Hexenwahn

 

 

 

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Band 19

 

Hexenwahn

 

von Catalina Corvo und Logan Dee

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt. Auch von anderer Seite droht Asmodi Ungemach. Unzufrieden mit seiner Herrschaft, hat sich ein Geheimbund oppositioneller Dämonen gebildet, dessen Mitglieder maskiert in der Öffentlichkeit auftreten und Asmodi zum Rückzug auffordern. Da der Fürst dies strikt ablehnt, scheint ein offener Krieg unter den Dämonen unausweichlich.

In dieser Situation tötet Cocos Mutter Thekla Zamis unter dem Einfluss Asmodis die Dämonin Traudel Medusa – die nicht nur Michael Zamis' Geliebte war, sondern auch ein hohes Mitglied der Oppositionsdämonen. Die Oppositionellen rufen zum Rachefeldzug ... aber mit Cocos Hilfe gelingt es Michael Zamis, seine Unschuld zu beweisen. Dennoch sind die Oppositionellen nicht länger an seiner Unterstützung interessiert. Stattdessen ist es plötzlich Coco, die von ihnen hofiert wird. Als sie dem maskierten Anführer der Oppositionsdämonen bei einem Treffen in Rumänien klarmacht, dass sie kein Interesse an den politischen Intrigen der Dämonen hat, verpasst er ihr ungefragt ein »Permit« – ein magisches Tattoo in Form eines zweiköpfigen Adlers. Einst, wenn die Oppositionellen die Macht in der Schwarzen Familie übernommen hätten, werde ihr dieses Permit Schutz gewähren ...

 

 

 

 

Erstes Buch: Hexenwahn

 

 

Hexenwahn

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1. Kapitel

 

Wie eine träge Matrone starrte die weiße Witwe auf die zuckenden Leiber hinab. Das Schwarzlicht in den Innenräumen des Clubs, dem die dünnbeinige, große Spinnenplastik mit dem aufgeblähten Hinterleib ihren Namen geliehen hatte, ließ die Figur in milchigem Weiß erstrahlen. Sie thronte in einem künstlichen Spinnennetz über der Tanzfläche, als wolle sie sich jeden Moment auf ein Opfer herablassen. Eine Herrscherin, eine dunkle Göttin, die ihre Jünger für sich zappeln ließ.

Lucy sah den Tänzern mehr gelangweilt als amüsiert zu. Sie hatte ihre langen, wohlgeformten Beine übereinandergeschlagen und strich sich die dunkelroten Locken immer wieder mit einer lässigen Handbewegung aus dem Gesicht. In der linken Hand balancierte sie einen Wodka Martini. Dabei genoss sie die bewundernden, manchmal geradezu gierigen Blicke der Kerle.

Aber Lucy war nicht interessiert. Ihre Aufmerksamkeit galt dem ungekrönten Partykönig Heiko Edlich. Der gutgebaute Mittzwanziger startete gerade eine vielversprechende Karriere als Leichtathlet. Kein Wunder, dass er die Frauen anzog wie die Leuchtreklame die Falter.

Lucy fing seinen Blick ein. Obwohl er noch glaubte, sie habe nur Augen für ihren Drink, war er ihr schon in die Falle gegangen. Heute war er die Motte. Sie dagegen … Lucy zwinkerte der weißen Witwe zu. Abwartend. Beobachtend. Und tatsächlich, genau wie Lucy es wollte, steuerte ihre Beute scheinbar zufällig auf die Bar zu und schob sich im Gedränge am Tresen neben sie.

»Hallo, Schönheit«, begann Edlich. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

Dabei fiel er ihr fast in das nicht gerade keusche Dekolletee. Lucy stand auf dem Standpunkt, dass man seine Reize durchaus vorzeigen sollte. Heiko stimmte ihr da zu, wie sie an seinem Blick bemerkte. Ihre Finger streiften flüchtig seinen Oberschenkel. Sofort rückte er näher und legte die Hand um ihre Schulter.

Aus den Augenwinkeln sah Lucy Heikos Freundin Carla, ein hübsches, kaum volljähriges Model, deren größter Hit ein Shooting für einen Möbelhauskatalog war. Darauf bildete sich die Kleine angeblich einiges ein. Zeit, die mittelmäßige Dorfschönheit von ihrem hohen Ross zu zerren. Noch dazu, weil sie ein rotes Gucci-Kleid aus der letzten Saison trug. Niemand, der ein bisschen Sinn für Klasse hatte, trug Kleider aus der letzten Saison.

»Das ist komisch«, fing Heiko an. »Obwohl ich dich noch nie getroffen habe, kommt es mir vor, als wäre diese Begegnung Schicksal.«

»Nichts passiert zufällig«, kicherte Lucy. Dabei zwinkerte sie einladend.

Lucy beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Heikos Freundin blass wurde. Die dumme Kleine tapste von einem Fuß auf den anderen. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie beleidigt abrauschen oder eine Szene machen sollte. Als Heiko für sich und Lucy eine weitere Runde Wodka Martini orderte, konnte die Hexe den Zorn des Mädchens fast körperlich spüren. Das Model sandte ihr Todesblicke zu. Das elektrisierte Lucy fast noch mehr als Heikos Brunst. Sie überlegte, ob sie die Kleine zusehen lassen sollte, wenn sie mit Heiko ihren Spaß hatte. Ganz hässlich war das Ding ja nicht, und so hatten Lucys Brüder auch noch etwas davon. Niemand sollte sagen, Lucy wäre kein Familienmensch. Die Zwillinge Stefan und Alex warteten vor dem Club nämlich schon darauf, dass ihre große Schwester das Opfer aussuchte. Wahrscheinlich waren sie schon äußerst ungeduldig, immerhin hatte Lucy bereits eine halbe Stunde in der weißen Witwe verbracht. Wer wusste schon, was die beiden Halbwüchsigen in der Zwischenzeit ausheckten. Teenager. Die hatten einfach keine Geduld.

