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Inhalt

Titelseite

Impressum

Sommer

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Jean-Philippe Toussaint

Fliehen

Roman

Aus dem Französischen

von Joachim Unseld

Sommer

I

II

III

Hört das denn nie auf mit Marie? Im Sommer vor unserer Trennung hatte ich ein paar Wochen in Shanghai verbracht, es gab dafür nicht wirklich berufliche Gründe, ich unternahm die Reise eher zu meinem eigenen Vergnügen, auch wenn Marie mich mit einem bestimmten Auftrag betraut hatte (aber ich habe keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen). Am Tag meiner Ankunft in Shanghai empfing mich Zhang Xiangzhi, der sich vor Ort um die Geschäfte Maries kümmerte, am Flughafen. Ich hatte ihn zuvor erst einmal gesehen, in Paris, in Maries Büro, doch ich erkannte ihn sofort wieder, er unterhielt sich hinter den Schaltern der Paßkontrolle mit einem uniformierten Polizeibeamten. Er mußte um die vierzig sein, hatte rundliche Wangen, aufgedunsene Gesichtszüge, eine glatte, rötlichbraune Haut und trug eine sehr dunkle Sonnenbrille, die den oberen Teil seines Gesichts verdeckte. Beide warteten wir am Gepäckband auf meinen Koffer und hatten seit meiner Ankunft vielleicht gerade ein oder zwei Worte in schlechtem Englisch gewechselt, als er mir ein Handy überreichte. Present for you, sagte er zu mir, was mich in eine fürchterliche Verlegenheit brachte. Ich verstand nicht, warum es notwendig sein sollte, mich mit einem Handy auszustatten, einem gebrauchten Gerät, ziemlich häßlich, in einem stumpfen Grau, ohne Verpackung und ohne Bedienungsanleitung. Wollten sie mich ständig überwachen, wissen, wohin ich ging, mich nicht aus den Augen lassen? Ich weiß es nicht. Schweigend folgte ich ihm durch die Gänge des Flughafens und verspürte eine schwer faßbare Unruhe, die meine Müdigkeit nach der langen Reise und die Aufregung, in einer unbekannten Stadt anzukommen, noch verstärkten.

Als wir die Glastüren des Flughafengebäudes hinter uns gelassen hatten, machte Zhang Xiangzhi ein lautloses, knappes Zeichen mit der Hand, und sofort fuhr ein nagelneuer, silbergrauer Mercedes vor und parkte in Zeitlupe vor uns ein. Während er den Chauffeur, einen jungen Kerl mit einer an Nichtdasein grenzenden Gegenwart, mein Gepäck verstauen und hinten einsteigen ließ, setzte er sich ans Steuer. Vom Fahrersitz aus winkte mir Zhang Xiangzhi zu, ihm Gesellschaft zu leisten, ich nahm also neben ihm auf dem bequemen, mit Armstützen versehenen Sitz aus cremefarbenem, nach neuem Auto riechendem Leder Platz, während er auf einem Touchscreen herumspielte und die Klimaanlage einschaltete, die sich langsam und vibrierend in Gang setzte. Ich reichte ihm den kartonierten Briefumschlag, den mir Marie für ihn mitgegeben hatte (er enthielt fünfundzwanzigtausend Dollar in bar). Er öffnete ihn, blätterte mit dem Daumen über die Scheine, zählte das Geld schnell nach, verschloß dann den Umschlag wieder und ließ ihn in der hinteren Hosentasche verschwinden. Er schnallte sich an, und in langsamer Fahrt verließen wir das Flughafengelände, nahmen die Autobahn Richtung Shanghai. Wir sprachen kein Wort, er konnte kein Französisch, und sein Englisch war miserabel. Er trug ein gräuliches, kurzärmeliges Sporthemd, um den Hals ein Goldkettchen mit einem Anhänger in Form einer stilisierten Drachenklaue oder Drachenkralle. Auf meinen Knien lag immer noch das Handy, das er mir geschenkt hatte, ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte, und fragte mich, warum man es mir gegeben hatte (ein schlichtes chinesisches Willkommensgeschenk?). Zhang Xiangzhi, soviel war mir bekannt, machte seit einigen Jahren im Auftrag von Marie in China Immobiliengeschäfte, möglicherweise dubiose oder gar illegale Geschäfte, Vermietung und Verkauf gewerblicher Räume, Weiterverkauf von Grundstücken in zu Bauland umgewidmeten Gebieten, das Ganze war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Sumpf von Korruption und Schmiergeldern. Marie hatte nach ihren ersten Erfolgen in Asien, in Korea und Japan, auch in Hongkong und Peking Niederlassungen gegründet und plante nun, neue Läden in Shanghai und weiter im Süden des Landes, in Shenzen und Canton, zu eröffnen, Projekte, die schon weit gediehen waren. Aber bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt war mir nicht zu Ohren gekommen, daß Zhang Xiangzhi Verbindungen zum organisierten Verbrechen unterhielt.

