendwo müssen ja die 132 Starter im A-Springen herkommen«, entgegnete Katie trocken. »Aber in Bischofsheim ist immer viel los. Es ist das erste größere Turnier der Saison und die Halle ist gigantisch. Da reitet jeder gerne.«

»Ich glaub, mir wird schlecht«, murmelte ich.

»Ach Quatsch!«, rief Katie munter und öffnete die Tür, als der Lkw zum Stillstand kam. »Schnapp dir dein Jackett und die Kappe! Wir gehen jetzt erst mal den Parcours ab.«

Zusammen öffneten wir die Verladerampe und Wondy wieherte sofort schrill. Er versuchte, über die Trennwand zu schauen und scharrte mit dem Vorderhuf.

»Gleich bist du dran, mein Schöner«, vertröstete ich ihn. »Hab noch etwas Geduld.«

Überall um uns herum wurden Pferde ausgeladen und gesattelt, einige Reiter machten sich bereits auf den Weg in die Abreitehalle. Wir blieben vor einem Wohnwagen stehen, in dem die Meldestelle untergebracht war, und Katie besorgte eine Starterliste.

»Vielleicht sollten wir auch schon mal satteln«, sagte ich unsicher.

»Jetzt ist es halb neun«, beruhigte mich Katie und reichte mir die Liste. »Die Prüfung beginnt um neun und du bist die 26. Starterin in der ersten Abteilung. Du hast also noch jede Menge Zeit.«

Es war ein toller Anblick, meinen Namen auf der Liste zu lesen! Doro und ich folgten Katie und Dragon-Mum in eine große Halle, die normalerweise zum Putzen der Pferde genutzt wurde. Es gab ein Solarium für Pferde und eine Waschecke. Während des Turniers waren hier jedoch Verkaufsstände aufgebaut, eine provisorische Küche und viele Tische und Bänke, an denen schon Leute saßen, Kaffee tranken und frühstückten. Einige von ihnen grüßten Katie und ihre Mutter.

»Ich hole mir einen Kaffee«, sagte Dragon-Mum. »Schaut ihr euch den Parcours an.«

»Alles klar.« Katie nickte, dann knuffte sie mich in die Seite. »Zieh das Jackett an und setz die Kappe auf. Den Parcours darf man nur im ›korrekten Reitanzug‹ besichtigen, wie es so schön heißt.«

Ich wurschtelte mich aus meiner Jacke und schlüpfte in das graue Jackett. Die Kappe passte dank des Zopfes viel besser als sonst und rutschte nicht mehr.

»Ah, da ist übrigens der Kirchberg«, zischte Katie. »Pass auf, der steht auf mich!«

Sie knipste ein strahlendes Lächeln an.

»Hallo, Herr Kirchberg!«, sagte sie zu einem älteren grauhaarigen Herrn in einem karierten Sakko.

»Hallo, Katie«, antwortete der Richter freundlich. »Na, seid ihr gut über den Winter gekommen?«

»Ja, alles fit.« Sie strahlte. »Unsere Pferde stehen seit Anfang des Jahres in Bad Soden.«

»Davon habe ich schon gehört.« Richter Kirchberg lächelte. »Und auch von der großartigen Aktion zur Rettung des Reitstalls. Wirklich toll, was die jugendlichen Vereinsmitglieder auf die Beine gestellt haben. Aber was machst du so früh hier? Im Stil-A wirst du ja wohl nicht reiten, oder?«

»Nein, ich nicht.« Katie legte den Arm um meine Schulter. »Aber meine Freundin Charlotte Steinberg. Es ist heute ihr erstes Turnier! Sie war es übrigens, die den Ritt durch die Stadt und die Spende von einer Million Euro für die neue Reitanlage organisiert hat.«

»Ach, du bist das!« Der Richter musterte mich neugierig durch seine dicken Brillengläser, und ich spürte, wie mir unwillkürlich das Blut ins Gesicht schoss. »Mein Freund Herrmann Stark hat mir alles über das große Engagement der Jugendlichen erzählt. Na, du scheinst ja eine couragierte junge Dame zu sein.«

Doro, die mit meiner Jacke über dem Arm hinter der Bande stand, verzog das Gesicht und grinste.

»Äh … na ja … ja«, druckste ich verlegen herum – obwohl ich normalerweise nicht gerade auf den Mund gefallen war. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass hier auf dem Turnier jemand darüber Bescheid wusste.

»Wir müssen jetzt den Parcours abgehen«, sagte Katie und hakte sich bei mir ein.

»Ja, tut das mal«, erwiderte Herr Kirchberg. »Viel Erfolg bei deinem ersten Turnier, Charlotte.«

»Da… danke«, stotterte ich und taumelte benommen neben Katie her in die Reitbahn, in der schon viele andere Reiter zwischen den bunten Hindernissen unterwegs waren und die Abstände zwischen den einzelnen Sprüngen abmaßen.

»Sag mal, spinnst du?«, zischte ich Katie zu.

