Roman
Aus dem Italienischen
von Iris Schnebel-Kaschnitz
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Die italienische Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Le maschere bei Mondadori Editore in Mailand; der deutsche Titel wie auch die Kapitelüberschriften wurden in Zusammenarbeit mit dem Autor gewählt.
Die nackten Masken erschien 1995 als Quartbuch und 2007, 2012 als Taschenbuch im Verlag Klaus Wagenbach.
Wagenbachs E-Book-Ausgabe 2013
© 1995 Arnoldo Mondadori Editore, Milano
© 1995, 2007, 2012 für diese Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
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ISBN 978 3 8031 4132 3
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2565 1
ERSTES BILD
Die Papstwahl
Der chinesische Schlaf
Die Gifte und das Absolute
Ottoboni und seine Gäste
Husten und Niesen
ZWEITES BILD
Die Reise beginnt
Der Priester und die Hure
Das doppelte Gesicht
Der Wind des Teufels
Die verbotenen Bärte
DRITTES BILD
Von Barcelona nach Livorno
Sünde der Wollust
Auge um Auge
Luzifer erscheint
Verfluchte Nacht
VIERTES BILD
Von Livorno nach Ostia
Teufelsaustreibung
Mord und Totschlag
Die Versuchung des Baldassare
Arzt der Besessenen
FÜNFTES BILD
Landung in Ostia
Die Pest im Haus
Das Wunder
Geflogen
Unter den Augen Susannas
SECHSTES BILD
Von Ostia nach San Paolo fuori le Mura
Dreißig Dukaten
Zwei Ohren und nur eine Zunge
Begegnung im Dunkel
Das Fest der Gänse und der Hunde
SIEBTES BILD
Die Ankunft
»… und denk daran:
einen Menschen zu töten
ist die leichteste Sache
der Welt.«
Verkündet von den Schlägen der großen Glocke des Kapitols rief der plötzliche Tod Papst Leos X. am Morgen des 2. Dezember 1521 in der römischen Bevölkerung jene gemischten Gefühle von Ergriffenheit und Aufregung hervor, die stets das Dahinscheiden von Personen begleiten, welche durch ihre Gegenwart Leben und Geschichte einer großen Gemeinde bestimmt haben.
Nach dem Tod des Papstes stellte sich sofort das Problem der Nachfolge. Aber das Kardinalskollegium zögerte fast einen Monat, ehe es sich im Konklave versammelte, denn es wollte die Befreiung des Kardinals Ferreri abwarten, der von den Karl V. ergebenen »Kaiserlichen« in Pavia gefangengehalten wurde. Die Partei der Kardinäle, die dem König von Frankreich, Franz I. gewogen war, mochte nicht auf die Stimme eines Mitglieds des Heiligen Kollegiums verzichten, das erklärtermaßen frankophile Gefühle hegte.
Die Wahlgeschäfte begannen erst am 27. Dezember, unter düsteren Auspizien wegen des Zwists der beiden Faktionen – den »Kaiserlichen« und den »Franzosen«. Die Wahl eines neuen Papstes erwies sich sofort als Serpentinenpfad, der aber die Kardinäle jedesmal zum Ausgangspunkt zurückbrachte. So folgte eine Abstimmung auf die andere, ohne zu einer Mehrheit zu führen. In der Stadt feierte man Messen, und schloß Wetten ab; es gab auch ein paar Prozessionen, um eine rasche Übereinkunft unter den Mitgliedern des Heiligen Kollegiums zu erflehen. Baldesar Castiglione, Gesandter der Gonzaga von Mantua beim Kirchenstaat, schrieb: »Jeden Morgen erwartet man die Herabkunft des Heiligen Geistes, aber mir scheint, daß er sich weit von Rom entfernt hat.«
Am 9. Januar 1522, beim elften Wahlgang, kam der Heilige Geist endlich flügelschlagend herab in das hohe Gewölbe der Sixtinischen Kapelle, wo das Konklave tagte, und führte eine hastige Übereinkunft herbei, die viele und schwerwiegende Unbekannte barg.
Kardinal Medici – angesichts solcher Schwierigkeit eines mehrheitlichen Konsensus unter den Kandidaten zweier gegensätzlicher Lager – hielt eine kurze Ansprache an die Wähler.
»Ich sehe, daß von uns, die wir hier versammelt sind, keiner Papst werden kann. Ich habe drei oder vier Vorschläge gemacht, aber sie wurden zurückgewiesen. Die von anderer Seite vorgebrachten kann ich aus vielen Gründen nicht akzeptieren. Wir müssen also jemanden suchen, der nicht in unserer Mitte ist, der aber Kardinal sein muß und ein guter Mensch. Nehmt den Kardinal von Tortosa, Adrian Florensz von Utrecht, ein ehrenwerter Mann von 63 Jahren, der von allen als Heiliger betrachtet wird.«
An diesem Punkt intervenierte der Kardinal Caetani, der den neuen Kandidaten kannte und ihn als achtbaren Mann beschrieb. Nach solcher ersten Zustimmung zum Vorschlag des Medici folgten ihm die anderen – ein wenig aus Müdigkeit, ein wenig aus undeutlicher Überzeugung – und binnen kurzem wurde die Zweidrittelmehrheit erreicht.
So hatten die beiden rivalisierenden Faktionen sich nach vielen Auseinandersetzungen endlich auf einen abwesenden flämischen Kardinal geeinigt, den die Mehrheit der Stimmberechtigten gar nicht kannte. An diesem Punkt fiel Kardinal Cornaro, dem Dekan des Kardinalskollegiums, die Aufgabe zu, vom Fenster zum Domplatz hinaus den Namen des neuen Papstes zu verkünden. Aber der alte Cornaro hatte eine so schwache Stimme – vielleicht zusätzlich geschwächt durch die tiefe Unsicherheit über das Ereignis – daß Kardinal Campegio dem wartenden Volk die Verkündigung wiederholen mußte.
Eine große Menschenmenge war vor St. Peter zusammengeströmt, um zu erleben, wie sich der neue Papst am Fenster zeigte, aber man erfuhr mit Erstaunen und Zorn, daß es sich um einen flämischen Papst handelte, der sich gar nicht zeigen konnte, weil er im fernen Spanien wohnte. Die Nachricht von der Wahl eines »Barbaren« als Oberhaupt der Römisch-katholisch-apostolischen Kirche erschien als Beleidigung für den Stuhl Petri und für das Volk der Gläubigen. Es würden also noch Monate vergehen, bis der neue Papst überhaupt in Rom ankommen konnte. Oder man riskierte gar ein neues Avignon. Das Volk machte sich mit Geschrei und Verwünschungen Luft. Doch am verzweifeltsten von allen waren die Höflinge Leos X., weil sie wohl wußten, daß sie während des Interregnums ihre Präbenden nicht erhielten, und daß der flämische Papst gewiß seine eigenen Landsleute nach Rom rufen würde, um diese mit den Ämtern der größten Einkommen und Ehren zu bekleiden.
