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Anna Martach

Alpendoktor Daniel Ingold #4: Expedition ins Glück

Cassiopeiapress Bergroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Expedition ins Glück

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 4

von Anna Martach

 

Der Umfang dieses Buchs entspricht 101 Taschenbuchseiten.

 

Diesmal bekommt es Alpendoktor Daniel Ingold mit geradezu „unterirdischen“ Problemen zu tun. Gefühle geraten ins Rutschen, und so manche gute Absicht scheint verschüttet unter vergangenen Traumata. Wird die Erde im alpinen Hindelfingen am Ende wieder Ruhe geben?

 

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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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1

Jemand schrie. Bremsen kreischten, dann gab es einen Knall, und schließlich herrschte für einen Moment totale Stille. Danach setzte allerdings eine Art Inferno ein, Geräusche, die sich überlagerten, Stimmengewirr, laute Rufe – und dazwischen der gequälte Schrei eines verletzten Tieres.

„Einen Arzt, so hol’ doch jemand einen Tierarzt“, brüllte eine verzweifelte Männerstimme.

Aus dem Auto, das gerade den Unfall verursacht hatte und jetzt mit dem Kühler gegen ein Straßenschild gefahren war, stieg ein Mann aus. Er sah ausgesprochen zornig aus, und sein Blick richtete sich anklagend auf den anderen Mann, der am Boden neben einem großen Bernhardiner hockte und in einer verzweifelten Geste über das Fell des Hundes strich.

„Sind S’ eigentlich verrückt geworden?“, brüllte der Fahrer. „Wie können S’ mit Ihrem Köter einfach über die Straße laufen? Haben S’ mich denn net gesehen?“

Nur langsam hob der andere Mann den Kopf. „Jemand wie Sie sorgt schon dafür, dass man ihn net übersieht. Aber die Ampel war rot für Sie. Und nun haben S’ meinen Othello angefahren.“ Er brach ab und kämpfte mit den Tränen.

„Die Ampel stand net auf Rot, das hätt’ ich doch gesehen. Ich hab’ noch nie eine rote Ampel überfahren“, behauptete der Fahrer.

Doch die Menschenmenge, die sich hier bereits in kurzer Zeit gebildet hatte, starrte ihn feindselig an. Offenbar war seine Behauptung wohl doch nicht so ganz richtig, denn eine Stimme aus der Menge meldete sich zu Wort. „Ich hab’s auch gesehen, das Auto ist einfach weitergefahren.“

„Lügen tät’ Ihnen auch nix nutzen. Hier sind Zeugen, die alles gesehen haben.“ Der Mann mit dem Hund blieb ruhig bei seinem Tier sitzen.

„Schmarrn.“

„Lassen S’ mich durch, ich bin Tierärztin“, erklang eine helle Stimme. Bernie Brunnsteiner hatte gerade ein paar Besorgungen gemacht und kam jetzt zufällig richtig, um zu helfen. Sie warf dem Fahrer des Autos einen niederschmetternden Blick zu. Ihr war der ganze Vorgang klar, weil sie das laut geführte Gespräch gehört hatte.

„Leut’ wie Ihnen sollt’ man den Führerschein abnehmen. Erst Fehler machen, Mensch und Tier verletzen, und dann auch noch anderen die Schuld in die Schuhe schieben – pfui!“

„Was tät’ Ihnen denn einfallen?“ Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte der Mann sich auf Bernie stürzen, aber da hatte er nicht mit den Bewohnern von Hindelfingen gerechnet. Er hatte kaum eine Bewegung auf die Tierärztin zu gemacht, als auch schon drei Männer gegen ihn standen, die Fäuste erhoben und mit einem ausgesprochen unfreundlichen Ausguck in den Augen dafür sorgten, dass er zwei Schritte zurückwich.

„Lasst’s ihn, Burschen, macht’s euch net die Händ’ schmutzig. Der Obermayr Schorsch kann sich drum kümmern, ist ja schließlich seine Aufgabe als Polizist.“

Wie auf ein Stichwort hin kam der Streifenwagen auch schon angefahren. Bernie, die sonst immer nett und freundlich war, ärgerte sich maßlos über diesen rücksichtslosen Kerl. Der hatte doch tatsächlich jetzt auch noch die Stirn, auf die Uhr zu schauen, als wenn er damit sagen wollte, diese Angelegenheit stehle ihm die Zeit.