»Lief doch super«, erwiderte sie und kicherte leise. »Beim Kirchberg hast du jetzt schon mal gute Karten. Und er wird gleich seinen Kollegen erzählen, wer du bist.«

»Aber wenn ich mich blamiere?« Ich blieb stehen. »Dann werden sie alle über mich lachen und …«

»Du blamierst dich nicht!«, unterbrach Katie mich ganz im Tonfall ihrer Mutter. »Won Da Pie ist ein super Pferd und du bist mit ihm schon oft genug vor sehr viel mehr Publikum geritten als hier! Denk doch nur an deine Vorführung bei der Willkommensfeier für den Weyer und an unsere Ritte beim Tag der offenen Tür.«

Ich blickte mich in der Halle um, die mindestens so groß war wie der Springplatz bei uns zu Hause, und atmete tief durch.

»Du hast recht«, sagte ich entschlossen. »Ich blamiere mich nicht!«

»So ist’s richtig.« Katie nickte. »Und jetzt komm. Hier ist der Start und der rot-weiße Oxer dort ist Sprung Nummer eins!«

Ich ging mit ihr von Hindernis zu Hindernis und hörte aufmerksam auf das, was sie mir sagte. Im Vergleich zu dem, was ich mit Wondy zu Hause gesprungen war, waren die Hindernisse ziemlich niedrig, aber das war nicht unbedingt ein Vorteil, denn mein Pferd neigte dazu, niedrige Sprünge nicht ernst zu nehmen. Wir beendeten unseren Rundgang, Doro erwartete uns am Einritt und reichte mir meine Jacke mit einer angedeuteten Verbeugung.

»Und?«, erkundigte sie sich. »Ist es schwierig?«

»Nicht besonders«, antwortete ich. »Mal sehen, wie Wondy die Halle findet und die bunten Plakate an der Bande.«

»Mach dir einfach nicht so viele Gedanken«, riet Katie mir. »Turnierreiten macht Spaß! Und selbst wenn man nicht gewinnt, ist es ein super Training.«

»Nicht zu fassen, solche Worte aus deinem Mund zu hören, Katie«, sagte jemand und wir drehten uns um. Vor uns stand ein dünnes dunkelhaariges Mädchen in weißen Reithosen, die Hände in den Taschen einer knallorangefarbenen Daunenjacke und grinste spöttisch. Sie trug Burberry-Kniestrümpfe und Uggs statt Reitstiefeln und sie hatte ihre Augen so stark geschminkt, als ob sie auf dem Weg zu einer Party wäre.

»Hi, Johanna«, sagte Katie und lächelte zuckersüß. »Reitest du jetzt etwa auch das Stil-A?«

Das musste die Johanna sein, von der Katie vorhin auf der Fahrt behauptet hatte, sie würde sie hassen!

»Nein, aber meine kleine Schwester«, entgegnete das Mädchen herablassend. »Ich reite später das L und morgen das M.«

»Wie schön – ich nämlich auch! Dann sehen wir uns ja noch.«

Die beiden lächelten sich kühl an, und es war nicht zu übersehen, dass sie sich nicht ausstehen konnten.

»Ich hab gehört, ihr seid mit Weyer in den Stall nach Bad Soden gezogen«, fuhr Johanna fort. »Soll ja ein echt übles Dreckloch sein. Kann man in der Mini-Halle überhaupt richtig trainieren?«

Ich öffnete schon meinen Mund, um dieser arroganten Ziege ein paar Takte zu erzählen, aber Katie kam mir zuvor.

»Du wirst es schon sehen«, sagte sie so überheblich wie damals, als sie zum ersten Mal bei uns im Stall aufgetaucht war. »Asset war auf jeden Fall noch nie besser drauf als im Moment.«

»Da bin ich ja mal gespannt.« Johanna zog mindestens genauso überheblich die Augenbrauen hoch und stakste davon.

»Wer ist denn die verhungerte Bohnenstange?«, fragte Doro.

»Die blöde Nuss ist meine ganz spezielle Freundin Johanna Messner.« Katie verdrehte die Augen und schnaubte. »Habt ihr die Jacke gesehen? Die ist von Napapijri, kostet mindestens dreihundert Euro!«

Doro und ich interessierten uns nicht sonderlich für Klamotten und zuckten unbeeindruckt die Schultern.

»Na ja, egal. Ihren Eltern gehört der Platanenhof in Bad Homburg«, fuhr Katie fort. »Wir hatten auch mal unsere Pferde bei denen stehen und Herr Weyer hat dort Unterricht gegeben. Aber die Messners sind total ätzende Besserwisser, dauernd gab es wegen irgendetwas Stress. Vor einem Jahr sind vierzehn Einsteller mit dreiundzwanzig Pferden auf einmal dort ausgezogen und die Messners geben bis heute Herrn Weyer die Schuld daran.«

»Wieso das denn?«, wollte Doro erstaunt wissen.

»Weil wir alle zusammen mit dem Weyer in einen anderen Stall gegangen sind.« Katie grinste spöttisch. »Seitdem hat Messners Anlage voll den üblen Ruf und steht halb leer.«

Die Reiterinnen und Reiter verließen die Halle, jemand schloss die Bandentür. Die erste Starterin kam in die Bahn getrabt.