Die Kardinäle des Konklaves wurden sich alsbald über den Irrtum klar, den sie begangen hatten, über die Unpopularität und die Risiken dieser Wahl. Sie bereuten schon jetzt ihre Entscheidung, die zu hastig und in einem Moment von Müdigkeit getroffen worden war, nach so vielen ergebnislosen Wahlgängen. Ein Zeuge beschrieb sie wie die Geister des Limbus, in bleicher Bestürzung. Der Kirchenstaat hatte große Schulden wegen der grandiosen Verschwendungssucht des verstorbenen Leo X., wegen der Vergeudung und des Luxus der Kurie, und wegen der Notwendigkeit kostspieliger militärischer Unternehmungen, die den fortgesetzten Versuchen der beiden Rivalen Karl V. und Franz I., die päpstlichen Territorien in Besitz zu nehmen, Einhalt gebieten sollten. Ein abwesender Papst, dazu noch ein »Barbar«, emporgekommen durch die Protektion Karls V., erschien jetzt allen als schlechteste Lösung, um die Schwierigkeiten der Kirche zu überwinden.
Als die Kardinäle das Konklave verließen, empfing sie die Menge mit Pfiffen, Drohungen und höhnischen Worten. Es flogen auch ein paar Steine, weshalb die Purpurträger von diesem Tag an in ihren Palästen eingeschlossen blieben und sich mehrere Monate lang nicht auf die Straße wagten, um dem zornigen Volk nicht zu begegnen.
Kardinal Cosimo Rolando della Torre machte gerade ein Schläfchen in seinem Arbeitszimmer in der Beletage seines Palasts an der Piazza dell’Oro am Ende der Via Giulia. Hinter den Scheiben der zwei hohen Fenster, die auf den Tiber hinausschauten, glühte die Sommersonne und entzog der feuchten Erde in den Wein- und Gemüsegärten längs des Flusses einen dichten Dunst, der seit den ersten Morgenstunden reglos über Rom lag und die Umrisse der Engelsburg verwischte und das ganze Panorama des Borgo und des Vatikanischen Hügels verschwimmen ließ. Schon zweimal war ein Vogel gekommen und hatte mit den Flügeln gegen die Scheiben geschlagen, in der Hoffnung, eine Bleibe und vielleicht ein wenig Futter zu finden, und hatte den Kardinal aus dem Schlaf gerissen, der sich nun fragte, warum wohl alle gerade bei ihm Schutz suchten, der ohnedies so viel Mühe hatte, die in seinem Palast ansässige familia zu erhalten. Einem kurzen Gedanken folgend, sagte er sich, daß sein magerer Kardinalsunterhalt ihm nicht erlaube, seinen Hausstand zu vergrößern, nicht einmal um die Gegenwart dieses lästigen Vogels, der nicht begriff, daß dies kein günstiger Moment war, ihn um Gastfreundschaft zu bitten.
Der Kardinal hatte die Füße in erholsamer Haltung auf eine Fußbank gestützt, in den für den nachmittäglichen Schlaf gelösten Pantoffeln. Den Füßen pflegte der Purpurträger alle seine Beschwerden zuzuschreiben, auch die häufigen Anfälle von Migräne, und ihnen widmete er weiche Samtpantoffeln, seidene Strümpfe und auch ein paar Gebete. In der Hand, die von der Armlehne des strengen Sessels herunterbaumelte, der zwischen den beiden Fenstern stand, hielt der Kardinal einen großen Schlüssel fest umklammert. Dann und wann umnebelte sich sein Sinn für eine kurze Weile, die Augen fielen ihm zu, der Kopf sank nach hinten und die Finger lockerten ihren Griff, bis der Schlüssel herunterfiel und das metallische Klirren auf dem Marmorboden den kaum begonnenen Schlaf unterbrach.
Der Kardinal richtete den Kopf wieder auf, öffnete wieder die Augen, und streckte langsam die Hand aus, um den Schlüssel aufzuheben. Dann lehnte er den Kopf erneut gegen die Rückenlehne seines hohen Sessels, senkte die Augenlider, und war erneut zum Schlaf bereit. Kein Gedanke durchzog seinen Sinn, nur das verschwommene Bild eines weiblichen Gesichts, das in einer Wolke von Traum und nachmittäglicher Schwüle erschien und verschwand.
Kurze Augenblicke der Ruhe verstrichen, bis die Hand ihren Griff lockerte und der Schlüssel durch das gewohnte metallische Klirren auf dem Marmorboden seinen Schlaf abermals unterbrach. Geduldig und mit eingeübter Hartnäckigkeit hob der Kardinal den Schlüssel auf und schickte sich an, die seltsame Übung zu wiederholen.
Mit dieser Kriegslist, die wie eine ausgeklügelte Folter erscheinen mochte, wollte der Kardinal sich nicht für die Sünden bestrafen, die er trotz der hohen Würde des Purpurs sicherlich begangen hatte. Er bediente sich vielmehr einer alten chinesischen Methode, um in ständiger Alarmbereitschaft zu sein. Es scheint in der Tat, daß jene kurzen Momente, in denen der Schlaf den Geist verdunkelt und sich unserer Glieder bemächtigt, diejenigen sind, die eine wahre Erholung gewähren – mehr als ein langer Schlaf. Und Gott weiß, wie sehr der Kardinal della Torre Erholung nötig hatte in jenen Tagen städtischer Turbulenzen und zermürbender Verhandlungen innerhalb der Römischen Kurie. Beunruhigungen, Intrigen, Bitterkeiten, Verdächtigungen, zusammen mit den Qualen der Migräne, hatten sich um die Person des Kardinals, seinen Palast und seine familia verdichtet.
Der Kardinal war mit der Zeit an die täglichen Täuschungen gewöhnt, die notwendig waren für das Überleben in jener Periode fortgesetzter Ungewißheiten und jäher Veränderungen an der Spitze der provisorischen Regierung des Kirchenstaats – von Mal zu Mal angeordnet oder provoziert von solchen, die aus der Abwesenheit des Papstes Profit zu ziehen suchten. Hinzu kamen die täglichen Zügellosigkeiten und Türkereien der Konservatoren auf dem Kapitol, die stets schnell bei der Hand waren, Unordnung und Hurerei in der Stadt zum eigenen Vorteil zu nützen. Die Hauptstadt der Christenheyt, zerrüttet in ihren Grundvesten, ihrem Leben und ihrer Ehrbarkeyt, sah sich anheymgegeben der schendlichen und endehaften Zerstörung. Einer der Governore, entzündet zu groszer Hitze und noch heftigerem Zorn, zieh gar Gott selbst der schweren Schulde an dem Unheyl der Römer. Rom, einst Königinne und allherrschende Göttinne, sah sich in der Gegenwärtigkeit zernichtet zum Sturtz in allerdunkelste und einsamste Klüfte.
