Anmerkungen

1 ausführlich dargestellt bei Christophe Bident: Partenaire invisible, Seyssel: Champ Vallon 1998.

2 Blanchot hatte in seinem Aufsatz von 1943 »Der Orest-Mythos«, der dem vorliegenden Band beigegeben ist, Kritik an Sartres Theaterstück »Die Fliegen« geübt. Insofern stellt die Auseinandersetzung mit der Orestie in Le Très-Haut auch eine kritische Antwort auf Sartres Freiheitsbegriff dar.

3 Vgl. Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 1999, S. 147

4 John Gregg: Maurice Blanchot and the Literature of Transgression, Princeton New Jersey: Princeton University Press 1994

5 Vgl. Eric Hoppenot: L’Epreuve du Temps chez Maurice Blanchot, Paris. Ed. Complicité 2006

6 Evelyne Londyn: Maurice Blanchot Romancier. Paris: Nizet 1976

7 Hill, Leslie: After Blanchot, literature, criticism, philosophy, Neward. University of Delaware Press 2005; darauf verweist auch Kevin Hart: The Dark Gaze, Chicago: University of Chicago Press 2004

Maurice Blanchot bei Matthes & Seitz Berlin

Maurice Blanchot

Die uneingestehbare Gemeinschaft

Aus dem Französischen und

mit einem Kommentar von Gerd Bergfleth

183 Seiten, Klappenbroschur

»Die Gemeinschaft der Liebenden, ob sie es wollen oder nicht, ob sie es genießen oder nicht, ob sie verbunden sind durch Zufall, durch ›Amour fou‹ oder durch Todesleidenschaft, hat zu ihrem wesentlichen Ziel die Zerstörung der Gesellschaft. Dort, wo sich eine vorübergehende Gemeinschaft zwischen zwei Wesen bildet, die füreinander geschaffen oder nicht geschaffen sind, baut sich eine Kriegsmaschine auf, oder besser gesagt, die Möglichkeit eines Desasters, die, wenn auch nur in infinitesimaler Dosis, die Drohung einer universellen Vernichtung in sich trägt.«

Maurice Blanchot

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Maurice Blanchot bei Matthes & Seitz Berlin

Maurice Blanchot

Die Freundschaft

Aus dem Französischen

von Uli Menke und Ulrich Kunzmann

320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

In diesem Georges Bataille gewidmeten, umfangreichen Essay-Band beschäftigt sich Maurice Blanchot mit einer Reihe von Themen aus Kunst, Literatur, Ethnologie und Philosophie. Neben den berühmt gewordenen Schriften zu Kafka finden sich darin auch Auseinandersetzungen mit Albert Camus, Emmanuel Levinas oder Martin Buber, die Blanchot zum Anlass nimmt, seine singuläre Gedankenwelt zu entfalten.

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Michel Butor bei Matthes & Seitz Berlin

Michel Butor

Der Zeitplan

Aus dem Französischen von Helmut Scheffel,

neu durchgesehen von Tobias Scheffel

432 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

»Vom ersten Satz an ist der Leser von Revels ›Zeitplan‹ und von Blestons Stadtplan in Bann geschlagen. Er kann nicht anders als die Geschichte dieser Stadt, diese Geschichte, die zugleich eine literarische Stadtschöpfung ist, zu lieben.«

Tobias Lehmkuhl, Süddeutsche Zeitung

»Michel Butor ist ein Meister der sprachlichen Entschleunigung und sein endlich wieder vorliegendes Meisterwerk ‚Der Zeitplan’ eine Hohe Schule des Lesens.«

Kurt Darsow, WDR3 Passagen

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Léon Bloy bei Matthes & Seitz Berlin

Léon Bloy

Blutschweiß

Aus dem Französischen, kommentiert und eingeleitet

von Alexander Pschera

Mit Illustrationen von Heidi Sill

288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

Erstmals und vollständig in deutscher Sprache: Bloys wichtigster Erzählungsband, ein Skandalon ebenso wie ein Kultbuch für Carl Schmitt und Ernst Jünger. Die 30 Erzählungen, die erstmals 1893 erschienen, sind schaurig-blutige Geschichten aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, in der Tradition der Contes Cruels und Edgar Allan Poes. Bloy verarbeitet darin seine eigenen Erfahrungen als ›franc-tireur‹ in diesem grausamen Krieg, er nahm damit die »heutige Landschaft der Partisanen und Maquisards« (Ernst Jünger) vorweg.

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I

Ich war nicht allein, ich war ein beliebiger Mensch. Wie sollte ich diese Formel vergessen?

Während meiner Krankschreibung ging ich in einem Viertel des Zentrums spazieren. Was für eine schöne Stadt, sagte ich mir. Als ich zur U-Bahn hinunter ging, stieß ich mit jemandem zusammen, der mich barsch anfuhr. »Sie machen mir keine Angst«, schrie ich zurück. Mit beeindruckender Geschwindigkeit schnellte mir seine Faust entgegen, und ich sank zu Boden. Es bildete sich eine Menschentraube. Vergeblich versuchte der Mann, in der Menge unterzutauchen. Ich hörte, wie er wütend beteuerte: »Er hat mich angerempelt. Lassen Sie mich gefälligst in Frieden!« Mir tat nichts weh, aber mein Hut war in eine Pfütze gerollt, sicher war ich kreidebleich, ich zitterte. (Ich war rekonvaleszent. Keine Erschütterungen, hatte man mir gesagt.) Ein Polizeibeamter löste sich aus dem Gedränge und forderte uns ruhig auf, ihm zu folgen. Durch eine Handvoll Leute getrennt, stiegen wir die Treppen hinauf. Auch der andere war blass, aschfahl sogar. Im Kommissariat ließ er seiner Wut freien Lauf.

»Die Sache ist die«, unterbrach ihn der Polizeibeamte, »er ist auf den Herrn hier losgegangen und hat ihm die Faust unters Kinn gepflanzt.«

»Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte mich der Kommissar.

»Kann ich meinem … dieser Person zwei, drei Fragen stellen?«

Ich kam näher und betrachtete ihn.

»Ich würde gern wissen, wer Sie sind.«

»Was geht Sie das an?«

»Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder? Nein, ich möchte Sie etwas anderes fragen. Als Sie mich geschlagen haben, haben Sie gespürt, dass es sein musste, es war Ihre Pflicht: Ich hatte Sie provoziert. Doch nun tut es Ihnen leid, weil Sie wissen, dass ich ein Mensch bin wie Sie.«

»›Wie Sie‹? Dass ich nicht lache!«

»Wie Sie, oh doch, wie Sie. Sie können mich bestenfalls schlagen. Aber würden Sie mich auch töten, zermalmen?« Ich trat direkt vor ihn. »Wenn ich nicht so bin wie Sie, warum zermalmen Sie mich dann nicht unter Ihrem Absatz?«

Hastig wich er zurück. Ein Stimmengewirr erhob sich. Der Kommissar packte mich am Ärmel. »Was ist bloß in Sie gefahren?«, schrie der andere. Der Polizist zerrte mich fort. Beim Hinausgehen blickte ich in lauter kalte, erstarrte Gesichter. Mein Angreifer sah mich hämisch an, wenngleich sein Gesicht aschfahl war.

