Osman Engin

Tote essen keinen Döner

Don Osmans erster Fall

Kriminalroman

 

 

Originalausgabe 2008
© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-40062- (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21054-6

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Inhaltsübersicht

Einstimmig ins Unglück

Kannibalen ziehen um

Mord im Karnickelweg

Breinstorming

Auf frischer Tat

Im falschen Film

Wenn die Nachtigall stört

Typisch deutsch

Kanake, hau doch ab!

Don Osman in Äktschn

Knochenhauer und Beinbrecher

Leiche al dente

Tote essen keinen Döner

Neue Leiche, neues Glück

Tour de Bürgerschreck

Die Wahrsagerin

Don Osman in geheimer Mission

Akte Nowosibirsk

Leichen-Karussell

Big Bradda

Die Mörder werden gefasst

Öko-Glatzen

Don Osman im Kreuzverhör

Omas zu verschenken

Die Mörderparade

Danksagung

Einstimmig ins Unglück

Wenn ich geahnt hätte, dass mir die neue Wohnung zwar weniger Miete und niedrigere Nebenkosten, dafür aber wesentlich mehr Ärger und höhere Leichenzahlen bescheren würde, wäre ich niemals in dieses Horrorhaus gezogen.

Aber eins nach dem anderen, ich meine: eine Leiche nach der anderen. Ich muss meine wahnwitzige Mordsgeschichte von Anfang an erzählen – also bevor die Toten laufen lernten. Von dem Zeitpunkt an, als ich noch richtig glücklich, die Mörder relativ unschuldig, die Leichen ziemlich lebendig und die Schwarzarbeiter noch Weißarbeiter waren 

 

Eines schönen Morgens rufe ich nach dem Frühstück meine Familie zu einem runden Tisch an unserem eckigen Esstisch zusammen – ein bisschen gelebte Demokratie kann ja schließlich nicht schaden. Und aus langjähriger, leidvoller Erfahrung weiß ich, dass ich am demokratischsten bin, wenn ich mich vorher richtig satt gegessen habe. Dann bin ich manchmal sogar imstande, meinen kommunistischen Sohn Mehmet, den ewigen Studenten, ohne lautes Zähneknirschen zu ertragen.

Das heutige Thema unserer Familienbesprechung ist selbst ihm so wichtig, dass er, entgegen seiner lebenslänglichen Gepflogenheiten, vor zwölf Uhr mittags aufgestanden ist, um am Plenum teilzunehmen. Mit seinem ungewaschenen, zerknautschten Gesicht, seinen fettigen, langen Haaren und den zerknitterten Boxerschorts sitzt er mir im Unterhemd gegenüber. Neben ihm sehen meine Töchter Nermin, Zeynep und Hatice wie drei frisch gepflückte Rosen aus. Aber wie gesagt, da ich gerade gefrühstückt habe, bin ich unglaublich tolerant; ein Bilderbuchdemokrat durch und durch sozusagen.

Nachdem meine Frau allen Anwesenden einen kleinen Verdauungsmokka eingeschenkt hat, eröffne ich den runden Tisch. Mit dem Löffelchen an die Mokkatasse klopfend, verschaffe ich mir Gehör:

»Einen wunderschönen guten Morgen, meine liebe Familie. Wir sind heute hier an unserem heiligen Esstisch zusammengekommen, um über eine weitere glorreiche Epoche im Leben der ruhmreichen Familie Engin zu beraten. Ich danke euch für euer zahlreiches Erscheinen.«

»Vater, mach’s kurz! Lass uns schnell abstimmen, damit ich wieder ins Bett kann, du weißt doch, dass ich heute Abend …«

»Bitte nicht unterbrechen«, unterbreche ich Mehmet und fahre in meiner Rede fort, »liebe Familie, worum es geht, wisst ihr ja …«

»Ja, Vater, wissen wir! Jetzt hau rein. Ich schlaf gleich ein«, meckert mein Sohn schon wieder.