Die fortgesetzte Wachsamkeit, die Notwendigkeit, alle zu verdächtigen, auch seine Familiaren, erlaubten es dem Kardinal nicht, dem Gegenstand seiner Wünsche, der den lieblichen Namen Palmira trug, genügend Gedanken zuzuwenden. Der nebelhafte Zustand des chinesischen Schlafs schien besonders geeignet, das Gesicht jener Frau zu beschwören, die vor seinen geistigen Augen im Licht und in den Farben der sogenannten Liebe erschien. Er hatte bereits beschlossen, der strenge Kardinal, daß er ihr die Gedanken der Nacht widmen und die Stunden des Tags für die Geschäfte und Bedrängnisse freihalten würde, die ihm sein hohes Amt bescherte.
Diese Teilung war ihm als eine weise Entscheidung erschienen, aber immer häufiger drang der Gedanke an Palmira auch in das für die anderen Gedanken reservierte Feld ein. Er sagte sich darum, daß er die Zeiten des chinesischen Schlafs – jene wenigen dem Licht geraubten Momente von Dunkel und Entspannung – wohl auch dem nächtlichen Gebiet zuordnen konnte. War denn der Schlaf nicht von Natur aus eine nächtliche Institution?
DASS DER KARDINAL mit seinem Amt nicht zufrieden war, hatte er nie verheimlicht, schon seit dem Tag als er sich den Kardinalspurpur mit klingenden Golddukaten erkaufte. Der hohe Preis hatte sich als nötig erwiesen, weil ihm schon zweimal andere Bewerber für dieses erhabene Amt vorgezogen wurden – zuerst ein obskurer junger Patrizier aus Genua, mehrfach verwandt mit den Bankiers seiner Stadt, welche die Finanzen Leos X. unterstützten, und dann ein Piccolomini, bei dem, wie es boshaft hieß, alles klein war, angefangen beim Kopf.
Am Tag des großen Ämterschubs von 1513 hatte der Papst auf einen Schlag 31 neue Purpurträger ernannt und mit den erhaltenen Geldern die Bilanzen des Kirchenstaats wenigstens teilweise saniert. Aber den vielen Ernennungen entsprachen nicht ebensoviele Benefizien, und seit jener Zeit mußte sich der neue Kardinal Cosimo Rolando della Torre – von bescheidenem Adel und geringen persönlichen Mitteln – mit dem spärlichen Kardinalsgehalt begnügen, um eine gefräßige familia zu ernähren und einen Palast zu erhalten, der seine Mittel überstieg. Ein üppichter Lebenswandel, weytverbreytet und von den vielen verurteylet, die den hohen Prälaten Vorhalt machten, nicht zu bedencken, daß das prunkende und übermaßene Bauen und das allgemeyne Verlangen der Bürger nach Mehrung des Zierrats, zu besorgen gab, es könne für jene Geschlechter, welche die große Bedrohung irer Umstände nur unter etlichen Mühen wahrnahmen, den Ruin eintragen.
ALS DER SCHLÜSSEL zum zehnten Mal auf den Boden fiel und zum zehnten Mal das metallische Klirren seinen kaum angedeuteten Schlaf jäh unterbrach, beschloß der Kardinal, daß er ausreichend geruht hatte. Er streckte die noch gefühllose Hand aus, und zog, statt den Schlüssel aufzuheben, viermal kräftig an der Klingelschnur, um seinen Kammerdiener, den jungen Diakon Baldassare zu sich zu rufen, der den Auftrag hatte, das Haustor so lange zu bewachen, bis die Schlosser das schwere Gittertor angebracht hätten, das den Palast vor den möglichen Überfällen schützen sollte, die in jenen Tagen städtischen Aufruhrs vornehmlich denjenigen Residenzen drohten, in denen die reichste Beute vermutet wurde.
Sieben Kardinalspaläste waren bereits geplündert worden, und auch wenn sein eigener gewiß keine Gold- oder Silbermine war – die beiden begehrten und geschätzten Metalle der Räuber, die Rom verheerten – so mußte er doch auch mit privaten Racheakten und mit der Wut des Volks auf die Kardinäle rechnen, die den ausländischen Papst gewählt hatten. Noch immer klangen ihm die Schmähungen und Drohreden beim Verlassen des Konklaves mit den anderen Purpurträgern in den bestürzten Ohren. Nachdem sie den Weg vom Vatikanspalast zur Engelsburg durch den von Alexander VI. auf der Leoninischen Mauer gebauten Wehrgang zurückgelegt hatten, hatte das Geschrei der Menge sie noch am Ausgang der Burg empfangen und war ihnen über die Engelsbrücke bis zum anderen Tiberufer gefolgt, wo ihre Kutschen standen.
Der Kardinal wußte mit Sicherheit, daß er Feinde hatte, die jede seiner Bewegungen verfolgten wie Falken auf der Lauer. Kein anderer Zeitpunkt war so günstig wie dieser für Überfälle und für die anonyme Beseitigung wehrloser Christen. Nachdem das Gift den alten geistlichen Kammerherrn in den Himmel befördert hatte, den er einst seiner familia beizutreten bat, mit dem Ziel, das Amt des Abbreviators und die damit verbundenen Benefizien von ihm zu erben, sagte er sich, daß nun auch für ihn der Augenblick gekommen sei, wachsam zu sein.
In wessen Auftrag war der alte Kleriker vergiftet worden? Alles schien klar, als man erfuhr, daß das Amt des Abbreviators in den Büros der Datarie schon vorgemerkt war, für den Fall, daß es durch Verzicht oder Tod des Inhabers verfügbar würde, und zwar für seine Eminenz den Kardinal Valerio Ottoboni. So hatte also Kardinal della Torre diesen über jede Toleranzgrenze hinaus lästigen und gefräßigen Alten sechs Jahre lang in seinem Hause durchgefüttert, um dann zu erfahren, daß ein Fremder ihm das Amt gestohlen hatte – mit einem Handstreich, der ihn im übrigen bei der gesamten Römischen Kurie lächerlich machte. Ein niederträchtiger Raub und ein entwürdigendes Schelmenstück, zumal Kardinal Ottoboni sich nicht damit begnügte, das Amt des Abbreviators an sich zu reißen, das er seinem schon reichen cursus honorum beifügte, sondern den Anlaß auch noch mit einem großen Bankett feierte, an dem zahlreiche Mitglieder des Kardinalskollegiums teilnahmen.
Die Schmach war umso bitterer, als sie die Komplizenschaft zwischen den Beamten der Datarie offenbarte, welche die Vormerkung des Kardinals Ottoboni eingetragen hatten, ohne denjenigen zu verständigen, der den alten Amtsinhaber schon seit Jahren in seinem Haus beherbergte. Der Erwerb des Abbreviatoramts und der damit verbundenen Benefizien fügte sich in einen großangelegten Plan Ottobonis, der die Anhäufung jener päpstlichen Pfründen anstrebte, die nicht nur die einträglichsten waren, sondern auch nicht in Gefahr standen, abgeschafft zu werden, wie die nicht päpstlichen, über die der neue Papst sich schon negativ geäußert hatte, weil er sie als ein Element der Unordnung und der Korruption im Schoß der Römischen Kurie ansah.