Na, der Obermayr würde ihn schon belehren, dass er jetzt Zeit haben musste.

Die junge Frau beugte sich über den großen Hund, der instinktiv zu wissen schien, dass jemand ihm helfen wollte.

„Gehen S’ bitte etwas an die Seite“, bat Bernie und schaute den Besitzer des Tieres erst einmal richtig an. Bestimmt war das einer der Touristen aus dem Feriendorf, denn dieses Gesicht kannte sie nicht, das war kein Einheimischer. Aber fesch schaute er aus, mit dunklen Augen und schwarzen Haaren, einem Grübchen am Kinn und kräftigen Händen.

„Ich tät’ aber gern bei ihm bleiben“, entgegnete er leise und strich seinem Hund wieder durch das Fell, als könnte er allein dadurch schon helfen.

„Lassen S’ mich erst mal schauen. Vielleicht ist ja alles gar net so schlimm. Wie heißt denn dieser prächtige Bursche eigentlich?“ Es handelte sich bei dem Bernhardiner wirklich um ein besonders schönes Tier, gut gepflegt und auch wohlerzogen, soweit man das jetzt schon sagen konnte. Er machte jedenfalls keine Anstalten, in Gegenwart seines Herrn die helfenden Hände der Tierärztin abzuwehren. Allerdings konnte Bernie sich auch gut vorstellen, dass dieses Tier mit aller Kraft zum Beispiel das Haus bewachen würde, wenn es allein war.

Allerdings war der Besitzer offensichtlich mehr aufgeregt als das verletzte Tier. Bernie wusste, dass oft genug die Halter der Tiere körperlich mit krank wurden, wenn ihrem Liebling etwas zugestoßen war. Eigentlich schaute dieser Mann nicht so aus, als hinge er mit einer derart übertriebenen Liebe an dem Bernhardiner, aber man konnte ja nie wissen.

„Othello Maximilian Reinhardt von der Gröben zu Drachenstein.“

Bernie lachte leise auf. „Da tät’ der Stammbaum ja länger sein als der Schwanz. Aber einen berühmten Namen hat er schon. Ist eine besonders gute Zucht. Othello also.“

Sie horchte gewissenhaft mit dem Stethoskop alles ab, bewegte die Glieder und lächelte den Besitzer dann aufmunternd an. „Ich glaub’, Ihr Othello hat eine Menge Glück gehabt. Da scheint’s eine ordentliche Prellung an den Rippen zu haben; und da an der Schulter, wo ihn wohl das Auto getroffen hat, ist eine hässliche Fleischwunde, die ich wohl besser nähen sollt’. Aber davon abgesehen macht der Hund einen guten Eindruck. Liegt natürlich auch daran, dass er selbst für einen Bernhardiner ein kräftiger Kerl ist.“

„Da dank ich Ihnen auch, Frau Doktor. Aber – ich mein – da werden S’ doch den Othello net hier draußen auf der Straße versorgen wollen ...?“

Verwirrt hielt der Mann inne, als Bernie lachte. „Das hatte ich eigentlich nicht vorgehabt. Wir bringen ihn in meine Praxis. Allerdings fürcht’ ich, da werden wir Hilfe brauchen, denn zwei Mannsleut’ sollten ihn schon tragen, wenn er net allein laufen kann.“

Der Bursche machte dem Tier ein Zeichen, es sprang auf und stand mit bebenden Flanken da. Bernie lächelte anerkennend.

„Na, kannst ja doch aufstehen. Und ich hatt’ mich schon ein bisserl gewundert. Bist ein feiner Kerl.“ Sie kraulte den Hund, dann aber richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Obermayr Schorsch, der es mit dem Unfallfahrer nicht so ganz einfach hatte. Der Polizeibeamte wurde von einem neuen Kollegen begleitet, frisch von der Polizeischule. Der stand nun ein wenig ratlos da, als der Fremde laut wurde und darauf bestand, dass er einen dringenden Termin habe. Davon ließ sich Schorsch allerdings nicht beeindrucken. Er war schon viele Jahre im Dienst und kannte alle Ausreden und Einwände, die es geben konnte.

„Wer es eilig hat, muss halt fünf Minuten früher fahren“, erklärte der Polizist gemütlich. „Jetzt nehmen wir erst mal einen Unfallbericht auf, vermessen die Unfallstelle und machen ein Protokoll. Zeugen haben wir auch, die täten wir dann auch noch fragen müssen. Und einen Verletzten tät’s auch geben.“

„Einen Hund.“ Das kam dermaßen abfällig, dass der Obermayr unwillig aufschaute.