»Nun gut, kommen wir zur Sache. Wie ihr alle wisst, steht die bisherige Wohnung meines lieben Arbeitskollegen Abdullah-Ibrahim zur Disposition. Wollt ihr …«

»Ja, wir wollen! Und damit ist alles geklärt. Gute Nacht!«

»Mehmet, bitte halt die Klappe! Meine liebe Frau Eminanim und meine lieben Töchter Nermin, Zeynep und Hatice, bitte lasst euch von eurem unhöflichen und aufdringlichen Sohn und Bruder nicht bevormunden. Die heute zur Debatte stehende Existenzfrage ist extrem heikel: Wollen wir wirklich in diese große, schöne und außerordentlich preisgünstige Wohnung meines Arbeitskollegen Abdullah umziehen, oder bleiben wir weiter hier in unserem gemütlichen Karnickelweg 7b?«

»Na klar, Leute, wir ziehen um! Macht euch mal keine Gedanken wegen dem blöden Adolf. Darum kümmere ich mich schon«, versucht Mehmet erneut die übrigen Familienmitglieder zu beeinflussen. »Diesen durchgeknallten Skinhääd werde ich schon umerziehen. Oder ich vertreibe ihn genauso aus dem Haus, wie er das mit Onkel Abdullah gemacht hat.«

»Das finde ich ganz toll, mein Sohn, wie du an das Thema herangehst: immer demokratisch. Also, wer ist dafür, dass wir aus dieser Wohnung ausziehen und in die größere Wohnung von Onkel Abdullah-Ibrahim einziehen? Finger hoch!«

Meine siebzehnjährige Tochter Nermin streckt wie eine Erstklässlerin energisch ihren Zeigefinger in die Höhe und kreischt:

»Ich bin dafür, ich bin dafür! Ich schreibe gerade an einer Arbeit über Rechtsradikale in Deutschland. Dann hätte ich immer einen leibhaftigen Nazi ganz in meiner Nähe, den ich ständig für alle meine Forschungszwecke benutzen und interwjuen könnte!«

»Osman, du weißt, was mein Opa, Allah hab ihn selig, immer gesagt hat, ›Finde keine gute Wohnung, sondern finde gute Nachbarn‹«, meldet meine Frau Eminanim Bedenken an.

»Na und? Gute Nachbarn haben wir weder dort noch hier«, setzt Mehmet seine Lobbyarbeit für die neue Wohnung fort.

Ich fange langsam an, mir gewaltige Sorgen um unsere junge, aufstrebende Familien-Demokratie zu machen, da die jüngeren Geschwister der rigorosen Meinungsmache dieses grauenhaften Despoten Mehmet auf Dauer sicherlich nicht gewachsen sein werden.

»Ich will eine Wohnung, in der ich meine Ruhe habe, in der ich mich sicher, wohl und zu Hause fühlen kann«, ruft Eminanim, »und ich weiß, was dieser Adolf und seine unverschämten Freunde mit der armen Familie von Abdullah angestellt haben.«

»Mutter, hör mir doch mal zu. Du musst dir keine Sorgen machen. Darum habe ich mich schon gekümmert. Ich habe mir diesen Adolf erst gestern auf offener Straße vorgeknöpft. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt: ›Wenn du deine dämlichen Spielchen auch mit uns treibst, schlage ich dir die Birne ein!‹.«

»Mehmet, sieh dich vor, diese Nazis sind schwer kriminell«, ruft Nermin.

»Ich möchte nicht, dass du mit diesem Adolf auch nur ein Wort wechselst! Ich habe dich nicht großgezogen, damit du im Gefängnis landest!«, meldet sich wieder die besorgte Mutter zu Wort.

»Ach, wäre doch nicht schlecht«, mischt sich meine achtzehnjährige Tochter Zeynep ein, »wenn Mehmet im Knast ist, dann bekomme ich sein Zimmer und brauche mich endlich nicht mehr vor meinem Verlobten Luigi zu schämen, dass ich immer noch ein Zimmer mit meiner Schwester teilen muss!«

»Stopp, stopp«, stoppe ich sie, »noch seid ihr ja nicht verlobt! Noch hat dieser Mafioso nicht um deine Hand angehalten – zumindest nicht bei mir! Und solange kommt mir dieser Rotzlöffel nicht ins Haus; weder in das alte noch in das neue!«

»Wenn Zeynep einen Mann bekommt, dann will ich einen Hund haben«, sagt meine feministische Tochter Nermin. »Seit Jahren erlaubst du es mir nicht, weil die Wohnung angeblich zu klein ist. Aber die neue Wohnung ist ja dann endlich groß genug! Da hat nicht nur ein Hund, sondern auch noch eine Katze und ein Hamster Platz.«

»Warte, warte, nicht so schnell. Lass uns doch in der neuen Wohnung erst mal ein paar Tage selber wohnen, bevor wir sie in einen Zoo umfunktionieren.«

»Lass uns in der neuen Wohnung erst mal selber wohnen, hast du gesagt, Vater«, ruft Mehmet. »Damit ist die Sache beschlossen. Wir ziehen um. Gute Nacht allerseits!«

Kannibalen ziehen um

Nach dreizehn völlig kaotischen Tagen, wobei nicht die Zahl der Tage, sondern die Zahl meiner Kinder für das ständige Kaos verantwortlich war, ziehen wir endlich um. Und das, obwohl die Wohnung noch nicht renoviert worden ist.