ENDLICH HÖRTE DER KARDINAL della Torre die Schritte des jungen Diakons näherkommen, seines Kammerdieners für vielerlei vertrackte und vertrauliche Obliegenheiten, wie geheime Botschaften überbringen, Anträge in den Büros der Datarie für vakante Benefizien stellen, diplomatische und administrative Neuigkeiten sammeln, in den Büros des Schatzamts das Kardinalsgehalt abholen, und andere höchst private Aufträge wie das Sammeln von Informationen über den Absender jener Gifte, die in den Kardinalspalast eingeschleust worden waren.
Während der Stunde des nachmittäglichen Schlafs mußte der Diakon Baldassare das Haus überwachen, um zu verhindern, daß verdächtige Personen hereinkamen, mußte die Lieferanten und alle anderen kontrollieren, die von den zwei Gendarmen am Eingangstor einen Passierschein erhalten hatten. Durch sein Guckfenster an einer Seite des Eingangs mußte er außerdem all diejenigen verhören, die um eine Audienz beim Kardinal ansuchten, mußte aufpassen, daß niemand auf anderen Wegen ins Haus gelangte, und mußte Alarm schlagen, wenn er auf der Straße verdächtige Bewegungen bemerkte. Nach der Wahl des flämischen Papstes, der zwar noch abwesend war, aber bereits Anlaß zu wütenden Volksunruhen gab, wurde es ein schwieriges Unterfangen, die Antragsteller von jenen Übeltätern zu unterscheiden, die versuchten, sich in den Palast an der Piazza dell’Oro einzuschleichen.
Als der junge Diakon Baldassare vor dem Kardinal erschien, der noch auf seinem Sessel saß, hatte er zu warten, bis dieser das Wort an ihn richtete. Der junge Mann war verstört vor dem Kardinal stehengeblieben, der ihn mit ironischem Blick forschend ansah aber schwieg. Er begann deshalb nervös zu werden, und obwohl er an die Wunderlichkeiten seines Herrn gewöhnt war, hatte diese Art des Schweigens seine besinnliche Ruhe und seine heitere Gelassenheit eines treuen Dieners schon manchmal gestört.
Endlich begann der Kardinal zu sprechen.
»Hat sich niemand am Haustor gezeigt?«
»Niemand, Eminenz.«
»Kann ich mich auf deine Umsicht verlassen? Denkst du, daß ich unbesorgt ruhen kann, oder sollte ich lieber mein eigener Wächter sein?«
Der junge Diakon sah den Kardinal ängstlich an.
»Ich bin ein schwacher, aber ein treuer Mensch.«
»Was meinst du damit, wenn du von deiner Schwäche sprichst?«
»Ich meine damit, Eminenz, daß der Mensch nicht vollkommen ist, weder mit den Augen noch mit dem Gehör, und daß ihm deshalb gelegentlich Fehler unterlaufen. Aber meine gute seelische Veranlagung und meine Treue Euch gegenüber sind Eigenschaften, auf die Ihr zählen könnt.«
»Willst du damit sagen, daß du den Auftrag mit Umsicht ausgeführt hast, oder muß ich mich mit deiner guten seelischen Veranlagung begnügen?«
»Beides, Eminenz.«
»Tritt näher.«
Der junge Diakon tat einen Schritt auf den Kardinal zu, der ihm aufmerksam ins Gesicht sah.
»Dreh dich zur Seite und komm noch näher.«
Der Kardinal befahl ihm, sich so zu drehen, daß seine rechte Wange vom Licht des Fensters besser beleuchtet wurde.
»Ich sehe auf deiner Backe rote geometrische Zeichen. Wenn ich mich nicht irre, entsprechen diese Zeichen dem Muster des dünnen Eisengitters, durch das du den Eingang überwachen solltest. Was bedeuten diese in deine Backe gepreßten Zeichen?«
Der Diakon Kammerdiener verharrte einige Augenblicke in Schweigen, so lang wie er brauchte, um eine würdige und nicht allzu kompromittierende Antwort zu finden.
»Es bedeutet, Eminenz, daß ich die Backe an das Gitter des kleinen Fensters gelehnt habe.«
Der Kardinal deutete ein Lächeln an.
»Darüber besteht kein Zweifel. Aber jetzt frage ich dich: glaubst du, daß deine Antwort ausreichend ist, oder könnte sie irgendeine Verschweigung verbergen?«
»Verzeihung, Euer Eminenz, aber Verschweigung ist ein doppeldeutiges Wort.«
»Wir wollen sehen, ob ich klarer sein kann. Ich habe früher einmal Rhetorik unterrichtet an einem Internat in Perugia, und ich habe es verstanden, den Wörtern einen Sinn zu geben, der klar genug war, auch für die unwilligsten Schüler. Ich würde sagen, daß Verschweigung ein Verhalten von Vorsicht oder Arglist ist, wodurch man einen wesentlichen Teil der Rede unterdrückt, um ihren Sinn zu verfälschen.«
Der Diakon verharrte nochmals ein paar Augenblicke in Schweigen. Dann senkte er die Augen und entschloß sich endlich, sein Geständnis zu machen.
»Ich habe etwas verschwiegen, Eminenz.«
»Diese Zeichen auf deiner Backe haben dich verraten, sie sind das sichtbare Zeichen der Verschweigung.«
»Ja, Eminenz.«
»Du hast gestanden, daß du deine Backe an das Fenstergitter gelehnt hast, aber du hast verschwiegen, daß du in dieser Stellung eingeschlafen bist, hab’ ich recht?«
»Ihr habt recht, Eminenz.«
»Es ist dir gelungen, die Wahrheit zu verbergen, ohne zu lügen.«
Der Diakon hatte Mühe, ein Lächeln der Befriedigung zu unterdrücken.
»Ja, Eminenz.«
Der Kardinal machte eine Pause.