Lucy hauchte ihrem kleinen, dummen Sportler einen Kuss auf die Lippen.

»Lass uns gehen, Süßer.«

»Mit dir überallhin.«

Nur zu willig folgte er Lucy. Ein paar Meter hinter ihnen drängte sich Heikos Freundin durch die Massen. Es hatte Lucy kaum mehr als einen Gedanken gekostet, sie entsprechend zu beeinflussen. Eigentlich passte Carla schon zu Heiko, die beiden waren gleichermaßen willensschwach.

 

Vor dem Club schlug ihnen die Nachtluft entgegen. Heiko schlug vor, zu seinem Auto zu gehen und irgendwohin zu fahren, wo sie es sich ungestört gemütlich machen konnten. Dieser Vorschlag war ganz in Lucys Sinne, auch wenn seine und ihre Vorstellungen eines gemütlichen Abends vermutlich stark auseinandergingen.

Seine Karre war nicht schlecht; flach und elegant wie ein stadttauglicher Kampfjet. Alex würde es lieben, sie später zu Schrott zu fahren. Wenigstens hatten sich die Zwillinge diesmal nützlich gemacht und alle Lampen zerschlagen. Der Parkplatz war dunkel und verlassen. Perfekt. Während Heiko Lucy die Autotür aufhielt, entdeckte sie ihre beiden sechzehnjährigen Brüder auf der Motorhaube eines Audi, den sie schon kräftig demoliert hatten. Mit einem unauffälligen Nicken forderte die Hexe sie zum Einsteigen auf. Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. Lautlos huschten sie heran. Ehe Heiko begriffen hatte, was geschah, saßen sie auf seiner Rückbank.

Lucys zarte Finger auf seinen Lippen erstickten Heikos Protest. Sie kicherte boshaft.

»Aber, aber, Schatz. Du wirst doch nicht unhöflich zu meinen Brüdern sein, das mag ich gar nicht«, säuselte sie und grub ihre Fingernägel in seine Wange. Er schrie auf, blieb aber vor Entsetzen gelähmt. Lucy leckte sich genüsslich das erste Blut von den Fingernägeln. Dabei sah sie beiläufig in den Rückspiegel. Stefan und Alex untersuchten gerade, wie Lederpolster auf Butterflymesser reagierten. Diese Protzerwaffen waren ihr neuster Tick. Heikos Augen wurden groß, als er sah, wie die beiden seine Rücksitze traktierten.

Stefan grinste ihn an. »Mir dir mache ich gleich weiter.«

Heiko schrie.

Aber weniger wegen des Messers, mit dem Stefan vor seinem Gesicht herumwedelte, sondern weil Lucy sich über ihn lehnte und ihre Fingernägel in die empfindlichen Stellen unter seinen Achseln grub. Dabei ließ sie ihre Brüste über seine Lippen gleiten. Sie kletterte auf seinen Schoß und genoss dabei die Enge des Sportwagens. »Jungs, lasst den Unsinn. Kümmert euch lieber um die kleine Schlampe in dem roten Fetzen, die gerade auf uns zukommt. Heiko und ich wollen eine Weile allein sein.«

Stefan und Alex grinsten sich begeistert an.

»Aber seht zu, dass sie nicht so rumschreit und uns zu früh den Spaß verdirbt. Ich will nicht schon wieder Ärger mit den Bullen«, rief sie ihnen noch hinterher, da klappten schon die Autotüren und die beiden waren verschwunden. Sie hob entschuldigend die Achseln. »Kinder. Und total hormongesteuert.« Sie lächelte sanft. »Was hältst du davon, mein Lieber, wenn wir's richtig versaut treiben, während ich deine Pulsadern aufschlitze?«

Heiko wollte sie fortstoßen, aber Lucys Finger hatten die Form von Klauen angenommen und nagelten seinen Hals an die Kopfstütze. Er röchelte.

»Du liebst es ja flott, nicht wahr? Stimmt es, dass Sprinter auch im Bett immer zuerst ankommen?« Seine Antwort war wieder nur ein verängstigtes Röcheln. Während Lucy dem Sportler langsam die Luft abdrückte, ließ sie ihr Becken aufreizend über seinen Lenden kreisen. »Das werden wir jetzt mal überprüfen, mein flinker Hengst.«

Langsam und genussvoll ließ sie ihre freie Hand über seine Brust gleiten. Gleichzeitig hörte sie, wie ihre Brüder draußen Carla ein paar Zoten an den Kopf warfen, bevor sie sie hinter dem Wagen auf den Asphalt zerrten. Aus Heikos Kratzwunden drang Blut auf sein geweißtes Hemd. Der Geruch von Blut und Angstschweiß erregte Lucy wie kaum etwas anderes. So bearbeitete sie Heiko weiter mit ihren Nägeln und verlor sich in seinem Stöhnen.

Sie merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als es draußen still wurde. Wenn Stefan und Alex so schnell mit dem Mädchen fertig geworden waren, musste etwas passiert sein. Genervt sah Lucy sich um. Was war jetzt wieder los? Aber sie konnte ihre Brüder nicht sehen.