Ich wusste wohl, was es hieß, eine Familie zu haben. Manchmal hatte ich keinen blassen Schimmer davon, ich arbeitete, war allen nützlich, wir standen uns nahe. Doch plötzlich ereignete sich etwas: Ich konnte zurückblicken. Im Gesellschaftsraum der Klinik warteten meine Mutter und meine Schwester auf mich. Was für ein erbärmlicher Raum! Sessel, Sofas, Teppiche, ein Klavier und kaltes Licht, ewiges Halbdunkel. Dabei war es ein modernes Krankenhaus. Aber es hing mit der Atmosphäre, dem Schweigen zusammen: Der Arzt hatte es mir erklärt. Es war beschämend. Schon seit mehreren Jahren hatte ich meine Mutter nicht gesehen. Ich spürte, dass sie mich beäugte. »Du siehst nicht gut aus.«

Sie fragte mich, warum man sie erst so spät verständigt habe.

»Ich habe euch geschrieben, sobald ich wieder dazu in der Lage war. Ich hatte ungewöhnlich hohes Fieber, aber nur Fieber. Man hat zwar noch mit weiteren Symptomen gerechnet, aber es sind keine aufgetreten. Ich glaube, ich habe phantasiert. Schlecht habe ich mich eigentlich nicht gefühlt. Jetzt erst bin ich müde und niedergeschlagen.«

»Du lebst in zu schlechten Verhältnissen. Deine Wohnung soll eine wahre Gruft sein. Warum kommst du nicht wieder nach Hause?«

»Meine Wohnung? Ja, meine Wohnung hat einiges damit zu tun. Habt ihr den Arzt gesehen?«

»Nein, er war schon fort, aber wir sind der Krankenschwester begegnet.«

»Ich muss wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Ich kann nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen. Zwar werde ich im Büro vertreten, aber die Arbeit fehlt mir.«

Beide sahen mich an.

»Es ist lächerlich, ich weiß. Mein Posten ist so unbedeutend. Aber kommt es denn darauf an? Ich muss meine Rolle weiterspielen.«

Meine Mutter machte wohl eine Bemerkung folgender Art: »Ob du eine bessere Stelle bekommst, hängt allein von dir ab.« In dem Moment überkam mich das schmerzliche Gefühl, dass wir beide logen. Nein, wir logen nicht, es war schlimmer. Ich sagte, was sein musste, war aber auf einmal dem Augenblick entrissen. Mir wurde klar, dass sich all dies schon eher hätte zutragen können, vor Jahrtausenden, als habe die Zeit sich aufgetan und ich sei durch diese Bresche gefallen. Meine Mutter wurde mir geradezu unangenehm. Ich war verwirrt und begriff zugleich besser, warum sie sich so reserviert gab, warum ich vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, warum … Es rührte von damals her. Meine Mutter war nun jemand von früher, eine monumentale Person, die mich zu vollkommen wahnwitzigen Dingen anstiften konnte. Das war die Familie. Die Erinnerung an eine Zeit vor dem Gesetz, ein Schrei, rohe Worte, die aus der Vergangenheit stammten. Ich sah zu meiner Mutter, und sie starrte mich mit einem Ausdruck der Beschämung an.

»Geht wieder nach Hause«, sagte ich. »Bis morgen.«

»Aber was hast du nur? Wir sind doch gerade erst gekommen.«

Sie begann zu schluchzen. Ihre Tränen verschleierten mein Unbehagen. Ich entschuldigte mich.

»Du bist so gleichgültig geworden«, sagte sie weinend, »so fremd.«

»Aber nein. Es ist bloß das Leben, das einen zu dieser Annahme verleitet. Man muss arbeiten, jeden Tag meistern. Man widmet sich allen, doch von seinen Angehörigen bleibt man getrennt.«

»Komm doch für die Zeit deiner Genesung nach Hause.«

»Mal sehen.«

»Du hast stark abgenommen. Diese Krankheit beunruhigt mich. Hast du frühe Anzeichen gespürt? Warst du schon vorher müde?«

Ich sah meine Mutter an, ohne zu antworten.

»Aber Mutter«, sagte Louise schroff, »nun quäl ihn doch nicht!«

Mittags nahm ich meine Mahlzeiten stets in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Rathauses ein. Die Tische standen entlang der Wand eines schmalen Raums aufgereiht. Da sonst nichts frei war, nahm ich an einem Tisch Platz, an dem schon jemand saß.

»Hat es während meiner Abwesenheit Neuigkeiten gegeben?«, fragte ich die Kellnerin. »Das Menü hat sich jedenfalls nicht verändert.«

»Stimmt, in den letzten Tagen haben wir Sie hier gar nicht gesehen. Waren Sie im Urlaub?«

»Nein, ich war krank.«

Sie zog ein schiefes Gesicht.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu meinem Nachbarn. »Ich habe Sie schon öfter hier gesehen, Sie sind Stammgast. Arbeiten Sie in der Gegend?«

»Nun, in der Gegend nicht gerade.« Er musterte mich einen Augenblick. »Vor einigen Jahren habe ich in einem Geschäft dieses Viertels als Verkäufer gearbeitet. Dann bin ich in ein anderes Viertel gezogen, aber ich komme noch häufig hierher.«

Es herrschte ziemlicher Lärm, der Lärm von aneinander schlagenden Gegenständen, von Löffeln, die Teller auskratzten, von Flüssigkeit, die in Gläser floss. Vor mir unterhielten sich zwei Frauen über den Tisch hinweg. »Sie spioniert mir nach, sitzt mir ständig im Nacken.« Ich hörte diese Worte ganz deutlich. Lustlos aß ich weiter.

»Dabei ist das Essen nicht gerade famos.«

Er drehte sich eine Zigarette.

»Es ist nicht teuer, die Portionen sind reichlich.«

Das Gericht, das man mir gebracht hatte, bestand aus mehreren Sorten Gemüse und einem großen Stück gekochten Fleisch.

»Es sind alle nötigen Zutaten drin«, sagte ich und klopfte mit der Gabel aufs Fleisch. »Aber man stümpert hier mit der Ware.«

»Na wenigstens erwartet uns heute Abend eine gute Suppe.« Er fuhr fort, das Restaurant über Gebühr zu loben. »Und Sie?«, fragte er. »Wo arbeiten Sie?«

Er war ein eher kleinwüchsiger Mann, äußerst gepflegt. Er sprach sehr bestimmt. »Reden Sie ganz offen mit ihr«, sagte die Frau vor mir. »Nein, um keinen Preis der Welt, nie wieder richte ich auch nur ein Wort an sie.«

»Ich bin im Rathaus angestellt.«

»Beamter? So eine Position hat ihre Vorteile.«

Er wollte etwas hinzufügen. Da brach die Frau in Tränen aus, sprang jäh auf und lief in den hinteren Teil des Raums.

»Was ist denn los«, fragte ich die Kellnerin. Diese nahm mir, ohne zu antworten, den Teller weg und schob mir ein mickriges Stück Kuchen hin. Als wollte sie sagen: Was soll schon sein? Das geht mich nichts an.

»Sie arbeitet in einem Schneideratelier. Ich glaube, sie versteht sich nicht mit der Aufsicht.«

»Und Sie, verstehen Sie sich gut mit der Leitung?« Lächelnd zuckte sie mit den Achseln.

»Bestens«, sagte sie im Fortgehen.

Mein Nachbar hatte die ganze Szene aufmerksam verfolgt, doch kaum waren wir wieder allein, versenkte er sich in die Lektüre seiner Zeitung. Die Frau kehrte mit ruhigem, leuchtendem Gesicht zurück.