»Wann wird das Gittertor vor dem Eingang angebracht?«
»Im Lauf des morgigen Tages – so sagt der Schlosser.«
»Wenn das Tor angebracht ist, bekommst du ein paar Tage frei. Deine Wachsamkeit läßt viel zu wünschen übrig, aber bei anderen Gelegenheiten hast du dich nützlich gemacht durch das Sammeln von Informationen, auch wenn es mir noch nicht gelungen ist, eine Bestätigung in Bezug auf die Person zu bekommen, welche die Vergiftung unseres Abbreviators und Kammerherrn – requiescat in pace – und zugleich einen Anschlag auf meine Person angeordnet hat.«
Der Diakon sah ihn mit unverhohlener Verwunderung an. »Es wäre nicht das erste Mal, Eminenz, daß man eine Person umbringt, damit ihr Amt verfügbar wird, aber ich verstehe nicht, warum jemand es auf Eure Gesundheit abgesehen hätte.«
»Wenn du die jüngsten Zwischenfälle in deine Rede einbeziehst, dann wirst du merken, daß ich es jetzt bin, der in Gefahr ist. Der alte Geistliche war sicherlich das erste Ziel des Giftmörders, aber ich glaube, daß das Gift auch für meine Person bestimmt war, mit der Absicht, ein doppeltes Ergebnis zu erzielen: das Amt des Abbreviators an sich zu reißen und einen gefährlichen Rivalen im Hinblick auf weitere noch begehrtere und gehaltvollere Ehren auszuschalten. Auch wenn ich diesmal dem Gift entronnen bin, so spüre ich doch um mich herum einen Dunst der Verschwörung, und ich kann mir nicht erlauben, friedlich auszuruhen, nicht einmal während der kurzen Weile, die ich mir nach dem Mittagsmahl gönne.«
»Ich werde mich bemühen, die Nachrichten, die Ihr von mir haben wollt, zu bekommen, aber seit man diese Frau beseitigt hat, die unten in der Küche beschäftigt war, habt Ihr meiner Ansicht nach in Eurem Haus nichts mehr zu befürchten.«
»Das Wort ›beseitigt‹ gefällt mir nicht. Man hat diese bösartige Giftmischerin ins Gefängnis von Tor di Nona gebracht, und das scheint mir die Strafe, die sie verdient hat und für die ich mich verantwortlich fühle. Daß sie in ihrer Zelle erdrosselt wurde, gehört zu ihrem Schicksal, das vom Willen Gottes und nicht von meinem abhängt.«
»Vielleicht sollten wir auch den Tod unseres Abbreviators dem Willen Gottes zuschreiben und unsere Sorgen vergessen. Wie denkt Ihr darüber, Eminenz?«
»Oh nein, Gott hat unseren Geistlichen keineswegs vergiftet. Im übrigen war er schon so alt, daß er auch ohne das Gift bald in den Himmel gekommen wäre.«
»Er war der Älteste Eures ganzen Hausstands, und das Gift hat seinen Tod nur beschleunigt.«
»Möchtest du damit sagen, daß die Giftmörder weise gehandelt haben?«
»Ich sagte nur, daß er sehr alt war.«
»Aber ich bin noch nicht sehr alt. Also?«
Der Diakon war verwirrt und fand keine Worte.
»Und du hast dich nicht gefragt, warum ich nach dem Ende dieser Frau noch immer in Gefahr bin? Wer mit Gift umzugehen weiß, der kann seine Feinde auch mit anderen Mitteln beseitigen, glaubst du nicht? Der Wille zu töten ist stärker als das Gift und der Dolch. Er findet hundert, ja tausend Wege. Unser Leben ist so gefährdet und so fragil.«
»Ab morgen haben wir ein robustes Gittertor, das uns vor den Gefahren der Straße schützt.«
»Das genügt mir nicht. Es gibt Räuber, die eiserne Gittertore nicht fürchten.«
»Ich kann mir denken, auf wen Ihr anspielt, Eminenz, aber ich verstehe nicht, warum Ihr Euch so sehr vor einem Menschen fürchtet, der die gleiche Macht hat wie Ihr. Ihr habt beide den gleichen Rang, soviel ich weiß.«
Der Kardinal della Torre hatte ein festes Vertrauen in die Loyalität des Diakons Baldassare, dem er – trotz mancher jugendlicher Naivität und Achtlosigkeit – schon manches Mal vertrauliche Aufträge erteilt hatte.
»In meiner Eigenschaft als Kardinal bin ich nicht in Gefahr, aber als Konkurrent für das Amt des Kardinalkämmerers – um dir den Wettkampf um die begehrten Ränge begreiflicher zu machen.«
»Das hatte ich verstanden, Eminenz, aber ich glaubte nicht, daß Euer Leben deshalb in Gefahr sei.«
»Das ist es aber.«
»Die Wahrheit ist manchmal ganz und gar unwahrscheinlich. Sagt mir, was ich tun soll.«
»Wie du siehst, habe ich keine Geheimnisse vor dir. Ich habe dich in analytischem Sinn über die Lage informiert und über meine Wünsche und die Gefahren, in die mich diese Wünsche bringen. Jetzt möchte ich nur, daß du einen kurzen Urlaub nimmst«, sagte der Kardinal mit einem halben Lächeln, »in der Hoffnung, daß es dir gelingen möge, ihn gewinnbringend zu nutzen.«
Der Kardinal machte eine Gebärde, um seinem Vertrauten zu bedeuten, daß das Gespräch beendet sei. Der Diakon Baldassare küßte den Saphirring und entfernte sich mit leichtem Schritt.
Vier Wochen nach dem Tod Leos X. war der alte Kardinal Accolti, Kardinalkämmerer der Hochwürdigen Apostolischen Kammer, an der Pest erkrankt – zum Entsetzen der vielen Kardinäle, die sich einbildeten, ihr Purpur würde sie vor Ansteckung schützen. Man sagte sogar, der arme Accolti sei ganz schwarz gewesen, wie rußgeschwärzt, und niemand sei hingegangen, um der Leiche die letzte Ehre zu erweisen. Er wurde ohne Trauerfeier beerdigt, mit einer hastigen Grabrede, vorgetragen von einem Dichterling der Akademie der Schlafmützen, den man aus Civitavecchia kommen ließ, weil sich in Rom niemand fand, der bereit gewesen wäre, über den an der schwarzen Pest Gestorbenen zu reden.
Kaum hatte Kardinal Accolti seinen Geist aufgegeben, erhoben Kardinal Cosimo Rolando della Torre einerseits und Kardinal Valerio Ottoboni andererseits unverzüglich Anspruch auf die Nachfolge im Amt des Kardinalkämmerers – auch diesmal wieder in härtestem Wettstreit.
Das Amt des Kardinalkämmerers verlieh diesem das Recht, auf einem weißen Maultier reitend und mit einem wappengeschmückten roten Koffer ausgestattet an den feierlichen Umzügen teilzunehmen, gold- und purpurgewirkte Tressen an seinem Seidenmantel zu tragen, und sich mit dem Titel eines »Tischgenossen des Papstes« zu schmücken. Die Präsenz des Kardinalkämmerers in den Büros der Apostolischen Kammer war erforderlich bei der Herausgabe der Päpstlichen Breven, die vom römischen Amtssitz abgingen, mit zwingender Wirkung und Pflicht zu unbedingtem Gehorsam, während die eher empfehlenden Breven in der Geheimen Kammer besprochen oder dem Ermessen des Papstes überlassen wurden. Die Präsenz des Kardinalkämmerers, sei es in der Apostolischen Kammer, sei es in der Geheimen Päpstlichen Kammer, verlieh diesem Amt nicht nur ein hohes Ansehen, sondern auch eine wirkungsvolle Möglichkeit, die Entscheidungen des Papstes zu beeinflussen.