Am Hotel Hansen angekommen, wo ein Zimmer für mich reserviert war, parkte Zhang Xiangzhi den Mercedes im Innenhof, holte meinen Koffer aus dem Kofferraum und begleitete mich zur Rezeption. Er hatte mit der Reservierung des Zimmers nichts zu tun gehabt, das war von einem Pariser Reisebüro aus geschehen (eine einwöchige Pauschalreise, Flug und Hotel inbegriffen, an die ich zu meinem Vergnügen noch eine Woche drangehängt hatte), aber hier nahm er alles in die Hand und unterband jede Initiative von meiner Seite. Er wies mich an, mich in ein Sofa etwas abseits zu setzen, und ging allein zur Rezeption, um an meiner Stelle die Formalitäten zu erledigen. Neben einer trübseligen Reihe verstaubter Grünpflanzen, die in Kübeln vermoderten, wartete ich nahe dem Eingang auf ihn und sah mit müden Augen zu, wie er mein Anmeldeformular ausfüllte. Nach einer Weile kam er eilig, mit sorgenvollem Gesicht und ausgestreckter Hand zu mir herüber und bat mich um meinen Paß. Er kehrte an die Rezeption zurück, und ich verfolgte beunruhigt, wie mein Paß dort von Hand zu Hand ging, ich befürchtete schon, daß er wie beim Hütchenspiel plötzlich unter der Hand eines der Hotelangestellten verschwand, die hinter dem Tresen geschäftig hin- und herhuschten. Nach weiteren Minuten des Wartens kam Zhang Xiangzhi mit dem Zimmerschlüssel zurück, einer Karte mit Magnetstreifen, die in einem kleinen Etui aus rotem und weißem, mit fein gezeichneter Schrift verziertem Karton steckte, aber er gab sie mir nicht, behielt sie in seiner Hand. Er nahm meinen Koffer, forderte mich auf, ihm zu folgen, und wandte sich zu den Aufzügen, um mich auf mein Zimmer zu begleiten.