Stattdessen klopfte es plötzlich an der Fahrertür. Lucy schrie leise auf, denn vor dem Fenster erschein ein bleiches Gesicht, eingefallen wie ein Mumienschädel. Nachdem der erste Schreck verraucht war, kochte in Lucy die Wut hoch. Was bildete sich diese Witzfigur eigentlich ein? Wahrscheinlich war das irgendein bescheuerter Freak, der betteln wollte. Lucy beschloss, ihn sich vorzuknöpfen, bevor sie mit ihrem Opfer weitermachte. Heiko brauchte ohnehin eine Pause, er war vor Schmerz ohnmächtig geworden.

Lucy stieg aus und stemmte die Hände in die Hüften. Eine Hand war noch immer zur Klaue umgeformt.

Der abgezehrte Kopf gehörte zu einer hageren, über zwei Meter großen Gestalt, die genauso dürr und ausgemergelt war wie das Gesicht. Ein langer, schwarzer, altmodischer Umhang verbarg den Körper des Fremden, ein dazu passender Zylinder presste sich auf seinen knochigen Schädel. Der Kerl sah fast so aus wie Skarabäus Toth, der bekannte Schiedsrichter der Schwarzen Familie, der hier in Wien residierte und vor dem die meisten Dämonen einen Heidenrespekt hatten. Aber Toth wusste deswegen auch, was er sich schuldig war, und hätte nicht so einen stillosen Auftritt hingelegt. Außerdem war Toth viel kleiner und trug keinen Zylinder.

Stefan und Alex standen neben Heikos Sportwagen, zwischen ihnen lag Carla blutverschmiert und reglos auf dem Boden. So gefiel sie Lucy schon viel besser. Trotz ihrer Genugtuung konzentrierte sich die Hexe jedoch wieder auf den Fremden. Er hatte bis jetzt noch nichts gesagt, sondern starrte sie nur aus tiefliegenden, düsteren Augen an.

»Was bist du für ein verdammter Freak?«, fuhr sie ihn an. »Kriech zurück in die Gosse, aus der du gekommen bist, du blutleerer Droschkenkutscher.«

Lucys Brüder, die den Fremden bisher verunsichert gemustert hatten, lachten auf.

»Ja, was willst du hier, Alterchen?«, stimme Stefan ein.

»Das ist 'ne Privatparty. Schlitz lieber die Ratten in der Kanalisation auf«, fügte Alex hinzu. »Da kommst du doch her, du Freak, oder etwa nicht?«

»Und wie siehst du überhaupt aus?«, übernahm Lucy wieder das Ruder. Sie liebte es, wenn sie und ihre Geschwister sich gegenseitig die Bälle zuwarfen, während sie ihre Opfer fertigmachten. »Hast du deine Klamotten bei einer Beerdigung abgestaubt?«

»Friedhofskriecher!«, rief Alex.

»Leichenscharrer«, krakeelte Stefan. »Freakfresse!«

Der Fremde schlug ohne Vorwarnung zu. Er bewegte sich kaum, eine einzelne Geste genügte, und keins der drei Dämonengeschwister konnte noch Luft holen, geschweige denn sich bewegen. Wie eingefroren standen sie da und mussten hilflos erleben, wie eine unwirkliche, eisige Kälte in ihren Füßen aufstieg und sich in ihren Körpern ausbreitete. Sie langsam aber sicher abtötete. Der Fremde sagte nicht ein Wort, als eisige Lava die Adern der jungen Dämonen füllte und mit jedem Herzschlag tiefer in ihre Blutbahnen kroch.

Und dann begannen die Schatten, sich zu bewegen. Sie krochen heran wie Ungeziefer und ritten auf einer Wolke süßlichen Gestanks.

Ghoule!, begriff Lucy. Ihre Gedanken rasten, doch ihr Körper rührte sich nicht einen Millimeter. Sie wollte schreien, aber ihre Lippen blieben vereist und leblos. Bald schon sah sie die widerwärtigen Leichenzehrer nur noch durch einen bläulichen Schleier. Hinter ihnen verschwamm die hochgewachsene Gestalt mit dem Zylinder. Durch den betäubenden Schleier der Kälte spürte Lucy, wie knochige Finger über ihre Hüften strichen. Gierige Zähne schnitten in ihr zartes Fleisch wie kleine Nadeln und obwohl die Bisse dank der Kälte kaum schmerzten, machte das Schmatzen und Zupfen Lucy fast wahnsinnig. Sie nahm all ihre Hexenkraft, ihren ganzen Willen zusammen, um den teuflischen Bann abzuschütteln, doch ihre Gedanken prallten gegen einen Eisberg. Hinter ihr, auf einem schmalen Grünstreifen knackte Holz. Eifrige, stinkende Hände rissen mit roher Gewalt einen Stamm aus der Erde und zertrümmerten ihn auf dem Asphalt. Das musste doch weithin zu hören sein! Jemand musste kommen! Sie waren doch mitten in Wien!

Doch die Hilfe blieb aus, der Bann des Fremden hielt sie fern. Stattdessen nahm das Schmatzen zu. Längst war Lucys Kleid zerfetzt. In ihrem Blickfeld erschien das Gesicht eines Ghouls. Geifer triefte aus seinen Mundwinkeln. Grinsend beugte er sich über ihr Schlüsselbein. Als er sich wieder aufrichtete, wälzte er einen blutigen Fetzen Fleisch zwischen den vertrockneten Lippen.