»Was steht in den Nachrichten?«

Auf der Seite, die er mir hinhielt, las ich folgende Überschriften: Unfall: Frau fällt aus dem fünften Stock. Neue Vorschriften in den Gesundheitsämtern. Erneut Großbrand im Westviertel (das war mein Viertel). Hochwasser in … Mich überkam Ungeduld, eine Art Fieber.

»Haben Sie den Artikel unter Vermischtes gelesen: Zentrumsstraße, Frau fällt? …«

»Ja, hab’ ich.«

»Und handelt es sich Ihrer Ansicht nach um einen Unfall oder Selbstmord?«

»Keine Ahnung. Wenn man der Überschrift Glauben schenken darf, um einen Unfall.«

»Aber Selbstmord ist auch ein Unfall«, fügte ich lebhaft hinzu. »Lesen Sie mal die Geschichte hier. Dem Arztbericht zufolge war die Frau leicht erkrankt. Sie litt an Erschöpfung, und der Direktor der Einrichtung genehmigte ihr ein paar Tage Urlaub. Wohlgemerkt: Urlaub. Die Stellvertreter der Leitung haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Sobald eine Angestellte Müdigkeitserscheinungen zeigt, empfiehlt der Arzt ihr Ruhe, verschreibt ihr Medikamente, das System funktioniert reibungslos. Aber nun trifft es sich, dass die Kranke Schwindelanfälle hat, sie braucht frische Luft. Geht ans Fenster und verliert das Bewusstsein. Was ereignet sich dann? Warum fällt sie? Warum fällt sie just auf diese Seite? Obwohl es doch viel schwieriger und gefährlicher ist? Vielleicht hat sie sich freiwillig ins Leere gestürzt, weil … weil sie sich krank gefühlt, weil sie sich geschämt hat, nicht mehr arbeiten zu können, was weiß ich? All das und noch vieles andere ist natürlich reine Spekulation. Und wer ist am Ende dafür verantwortlich? Der Autor des Artikels deutet an, der Arzt sei seiner Pflicht nicht nachgekommen und hätte die Frau in ein Krankenhaus einweisen müssen.«

»Ja und?«, sagte der Mann, der mich, auf die Ellbogen gestützt, unverwandt anstarrte.

»Na, das ist doch wohl klar.«

»Was ist klar?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und spürte einen Anflug von Müdigkeit. »Sie haben mich vorhin zurechtgewiesen, weil ich mich kritisch geäußert habe. Sind Sie der Ansicht, man dürfe keine Kritik üben?«

»Ich? Ich soll Sie zurechtgewiesen haben?«

»Wegen des Restaurants.«

»Na, Sie sind ja gut! Ich finde dieses Restaurant ganz passabel, es ist nicht schlechter als andere. Jedenfalls bin ich nicht an diesem Haus beteiligt.«

»Aber wenn man sich kritisch äußert«, hakte ich nach, »das gefällt Ihnen nicht, hm? Einfach drauflos zu kritisieren, führt in Ihren Augen nur zu Verderben und Chaos, der Zweifel infiziert die Geister, es ist eine schädliche, rückständige Praxis. In Ihrem Beruf üben Sie zwar auch Kritik, aber nur bei den zuständigen Abteilungen und in vorgeschriebener Art und Weise. Sie nehmen es mir übel, dass ich in diesem Restaurant laut verkündet habe, es herrsche hier eine gewisse Nachlässigkeit, genauso wie Sie es der Frau verübeln, dass sie sich über ihre Aufsicht beschwert hat. Ist es nicht so?«

Ich sah ihn an: Und obwohl ich diese Erklärungen ganz leise geäußert hatte, kamen sie mir unangebracht vor.

»Entschuldigen Sie. Ich steigere mich zu sehr in die Dinge hinein. Ich missbillige Ihren Standpunkt nicht. Aber, sehen Sie, der Artikel zeigt es doch. Der Autor hat nicht etwa gesagt: Keiner kann etwas dafür. Er hat im Gegenteil, ohne zu zögern jemandem die Schuld zugewiesen, es wird eine Untersuchung geben, und daraus wird eine Reform hervorgehen. Das ist alles, was ich sagen wollte.«

Der Mann griff wieder nach seiner Zeitung und las konzentriert weiter. Dann faltete er sie zusammen.

»Sie können so viel Kritik äußern, wie es Ihnen passt. Mir persönlich ist das egal. Möchten Sie weiter lesen?«, fügte er hinzu und bot mir die Zeitung an. Er stand auf, rief die Kellnerin. »Ich bin genau wie jeder andere imstande zu erkennen, wenn etwas im Argen liegt«, sagte er unwirsch. »Auch ich bin frei heraus. Aber ich beschwere mich nicht bei irgendwem, auf verantwortungslose Weise, bei verantwortungslosen Leuten. An charakterlosen Köpfen mangelt es nicht.«

Daraufhin machte er ein abwehrende Geste, als wollte er sagen: Und Schluss damit! Die Kellnerin gab ihm das Wechselgeld heraus. »Wir sehen Sie doch heute Abend?«, fragte er sie. »Ja, ganz recht: bis heute Abend. Behalten Sie die Zeitung ruhig, ich schenke Sie Ihnen.« Ich verlangte meinerseits die Rechnung. Es waren noch viele Leute da. Einige Kunden warteten im Stehen, unterwürfig und passiv, nahmen geduldig die Tische in Augenschein. Die Kellnerin kam nicht. »Fräulein!«, rief ich. Sie ging an mir vorbei, scheinbar ohne mich zu hören. »Was für ein Saftladen!«, sagte ich laut und ging an den Tresen, um zu zahlen.

Als ich nach Hause kam, stand ein Mann vor der Tür, den ich nicht kannte.

»Ich wollte Sie unbedingt kennenlernen«, sagte er eifrig, »ich habe schmeichelhafte Dinge über Sie gehört. Außerdem bin ich Ihr direkter Nachbar. Darum würde ich mich glücklich schätzen, wenn wir engeren Kontakt pflegen würden.«

Ich sah ihn an, antwortete nicht.

»Sie waren krank, nicht wahr?«

»Ja.«

Schweigend betrachtete er mich. Er war sehr groß und hatte ein äußerst massiges Gesicht.

»Das habe ich vom Portier erfahren. Bei meinem Einzug hatte ich nämlich Angst, Sie zu stören, aber er sagte, Sie seien zur Behandlung in einer Klinik. Sind Sie wieder wohlauf?«

»Durchaus.«

»Mit der Gesundheit ist das ja so eine Sache. Wie Sie sehen, habe ich eine robuste Konstitution. Ich war noch nie richtig krank, auch nicht leicht anfällig. Und doch mag ich an manchen Tagen nicht aufstehen, möchte am liebsten gar nichts tun, ja, nicht einmal schlafen. Dann ist mir, als hätte mein Blut aufgehört, das Kommando zu führen, und ich warte, bis es wieder geruht, Befehle zu erteilen. Sie wohnen ziemlich beengt«, stellte er fest, während er den Raum betrachtete, in dem wir uns befanden, und dann den anderen, den man durch die verglaste Tür sah: offenbar meine ganze Wohnung.

»Ich bin Junggeselle, für mich reicht es.«

Er lachte los.

»Entschuldigung«, sagte er, »aber das klang gerade sehr pathetisch. Sie leben recht zurückgezogen, nicht wahr. Gehen Sie nicht gern unter Leute?«

Ich starrte ihn an, er erwiderte den Blick.