Es war ein sauberes und ruhiges Dreisternehotel, auf der Etage trafen wir niemanden, ich folgte Zhang Xiangzhi über einen langen, menschenleeren Flur, ein zurückgelassener Servierwagen versperrte den Weg. Zhang Xiangzhi steckte die Magnetkarte in das Schloß, und wir betraten das Zimmer, es war sehr dunkel, die Vorhänge waren zugezogen. Ich versuchte, im Vorraum Licht zu machen, doch der Schalter drehte ins Leere. Ich wollte die Nachttischlampe anknipsen, aber es gab keinen Strom im Zimmer. Zhang Xiangzhi zeigte mir eine kleine Vorrichtung neben der Eingangstür, in die man die Karte stecken mußte, damit man Elektrizität bekam. Zur Demonstration schob er langsam die Karte hinein, und gleichzeitig leuchteten alle Lichter auf, das im eingebauten Kleiderschrank wie in der Toilette, im Badezimmer erwachte ein Ventilator und im Zimmer setzte sich laut brummend die Klimaanlage in Gang. Zhang Xiangzhi zog die Vorhänge auf und blieb für einen Moment vor dem Fenster stehen, schaute nachdenklich auf den neuen Mercedes hinunter, der im Hof parkte. Dann drehte er sich zu mir um. Ich glaubte schon, daß er nun endlich gehen würde, aber nein. Er ließ sich in einen Sessel fallen, schlug die Beine übereinander, zog sein Handy aus der Tasche und begann, ohne sich offenbar an meiner Gegenwart zu stören (ich stand wartend im Zimmer, war müde von der Reise und hatte nur noch Lust zu duschen und mich aufs Bett zu legen), eine Nummer in die Tastatur zu tippen, folgte dabei umständlich den Anleitungen auf einer blauen Telefonkarte, die auf seinem Oberschenkel balancierte, auf der man IP lesen konnte, gefolgt von Schriftzeichen und Codezahlen. Er wiederholte den Vorgang ein- oder zweimal, bevor die Verbindung zustande kam und er mir mit heftigen Handbewegungen bedeutete, schnell zu ihm herüberzukommen, mir dann hastig das Telefon reichte. Ich wußte weder, was ich sagen sollte, noch wohinein ich sprechen sollte, auch nicht, wer überhaupt mit mir sprach und in welcher Sprache, als ich eine Frauenstimme Hallo sagen hörte, wie es sich anhörte, auf französisch, Hallo, wiederholte sie. Hallo, sagte schließlich auch ich. Hallo, sagte sie. Die Verwirrung war komplett (ich fing an, mich unwohl zu fühlen). Marie? Zhang Xiangzhi, der seinen stechenden und hellwachen Blick auf mich gerichtet hielt, forderte mich auf, mit dem Gespräch zu beginnen, es sei Marie – Marie, Marie, wiederholte er und deutete auf das Telefon –, bis ich endlich begriff, daß er die Nummer von Marie in Paris gewählt hatte (die Nummer ihres Büros, die einzige, die er besaß) und ich mit einer Sekretärin des Modehauses Allons-y Allons-o verbunden war. Nur hatte ich überhaupt keine Lust, jetzt mit Marie zu sprechen, vor allem nicht in Gegenwart Zhang Xiangzhis. Ich fühlte mich immer unwohler, wollte auflegen, hatte aber keine Ahnung, welche Taste man drücken mußte, um die Verbindung zu unterbrechen, gab ihm statt dessen überhastet den Apparat zurück, wie eine heiße Kartoffel, die mir die Finger versengte. Mit einem trockenen Klacken schloß er die Klappe des Telefons, dachte nach. Dann nahm er wieder die Telefonkarte von seinem Oberschenkel, klopfte damit auf seinen Handrücken, als wollte er sie vom Staub befreien, und ohne aus seinem Sessel aufzustehen, hielt er sie mir von weitem hin. For you, sagte er und erklärte auf englisch, daß ich ausschließlich mit dieser Karte telefonieren dürfe, ich müsse zuerst die 17910 wählen, dann die 2 für die Anweisungen in Englisch (die 1 für Mandarin, wenn mir das lieber wäre), dann die Nummer auf der Karte, gefolgt von dem PIN-Code 4447, dann die Nummer des Teilnehmers, zweimal die Null für die Verbindung ins Ausland, 33 für Frankreich und so weiter. Understand? sagte er. Ja, sagte ich, mehr oder weniger (vom Prinzip her schon, vielleicht nicht alle Details). Sollte ich telefonieren wollen, müsse ich dies immer mit dieser Karte machen – immer, sagte er –, deutete dann auf den alten Telefonapparat auf dem Nachttisch und machte mir mit der Hand ein deutliches Nein, nachdrücklich wie ein Befehl, ein Gebot. No, sagte er. Understand? No. Never. Very expensive, sagte er, very very expensive.

In den folgenden Tagen begnügte sich Zhang Xiangzhi damit, mich ein- oder zweimal auf dem Handy anzurufen, das er mir geschenkt hatte, um Neuigkeiten von mir zu erfahren oder mich zum Mittagessen einzuladen. Seit meiner Ankunft verbrachte ich die meiste Zeit allein in Shanghai, unternahm nicht viel, ich kannte niemanden. Ich bummelte durch die Stadt, aß hier und da eine Kleinigkeit, gewürzte Nierenspieße an Straßenecken, Schüsseln mit kochendheißen Nudeln in rammelvollen Garküchen, gelegentlich auch etwas anspruchsvollere Kost in den Restaurants großer Hotels, wo ich in menschenleeren, kitschigen Speisesälen geduldig die Speisekarte studierte. Nachmittags legte ich mich in meinem Zimmer hin und verließ das Hotel nicht vor Einbruch der Dunkelheit, wenn die Luft sich etwas abgekühlt hatte. Gedankenverloren lief ich durch die laue Nacht, spazierte die Nanjing Road hinauf, ohne mich von dem Lärm und dem Getriebe in den buntverzierten und neonbeleuchteten Läden ablenken zu lassen. Wie von einem Magnet angezogen, führten mich meine Schritte immer wieder auf den Bund, der mich mit Seeluft und Gischt empfing. Ich durchquerte die Unterführung, um langsam am Fluß entlang zu schlendern, ließ meinen Blick über die Reihe der alten europäischen Gebäude schweifen, deren angestrahlte Dächer die Nacht mit einem grünlichen Lichthof erhellten, dessen blaß smaragdene Spiegelung auf dem Wasser des Huangpu zitterte. Auf der anderen Seite des Ufers, jenseits des verschmutzten Flusses, auf dessen Oberfläche aufgeschwemmte Gemüseabfälle, Algen und anderer Unrat in majestätischer Ruhe hin- und herschwappten, ragte wie die Linien einer Hand der futuristische Zug der Pudong-Hochhäuser empor, mit der berühmten Kugel der Oriental Pearl, und, etwas weiter auf der rechten Seite, zurückgesetzt, bescheiden und kaum angeleuchtet, die diskrete Hoheit des Jinmao-Turms. Ich betrachtete, auf die Brüstung gestützt, nachdenklich die schwarze, gewellte Oberfläche des Flusses in der Dunkelheit und hing in meinen Gedanken an Marie nach, mit jener träumerischen Melancholie, die entsteht, wenn der Gedanke an die Liebe sich mit dem Schauspiel schwarzer Gewässer in der Nacht verbindet.