Lucy begriff erst, dass es ihr eigenes war, als Schraubstockhände ihren Knöchel umfassten und ihr den Boden unter den Füßen wegzogen. Mit einer seltsamen, unwirklichen Faszination verfolgte Lucy ihre eigene Blutspur, als die Ghoule sie fortschleiften. Sie sah ihre Brüder, die, von den Berührungen der Leichenfresser entstellt, ebenso wehrlos wie sie zusehen mussten. Erst als knochige Hände sie auf einen kleinen Holzberg hievten, erkannte Lucy den Scheiterhaufen, den die Ghoule aus zwei kleinen, zersplitterten Ahornbäumchen errichtet hatten.

Noch einmal bäumte sich alles in der jungen Hexe auf. Und wieder schmetterte die unüberwindliche Eiswand sie zurück. Lucy erkannte, dass das hier ihr Ende war. Sie war erledigt. Lucy war über ihren eigenen Mangel an Emotion erstaunt. Vielleicht war es die fremdartige Kälte, die nun auch von ihren Gefühlen Besitz ergriffen hatte und sie für jeden Schrecken taub machte?

Die höhnenden Rufe der Ghoule, als sie verächtlich grinsend den Scheiterhaufen umringten, erklangen wie aus weiter Ferne, strömten von ihr fort wie das Blut aus ihren Wunden. Nicht einmal der Gedanke an ihre Brüder, die jetzt den Tod ihrer Schwester hilflos erleben mussten und vielleicht bald ihr Schicksal teilten, entlockte ihr noch Bedauern. Sie gab sich endgültig auf.

Der unheimliche Fremde bewegte die Hand, und Flammen züngelten aus dem Scheiterhaufen.

Lucy schrie. Ein hämisches Zischen aus dem Mund der Mumiengestalt begleitete sie in die Dunkelheit.

»Brenn, Hexe. Brenn!«

 

Der Ärger über den Empfang durch meinen Vater steckte mir immer noch in den Knochen.

Ich hatte die Nacht kaum geschlafen. Immer wieder stand mir sein Bild vor Augen, wie er mich nach meiner Ankunft zur Rede gestellt hatte und regelrecht ausgerastet war, als ich ihm von meinen Treffen mit dem Anführer der Oppositionsdämonen in Rumänien erzählt hatte.

»Das ist ein Affront!«, hatte er gebrüllt.

Dabei war er nur so erbost, weil die Oppositionsdämonen mir im Kampf gegen Asmodi einen Pakt angeboten hatten – genau das Angebot, das Vater sich selbst von ihnen erhofft hatte und um dessentwillen er mich nach Rumänien geschickt hatte. Aber der Anführer der Oppositionsdämonen – dessen Identität ich nicht kannte, weil er sich stets hinter einer Maske verbarg – schien nicht an Michael Zamis als Partner interessiert zu sein.1

Nicht mehr jedenfalls.

Es gab eine Zeit, da hatte mein Vater mit den Oppositionsdämonen zusammengearbeitet. Aber Asmodi hatte davon Wind bekommen und einen Keil zwischen die Parteien getrieben. Das Ergebnis war, dass niemand mehr irgendjemandem traute. Mein Vater traute den Oppositionellen nicht, die Oppositionellen trauten meinem Vater nicht. Und Asmodi hatte sowieso noch nie jemandem vertraut.

Mich interessierten diese albernen politischen Spielchen nicht im Geringsten. Deshalb hatte ich auch das Angebot ausgeschlagen. Ich wollte nichts mit dem Krieg, der angeblich bevorstand, zu tun haben. Mir war es egal, ob Asmodi oder irgendein anderer Dämon den Thron der Schwarzen Familie erklomm. Etwas Grundlegendes würde sich ja doch nicht ändern.

Nachdem ich in der zweiten Nacht endlich meinen Frust über das ach so herzliche Willkommen weggeschlafen hatte, überlegte ich, welche Möglichkeiten es gab, das Permit in meiner Armbeuge loszuwerden. Es handelte sich um ein Tattoo, das mir der Anführer der Oppositionellen verpasst hatte und von dem er behauptete, dass es mir einst von großem Nutzen sein würde.

Im Moment bereitete es mir eher einen Haufen Probleme, da alle meine Versuche, es loszuwerden, fehlgeschlagen waren. Weder Wasser und Seife noch Terpentin oder reine Magie konnten helfen. Auch der Besitzer eines Tattoostudios in der Innenstadt hatte mich ratlos wieder weggeschickt. Also beschloss ich, es vorläufig mit Creme und Puder abzudecken, damit meine Familie nicht davon erfuhr.

Aber es war buchstäblich wie verhext. Schon wenige Minuten nach dem Einreiben wurde das Mal wieder sichtbar. Mir blieb also vorläufig nichts anderes übrig, als Pullis oder langärmelige Blusen anzuziehen.

Während der nächsten Woche ging ich meiner Familie so weit wie möglich aus dem Weg. Ich schob die Strapazen der Reise vor und behauptete, mich ausruhen zu müssen. Nur Georg schöpfte Verdacht. Während alle anderen Familienmitglieder ihren eigenen Plänen nachgingen, bemerkte ich immer öfter seinen ernsten Blick. Stirnrunzelnd beobachtete er mich.

»Was ist los, Coco?«, fragte er mich einmal ganz direkt, als wir uns zufällig in der Nacht am Kühlschrank trafen.