»Möglich«, sagte ich gelassen. »Das heißt: Ich sehe jeden gern, ich bevorzuge niemanden, aber private Beziehungen erscheinen mir nutzlos.«

»Ach, tatsächlich?«

Er schwieg, die Hände auf den Knien, den Rücken zum Fenster: wie ein grob behauener, eben erst aus dem Fels geschlagener Steinblock.

»Sie sind Beamter?«

»Angestellter beim Standesamt.«

»Was genau ist das für eine Tätigkeit?«

»Eine Bürotätigkeit natürlich.«

»Und … sagt es Ihnen zu?«

»Ja, durchaus.«

»Vor ein paar Tagen habe ich etwas sehr Unschickliches getan«, sagte er unvermittelt. »Sie gingen die Straße entlang, es war vorgestern, glaube ich. Ich war hinter Ihnen, ich wusste, wer Sie sind. Und ich habe Sie genau beobachtet.«

»Sie haben mich beobachtet? Und warum bitte schön?«

»Tja, warum? Es klingt in der Tat sehr ungehörig, wenn man das so sagt. Aber ich wusste, dass Sie mein Nachbar sind. Der Umstand war mir bekannt. Es ist ja nichts dabei. Ich bin Ihnen also gefolgt. Sie gingen eilig die Straße entlang, ohne sich umzublicken. Vermutlich kamen Sie gerade von der Arbeit.«

»Ich gehe jeden Tag um dieselbe Zeit nach Hause. All meine Abende sind gleich.«

»An diesem Abend war es ziemlich dunkel. Erinnern Sie sich, wie ein Mann …?«

»Ja, und weiter?«

»Er hat Sie angesprochen, stimmt’s?«

Wir sahen uns an: Ich blickte in seine starr auf mich gerichteten Augen, die mich neugierig-auffordernd betrachteten; dann wurden sie ausdruckslos.

»Es war ein Bettler«, sagte ich.

»Ja, in der Tat, mir war, als würden Sie ihm Geld geben.«

»Auch das haben Sie gesehen? Da haben Sie mich ja wirklich sehr genau beobachtet.«

»Ja, ich bitte Sie um Verzeihung.«

»Hören Sie, wenn dieser Zwischenfall Sie interessiert, kann ich Ihnen noch mehr Details berichten.«

»Ich bitte Sie, lassen wir das. Ich habe mich von meiner Neugier hinreißen lassen.«

»Hören Sie, diese Geschichte ist Ihnen irgendwie seltsam vorgekommen. Warum hätten Sie mich sonst darauf angesprochen? Vielleicht möchten Sie ja wissen, was der Mann im Einzelnen gesagt hat? Nun, tut mir Leid, aber die Sache war ganz banal. Er hat gesagt, was man in solchen Fällen eben sagt. Und ich hätte ihn auf ein Amt schicken oder ihn fragen sollen, warum er nicht mehr arbeitet. Ich hätte ihn zur Rede stellen sollen. Aber ich habe nichts dergleichen getan. Er hat sein Geld bekommen, und basta!«

Ich sah einen dunklen Ausdruck auf seinem Gesicht, als wollte er seine Züge hinter einem unbestimmbaren Gefühl verbergen.

»Soll ich Ihnen den Mann genau beschreiben? Sie haben ja sicherlich bemerkt, dass er nicht schlecht gekleidet war, er trug eine ganz ordentliche Lederjacke. Tut mir leid, aber genau so war es. Selbstverständlich wäre mein Verhalten leichter zu begreifen gewesen, hätte er Lumpen getragen.«

»Ach, wieso denn? Ihr Verhalten erscheint mir ganz natürlich.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und sah ihn unverwandt an. »Vielleicht sind solche Geschichten ja reine Erfindung. Ich kann mir gut vorstellen, dass einige der Leute, die Passanten anhalten und um Hilfe bitten, gar nicht so notleidend sind, wie sie vorgeben. Doch geht es ihnen nicht unbedingt darum, die Freigiebigkeit der Leute auszunutzen. Möglicherweise verfolgen sie ein ganz anderes Ziel: Sie wollen darauf hinweisen, dass es mit den Dingen nicht zum Besten steht und es trotz des immer engmaschigeren Systems stets Bedürftige gibt, die durchs Netz fallen, oder einige Leute einfach nicht in der Lage sind zu arbeiten. Aber warum? Es ist keine Frage der Gesundheit, noch des guten Willens oder des Glaubens. Sie wollen und können arbeiten, und doch geht es nicht. Das alles gibt einem zu denken.«

Interessiert sah er mich an, ich spürte, wie angespannt und düster ihm mein Gesicht vorkommen musste.

»Sie glauben, als Beamter wäre ich zu absoluter Loyalität verpflichtet und müsste den offiziellen Standpunkt vertreten? Aber ich bin zu gar nichts verpflichtet. Ich bin vollkommen frei, genau wie jeder andere. Davon abgesehen ist meine Meinung bedeutungslos, eine bloße Allegorie, ich glaube nicht an sie.«

»Trotzdem haben Sie dem Bettler Geld gegeben.«

»Ja und? Ich habe nach Gutdünken gehandelt. Genau genommen habe ich Angst bekommen. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Und um langen Erklärungen zuvorzukommen, habe ich ihm eben diese kleine Summe gegeben. Man muss auch auf individuelle Reaktionen gefasst sein.«

»Sie sind ein nervöser Mensch, stimmt’s?«

»Hätte ich mich geweigert, hätte ich ihn an eine bestimmte Behörde verweisen oder nach den genauen Gründen für seine Notlage fragen müssen. Ich hätte versucht, ihn zu überzeugen. Nur wovon? Das wäre absurd. Durch mein Nachgeben habe ich die Angelegenheit mit dem geringsten Aufwand erledigt.«

Auf meinen Schreibtisch gestützt, sah er mich schweigend an. Da fiel mir auf, welche Faszination sein Gesicht auf mich ausübte, wie sehr es sich von den anderen unterschied. Es hatte zu viel Farbe, die Wangen waren fast rot und einige Stellen auch wieder zu weiß: Stirn und Ohren, weiß wie Papier. Es hatte etwas Autoritäres, unangenehm Befehlshaberisches, rücksichtslos Dreistes an sich. Und auf einmal entdeckte ich darin auch Argwohn, einen linken, durchtriebenen Geist, dessen Gelassenheit mir suspekt war.

»Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte er, »aber mir scheint, als wären Sie anders als die anderen. Sie sind jung, ich bin bestimmt sehr viel älter als Sie. Darum darf ich das sagen, obwohl man solche Bemerkungen normalerweise für sich behält. Was ich so frappierend finde … tja, ist es Ihre Art zu sprechen, sind es Ihre Gedanken oder Ihr Verhalten? Verzeihen Sie, meine Offenheit wird langsam lächerlich. Sie sind nicht zufällig fremd hier?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Früher war ich Arzt, daher habe ich das Bedürfnis, Menschen zu klassifizieren. Im Gegensatz zu Ihnen suche ich nicht nach subtilen Erklärungen. Um Theorien und Doktrinen schert sich ohnehin kein Mensch. Haben Sie schon von mir gehört?«

Ich verneinte.