War es von Anfang an verloren mit Marie? Und wie hätte ich es zu dem Zeitpunkt auch wissen können?

Daß ich auf dieser Reise nach Peking kommen würde, war nicht vorgesehen, die Entscheidung, dort einige Tage zu verbringen, kam wie aus heiterem Himmel. Eines Abends hatte mich Zhang Xiangzhi unvermutet angerufen und mir vorgeschlagen, ihn auf eine Vernissage zu begleiten. Die Ausstellung fand in einem der Außenbezirke der Stadt statt. In einem großen Hangar, der als Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst hergerichtet war, präsentierten Künstler mobile Videoinstallationen, von der Decke hingen Projektoren an Metallgestängen, die sachte durch die dunkle Halle schwebten, die projizierten Bilder verschmolzen an den Wänden, trennten sich, fielen auseinander, vereinigten sich, um sich aufs neue wieder zu verlieren. Hier machte ich die Bekanntschaft von Li Qi. Sie saß auf dem Betonboden, allein im Raum, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, langes schwarzes Haar und eine cremefarbene Lederjacke. Sie war mir sofort aufgefallen, angesprochen hatte ich sie erst später, am Buffet, einer aufgebockten Tischplatte, auf der durcheinander australische Weine, chinesisches Flaschenbier und stapelweise Prospekte und Ausstellungskataloge angeboten wurden. Sie hatte bemerkt, daß ich kein Chinese war (ihr Scharfblick hatte mich amüsiert, und woran haben Sie das bemerkt? hatte ich gesagt). An Ihrem Lächeln, hatte sie gesagt, Ihrem feinen Lächeln (all das auf englisch und ohne von diesem feinen Lächeln zu lassen, das sich seit Beginn unseres Gesprächs unwiderstehlich auf unseren Lippen festgesetzt hatte, ausgelöst durch ein Nichts und anscheinend auf Dauer genährt durch ein noch so Geringes). Wir hatten uns draußen, auf dem neben der Galerie liegenden, leeren Grundstück, auf eine Bank gesetzt, erst waren es zwei Flaschen Tsingtao, dann vier, dann sechs, und dann war sachte die Nacht hereingebrochen, und wir beide saßen noch immer zusammen, zwei Silhouetten in einem wahrhaft chinesischen Schattenspiel, in Abständen angestrahlt in verfließendem Rot und Grün von den mobilen Videoinstallationen aus dem Inneren der Galerie. In der Halle veranstaltete man eine Tonprobe, dann erfüllten heftige Wellen chinesischen metal rock die Stille dieses Sommerabends, so daß die Fenster in der lauen Nacht erzitterten und die Heuschrecken aufsprangen. Wir konnten uns auf der Bank kaum noch verständigen, also rückte ich näher an sie heran, aber anstatt lauter zu reden, um die Musik zu übertönen, behielt ich meine leise Stimme bei, berührte dabei ihre Haare sanft mit meinen Lippen, ganz nah an ihrem Ohr, ich nahm den Geruch ihrer Haut wahr, streifte fast ihre Wange, aber sie ließ es geschehen, bewegte sich nicht, hatte nichts unternommen, um sich meiner Gegenwart zu entziehen – ich sah ihre Augen in der Dunkelheit, sie blickten in die Ferne, während sie mir zuhörte –, und ich begriff auf einmal, daß etwas Zärtliches im Entstehen war. Sie hatte mir erklärt, daß sie wegen ihrer Arbeit am nächsten Tag nach Peking fahren müsse, und mir vorgeschlagen, sie zu begleiten, bloß ein oder zwei Nächte, nichts hindere mich daran, am übernächsten Tag bereits wieder nach Shanghai zurückzukehren, der Nachtzug sei bequem und koste nicht viel – und außerdem, was hatte ich schon Besonderes in Shanghai zu tun. Also? Ich hatte gezögert, nicht sehr lange, sie angelächelt, ihr länger in die Augen geschaut und mir dabei die Frage gestellt, was dieser Vorschlag genau bedeutete, und was da an wunderbar Ungesagtem mitschwang, wie ein verliebtes Einverständnis.