»Nichts«, gab ich so unbefangen wie möglich zurück. »Alles ist in bester Ordnung.«

»Das glaubst du doch selbst nicht«, antwortete Georg nur.

Ab diesem Zeitpunkt hätte ich ahnen müssen, dass er mir eine Falle stellen würde, aber ich war zu sehr mit der Beseitigung meines Problems beschäftigt, um mir um meinen Bruder Gedanken zu machen. Mein Vater verunsicherte mich in viel stärkerem Maß. Schließlich hatte er mich ja bereits verdächtigt, ihm etwas zu verheimlichen. Schlussendlich war es aber doch Georg, der mir auf die Schliche kam.

Wieder einmal saß ich nach der morgendlichen Dusche nur in ein Handtuch gewickelt auf dem Badewannenrand und lud eine teure Creme mit einem Austrocknungs- und einem Heilzauber auf. Sie sollte den doppelköpfigen Adler irgendwie ausdörren, ohne mir allzu großen Schaden zuzufügen. Dabei war ich so konzentriert auf mein Handwerk, dass ich nicht bemerkte, wie sich der Badezimmerschlüssel wie von Geisterhand bewegt im Schloss drehte.

Das Geräusch der auffliegenden Tür erwischte mich kalt. In letzter Sekunde konnte ich meinen Arm hinter dem Rücken verstecken, da stand Georg schon mitten im Zimmer.

»Was fällt dir ein?«, fuhr ich ihn an.

»Seit Tagen blockierst du regelmäßig das Bad«, ätzte er zurück. »Mir reicht's jetzt.« Plötzlich legte Georg den Kopf schief und beobachtete mich aus zusammengekniffenen Augen. »Was versteckst du da hinter deinem Rücken?«

»Nichts.«

Georg kam näher. »Glaube ich dir nicht. Zeig deinen Arm her, na los.«

Ich wich zurück neben die Duschkabine. »Vergiss es, du hast mir gar nichts zu sagen.«

»Los, zeig schon her.«

»Nein!«

Ohne meinen Widerwillen zu akzeptieren, packte er mein Handgelenk. Überrascht starrte er auf das Tattoo. »Woher hast du das?«

»Das habe ich mir in Rumänien stechen lassen.«

»Warum?«

»Einfach nur so.«

Aber ich klang wohl nicht sehr überzeugend, denn er blickte mich aus schmalen Augen an. »Ich glaube dir nicht. Das ist ein magisches Tattoo, das spüre ich sofort. Raus mit der Wahrheit!«

»Warum sollte ich dich anlügen?«

»Ich werde Vater davon erzählen.«

Ich hielt ihn fest. »Nein, bitte nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil … Ach, er muss ja wohl nicht alles wissen, oder?«

Georg ließ sich nicht erweichen. »Wenn das Tattoo etwas mit deinem Aufenthalt in Rumänien zu tun hat, sollte er davon wissen.«

 

Als ich zum Abendessen herunterkam, sprach die Miene meines Vaters Bände.

»Zeig mir sofort die Tätowierung, Coco!«

Was hätte es geholfen zu leugnen? Ich krempelte den Ärmel hoch.

Als mein Vater das Permit sah, erbleichte er. »Wie bist du dazu gekommen?« Seine Lippen zuckten. Ich konnte seinen Zorn fast körperlich spüren. Bevor ich mir noch mehr Ärger einhandelte, rückte ich lieber mit der Geschichte heraus.

Vater hörte mit steinerner Miene zu. Auch Georg lauschte gespannt.

»So«, stellte mein Vater schließlich fest, als ich geendet hatte. Seine Einsilbigkeit und die eiserne Ruhe machten mir mehr Sorgen, als ich zugeben wollte. »Der Adler muss weg«, entschied er. »Wenn Asmodi mitbekommt, dass wir mit den Oppositionsdämonen paktieren, wird er unsere gesamte Sippe auslöschen.«

»Aber du paktierst doch schon die ganze Zeit mit ihnen«, wandte ich ein.

Jedenfalls versuchst du es, fügte ich in Gedanken gehässig hinzu. Die Oppositionsdämonen wollten ja nicht mehr viel von ihm wissen, weil sie lange Zeit vermutetet hatten, dass er eines ihrer führenden Mitglieder, Traudel Medusa, getötet hatte. Mittlerweise war das Missverständnis zwar aufgeklärt, aber Vaters Versuche, mit der Oppositionsgruppe in Kontakt zu treten, hatten sich seitdem als wenig fruchtbar erwiesen.

»Das ist etwas ganz anderes«, widersprach er. »Für meine Aktivitäten gibt es keinen Beweis. Aber wenn Asmodi dich erwischt, braucht er dir bloß den Pulli auszuziehen, und schon ist alles verloren.«

»Das werde ich schon zu verhindern wissen«, sagte ich doppeldeutig. Ich hatte Asmodi schon früher zurückgewiesen – ein Grund mehr, dass ihm unsere Sippe ein Dorn im Auge war.

»Papperlapapp«, brüllte mein Vater. »Das Tattoo muss verschwinden!«

»Aber ich kriege es nicht ab«, erwiderte ich. »Ich habe schon alles versucht.«

»Dann musst du eben auch verschwinden!«

»Wie bitte?!«

»Du hast schon richtig gehört, Coco. Wir können uns keine weiteren Fehler mehr leisten.«

»Du meinst, du kannst dir keine Fehler mehr leisten«, ätzte ich.