Ich komme mit einem riesengroßen Umzugskarton in die neue Wohnung rein und bin völlig kaputt. Mehmet und Zeynep sitzen faul auf einem Stapel Umzugskartons und tippen wie wild auf ihren Händys rum. In der Ecke sehe ich meine Frau etwas auf einen Notizblock kritzeln. Selbst die Möbelpacker sind fleißiger als meine Familie.

»Sagt mal, bin ich der Einzige in der Familie, der hier arbeitet, oder was? Eminanim, was hast du denn ausgerechnet jetzt so Wichtiges zu schreiben?«, keuche ich wie ein halb abgestochener Kampfstier durch die Nase.

»Osman, wie ich dich kenne, wirst du gleich wie ein kleines Bäby anfangen rumzuplärren: Ich habe Hunger, ich kann nicht mehr, ich habe Hunger.«

»Seit wann schreibst du denn erst mal auf, was du kochen willst?«

»Kochen? Wieso kochen? Siehst du hier irgendwo eine Küche? Ich notiere doch nur, was ich bei Luigi bestellen muss: Zeynep will Pizza Hawaii, Nermin möchte grünen Salat mit Keimlingen. Du willst sicherlich eine doppelte Pizza mit allem drauf, was Luigi in der Restaurantküche finden kann, und Mehmet kriegt eine Pizza Kuba.«

In dem Moment kommt meine kleine Tochter Hatice mit einem leckeren, dampfenden Döner in der Hand herein. Mit der anderen Hand und den Füßen schiebt sie ein Skäitbord durch die Tür, auf dem sie ihren Computer und den Monitor transportiert.

Hocherfreut laufe ich sofort zu ihr:

»Meine Tochter, meine Retterin, mein Döner!«

Sie zeigt mir mit vollem Mund einen Vogel, rennt blitzschnell wieder raus und knallt die Tür hinter sich zu.

Ich bleibe mit offenem Mund und völlig verdattert vor der Tür stehen. Kaum habe ich mich umgedreht, kommt Hatice wieder rein und versucht mit weit aufgerissenen Augen den letzten Bissen Döner herunterzuwürgen.

»Wie die Mutter, so die Tochter«, rufe ich enttäuscht.

»Den Zwerg habt ihr zu einer richtigen Kapitalistin erzogen«, lästert Mehmet, »sie lässt sogar ihren eigenen Vater verhungern.«

»Hallo Osman, hallo Eminanim«, ruft mein guter alter Kumpel Abdullah-Ibrahim und kommt mit zwei Tabletts belegter Brötchen herein. »Weil ihr ja mit dem Umzug so beschäftigt seid, hab ich ein paar Brote für euch gemacht. Wo soll ich die hinstellen?«

Noch bevor er sie irgendwo abstellen kann, werden ihm sämtliche Brötchen aus der Hand gerissen.

»Der Einzige, auf den ich mich wirklich verlassen kann, ist mein alter Kumpel Abdullah-Ibrahim«, rufe ich, »danke, Abdullah-Ibrahim, komm her, ich muss dich abknutschen!« Er scheint aber auf meine Küsserei nicht so versessen zu sein und flüchtet sofort.

»Osman, gut, dass wir in diese Wohnung gezogen sind. Endlich mal ein ordentlich großes Wohnzimmer«, strahlt meine Frau.

»Ja, Eminanim, so groß wie ein Fußballstadion«, schaue ich mich stolz um.

»Toll, diese Ecke mit den vielen Steckdosen ist genau richtig für mich«, freut sich Mehmet.»Hier kommt meine Redaktion hin.«

»Nix da«, rufe ich sofort und schmeiße ihn, noch bevor er eingezogen ist, aus den Redaktionsräumen hinaus. »Im Wohnzimmer darfst du dich nicht breitmachen. Außerdem liest deinen Quatsch sowieso kein Schwein.«

»Das hättest du wohl gerne. Aber damit du es weißt: Hier herrscht Pressefreiheit. Schließlich leben wir in einem demokratischen Land.«

»In diesem Haus bin ich das Gesetz«, rufe ich wie ein junger John Wäyn.