Der Kardinalkämmerer war de facto und nominell das Haupt der Apostolischen Kammer und vereinigte in seiner Person die Kompetenzen der verschiedenen Rangordnungen dieses höchsten Organs der Macht: das Hauptschatzamt, die Allgemeine Buchhaltung, die verschiedenen Provinzschatzämter, die Ämter der geistlichen Kammerherren, die außer dem Büro des Abbreviators auch die Ernährungspräfektur und den Vorsitz in weiteren Ämtern umfaßten – denen der Lebensmittelversorgung, der Straßen- und Uferpflege, der Münze, der Gefängnisaufsicht, des Zolls, der Wasserversorgung, der Waffen und Archive – und schließlich das Meereskommissariat und die Präfektur der Engelsburg. Der Vizekämmerer, der dem Kardinalkämmerer direkt unterstand, bekleidete außerdem das Amt des Gouverneurs von Rom, mit weitreichenden zivil- und strafrechtlichen Vollmachten, gemeinsam mit dem Richter der Kammer.
Nach dem Tod des alten Kardinalkämmerers, der sofort nach der Wahl des flämischen Papstes gestorben war, ohne noch an der Abstimmung teilzunehmen, munkelte man, daß eben diese schreckliche Nachricht, die ihn aus dem Konklave erreichte, ihm den letzten Stoß zum Flug in den Himmel gegeben habe, mit dem er sich endgültig von dieser unglücklichen Welt verabschiedet hatte.
Es begannen nun also seitens der beiden Kardinäle Cosimo Rolando della Torre und Valerio Ottoboni die mannigfachen Machenschaften, um das äußerst ertragreiche Amt des Kardinalkämmerers zu ergattern.
In der Regel war dessen Einsetzung dem Papst vorbehalten, aber während einer längeren Abwesenheit des Papstes konnte sie auch durch Abstimmung im Heiligen Kardinalskollegium geschehen. Eine solche Abstimmung in Abwesenheit des Papstes warf aber ein widersprüchliches Problem hinsichtlich der Prozedur auf. Zunächst mußte das Kardinalskollegium zusammengerufen werden, das in Abwesenheit des Papstes zur Wahl des neuen Kardinalkämmerers befugt war, wenn diese als notwendig und dringend erachtet wurde. Aber die Einberufung des Heiligen Kollegiums war ausschließliches Vorrecht und Pflicht des Papstes. Also gedachte man, dieses prozedurale Hindernis zu umgehen, durch eine Versammlung der Kardinäle ohne offizielle Einberufung, so als wäre sie ganz zufällig oder durch das Eingreifen des Heiligen Geistes zustande gekommen. Gelänge dieser Plan, dann würde der Papst das Faktum schließlich »pro bono pacis« akzeptieren und den neuen Kardinalkämmerer im Amt behalten. Aber niemand ergriff die Initiative, die Kardinäle »sine forma« einzuladen, und der Heilige Geist war unauffindbar.
Der Einsatz war sehr hoch und so beschaffen, daß er alle Energien der beiden konkurrierenden Kardinäle in Anspruch nahm, wobei keinerlei Mittel ausgeschlossen wurden – nicht einmal das des Gebets, zu dem der eine wie der andere nur in höchsten Notfällen als allerletzte Hilfe Zuflucht nahm. Aber die Lage blieb festgefahren, durch ein Übermaß an diplomatischer Vorsicht bei den Hauptinteressenten, und wegen der Arbeitsscheu der anderen Kardinäle.
SEITDEM DAS GIFT den alten Klerikus Abbreviator, diesen beharrlichen Sünder der Völlerei, ins Paradies oder manchen zufolge ins Fegefeuer, wenn nicht gar in die Hölle befördert hatte, war beim Kardinal della Torre eine gewisse Beunruhigung eingetreten, die seinen Ruf eines entschlossenen Mannes und starken Charakters zu widerlegen schien. Beunruhigung durch die Furcht vor Attentaten und die häufigen Migräneanfälle, die von Melancholien rätselhafter Ursache begleitet waren, über die der Diakon Baldassare bereits seine Vermutungen angestellt hatte.
So beschäftigte sich der Kardinal in seinen Lektüren der letzten Zeit zum Beispiel mit historischen Angaben über die Freudenmädchen im alten Rom. Aus Gründen der Menschlichkeit, hatte der Kardinal seinem Kammerdiener, dem jungen Diakon Baldassare erklärt. Aber was bedeuteten diese sibyllinischen Worte? Was suchte der Purpurträger in solchen Lektüren? Riefen die sittenlosen Damen der Antike ihm vielleicht das weiße Antlitz Palmiras ins Gedächtnis? Der Diakon war fest überzeugt, daß der Wettstreit mit dem Kardinal Ottoboni um das Amt des Kardinalkämmerers auch eine dunkle und verzweifelte Leidenschaft verdeckte. Der bleichen Ferraresin mit den roten Haaren und dem sommersprossigen Gesicht war es gelungen, schon im Vorbeigehen wilde Eifersüchte zu entfachen. Ein verliebter Kardinal verhält sich nicht wie irgendein anderer Verliebter und nicht einmal mehr wie ein Kardinal. Er ist ein Wesen außerhalb der Norm, selbst wenn man von außen gesehen keine Zeichen von Abartigkeit bemerkt. Die Liebe verwandelt die Menschen, sie setzt innere Wirrungen in Gang und stellt einen Kardinal barhäuptig in den Wind. Sie raubt ihm Purpur und Würde und läßt ihn beinah einem Menschen ähnlich erscheinen.
Als der Diakon eines Tages in der Bibel des Kardinals blätterte, entdeckte er im Evangelium des Heiligen Markus einige unterstrichene Zeilen. Der Abschnitt behandelte die Gefangennahme Jesu durch die römischen Soldaten im Garten Gethsemane, während die Jünger erschrocken fliehen. Die unterstrichenen Zeilen lauteten: »Und es war ein Jüngling, der folgte ihm nach, der war mit Leinwand bekleidet auf der nackten Haut, und die Soldaten griffen ihn. Er aber ließ die Leinwand fahren und floh nackt von ihnen.« Der Diakon war verstört von diesen wenigen Zeilen, die er nicht kannte, vor allem aber von der Unterstreichung des Kardinals. Er prüfte die Evangelien von Matthäus, Lukas und Johannes. Keine Spur eines nackten Jünglings. Wie sonderbar. Der Diakon fragte sich, wer dieser Jüngling wohl sei und was er im Garten Gethsemane suchte, aber vor allem, welche verschrobenen Ideen im Kopf des Kardinals herumschwirrten, der diese wenigen so zweideutigen Zeilen unterstrichen hatte. In welche Richtung mochten seine enttäuschten Gefühle und Triebe gehen? Was für ein schlechter Ratgeber ist doch die Enttäuschung!
Bis zu diesem Tage hatte der Diakon im Leben des Kardinals nie Anzeichen einer verdächtigen Abwegigkeit bemerkt, aber die eben entdeckte machte ihm Sorgen. War es nur akademische Neugier oder eine gefährliche Verirrung der Sinne? Wie vielen Geheimnissen begegnet man täglich um sich herum – auf der Straße, in den Büchern, in den Augen und Herzen der Nächsten.