»Ich diskutiere nicht mit dir, Tochter. Es gibt neue Entwicklungen, von denen du nichts weißt. Besorgniserregende Entwicklungen, deren Ursachen bis in die Zeit zurückreichen, als ich mich in Wien angesiedelt und die Macht übernommen habe. Wir müssen deshalb darauf Rücksicht nehmen.«

»Ich verstehe überhaupt nichts!«

»Das brauchst du auch nicht. Es ist ja sowieso nicht so wichtig. Wichtig ist nur, dass du aus der Schusslinie bist.«

Ich starrte meinen Vater verwundert an. Erst sagte er, diese »Entwicklungen« seien bedenklich, und nun behauptete er das genaue Gegenteil. Worum ging es überhaupt, und warum wollte er vor uns nicht darüber reden?

»Ich werde dich zu einem Spezialisten schicken, der sich der Sache annimmt«, fuhr er fort. »Geh sofort auf dein Zimmer, und pack deine Sachen. Ich spreche in der Zwischenzeit mit Onkel Cyrano.«

Ich stöhnte auf. Nicht Cyrano von Behemoth. Mit meiner Ausbildungszeit auf seinem Schloss Behemoth verband ich nicht gerade die besten Erinnerungen. Eigentlich hatte ich gehofft, den widerlichen Greis nie wieder sehen zu müssen.

Aber mein Vater blieb hart. Meine Sorgen und Nöte waren ihm offensichtlich vollkommen egal.

Der Widerspruch hätte nicht größer sein können: Für die Oppositionsdämonen mochte ich die einzige ernstzunehmende Zamis sein. Hier in unserer Villa aber blieb ich anscheinend auf ewig ein kleines Mädchen.

 

 

2. Kapitel

 

25. November 1917

Der Krieg versengte Europa. Wie ein bösartiges Geschwür zerstörte er die Monarchie von innen heraus. Seit die Abgeordneten im Reichsrat im Mai unabhängige Nationalstaaten gefordert hatten, war es weiter bergab gegangen. Die Regierung war damit beschäftigt, das letzte Geld an der Front zu verpulvern und konnte auf den Straßen nicht helfen. Daran änderte weder der Waffenstillstand mit den Russen etwas noch die deutschen Verbündeten oder der Sieg über Rumänien. Noch immer war die Versorgungslage aufs Äußerste gespannt. Auf dem Land mochte es noch gehen, aber in den Städten fehlte es an allem: sauberem Wasser, Brot, Brennholz, Medizin. Nicht aber an Krankheiten. Und der bevorstehende Winter leckte sich schon die frostigen Lippen nach neuen Opfern.

Wie ein unheilvolles Versprechen zog der feuchte, kalte Nachtwind durch die dunklen Wiener Gassen. Sein hohles Pfeifen verfolgte die wenigen Wanderer, die zu dieser späten Stunde noch in der Kälte unterwegs waren. Olga zog ihr wollenes Tuch fester um Kopf und Schultern. In diesen Zeiten war es ratsam, nach Einbruch der Dunkelheit gar nicht hinauszugehen. Zu viele finstere Gestalten lauerten in den dunklen Winkeln der ehemals prächtigen Stadt. Doch die Gräfin von Seydlak verlangte es, und als gutes Dienstmädchen musste Olga gehorchen. Sie war auf diese Anstellung angewiesen. Nicht nur sie selbst, auch ihre Mutter und die kleine Schwester lebten von ihrem bescheidenen Einkommen, seit der Vater an der Westfront verschwunden war. Auch wenn die Wünsche der Herrin absurde Formen annahmen. So wie in dieser Nacht.

Mit bebenden Fingern öffnete Olga das alte Gittertor zum Zentralfriedhof. Eilig schlug sie ein Kreuz, bevor sie einem dünn bestreuten Kiesweg in die dunkle Stille des Friedhofs folgte. Es war nicht nur die Kälte, die sie zittern ließ. Ihr Herz schlug aufgeregt wie die Kriegstrommel des Musikkorps seiner kaiserlichen Majestät bei den einstigen Festparaden, die jetzt nur noch eine trübe Erinnerung waren. Im Juli vor drei Jahren, als der Kaiser nach der Kriegserklärung an Serbien nach Wien zurückgekehrt war, war sie noch ein Backfisch gewesen. Staunend hatte sie in der Menge gestanden und mit der Menge gejubelt. Damals hatten die Konditoreien köstliches, warmes Gebäck verteilt. Doch mit dem Fortschreiten des Krieges war an Backwerk kaum noch zu denken, allgegenwärtig waren nur der Hunger und die Not. Der Wind fuhr Olga wieder in die Glieder, schüttelte ihren schmalen Leib wie eine gebeugte, junge Weide.

Nachdem sie hundert Schritte gegangen war, blieb sie stehen, genau wie es ihr die gnädige Frau aufgetragen hatte. Um sie herum erhoben sich stumm die Grabsteine. Mahnende Wächter. Auf einmal erschienen sie Olga wie drohende Wegweiser, die sie tiefer und tiefer ins Unglück führten. Im Licht der schmalen Mondsichel begannen die Schatten der Grabsteine langsam zu wachsen. Sahen sie nicht aus wie riesige Hände, die nach ihr greifen wollten? Olga schalt sich eine Närrin und doch wäre sie am liebsten schreiend fortgelaufen. Warum verlangte ihre Herrin so etwas? Welche gottlose Seele bestand denn auf einem mitternächtlichen Treffen auf einem Friedhof?