»Schatz, ich habe mich wohl verhört?«, sagt meine Frau, »hier entscheide ich, das solltest du eigentlich inzwischen gelernt haben. Ich bin der Diktator!«

»Diktatorin, Mutter, das heißt Diktatorin, bitte schön«, ruft meine feministische Tochter Nermin aus dem Badezimmer.

»Wie, gibt’s so was wirklich? Oder willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragt Eminanim.

»Für deine Tochter gibt’s das schon«, sagt Mehmet, »für sie gibt’s keinen Stuhl, sondern eine Stühlin, und keinen Computer, sondern eine Computerin. Und hübsche Frauen darf ich auch nicht auf meine Titelseite nehmen, das ist ja frauenfeindlich – hässliche erst recht!«

»Bääh, Onkel Abdullahs Brötchen schmecken scheiße. Da ist weder Pfeffer noch Salz drauf«, meckert Hatice, schnappt sich von der Fensterbank eine Dose mit schwarzem Pfeffer und streut das scharfe Zeug mit der Hand sehr großzügig auf die gesamten Brötchen.

»Osman, alle unsere Freunde und Bekannten werden vor Neid zerplatzen, wenn sie diese super Wohnung sehen«, freut sich Eminanim.

»Und die neuen Nachbarn erst! Hoffentlich merken die nicht, dass wir die teuren Leihmöbel die ganze Zeit vorne rein und zur Hintertür wieder raus tragen.«

»Osman, das war meine Idee. Du hast ja nie so geniale Einfälle.«

»Frau, was soll das denn jetzt heißen? Und was ist mit dem tollen Außenlift und den zwei zusätzlichen LKWs mit Anhänger?«

»Ach, ich weiß ganz genau, dass die Umzugsfirma selber dir dieses ›Angeber-Paket‹ vorgeschlagen hat.«

»Ja, aber ich wollte es auch haben, damit die Nachbarn nicht denken, wir gehören zur Unterschicht, nur weil wir viele türkische Kinder haben.«

»Ich glaub’s einfach nicht! Wir ziehen doch nur vom Karnickelweg 7b in den Karnickelweg 57c um. Vater, wie viel hast du denn für diesen schwachsinnigen Zirkus bezahlt?«, ruft Mehmet und schlägt seinen Kopf gegen die weiche Polsterung des neuen Sofas.

»Pass auf, das Sofa ist doch nur für den Umzug ausgeliehen. Mach es bloß nicht kaputt. Das geht heute noch zurück.«

»Mit der Kohle könnte ich sicher zwei Ausgaben meiner Zeitschrift ›Wahrheit, nichts als die Wahrheit‹ finanzieren.«

»Und ich hätte von dem Geld noch einen Computer kriegen können, um zwei Spiele gleichzeitig zu spielen«, meckert Hatice.

»Und ich hätte sie endlich bekommen, meine zwei öh eh …«, ruft Zeynep und formt vor ihrer Brust zwei Rundungen mit ihren Händen.

»Zwei Silikon-Titten, nicht wahr? Oh Gott, gibt’s denn in diesem Haus keinen einzigen vernünftigen Menschen? Ich drehe gleich durch«, schimpft Nermin.

Mit meinem Brötchen in der Hand gehe ich zum Fenster und beobachte das Treiben der Möbelpacker auf der Straße. Mit einem Außenlift werden ständig Möbel in die erste Etage hochgeschickt und über die Außentreppe hinten wieder in den Garten runtergetragen, um dann erneut von vorne über den Außenlift hochgefahren zu werden.

Eminanim ist auch sehr erfreut über diesen Anblick und stößt mich mit dem Ellbogen an:

»Osman, siehst du, wie die ganzen Nachbarn hinter ihren Gardinen stehen und unseren Hausrat voller Neid anglotzen?«

Plötzlich springt Mehmet auf, rennt auf die Straße und brüllt:

»Leute, damit ihr Bescheid wisst, diese Umzugsmöbel haben wir nur für euch ausgeliehen. Das ist alles Lug und Trug. Die Enthüllungsstory darüber könnt ihr nächsten Monat in meiner Zeitschrift ›Wahrheit, nichts als die Wahrheit‹ lesen.«

Dann springt er auf das weiße Sofa, das gerade zum vierten Mal mit dem Außenlift in die Wohnung befördert wird. Für seinen Mut bekommt er selbst von den Möbelpackern Beifall zu hören.