„Und wenn’s eine Katz, ein Wellensittich oder was auch immer gewesen wär’, da haben S’ ein Lebewesen verletzt, und so was haben wir hier gar net gern. Aber nun wollen wir erst mal sehen, dass wir hier ein bisserl Ordnung auf die Straßen bekommen. Hier schaut’s ja schrecklich aus. Bernie, tätst den Hund und seinen Besitzer mitnehmen? Dann komm ich gleich in der Praxis noch vorbei.“

Die Tierärztin nickte bestätigend und machte sich mit den beiden auf den Weg.

Böse, schon fast hasserfüllte Blicke vom Unfallfahrer folgten ihnen. Nur Obermayr ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er wehrte die Aufforderung, sich nun doch endlich mehr zu beeilen, mit einem Knurren ab.

„Hier tät’ ich bestimmen, wie’s voran geht, junger Mann. Schließlich muss alles seine Ordnung haben. Auch ein Unfall.“

Resigniert ließ der Mann seinen Kopf sinken und schaute erneut ungeduldig auf die Uhr.



2

In den letzten Tagen hatte sich das heiße Wetter verabschiedet. In den Nächten wurde es schon ausgesprochen frisch, Tau legte sich frühmorgens auf die Landschaft und verzauberte alles mit einem geheimnisvollen Schleier aus Feuchtigkeit und dem ersten Bodennebel. Doch tagsüber besaß die Sonne noch eine Menge Kraft, wenn sie es denn schaffte, die Wolken zu durchdringen.

Hier unten im Tal spielte das Wetter allerdings keine Rolle. In der Waldbrunnschlucht befand sich der Eingang zu einem ausgedehnten Höhlenlabyrinth, dessen wirkliche Größe erst vor gar nicht langer Zeit entdeckt worden war.

In Hindelfingen gab es viele Touristen. Um zu verhindern, dass die sich womöglich in unbekannten Wegen und Höhlen verirrten, war es wichtig, dass von erfahrenen Leuten genaue Karten angelegt wurden, damit dieses Neuland in den Bergen nicht zu einer tödlichen Falle wurde.

Die Obere Landschaftsbehörde wie auch Bürgermeister und Stadtverwaltung von Hindelfingen hatten deswegen Spezialisten angefordert, die sich näher damit beschäftigen sollten. Ein Geograph, ein Kartograph und eine erfahrene Höhlenforscherin waren engagiert worden, sie machten sich an die reizvolle Aufgabe, dieses unbekannte Gelände zu erforschen.

In der Haupthöhle, direkt an der Schlucht, hatten sie ihr Lager aufgeschlagen, hier würde auch stets der Ausgangspunkt sein, um Entfernungen festzulegen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten besaßen die heutigen Forscher eine Reihe von elektronischen Hilfsmitteln, um die Arbeit zügig und schnell voranzubringen.

Sepp Leitner kam von der Universität in München, er war dort der Assistent von Professor Hackl und besaß eine Menge Wissen über die Naturgeschichte und die Entstehung der Erdschichten. Das konnte sich als äußerst wichtig erweisen, um auch Zeiträume festzulegen, in denen Ereignisse stattgefunden hatten.

Der Bursche überprüfte ein letztes Mal seine Ausrüstung, wie es auch die beiden anderen taten.

Sandra Egli, die fast alle Höhlen in den Alpen, aber auch in anderen Teilen der Erde, gut kannte und die meisten von ihnen schon begangen hatte, und Roland Berger, dessen Beruf es war, Karten zu erstellen, nickten einander zu. Sie waren bereit.

Roland hatte bisher meist vom Schreibtisch aus gearbeitet, er war Theoretiker. Dies war sein erster Einsatz direkt vor Ort, und er war entsprechend aufgeregt. In der Theorie beherrschte er alles, doch was die Praxis bringen würde, davon musste er sich noch überraschen lassen. Er hatte sonst genaue Beschreibungen, Maßangaben, Fotos und elektronische Auswertungen, mit denen er arbeitete. Aber hier und jetzt wollte er vor Ort arbeiten und beweisen, dass er auch hier sein Handwerk verstand. Er freute sich jedenfalls auf die Begleitung der beiden anderen und war sicher, dass sie gemeinsam recht bald Ergebnisse vorweisen konnten. Sie wollten auf jeden Fall im wahrsten Sinn des Wortes die Welt erforschen.