Unbarmherzig kühlte der Wind die zitternde junge Frau aus, während sie wartete. Verängstigt rief sie einen leisen Gruß in die Nacht. Aber die Geister der Toten würdigten sie keiner Antwort. Vielleicht war es besser zu gehen, denn es würde ja doch niemand kommen. Mochte sich doch jemand mit ihrer Herrin einen Scherz erlaubt haben. Olga wollte schon wieder umkehren, da schlug eine Turmuhr Mitternacht. Trotz der Kälte entschied sich die Dienerin, noch einige Augenblicke zu warten. Dann konnte sie ihrer Herrin mit voller Überzeugung sagen, dass sie den Auftrag ausgeführt hatte. Doch noch während sie den tiefen Schlägen der Glocke lauschte, wuchs ihre Gewissheit, dass sie nach dem letzten Schlag die Beine in die Hand nehmen und verschwinden würde. Mittlerweile hoffte sie, dass nichts mehr passierte, dass es nur ein Missverständnis gewesen war, welches sie hergeführt hatte.

Schließlich war der letzte Glockenton in der Nacht verweht. Olga lauschte. Um sie herum blieb es still. Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Endlich konnte sie diesen grausamen Ort verlassen. Hastig wandte sie sich um.

Sie schrie auf. Hinter ihr stand ein finsterer Riese.

Warum hatte sie nicht bemerkt, wie er sich näherte? Der ganz in einen schwarzen Kutschermantel gehüllte Mann war riesig, aber dabei so dünn, als habe ihn eine unsichtbare Kraft künstlich in die Länge gezogen. Unter einem breitkrempigen Zylinder erkannte Olga nur bleiche Haut und zwei dunkle Augen, deren Blick ihr einen kalten Schauer durch den Körper jagte.

Überhaupt strahlte die düstere Gestalt eine eisige Kälte aus.

Olgas Hände krallten sich fester in das Tuch, das sie um ihre Schultern geschlungen hielt. Sie machte einen hastigen Schritt rückwärts, aber ihre Ferse stieß auf einen harten Widerstand.

Sie stolperte und fand sich mit schmerzendem Gesäß auf der nassen, kalten Friedhofserde wieder. Feuchter Lehm klebte an ihrem Rock, ihren Fingern. Irgendwie roch die Erde seltsam. Nicht nur nach der Herbstnässe des Novemberlaubs, sondern ihr haftete noch etwas anderes an. Angewidert erkannte Olga den Gestank verfaulten Fleisches.

Der Ekel schüttelte die Dienstmagd. Der hochgewachsene Mann starrte auf sie hinab. Seine Augen ließen Olga nicht eine Sekunde los, und so konnte sie nicht sehen, worüber sie gestolpert war.

»Verzeihung, gnädiger Herr. Ich habe mich erschreckt«, stotterte sie.

Der Fremde machte keine Anstalten, ihr aufzuhelfen. »Was hat dir deine Herrin aufgetragen?« Seine Stimme war heiser und kalt wie der Nachtwind.

Olga schluckte. »Sie … sie ist mit dem Handel einverstanden, soll ich ausrichten, gnädiger Herr, bitte sehr.«

Olga bezweifelte allerdings, dass dieser Mann wirklich ein gnädiger Herr war. Er sah eigentlich mehr wie ein Totengräber aus. Auf was für Geschäfte hatte sich die Gräfin da nur eingelassen? Noch immer hielt der schwarze Mann sie mit seinem Blick gefangen. Obwohl sie seine Gesichtszüge im spärlichen Mondlicht nicht erkennen konnte, wirkte der Fremde zufrieden.

»Komm mit.«

Sie sollte ihm folgen? Aber war sie denn nicht frei zu gehen? Olga nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Bekomme ich eine Belohnung? Es war sehr mühsam herzukommen.«

Der Fremde neigte den Kopf, seine Hand zuckte in der Andeutung einer Zustimmung. Die Aussicht auf ein paar Münzen, mit denen sich vielleicht ein Päckchen Kaffee kaufen ließ oder ein paar neue Schuhe für die Schwester, brachten Olga dazu, sich aufzurappeln. Erst jetzt erkannte sie, worüber sie gestolpert war. Ein umgestürzter Grabstein. Sie konnte die verwitterten Lettern darauf nicht entziffern. Lediglich ein kleiner gravierter Engel und ein großes O waren noch zu erkennen. O wie Olga? Die junge Frau schüttelte den Gedanken ab. Vor ihr war der Fremde schon fast in der Nacht verschwunden. Er sah sich nicht nach ihr um.

»Bitte warten Sie!« Olga stolperte hinterher. Sie wollte an diesem Ort auf keinen Fall allein bleiben. Außerdem wusste sie kaum noch, wo überhaupt der Ausgang war.

Der Wind frischte auf und brachte erneut den Geruch fauligen Fleisches mit sich. Vielleicht kam er von dem frisch ausgehobenen Grab, an dem der Fremde vorbei schritt. Olgas Angst wuchs mit jeder Sekunde, und dennoch folgte sie dem Totengräber. Warum, wusste sie selbst nicht so genau. Der Wind fauchte.

Er führte sie durch ein Labyrinth aus Grabsteinen und Hecken bis hin zu den Grüften der bessergestellten Familien. Vor einer kleinen Krypta, deren Eingang zwei antike Säulen aus weißem Marmor zierten, hielt er inne. Ohne sein Zutun schwang die Tür auf. Olga fuhr zusammen. Als sie angesichts dieses unheimlichen Ereignisses ein Gebet murmeln wollte, fuhr die heisere Stimme des Fremden dazwischen.