In dem Moment taucht Nermin mit einem Tablett Teegläser aus dem Badezimmer auf und hält mir das übel riechende Zeug stolz vor die Nase.

»Kind, was ist das denn für ein Tee? Willst du mich vergiften?«

»Hab keine Angst. Das ist was ganz Gesundes. Das ist Brennnessel- und grüner Tee, gemischt mit einer Prise Schnittlauch und Ingwer.«

»Muss jetzt auch noch der Tee zu deiner Haarfarbe passen?«, stöhne ich.

»Dieser Tee ist super! Ganz Deutschland trinkt das zurzeit.«

»Nermin, das glaubt dir aber keiner«, mischt sich Mehmet ein. »Du musst in meiner Zeitschrift eine ganzseitige Farbanzeige dafür schalten. Und das ein paar Monate lang. Anders wirst du das Volk hier nicht davon überzeugen können.«

Wütend schnappt sich Nermin das Tablett und geht wieder zurück.

»Nicht wegkippen«, ruft Eminanim, »wenn die Deutschen so was mögen, dann verfüttern wir es doch einfach an unsere netten Möbelpacker.«

»Genau, die Jungs sind so müde, die merken gar nicht, was das für ein Tee ist«, sage ich.

»Und was ist, wenn alle Männer hier vor unseren Augen abkratzen?«, fragt Mehmet.

»Das nennt man halt Berufsrisiko.«

»Wie ihr wollt. Dann trinke ich eben meinen Tee alleine«, zischt Nermin eingeschnappt.

»Wenn du schlau bist, dann gibst du vorher dein Testament bei mir als ganzseitige Anzeige auf. In dem Fall bestehe ich aber auf Barzahlung im Voraus«, schlägt ihr Bruder vor.

Die Tür geht erneut auf und mein Kumpel Abdullah-Ibrahim tritt wieder ins Zimmer:

»Hallo Fäns, ich hatte gerade eine Eingebung. Mehmet, ich habe wieder ein wundervolles Gedicht für deine Zeitung verfasst. Absolut genial!«

»Abdullah-Ibrahim, muss das denn unbedingt jetzt sein, wir haben noch so viel zu tun«, flehe ich ihn an.

»Osman, mein neues Gedicht beschreibt aber deine grandiose Karriere! Von deiner ruhmreichen Auswanderung aus unserem wunderschönen Dorf in Anatolien bis hin zu dem Einzug in diese Prachtvilla, die ich leider räumen musste. Setzt euch alle hin, so was Schönes habt ihr noch nie gehört!«

»Leute, setzt euch doch endlich hin«, rufe ich, »wann schreibt schon mal jemand ein Gedicht über mich!«

»Danke, Osman, du Stolz unseres Heimatdorfes! Mein Künstlerherz weiß dein Interesse zu schätzen. Also, hört zu:

Beim Morgengrauen machte er sich auf den Weg,

Die Wurzeln in der Hand «

»Stopp mal, stopp mal«, ruft Eminanim, »ich war ja dabei, Osman hatte nur einen Koffer in der Hand und keine Möhren.«

»Aber Eminanim, das ist doch nur eine Metapher. Das nennt man künstlerische Freiheit. Wir Dichter dürfen das. Mit Wurzeln meine ich, dass er nur seine Vergangenheit dabeihatte und sonst gar nichts. Ich fang noch mal von vorne an. Also, hört doch mal zu:

Beim Morgengrauen machte er sich auf den Weg,

Die Wurzeln in der Hand 

Seine Berge, seine Felder, sein Weib, sein Leid,

Winkten ihm hinterher, ohne einen Funken Neid «

»Abdullah, das stimmt nun schon wieder nicht! Osman hat kein einziges Stück Land gehabt«, protestiert meine Frau erneut.

»Das ist Tatsachenfälschung, Onkel Abdullah, das geht nicht. So darf ich dieses Gedicht nicht in meiner Zeitung veröffentlichen«, meckert auch Mehmet.