»Ich habe ziemlich lange im Ausland gelebt. Sie wissen ja, was das bedeutet: andere Sitten, das Essen ist so und nicht so; auch die Landschaften unterscheiden sich, zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn die großen Städte ähneln sich natürlich alle. Na ja, und die Sprache … nun, ich brauche das wohl nicht auszuführen. Letztlich ist alles anders. Ja, von einem Land zum anderen ist immer so ziemlich alles anders. Obwohl man schnell feststellt, dass das Überschreiten der Grenzen so gut wie bedeutungslos ist und das Ausland – von den unterschiedlichen Lebensweisen und anderen neuen Eindrücken einmal abgesehen – gar nicht existiert. Man spürt ziemlich genau: Das Land, das man verlassen hat, dehnt sich bis zu den anderen Ländern aus, seine Fläche bedeckt tausendmal größere Flächen und umfasst an sich schon den ganzen Rest. Wenn bereits der Reisende das spürt, dann erst recht der Einwohner, der seine Stadt zum Zentrum erklärt, mit der Welt gleichsetzt und vage von einem anderswo träumt.«

Er hielt inne und sah mich einen Moment mit seinen starren Augen an, die, wie ich mit Unbehagen feststellte, sehr klein waren – zu klein für dieses monumentale Gesicht.

»Ich sehe keinen Sinn darin, zu so hanebüchenen Deutungen zu greifen, um ganz banale Dinge zu erklären. Einige Leute meinen, sie würden mit den Fingerspitzen bereits das andere Ende der Erde berühren können. Das mag ja ein berauschendes Gefühl sein, aber was heißt das eigentlich? Das ist doch nur der Standpunkt von ein paar ausgefuchsten Theoretikern.«

»Warum denken Sie, ich wäre anders als die anderen?«

»So viel anders sind Sie gar nicht. Sie haben sich bloß in abstrakte Gedanken verheddert, so dass Ihnen allmählich schwindelt. Es beschleicht Sie die vage Vermutung, Ihr Gedankengebäude könnte völlig haltlos sein, aber wenn es in sich zusammenfällt, was bleibt dann noch? Leere. Andererseits kann es nicht haltlos sein; also ist es alles, und Sie ersticken daran. Wissen Sie«, sagte er naiv-unverfroren, »dass Sie beim Gehen manchmal reden? Sie bewegen die Lippen, Sie gestikulieren sogar. Man könnte meinen, Sie wollten den Faden ihrer Aphorismen und Maximen keine Sekunde abreißen lassen. Der Dienst am Staat hat Ihre Denkart nachhaltig geprägt!«

In diesem Augenblick überkam mich das Gefühl, dass sich ein Riss durch unsere Unterhaltung zog, mein Gesprächspartner sagte völlig unzusammenhängende Dinge, ich hörte ihm nicht mehr zu, sondern hörte etwas ganz anderes; doch konnte das, was er sagte, nicht viel anders sein als das, was ich zu hören glaubte. Ich zwang mich, den Blick auf ihn gerichtet zu halten. Aufmerksam betrachtete er den Raum.

»Sie haben viele Bücher«, sagte er, »lesen Sie gern?«

Ich folgte der Bewegung seiner Augen, die jeden Moment anfangen mochten, sich wie winzige Räder zu drehen. Er stand auf und las einige Titel. »Ich komme nicht zum Lesen«, sagte er, als er sich wieder setzte. Dann sah er mich lange an, vielleicht auch nur geistesabwesend. »Im Ausland habe ich viel gelesen, auch geschrieben.«

»Waren Sie Journalist?«

»Ja, ich habe für bestimmte Zeitungen geschrieben.« Er fügte hinzu: »Ich bin erst kürzlich in dieses Land zurückgekehrt. Ich gehöre zur sogenannten Emigration, obwohl ein solches Wort heute praktisch bedeutungslos ist. Seitdem ich nicht mehr praktiziere, habe ich mich mit ganz unterschiedlichen Dingen beschäftigt.«

Wieder gab ich mir einen Ruck.

»Waren Sie Arzt? Haben Sie den Beruf aufgegeben?«

»Ich wurde suspendiert.«

Mein Blick wanderte über seinen Anzug, seine Hände; dann sah ich aus dem Fenster und erspähte die dunkle, unglaublich dunkle Masse der Straße.

»Man hat mich zwangsbeurlaubt«, fuhr er gelassen fort. Ich hörte das kreischende Radio der Nachbarn: Durch die Stockwerke drang mit unaufhaltsamer Macht ein gewaltiger lärmender Gesang, eine wahrhaft kollektive Stimme.

»Wie ich sehe, sind Sie überrascht«, sagte er, auf einmal lächelnd. »Vielleicht ist es in der Tat ungewöhnlich zu sagen: Ich wurde entlassen, ich habe meinen Posten verloren. Das ist nicht üblich. Genau genommen war ich ohnehin kein Arzt, sondern bloß Assistent und habe an mehreren Einrichtungen gearbeitet. Ich habe ein praktisches Jahr gemacht, diese Tätigkeit hat mir jedoch nicht zugesagt.«

»Sie sind viel gereist«, brachte ich mühsam hervor.

»Ja. Und auch nein. Ich habe im Ausland gelebt, dort war ich aber nicht auf Reisen, sondern habe in einem Hotelzimmer gewohnt.«

»Aber … in welcher Eigenschaft waren Sie dort?«

»In welcher Eigenschaft?« Er hielt die Augen starr auf mich gerichtet. »Ich dachte, das hätte ich Ihnen schon begreiflich gemacht«, sagte er kalt. »Ich hatte mich in Staatsangelegenheiten gemischt. Und dann kam der Moment, da ich das Land verlassen musste.«

»Das kann ja wohl nicht wahr sein. Was wollen Sie damit sagen? Und warum erzählen Sie mir das?«

»So beruhigen Sie sich doch«, sagte er und stand wieder auf. »Was ist denn daran so ungewöhnlich? Ich halte Sie einfach für einen loyalen Mann, dem man vertrauen kann.«

»Was reden Sie da?«

»Ich bin ganz legal hier. Keine Sorge. Meine Papiere sind in Ordnung«, versicherte er.

Ich konnte spüren, dass er dicht neben mir stand, und lehnte mich gegen das Bücherregal.

»Es handelt sich um eine ganz belanglose Geschichte, ohne irgendwelche Folgen. Ich versichere Ihnen, es ist nichts Ehrenrühriges vorgefallen. Man hat mich nicht verfolgt. Ich bin aus freien Stücken ins Exil gegangen, weil es mir ratsam erschien und ich bestimmte Dinge verstehen wollte. Derzeit habe ich eine Stelle, ich arbeite. Genügen Ihnen diese Auskünfte?«

»Aber warum haben Sie mir dann davon erzählt?«, entgegnete ich halblaut.

»Sie haben mir Fragen gestellt. Eines Tages hätten Sie ja doch davon erfahren und mir mein Schweigen verübelt. Ich heiße Pierre Bouxx.«

»Bouxx«, sagte ich. »Und deswegen haben Sie Ihren Posten aufgeben müssen?«

»Ja … letztlich wohl schon. Im Übrigen kann ich nur wiederholen, dass ich nicht dafür geschaffen bin, unter diesen Bedingungen Kranke zu behandeln. Mir wurde rasch klar, dass ich nicht länger ein Teil von all dem sein konnte.«

»Leben Sie allein? Haben Sie keine Familie?«

»Nein, habe ich nicht. Ich bin schon alt, wissen Sie, ich habe keine Eltern mehr. Im Ausland war ich verheiratet, aber meine Frau ist gestorben. Wir hatten in Basel geheiratet. Danach habe ich in großer Einsamkeit gelebt. Meine Exilkameraden hatten fast alle einen Beruf oder gingen einer Beschäftigung nach. Nach dem Tod meiner Frau beschloss ich zu arbeiten. Eins war mir nämlich klar geworden: Wenn es mir unter Einsatz all meiner Kräfte gelänge, eine Kleinigkeit zu verändern, ein Sandkorn zu bewegen, dann wäre das alles nicht umsonst. Und vielleicht würde ich auch noch Größeres vollbringen.«

Er öffnete die Tür und wartete eine Weile.