»Es geht los und ich hab noch nicht mal gesattelt!«, rief ich erschrocken. »Wir müssen uns beeilen!«

»Nein, wir schauen bei den ersten drei Startern zu.« Katie war die Ruhe selbst. »Nach dem sechzehnten Starter gibt es eine Pause, damit der Boden glatt gezogen werden kann, und dann hast du noch mal zehn vor dir. Keine Panik.«

Sie hatte leicht reden! Ich war das reinste Nervenbündel. Wäre ich mit meinen Eltern hierhergefahren, hätte ich sofort nach unserer Ankunft hektisch mein Pferd gesattelt und mit dem Abreiten begonnen. Ganz sicher hätte ich vergessen, den Parcours abzugehen und über eine Stunde mein Pferd abgeritten, bis es vor Erschöpfung jeden Sprung umgerissen hätte.

Die ersten beiden Reiter hatten jeweils Fehler und bekamen Wertnoten im Fünferbereich. Die dritte Reiterin ritt sehr schön und gleichmäßig und wurde mit einer 7,5 belohnt.

»Wow«, sagte ich. »Das schaffe ich nie.«

»Falsche Einstellung«, tadelte mich Frau von Richter, die plötzlich hinter uns stand. »Du solltest sagen: Wow, das war toll! Genauso will ich das auch machen. Kommt, Mädchen, wir gehen satteln.«

»Hör auf meine Mom.« Katie grinste schief. »Autosuggestion ist ihre große Stärke.«

»Auto... was?«, fragte ich und wechselte einen Blick mit Doro.

»Autosuggestion. Selbstbeeinflussung«, erklärte Katie leise. »Positives Denken und so was. Klingt zwar ein bisschen freaky, aber es klappt. Schaut euch meine Mutter an. Die Frau kriegt einfach alles hin. Daneben fühlt man sich ziemlich mickrig.«

In ihrer Stimme lag Bewunderung, aber auch Resignation. Es musste einen ziemlich unter Druck setzen, eine so perfekte Mutter zu haben.

Won Da Pie ließ sich brav die Rampe herunterführen und stand still wie ein Denkmal, als Doro und ich ihm die Bandagen von den Beinen wickelten. Katie nahm die Decke ab, ich legte meinem Pferd die hellgraue Turnierschabracke und den Sattel auf den Rücken. Aus dem Fundus an Sattelzeug, den die von Richters in der Sattelkammer des Lkw lagerten, bekam Wondy ein elastisches Vorderzeug mit Martingal verpasst, an dem Katie die Startnummern befestigte. Ich schnallte die Gamaschen an die Vorderbeine und Doro wischte noch einmal das glänzende Fell mit einem Mikrofasertuch ab.

»Er sieht einfach toll aus!«, bewunderte ich mein Pferd, das mit gespitzten Ohren den ganzen Trubel ringsum neugierig beobachtete.

»Absolut!«, bestätigte Katie. »Wo ist bloß das Zottelmonster hin?«

Sie kicherte albern und ich drohte ihr spaßhaft mit dem Zeigefinger. Es war erst vier Monate her, dass Katie zum ersten Mal im Reitstall aufgetaucht war und Won Da Pie als »Zottelmonster« bezeichnet hatte – und sie hatte damit leider recht gehabt, denn er hatte im Winter ein unglaublich dickes Fell bekommen und wie ein Shetlandpony ausgesehen, nicht wie ein junges Warmblutpferd! Mich hatte das so tief gekränkt, dass ich ihn noch am selben Tag mit Isas Hilfe geschoren hatte. Und das war die beste Maßnahme überhaupt gewesen, denn seitdem schwitzte er kaum noch und ich musste ihn nach dem Reiten nicht endlos lang trocken reiten. Ich zog den Gurt fest, die Steigbügel herunter und schwang mich in den Sattel.

»Warte, Charlotte«, sagte Frau von Richter. »Ich will Won Da Pie noch eine rote Schleife in den Schweif binden.«

»Wieso das denn?«, fragte ich.

»Er keilt gerne aus«, erklärte sie. »Die rote Schleife signalisiert den anderen Reitern, dass sie Abstand halten müssen.«

»Okay …« Ich kam mir megaahnungslos vor, dabei hatte ich geglaubt, ich wüsste über Pferde inzwischen gut Bescheid! Ob ich mir wohl all das, was ich in den letzten zwei Stunden gelernt und gehört hatte, merken konnte?

Ich ritt im Schritt zur Abreitehalle hinüber. Frau von Richter, Doro und Katie folgten mir, Doro trug die Abschwitzdecke über dem Arm.

»Oh mein Gott!« Ich parierte erschrocken in der offenen Hallentür durch, als ich das Chaos sah, das in der Halle herrschte. »Da soll ich rein?«

Pferde trabten, galoppierten oder gingen Schritt, gleichzeitig sprangen Reiter über einen Steilsprung oder einen Oxer in der Mitte der Bahn.