»Du Banause«, rufe ich. »Du hast doch gehört, das nennt man künstliche Freiheit. Und jetzt seid doch endlich mal alle ruhig. Abdullah-Ibrahim, mein lieber Freund, du Stern meines Dorfes, lies weiter, was du über mich so Schönes geschrieben hast.«

Abdullah steht erneut auf, macht eine große Geste, so wie jeder bedeutende Schriftsteller, der kurz vorher den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat, und fährt fort:

»Der Zug fuhr immer weiter, immer weg «

»Abdullah-Ibrahim, ich will dir in deine künstliche Freiheit ja nicht reinreden, aber in Wirklichkeit bin ich mit dem Ford-Transit von meinem Arbeitskollegen Hasan hierhergekommen.«

»Das ist nicht so wichtig, Osman, das weiß doch kein Schwein mehr. Aber wenn du willst, kann ich es sofort ändern. Also, jetzt pass auf:

Der Ford-Transit fuhr immer weiter, immer weg «

Plötzlich knallt Abdullah die Haustür in den Rücken und die Möbelpacker rufen:

»Nicht im Weg herumstehen, Leute! Sonst werden wir nie fertig.«

Abdullah beobachtet mit großen Augen, wie die Möbelpacker mit einer Kommode zur Balkontür reinkommen, um sie dann über die Hintertreppe wieder in den Garten rauszutragen.

»Ich will mich ja nicht einmischen, aber ist das normal, was die da machen?«, fragt er irritiert.

»Das ist die künstlerische Freiheit der Möbelpacker«, sagt Mehmet, »Packer-Metapher nennt man so was.«

In diesem Moment stürmt unsere neue Nachbarin Frau Weißbrot vom Dachgeschoss in unser Wohnzimmer. Als die alte Dame meine Familie erblickt, bleibt sie erschrocken stehen und fängt an zu brüllen:

»Hilffeee, Hilfeee, Einbrecher, Mördeeerrrrr!«

»Aber nicht doch, gnädige Frau«, versucht Eminanim sie zu beruhigen.

»Hilfeee, Einbrecher, Mördeeerrrrr, Ausländeeerrrr!«

»Nermin, gib ihr eine volle Tasse von deinem komischen Tee«, ruft Mehmet.

»Oma Elfriede, das sind doch nur die neuen Mieter«, stellt Abdullah-Ibrahim uns vor.

»Gute Frau, wir tun Ihnen nichts. Wir wohnen ab heute nur hier«, sage ich.

»Hilfeee, Einbrecher, Ausländer, Hausbesetzer!«

»Oma Elfriede, hören Sie mir mal zu. Ich habe ein neues Gedicht geschrieben. Sie finden doch meine Gedichte immer so schön«, sagt mein Arbeitskollege sanft.

»Hey, weg da!«

Wieder knallt meinem Kumpel die Tür in den Rücken.

»Abdullah, geh doch endlich von der Tür weg.«

»Der liebe Abdullah-Ibrahim hat früher auch schöne Gedichte geschrieben«, sagt die Oma plötzlich ruhig.»Besonders die, die er über mich und meinen Alois verfasst hat, waren herrlich. Und viel früher, noch vor Abdullah-Ibrahim und seiner Familie, da habe ich mit meinem Mann Alois in dieser Wohnung gewohnt. Aber danach sind wir nach oben in die etwas kleinere Dachgeschosswohnung gezogen. Und dieses Fenster war früher der Lieblingsplatz meines verstorbenen Mannes. Hier saß er den ganzen Tag und hat die Straße beobachtet. Als die Wohnung frei wurde, habe ich ihn wieder an seinen Lieblingsplatz gestellt«, sagt sie, geht zur Fensterbank, nimmt vorsichtig die Dose mit dem schwarzen Pfeffer, den Hatice eben großzügig über die Brötchen gestreut hat, und streichelt sie liebevoll und zärtlich.

»Darf ich bekannt machen? Das hier ist mein Mann Alois Weißbrot. Als vor ein paar Wochen sein gutes Herz plötzlich aufgehört hat zu schlagen, habe ich ihn sofort einäschern lassen. Wenn Sie es mir erlauben, würde ich ihn noch eine Weile hier am Fenster verweilen lassen, damit er wie früher glücklich die Straße beobachten kann.«

Ich spüre, wie sich mein Magen zu drehen beginnt. Alle im Raum laufen grün an und geben Würgegeräusche von sich. Eine Sekunde später fängt die große Rennerei an. Nermin schaltet am schnellsten, deshalb ist das Badezimmer leider schon besetzt. Auf die Gefahr hin, das Treppenhaus zu versauen, laufe ich in den Keller und versuche mein Glück in der Waschküche. Vorher entschuldige ich mich noch bei meinem Kumpel:

»Abdullah-Ibrahim, wir haben uns alle irgendwie den Magen verdorben, aber mach dir keine Sorgen, weder deine Brötchen noch deine Gedichte sind daran schuld!«