»Sie gehen?«

Er rührte sich nicht.

»Ich habe gemerkt, dass meine Worte Ihnen Unbehagen bereiten. Glauben Sie nicht, es wäre meine Art, einfach so drauflos zu reden. Ich habe das aus reiner Sympathie getan. Wie schon gesagt, glaube ich, dass etwas ganz Besonderes in Ihnen steckt, nun ja, vielleicht nicht genau in diesem Augenblick, vielleicht tritt es erst noch zutage. In dieser Stadt ist es ganz sinnlos, an jemanden das Wort zu richten. Es gibt nichts zu sagen, nichts in Erfahrung zu bringen. Das ist das Eigentümliche an ihr. Bei Ihnen hingegen habe ich mich gleich zum Reden ermuntert gefühlt und bin Ihnen gefolgt. Kurz, ich habe mir in Ihrer Hinsicht etwas vorgemacht. Wenn dieser Kontakt Ihnen unangenehm ist, werde ich mich natürlich nicht weiter aufdrängen. Die Tatsache, dass wir Nachbarn sind, sollte hierbei keine Rolle spielen.« Als er fort war, stellte ich erstaunt fest, was für ein tiefer Abscheu sich meiner bemächtigt hatte. Mir war, als hätte sich etwas zutiefst Beschämendes zugetragen. Und doch wollte ich ihn wiedersehen. Schließlich tat ich den Vorfall mit den Worten ab: so ein elender Heuchler!

Tags darauf kam Louise, um in der Wohnung Ordnung zu machen. Ich hörte sie umherschleichen und den Boden fegen. Sie rollte den Teppich zusammen, schob die Fußbänke zur Seite, drehte die Stühle um. »Und was machen wir jetzt? Hast du Lust ins Kino zu gehen?« Ich griff nach der Zeitung und setzte mich aufs Bett. »Lass das doch, deine Fegerei geht mir auf die Nerven.« Sie begann, die Bettdecke glattzustreichen; am liebsten hätte ich sie am Arm gepackt und zum Teufel gejagt, aber ich riss mich zusammen. »Was hat Mutter nach unserem Wiedersehen gesagt? Komm, erzähl schon.«

»Nichts Besonderes.«

Kaum waren wir draußen, bereute ich es auch schon. Das Wetter war schwül. Die U-Bahn spie uns am O.-Platz aus, ich atmete die rauch- und lärmgeschwängerte Luft. Es herrschte ein irrsinniger Trubel. »Was für ein Krach!«, rief ich. »Samstags gehen alle einkaufen.« Ich hakte mich bei ihr unter und zog sie in eine Seitenstraße, wo deutlich weniger Leute waren: Die Menge strömte nur wenige Schritte von uns entfernt, direkt vor unseren Augen an uns vorbei.

»Tust du mir einen Gefallen«, sagte ich, »und beschreibst mir haargenau, was du siehst?«

»Wie bitte?«

»Ja, was siehst du eigentlich?«

Wir blieben eine Weile stehen und betrachteten die Leute, die gemütlich den Boulevard entlangschlenderten. Gelegentlich löste sich eine junge Frau aus der Menge und huschte zu einem der Läden mit spiegelnden Schaufenstern. Sie ging wie ferngesteuert darauf zu, mit affektierten, steifen Bewegungen, und blieb einen Moment dort stehen, bis sie mit wackelig-hastigem Gang wieder in der Menge verschwand.

»Willst du unbedingt ins Kino?«, fragte ich Louise.

Das Café war brechend voll. Es war wie an einem Feiertag, alle wirkten hektisch und nervös. Louise bestellte ein Eis, kostete und schob es zur Seite. »Schmeckt es nicht?« Sie lächelte. Ein Zeitungsverkäufer kam an unseren Tisch und bot uns eine halb aufgeschlagene Zeitung an. »Merkwürdig«, bemerkte ich, »noch ein Brand«. Die Gäste verfolgten das Kommen und Gehen mit hingebungsvollem, fast schmerzerfülltem Ernst. Sie sagten kein Wort, und doch herrschte ein ohrenbetäubendes Dröhnen: Unterhaltungen, Rufe und verstimmte Musikinstrumente, die wieder gestimmt wurden, aus dem Innern drang lautes Geschrei, vermutlich ein Streit, der zwischen Kellnern und Oberkellnern ausgebrochen war.

»Nun, zu Hause wird doch sicher über mich geredet. Könntest du mir nicht beispielsweise ein Tischgespräch wörtlich wiedergeben?«

»Ein Tischgespräch? Mutter möchte, dass du wieder nach Hause kommst. Aber das weißt du ja, sie hat es dir bereits gesagt.«

»Würdest du dich denn darüber freuen?«

»Ich fürchte, eines Tages käme es zu Streit.«

»Streit?«

Musik ertönte. Ein Frauenorchester, die Frauen waren groß und kräftig, sie trugen weiße Kittel, die rot bestickt waren, und spielten eine laute, wilde Ouvertüre; bei jedem Beckenschlag loderten Stimmen auf. Auf einmal überfiel mich Müdigkeit. Es herrschte eine allgemeine Lethargie. Als Louise ihre Handtasche öffnete, glaubte ich zunächst, sie würde nach ihrem Lippenstift suchen, in dem Moment bemerkte ich, dass sie fast gar nicht geschminkt war. Ich betrachtete ihre Augen, ihre Lippen, blickte in ihr Gesicht.

»Wie schlecht du gekleidet bist, meine arme Louise. Warum kauft Mutter dir kein anderes Kleid? Du siehst aus wie dreißig.«

Sie knöpfte den Mantel auf, und ihr Blick glitt über den schwarzen Stoff ihres Kleides, ein schmutziges, ausgeblichenes Schwarz.

»Was ist los? Jetzt fällt es mir erst auf, schon den ganzen Nachmittag hat mich dieser Eindruck gestört. Ich konnte dich nicht ansehen, weil dein Anblick ein unangenehmes, schmerzvolles Gefühl in mir ausgelöst hat. Warum kleidet man dich wie eine Bettlerin?«

Sie sah mich starr, fast verächtlich an.

»Du übertreibst«, sagte sie.

»Irgendetwas an dir ist seltsam. Bist du krank? Hast du mir etwas vorzuwerfen? Du sitzt da, aber wir wechseln kein Wort.«

»Wir treffen uns nicht zwangsläufig, um zu reden«, sagte sie schnippisch.

Ich wollte ihr sagen, wie demütigend ich ihre Reserviertheit fand. Sie setzte einen rechtschaffenen Blick auf und sah mich an, als hätte ich unrecht gehandelt, etwas Verwerfliches getan. Deswegen also wirkte sie älter, es schien, als käme sie aus einer anderen Zeit. Ihr haftete etwas Rückwärtsgewandtes an, und sie setzte alles daran, auch mich zurückblicken zu lassen. Ich winkte ein kleines Mädchen herbei, das einen Korb Blumen trug, und kaufte einen Strauß Veilchen.