„Alles fertig?“ Sandra fragte mehr der Form halber, sie war sicher, dass die beiden anderen ebenfalls gut vorbereitet waren. Nun, sie und Sepp würden ein Auge auf den Kollegen haben, doch der war lernfähig und begierig, es sollte alles gut gehen.

„Also los. Die ersten sechs Höhlen sind bereits genau erforscht, die Karten zeigen das auch bis in die letzte Ecke an. Warum man den Durchgang vorher nicht auch schon bemerkt hat, kann ich net verstehen“, meinte das Madl, das über eine beachtliche Erfahrung verfügte, obwohl es erst 26 Jahre alt war.

Sepp grinste und zeigte ein strahlend weißes Gebiss. Seine Augen versuchten den Blick von Sandra zu halten, er fand sie ausgesprochen anziehend und hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn sie beide sich näher kamen. „Da haben die halt net genau hingeschaut“, meinte er.

„Dann sollten wir das jetzt um so besser tun“, setzte Roland hinzu und ging energisch los.

„Halt, wart’ mal. Kannst doch net als Anfänger den Weg übernehmen. Wirst schön in der Mitte bleiben“, mahnte Sandra und zog den Burschen ein Stück zurück.

Ein paar Minuten später stießen sie in die erste unbekannte Höhle vor, die allerdings mehr ein langer, sehr enger Gang in die Felsen war. Bisher war hier nicht davon auszugehen, dass sie durch einige Löcher in die Höhe oder Tiefe klettern mussten, die Höhlen besaßen den Vorteil, sich fast auf ebener Erde zu befinden.

Roland beobachtete seine Instrumente genau, die jeden Zentimeter der Strecke vermaßen. Nach knapp zehn Metern hielt Sepp an und leuchtete nach oben. Nur schwach war die Decke zu erkennen. Der Fels war trocken, es gab also hier keine Öffnung nach draußen, wo zum Beispiel Wasser hereinsickern konnte. Auch Moose oder Flechten hatten sich hier nicht angesiedelt, es gab nicht einmal die geringsten Nährstoffe für diese Magerpflanzen.

„Hier ist nix weiter“, stellte Roland fest. „Die genaue Strecke ist nun aufgezeichnet. Hast was Besonderes gefunden in den Felsen?“ Die Frage galt dem Sepp, der als Geograph die Erdschichten und die Bodenbeschaffenheit überprüfte und daran die Entstehung der Höhlen erkennen konnte. Der schüttelte den Kopf.

„Hab ich auch gar net mit gerechnet. Net gleich zu Anfang. Wenn wir viel Glück haben, tät’ uns die Höhle im weiteren Verlauf den Weg nach unten weisen, dort gäb’s vielleicht was Interessantes.“ Er setzte sich wieder in Bewegung.

Urplötzlich war der Gang zu Ende, und ein regelrechter Dom tat sich vor den drei Menschen auf. Hoch über ihnen war die Decke auf den ersten Blick nicht zu sehen, obwohl die Scheinwerfer in den Helmen recht hell strahlten.

Roland begann die Ausmaße zu erfassen und tippte in einen kleinen tragbaren Computer alle erforderlichen Daten ein.

Nur Sandra genoss uneingeschränkt den wundervollen Anblick. Schließlich aber stand Sepp neben ihr, seine Augen strahlten sie an, und das Madl fühlte sich innerlich von ihm berührt. Vielleicht lag es ja an der Stimmung hier in diesem Dom, doch Sandra hatte nichts dagegen, dass Sepp sie in die Arme zog. Gemeinsam bewunderten sie noch eine Weile die Schönheit hier unten. Dabei dachte Sandra an Joachim, ihren Ex-Freund, von dem sie sich vor kurzer Zeit erst getrennt hatte. Ein wenig vermisste sie schon noch seine Berührungen, seine Zärtlichkeit – ach, den ganzen Burschen. Aber es hatte keinen Zweck gehabt, sagte sie sich zum wiederholten Male energisch. Und sie wollte ihn endgültig vergessen. Hier hatte sie Sepp kennengelernt, der sich vom ersten Augenblick um sie bemühte, der freundlich und fröhlich war, und bei dem sie nichts dagegen hatte, dass er Anstalten machte, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Zum Teufel mit Joachim, was spukte der denn noch immer in ihren Gedanken herum?