DER JUNGE DIAKON versetzte sich in die Gemütslage dessen, der nicht nur das Leben des Kardinals schützen, sondern auch darauf achten muß, seine eigene Integrität zu wahren. Er fürchtete sich nicht vor Attentaten finsterer Feinde wie der Kardinal della Torre, aber er mußte sich vor jenen anderen verderbten und ruhelosen Wesen hüten, die gleich ihm im Dienst der Mächtigen standen, und die ihn schon mehr als einmal belästigt oder es wenigstens versucht hatten. In allen schwierigen Momenten erinnerte er sich daran, daß die Luft schwer und die Erde hart ist, und daß leider nur diese eine einzige Welt existiert, die man so bequem wie möglich bewohnen sollte, wohlgenährt und behütet, vor Wind und Regen geschützt, und weit weg von Flöhen und Ratten.
Das Haus des Kardinals – wie zerrüttet dessen Finanzen auch waren, seit er sich von den florentinischen Bankiers im Brückenviertel fünfhundert Dukaten geliehen hatte, und wie sehr der Purpurträger sich auch über die Dürftigkeit seines Kardinalsgehalts beklagte – war komfortabler als die öde Zelle des Franziskanerklosters in der Via della Scrofa, aus der die Anstellung als Kammerdiener im Kardinalshaus an der Piazza dell’Oro ihn herausgeholt hatte.
DER PRIOR DES KLOSTERS hatte ihm eine Zelle ganz oben unter dem Dach zugewiesen, mit niedrigen Balken, die ihm gegen die Stirn stießen, und kalten Luftzügen, die durch das kleine Fenster und die Türritzen hereindrangen. An einer der bröckeligen Wände hatte er eine obszöne Kohlezeichnung entdeckt – vielleicht das Werk eines Klosterbruders, der diesen Ort vor ihm bewohnt hatte, oder eines boshaften Eindringlings.
Der junge Diakon hatte das Gekritzel nicht weggewischt, denn, so hatte er sich gesagt, da er der Versuchung zu sündigen sowieso widerstehen mußte, konnte dieses Zeugnis des Bösen auch eine Ermahnung zu sittsamem Denken und Verhalten sein. Er hatte sich gesagt, daß der Glaube jedes Mittel benützt, um die Oberhand zu behalten, aber immer wenn er abends nach der Vesper in seine Zelle zurückkehrte, eilten seine Augen zu den obszönen Figuren, etwa so wie ein ehrenhafter Mann oft die erregende Gesellschaft eines Diebs oder Glücksritters nicht verschmäht. Die unbeholfen skizzierte aber in ihrer Aussage deutliche Zeichnung war schließlich zu einer Zerstreuung für seinen durch Gebete und zehrendes Fasten geschwächten Geist geworden, eine von unbekannter Hand gebotene Gelegenheit für seine Phantasie – gefesselt an diesen Ort täglicher Einsamkeit und unterdrückt von der stets wiederkehrenden Melancholie über die unwiederbringlich verlorenen Tage und Jahre seiner Jugend.
Aber was der junge Diakon in dieser Zelle am meisten fürchtete – mehr als die Kälte und die Hitze – das waren die Ratten. Große Ratten, die aus den Senkgruben bis dort oben heraufkamen, dicht an den Wänden entlanghuschend, über die Treppen und durch die Klostergänge rennend, unter den schadhaften Türen durchschlüpfend, bis sie zum Dach gelangten. Die Ratten waren die Träger der Pest und die Herren der Dämmerung und der Nacht. Wie oft war er durch das leichte Geräusch ihrer Ankunft aufgewacht – ein weiches, rasches und unverwechselbares Geräusch. Aber sobald er die Kerze neben dem Bett anzündete, ergriffen sie die Flucht, ihre großen und weichen Leiber durch unglaublich enge Ritzen zwängend. Der junge Diakon fürchtete, daß sie ihn im Schlaf angreifen könnten. Er hatte von Kanalarbeitern gehört, die von Ratten gefressen worden waren, von schlafenden Kindern, deren Gesichter die Ratten angenagt hatten, von auf der Bahre zerfleischten Leichen. Aber was den Ratten am besten schmeckte, das waren die Pergamente.
Eines Tages hatte er zwischen den Seiten eines alten theologischen Traktats ein Blatt gefunden, auf dem in fast unleserlicher Schrift wenige Zeilen geschrieben standen, und hatte es auf seinen Schreibtisch gelegt, um es am nächsten Tag zu lesen. Während der Nacht zernagte eine Ratte das Blatt und verstümmelte dabei den Satz, den er schließlich mit großer Mühe entzifferte. Der Satz lautete: »Demonstratio absoluti stat cum evidentia in existentia … « Worin aber bestand, dem anonymen Schreiber des zernagten Pergaments zufolge, der offensichtliche Beweis des Absoluten? Das hatte er sich schon so oft gefragt, und der verstümmelte Satz blieb fortan ein ständiges Ärgernis für den armen Diakon.
Welches Geheimnis enthielt das zwischen die Seiten der Theologia des Proklos geschobene Pergament? Es war nicht so sehr die Hoffnung, in den von der Ratte verschlungenen Wörtern die Wahrheit zu finden, als vielmehr die beunruhigende Vorstellung, nie mehr im Leben den Gedanken jenes unbekannten Schreibers zu erfahren, der mit solcher Sicherheit behauptete, den Beweis für das Absolute zu kennen. Er hatte den ganzen Band des Proklos aufmerksam durchgelesen, um zu prüfen, ob der Satz aus dem Text des neuplatonischen Philosophen abgeschrieben war, aber ohne Resultat. Eine Leere – und diese wahrlich absolut – war durch eines dieser abscheulichen Nagetiere in seinem Gehirn entstanden.
Der junge Bischof Ottoboni hatte sich – kaum unter dem Pontifikat Leos X. aus Venedig angekommen – in einem dreistöckigen Palast beim Alten Zollamt nahe dem Pantheon eingerichtet. Er hatte sofort begriffen, wie in Rom der Mechanismus der Ämtervergabe funktionierte und hatte sich mit dem Sekretär der Datarie angefreundet, der ihn stets im voraus benachrichtigte, wenn irgendwelche Pfründen durch Verfall, Verzicht oder Tod eines Amtsinhabers verfügbar wurden. So war der unaufhaltsame Aufstieg des jungen Prälaten in Gang gekommen: die Anhäufung von Pfründen, die Renovierung und Neueinrichtung des prächtigen Palasts unweit des Pantheons und die raschen Schritte hin zum Purpur und zum weltlichen Erfolg.