»Wir hätten besser ins Kino gehen sollen«, bemerkte ich beim Verlassen des Cafés.

Müde wachte ich auf. Der Sonntag ist ein schrecklicher Tag, dachte ich bei mir. Die Portiersfrau klopfte und trat ein. An ihrem Blick sah ich, dass sie meinen Aufzug, das Durcheinander im Zimmer, die noch geschlossenen Fensterläden missbilligte. Sie brachte mir meine Mahlzeit in zwei dicht verschlossenen Schüsseln.

»Ich lüfte mal.«

Sie öffnete das Fenster. Ich war noch nicht angekleidet und fühlte mich schmutzig mit dem zerzausten Haar und den verquollenen Augen.

»Wie der schläft!«, stieß sie ärgerlich aus.

Vermutlich betrachtete sie mich noch einen Moment, bevor sie meine Kleider zur Seite legte und den Stuhl mit dem Tablett ans Sofa schob. Wie zerschlagen lag ich da.

»Wären Sie mal lieber an die frische Luft gegangen. Essen Sie wenigstens etwas.«

Als ich sie im Flur sah, rief ich sie herbei.

»Gab es heute Morgen einen Aufmarsch?«

Im Halbschlaf hatte ich einen irren Tumult gehört, Rufe, ferne Musik, Glockengeläut. Der Lärm kam jedoch nicht von der Straße, sondern aus dem Radio eines Nachbarn.

»Ja sicher, heute ist die Feier zum …« Sie nannte mir ein Datum.

Während ich über diese Feierlichkeiten nachdachte, sah ich die wichtigsten Bilder vor mir: leere Straßenzüge, geschlossene Läden, ein Teil der Stadt versunken in Stille, und dem gegenüber im Zentrum die Meute, Körper dicht an dicht, nervös auf der Stelle tretende Leute, den Blick wie gebannt auf jene andere Menge gerichtet, die Transparente und Spruchbänder trägt, feierlich voranschreitet, als verkörperte sie die Gewissheit, dass es über diesen Moment gemeinsamer Ruhe hinaus nichts mehr zu erleben gäbe.

»Mir gefallen diese Aufmärsche«, sagte ich. »Ich habe sie den ganzen Vormittag im Radio verfolgt. Wenn es mir besser ginge, würde ich keinen einzigen verpassen.«

»Mir gefallen sie auch«, sagte sie.

»Wohlgemerkt, es gibt noch andere interessante Versammlungen. Für viele Leute ist der Sonntag dem Sport gewidmet: Sie kommen zusammen, feuern sich an, rufen laut; was kann man ihnen vorwerfen? Es sind großartige Momente.« »Sport ist eine ausgezeichnete Sache«, sagte sie.

»Ja, man muss eine starke Jugend heranziehen. Aber das Kino ist auch ein gesundes Vergnügen. Im Grunde ist jede Art von Versammlung gut.«

Sie stieß ein kleines Lachen aus und senkte den Kopf. Auch ich lachte. »Was ist denn?«

»Sie gehen nicht gerade häufig aus.«

Ich sah sie an, plötzlich bekam ich Lust, ihr meine Sicht der Dinge im Einzelnen darzulegen. Sicher würde sie mich verstehen, sie war eine einfache, starke junge Frau. Wir waren auf einer Wellenlänge. Aber sie sagte:

»Es liegt wohl an Ihrer schlechten Gesundheit.«

»Danke, es geht mir zusehends besser. Wissen Sie, ich bin Junggeselle, aber das ist nicht der Punkt. Ich bin nicht einsamer als andere auch, ich lebe nicht im Geringsten allein sondern nehme an allem teil, meine Gedanken gehören allen. Ich brauche nicht verheiratet zu sein oder Zusammenkünften beizuwohnen, um ein guter Bürger zu sein.«

»Ich wollte Sie doch nicht kränken«, erwiderte sie hastig. »Alle im Haus sprechen in höchsten Tönen von Ihnen. Es ist bekannt, dass Sie fleißig und gewissenhaft sind.«

Schweigend sah ich sie an.

»Schon, aber nicht genug: Könnte man sich doch ständig in Erinnerung rufen, dass jeder geringste Eindruck, jedes kleinste Wort von Bedeutung ist! Außerdem bin ich häufig krank.«

Nach einer Weile hörte ich, wie die Tür zufiel. Nun würde ich also den ganzen Tag allein bleiben, dachte ich, mit dem Getöse einer riesigen Menschenmenge und den Sportreportagen über mir, ich würde die Straßenbäume sehen, in meinem Sessel einschlafen. Bei dem Gedanken an Schlaf blitzte eine merkwürdige Erinnerung in mir auf. Für einen Augenblick sah ich die Klinik und die Krankenschwester wieder vor mir. Ich erinnerte mich, wie ich schwer benommen dagelegen hatte, beim kleinsten Nichts hochgefahren war und doch wusste, dass ich nicht geschlafen hatte, ich war überzeugt, dass der Schlaf Komödie, Täuschung aber auch Verlockung war: Ich hatte ihm keinen Augenblick nachgegeben, das versicherten mir mein Wahn, mein Fieber, und ich hatte dies wiederholt, schließlich musste man sich zur Wehr setzen. Dieser Gedanke kam mir nun wieder in den Sinn und ließ mich nicht mehr los. Ich brauchte ihn nicht einmal zu denken: Ich zählte die Glasscheiben der Tür, betrachtete den Tisch. War es überhaupt ein Gedanke? Da erblickte ich die Teller und aß.

Gegen Abend hallten Geräusche durch die Wand. Musik heulte aus einem Grammophon. Ich hörte knarrendes Parkett, unrhythmische Schritte von Leuten, die in einem Keller auf der Stelle zu treten schienen. Gelegentlich drang ein Schrei zu mir durch, begleitet von endlosem Gelächter. Stundenlang folgte ich dem Lärm, doch als die Dunkelheit hereinbrach, schlüpfte ich in meinen Morgenmantel und ging in die Küche. Ohne Licht zu machen trank ich im Schein der Zimmer gegenüber ein Glas Wasser. Die Unordnung, der überfüllte Tisch und der Geruch nach vergammeltem Essen schlugen mir auf den Magen. Langsam ging ich den Flur entlang und nachdem ich etwas weiter vorn, auf der linken Seite, die Tür von Bouxx’ Wohnung erkannt hatte, wandte ich mich nach rechts: zu der Wand, aus der die Musik sickerte, wie aus einem Grab oder einer Folterkammer.

Kräftig klopfte ich an. Gleich darauf kam statt der jungen Frau, die ich erwartet hatte, ein Junge in Hemdsärmeln, glänzendem Haar und rundem, leicht gerötetem Gesicht an die Tür. Hinter der Garderobe begann ein lichterfüllter Raum. Die Musik brach abrupt ab.

»Ich möchte die Dame des Hauses sprechen.«

»Worum geht es?«

»Ich wohne im selben Haus, ich bin ein wenig müde. Der Lärm …«

Da erschien die blonde Frau.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich, den Blick starr auf sie gerichtet.

»Sind wir zu laut?«

Sie wurde von hinten angeleuchtet, und doch umgab ihr Gesicht ein Phosphoreszieren, ein fahles Licht, das von ihrem Teint herrührte. Sie trug ein weites, recht elegantes Hauskleid, das jedoch abgetragen und aus billigem Stoff zu sein schien.