»Komm herein.«

Zögernd gehorchte Olga seiner Einladung, die eigentlich ein Befehl war. Es war, als bräche die Stimme ihren Willen, als sei sie zu keiner anderen Handlung mehr fähig. Von der eisigen Herbstluft halb betäubt, taumelte sie schlüpfrige Treppenstufen hinab in den dunklen Schoß der Erde.

Eine einzige Gaslaterne erhellte die Grabstätte. Die Lampe hing an einer Eisenkette von der Decke herab. Olga blickte sich um. Der Raum war kahl bis auf vier Särge, die an der Rückwand aufgereiht standen.

Ein Quietschen ließ das Mädchen zusammenfahren. Doch es war nur die Eisenkette, bewegt von einem kalten Luftzug. Der Totengräber war lautlos die Treppe hinabgestiegen, und Olga spürte, dass er dicht hinter ihr stand. Auf einmal war seine Präsenz wie eine eiskalte Berührung. Die unwirkliche Kälte, die von ihm auszugehen schien, zog durch ihre Kleidung und kroch die Schulterblätter hinauf. Endlich wusste Olga mit Sicherheit, dass hier ketzerisches Teufelswerk vor sich ging. Der Fremde war mit finsteren Mächten im Bund!

Sie wollte an ihm vorbei zurück zur Treppe laufen. Ein schabendes Geräusch ließ sie erstarren. Stein rieb auf Stein. Was Olga im schwankenden Gaslicht sah, trieb ihr das Blut aus den Wangen.

Quälend langsam rutschten die Sargdeckel zur Seite. Im Inneren erhoben sich albtraumhafte Kreaturen. Irgendwann einmal mochten es Menschen gewesen sein, doch nun glichen sie eher riesigen, schleimigen Maden, deren Glieder mit hässlichen Klauen bewehrt waren … Olga ahnte auf einmal, was diese Wesen suchten. Sie kannte die alten Geschichten. Diese Wesen waren Ghoule, die sich von Menschenfleisch ernährten. Von totem Menschenfleisch.

Der Verwesungsgestank wurde übermächtig. Olga begann zu schreien.

»Du bist die Belohnung«, flüsterte die heisere Stimme des Totengräbers erbarmungslos. »Meine Belohnung.«

Olga konnte ihre Beine nicht bewegen. Schon spürte sie die Hände des Fremden auf ihren Schultern, ihrem Hals.

Ein Genickbruch erlöste das kreischende Dienstmädchen.

Die Gruft allein und der Mann im Mantel hörten das Schmatzen, als sich die Kreaturen gierig am noch frischen Leichnam der dünnen, jungen Frau labten.

 

30. November, 1917

Der Hexenkessel war in ganz Wien berüchtigt. Es gab kein einziges Lokal im Stadtbereich, das einen schlechteren Ruf besessen hätte. Und genau das war der Grund dafür, dass die Zamis-Brüder es als Unterkunft auserkoren hatten.

Der Hexenkessel machte seinem Namen nämlich alle Ehre und war ein Dämonennest ersten Ranges. Außer Mitgliedern der Schwarzen Familie wagten sich nur die abgefeimtesten Subjekte der menschlichen Gesellschaft hinein – oder Menschen, die nicht wussten, worauf sie sich einließen und ihr Kommen alsbald bereuten.

Wie jeden Abend stank es im Innern der Kaschemme auch heute nach Rauch, bitteren Kräutern, Urin und dämonischen Ausdünstungen. Stimmengewirr und ein paar derbe Flüche schlugen den Zamis-Brüdern entgegen, als sie von einem Ausflug zurückkehrten und das Lokal betraten.

Ein betrunkener Veteran, der bereits ein Bein an den Krieg verloren hatte, lallte ein paar Zeilen aus einem alten Soldatenlied, bevor er mit dem Kopf auf die Tischplatte sank. Wahrscheinlich würde er an einer Alkoholvergiftung sterben, aber sein Tischnachbar brachte nicht genügend Geduld auf, um diesen Moment abzuwarten. Sein Gesicht verformte sich und wurde zur schleimigen Grimasse eines Ghouls. Der Leichenfresser stürzte sich auf den Bewusstlosen und begann von seinem Fleisch zu fressen. Die Umsitzenden, allesamt Dämonen, wandten sich angewidert hab. Mit einem Ghoul wollte hier niemand etwas zu tun haben. Diese Geschöpfe waren die Parias der Schwarzen Familie.

Dafür ruhten die Blicke plötzlich auf den Zamis-Brüdern. Ein Werwolf verzog grimmig die buschigen Augenbrauen.

»Verdammter Russenabschaum«, stieß er durch die Zähne hervor.

Michael tat, als hätte er nichts gehört, durchmaß mit ausgreifenden Schritten den Schankraum und verließ ihn durch die Hintertür in Richtung der Gasträume. Ingvar Zamis folgte ihm. Diese verweichlichten Dämonen in der Schankstube waren keine Gegner für die beiden. Sonst hätten sie sich wohl kaum durch den billigen, schwarzgebrannten Fusel ruhigstellen lassen, den Michael Zamis zu genau diesem Zweck über geheime Kanäle aus seiner Heimat importiert hatte. Seit sein Bruder und er sich im Hexenkessel aufhielten, floss der Alkohol in solchen Strömen, dass die Gäste sogar fast den Krieg vergaßen, der um sie herum tobte.