Unter den hohen Prälaten der Leoninischen Stadt raunte man sich zu, daß Ottoboni Flügel an den Füßen haben müsse wenn nicht gar die Gabe der Allgegenwart. Es war üblich, daß die oberen Hierarchien in den Genuß von Pfründen auch außerhalb der Grenzen ihrer eigenen städtischen oder vorstädtischen Bezirke kamen, aber noch nie hatte man eine derartige Anhäufung von Benefizien gesehen, an so fernen Orten und so weit in den Staaten der Christenheit verstreut. Nie hätte Ottoboni all die ihm zugewiesenen Prälaturen besuchen können, selbst wenn er sich entschlossen hätte, alle Jahre seines Lebens auf dem Meer oder den staubigen Straßen Europas zu verbringen.
Bereits ein Jahr nach seiner Ankunft in der Hauptstadt zum Kardinal an der Kirche der Heiligen Francesca Romana ernannt, war Valerio Ottoboni zugleich Bischof von Gloucester und Primat von Reims. Als Mitgift von seinem Vater hatte er bereits in jungen Jahren die Titel des Kanonikus der Kathedralen von Fiesole und Arezzo erhalten, sowie die des Rektors zu Carmignano, zu Giogoli und zu San Casciano. In der Folge hatte er seine kanonischen Lehrbefugnisse auf San Pier di Casale, San Marcellino di Cacchiano, San Giovanni im Valdarno, auf Speyer in der Pfalz und Mainz ausgedehnt. Er war Prior in Montevarchi geworden, Cantor an Sant’ Antonio zu Florenz, Propst zu Prato, Abt an San Giovanni zu Passignano, am Miransù im Valdarno, an der Santa Maria von Morimondo, an San Martino zu Fontedolce, an San Salvatore von Vaiano, an San Bartolomeo zu Anghiari, an San Lorenzo von Coltibuono, an der Santa Maria von Montopulciano, an Saint Julien von Tours, an San Clemente zu Volterra, an Santo Stefano zu Bologna, zu Pin im Poitou und in La Chaise-Dieu.
Kardinal Ottoboni rechtfertigte die Anhäufung von Benefizien mit den Ausgaben für Haushalt, Marstall, die gleichermaßen kostspieligen für Stallknechte und Pferde, und mit der Speisung der Armen, die in Wahrheit aus den Resten des Fischmarkts und den Gemüseabfällen vom Campo de’ Fiori zubereitet wurde. Es war eine so karge und unappetitliche Speisung, daß die Bettler des Bezirks, allesamt abgemagert wie Gekreuzigte, sich eines Tages auf der Straße des Alten Zollamts vor seinem Hause versammelten und zu fluchen begannen, und einer von ihnen schleuderte sogar seine Schüssel voll Suppe gegen ein Fenster der Beletage, wo sich der Kardinal eingeschlossen hatte.
Die Liste der Pfründen des Kardinals Ottoboni erregte Heiterkeit beim Volk und Zorn bei den anderen Purpurträgern, aber seine Informanten in den Büros der Datarie und die Gunst des Generalsekretärs ließen nicht davon ab, seine Kollektion noch zu erweitern und seine unersättliche »libido pecuniae« zu befriedigen. Allerdings erwies sich der Erwerb von Benefizien, zumal derer im Ausland, vom pekuniären Standpunkt her fast immer als mittelmäßiges Geschäft, weil der Aktivposten der Zehnten und Regalien in den jährlichen Abrechnungen, die bei der Buchhaltung der Ehrwürdigen Apostolischen Kammer eingingen, jeweils durch Steuern beträchtlich gekürzt erschien.
Mit der Angelegenheit hatte sich auch Pasquino in einem Schmähgedicht befaßt, das in Knittelversen und dialektaler Rede die acht Todsünden des Kardinals – hier Ottovizzi* genannt – aufzählte und mit einer obszönen Anspielung auf die exzessive Nutzung seiner beiden gefräßigen Körperöffnungen schloß. Nachdem der Kardinal das Plakat durch einen Bediensteten hatte abreißen lassen, wurde er zur Zielscheibe weiterer und noch unanständigerer Spottgedichte, die binnen kurzem in aller Munde waren von einem Tiberufer zum andern.
»Die Spottverse des Pasquino sind ein Zeichen meines Erfolgs«, sagte der Kardinal zu denen, die ihn fragten, wie er sich gegen diese Beleidigung zu verteidigen gedächte.
»Gibt sich Pasquino etwa mit Stallburschen oder zerlumpten Klerikern ab?«
NACH DER UMSTRITTENEN WAHL des flämischen Papstes hatte sich auch Kardinal Ottoboni in freiwilliger Haft im Palast am Alten Zollamt eingeschlossen und wagte sich nur eskortiert von acht bewaffneten Männern von dort wegzubewegen, um sich der Feindseligkeit der Bevölkerung nicht auszusetzen, aber mehr noch aus Angst vor den Übeltätern, welche nun freie Bahn hatten in dieser Stadt – anheymgegeben dem Verfall und gänzlicher Auflösung; in keynerlei Achtung mehr vor ehrwürdiger Gesetzesmacht, verdancke es sich Gottes oder der Menschen Hand; in solcher Trübsal und solcher Elendigkeit – ein Rom, gefallen und zur Beute geworden einer jeglicher Unthat.
Auf den Straßen begegnete man Gaunern, Halunken oder maskierten Männern, die zu Fuß oder zu Pferd umherstreiften, bewaffnet mit Schwertern und Keulen – den wahren Herren der Stadt. Die unbewaffneten Bürger bogen bei ihrem Anblick um die nächste Ecke oder verschwanden im ersten offenen Haustor. Andere Bürger einstmals durch die Angst vor Galgen oder Gefängnis gebremst, zogen des nachts umher, um sich für eine Beleidigung zu rächen, einen Rivalen auszuschalten oder einfach aus einer finsteren Laune. Jeden Morgen fand man in den Staub hingestreckte Opfer, Männer und Frauen im eigenen Blut. Und wer nicht den Mut hatte, sich allein auf die nächtlichen Straßen zu wagen, der rief junge Leute zu Hilfe, die für wenig Geld zu jeder Schandtat bereit waren.
Von beißendem Hunger geplagte Bedienstete trotteten barfuß über das in der Sonne glühende Pflaster von Haus zu Haus, mit Botschaften, worin die zum Schutz ihrer Gesundheit und ihrer Gold- und Silberschätze eingeschlossenen Herren sich gegenseitig um Hilfe baten. Das gleiche taten die hohen Prälaten, die leichte Zielscheiben wurden, wenn sie sich ohne den Schutz wohlbewaffneter Männer auf die Straße wagten. Die käuflichen Frauen vom Ortaccio oder vom Pozzo Bianco verließen ihre Viertel, um ihre Blößen zur Schau zu stellen und boten ihre Betten für wenige Karlinen feil: den Ausländern, Handelsleuten, Priestern, Pilgern oder Glücksrittern, die auf den Straßen anzutreffen waren. Zur allgemeinen Unordnung gesellte sich der Schrecken der Pest, und täglich erhielt man Kunde von ach zu vielen neuen Opfern.