»Es ist Sonntag«, sagte der Mann, »noch nicht einmal neun. Wir haben das Recht, Musik zu hören.«

»Es ist erst neun? Oh, dann entschuldigen Sie bitte.«

»Aber haben Sie nicht eben gesagt, Sie seien krank?«, fragte sie.

In dem Moment schaltete sie das Licht in der Garderobe an.

»Krank? Nein. Ich war unpässlich und bin noch ein wenig müde, heute Nachmittag habe ich versucht zu schlafen, habe dann aber Ihre kleine Feier gehört. Ich dachte, es sei ein Empfang. Da Sie nun aber allein sind, hätte ich besser nicht kommen sollen.«

Der Mann wandte sich zu der jungen Frau mit einer Miene, als wollte er sagen: Meine Güte! Was ist denn das für ein Sonderling? Sie blickte ihn an.

»Das macht doch nichts«, erwiderte sie mechanisch. »Wir wollten ohnehin gleich gehen. Dann können Sie ausruhen.« Ich starrte sie noch immer an: Im Licht wirkte ihr Gesicht knochig und etwas gewöhnlich, aber die Haut zeugte von blendender Gesundheit, Jugend, Lebendigkeit.

»Aber gehen Sie nicht extra meinetwegen aus.«

»Schon in Ordnung, keine Sorge«, sagte der Mann nach kurzer Pause. »Gute Besserung.«

Ich ging den Flur entlang. Als ich wieder in meine Wohnung kam, schaltete ich in allen Räumen das elektrische Licht ein. Gern hätte ich einen Bericht über diesen Tag, wie auch über mein restliches Leben verfasst: einen Bericht, oder besser gesagt, ein einfaches Tagebuch. Dass die Menschen sich alle gleichermaßen an das Gesetz hielten, oh, dieser Gedanke berauschte mich. Jeder schien nach Gutdünken zu handeln, jeder tat unbegreifliche Dinge, und doch war jede dieser verborgenen Existenzen von einem Lichthof umgeben: Es gab keinen Menschen, der den anderen nicht als Hoffnung, als etwas Überraschendes ansah und einvernehmlichen Schrittes auf ihn zuging. Was ist nur dieser Staat, fragte ich mich. Er steckt in mir, und noch in meiner kleinsten Faser, bei allem, was ich tue, spüre ich, wie er in mir lebt. Da überkam mich die Gewissheit, dass ich nur Stunde um Stunde einen Kommentar meines Handelns niederzuschreiben brauchte, um darin eine höchste Wahrheit aufblühen zu sehen: jene, die unermüdlich unter uns allen zirkulierte und vom öffentlichen Leben ständig neu entfacht, überwacht, aufgesogen und wieder ausgespieen wurde, in einem fesselnden und wohl durchdachten Spiel.

II

Ich stand früh auf. War müde und nervös. Die ganze Nacht hatte der Wind geweht, Herbstwind; das leise Scheppern der Fensterscheiben hatte mich am Einschlafen gehindert.

Im Treppenhaus heulte noch immer der Wind, die Fenster klapperten. Ich holte meine Nachbarin ein, die ebenfalls hinunterstieg.

»Darf ich Sie ein paar Schritte begleiten? Ich wollte Sie kurz sprechen.«

Draußen war der Wind so kräftig geworden, dass man immer wieder stehenbleiben und rückwärts gehen musste. Sie hatte sich ein Tuch um die Haare gebunden.

»Was gibt’s denn?«

»Am vorigen Abend war ich sehr unhöflich. Die Musik, die den ganzen Nachmittag gespielt hatte, war mir regelrecht zu Kopf gestiegen. Ich hatte mir einen fröhlichen Empfang vorgestellt, ein eher angenehmer Gedanke: Da war das Geräusch von Schritten, Gelächter, und all das nur wenige Meter entfernt, auf der anderen Seite der Wand. Doch auf einmal war ich mit den Nerven am Ende.«

»Schon gut, die Sache ist ganz bedeutungslos.«

»Ja, es ist nicht der Rede wert.«

Wir liefen nebeneinander her, im Schutz der Bäume. Am Ende des Boulevards sah ich die U-Bahn-Station.

»Arbeiten Sie nicht am Rathausplatz? Sie wissen ja vielleicht, dass ich auch in dem Viertel arbeite. Ich habe Sie schon oft in Ihrem Geschäft gesehen.«

Sie erwiderte nichts. Die Leute um uns herum waren in Eile, genau wie wir.

»Ich möchte mich trotzdem bedanken. Sie hätten mir durchaus einen unfreundlicheren Empfang bereiten können. Wenn einem der Nachbar sagt: Sie machen zuviel Krach, ist man selten geneigt, geduldig zuzuhören.«

»Haben wir Ihnen denn einen so freundlichen Empfang bereitet?«

»Ja, sicher. So scheint es mir zumindest. Immerhin war ich bei der Rückkehr in meine Wohnung geradezu begeistert. Ich fand es großartig, wie einfach und vollkommen die Beziehungen zwischen den Menschen sind. Wenn man darüber nachdenkt, ist es doch verrückt: Ich klopfe an Ihre Tür, Sie kennen mich nicht, ja, Sie wissen nicht einmal, dass es mich gibt. Und doch leuchten Ihnen meine Beweggründe ein, Sie akzeptieren sie, Sie leisten ihnen Folge, so unangenehm sie Ihnen auch sein mögen.«

»Zwischen Nachbarn ist das so üblich.«

»Nun, ich weiß natürlich, dass Ihre Freundlichkeit nicht etwa bedeutet, dass Sie mich spontan sympathisch gefunden haben. Ich bin für Sie nichts als ein beliebiger Mensch, ein Nachbar. Aber was mich daran so begeistert, ist, dass ich eben keine besondere Empfehlung brauchte. Ich interessiere Sie nicht, und doch haben Sie mich freundlich empfangen. Finden Sie es nicht auch verblüffend, dass wir auf diese Weise miteinander umgehen? Ich spreche mit Ihnen, Sie antworten mir; vielleicht bin ich Ihnen lästig, aber die Unterhaltung findet statt, als stünde nichts zwischen uns, als teilten wir die wesentlichen Dinge. Ich bin mir sicher, Sie lesen in mir wie in einem Buch.«

»Sie … Sie geraten offenbar leicht in Begeisterung. Aber ansonsten verstehe ich nicht, worauf diese Unterhaltung hinaus soll.«

»Ich glaube vielmehr, dass Sie mich völlig durchschauen«, sagte ich und sah sie an.

Wir erreichten die Station und mussten uns in die Schlange der Fahrgäste einordnen. Ein Mann drängelte sich zwischen uns, dann ein zweiter, ich sah das rote Tuch vor mir in der Menge schweben. Erst auf dem Bahnsteig neben der Sperre holte ich sie wieder ein. Als ich während der Fahrt neben ihr stand, versuchte ich, mir ihr Gesicht genau einzuprägen: Es war so und so, doch im Grunde nahm ich nur ihre weiße, schimmernde Haut wahr; sie war nicht eben jung, aber ihre Züge, ihre Wangenknochen ließen eine gesunde und kräftige Konstitution erkennen.

»Ich habe es eilig«, sagte sie, als sie aus der U-Bahn stieg.

»Ich muss Ihnen aber noch etwas sagen. Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Bitte, lassen Sie mich.«