Am Tag der Abreise hatte ich am frühen Abend das Hotel verlassen. Gepäck hatte ich keines mitgenommen, nur einen Rucksack, der ein paar Gegenstände des täglichen Gebrauchs enthielt, dazu das Handy, das mir geschenkt worden war und das nie klingelte (allerdings kannte außer Zhang Xiangzhi und Marie auch niemand die Nummer). Da mir noch Zeit blieb, hatte ich statt eines Taxis den Bus zum Bahnhof genommen, sah aus dem Fenster, wie die Straßen von Shanghai im orangenen Dämmerlicht der untergehenden Sonne verschwanden.

Ich hatte mich mit Li Qi vor dem Bahnhof von Shanghai verabredet, also in China. Abertausende von Menschen strömten über den großen Vorplatz, eilten in Richtung der Metrostationen und Bushaltestellen, betraten oder verließen die hell erleuchtete Glaskonstruktion des Bahnhofs, vor der draußen in der Dämmerung Hunderte von Reisenden längs der durchsichtigen Seitenwände auf dem Boden gedrängt saßen, untätig, im Gesicht etwas Beschränktes, Dunkles, Bauern und Tagelöhner, gerade angekommen oder im Begriff abzureisen, die auf einen Nachtzug warteten, mit Unmengen von abgenutzten, schlecht geschlossenen, behelfsmäßig geschnürten Koffern und Taschen zu ihren Füßen, mit halb offenen Kisten und Kartons, schlaffen Jutesäcken, Kleiderbündeln, Lederzeugs, manchmal auch nur mit zusammengebundenen Planen, aus denen Gaskocher und Pfannen ragten. Während ich nach Li Qi Ausschau hielt, in dieser stickigen Luft, die nach muffigen Kleidern roch, fühlte ich mich bereits als Gegenstand verstohlenen Geflüsters und schräger Blicke. Eine alte Bettlerin blieb reglos neben mir stehen, eine große Krücke aus Holz unter der Achsel, mit verstocktem Blick und krummem Rücken, die Hand ausgestreckt, die Augen unendlich traurig. Ich war inzwischen soweit zu glauben, daß Li Qi nicht mehr kommen würde – es war ja auch alles so schnell gegangen: am Abend zuvor kannten wir uns beide noch nicht –, als ich sie plötzlich von weitem auf mich zukommen sah, wo sie sich einen Weg durch die Menge bahnte, auf den letzten Metern den Schritt beschleunigte. Außer Atem und lächelnd nahm sie meinen Arm, sie trug eine dünne, weite Baumwolljacke, keine Jacke, eher ein offenes Hemd, darunter ein eng anliegendes schwarzes Shirt, an ihrem Hals bemerkte ich einen winzigen, auf ihrer Haut glänzenden Jadesplitter. Aber fast gleichzeitig erblickte ich wenige Meter hinter ihr, sozusagen in ihrem Kielwasser, Zhang Xiangzhi mit seiner schwarzen Brille, der sich langsam im Dunkel auf uns zu bewegte. Ich verstand nichts von dem, was hier passierte, schlagartig ergriff mich eine Welle der Unruhe, des Mißfallens und Zweifels. Nachdem er mich mit einem Lächeln begrüßt hatte, das mir ironisch, wenn nicht sogar leicht spöttisch erschien, als wollte er mir demonstrativ zeigen, welche krumme Tour er mir hier spielte (oder ich ihm hatte spielen wollen, was er aber durchschaut hätte), entfernte sich Zhang Xiangzhi ein paar Schritte von uns, rief jemanden auf seinem Handy an. Was hatte er hier zu suchen? Begleitete er Li Qi bloß zum Bahnhof? Daß sich Li Qi und Zhang Xiangzhi kannten, war keine Überraschung (ich hatte sie schließlich durch ihn kennengelernt), aber mir war unklar, wie er von unserer Reise erfahren haben konnte – und meine Verunsicherung wuchs, als Li Qi mir mitteilte, daß er mit uns nach Peking kommen würde.

Wir ließen den Bahnhof hinter uns und fingen an zu laufen (ich versuchte nicht mehr zu verstehen, was hier vor sich ging, zu viele Dinge erschienen mir seit meiner Ankunft in China rätselhaft), wir überquerten rennend zwischen grellen und blendenden Schweinwerfern eine breite Straße, um ein altes Backsteingebäude zu betreten, in dem in einem gelblichen Halbdunkel der giftige Geruch nach ranzigem Kohl und Pisse hing. Zwei uniformierte Polizeibeamte mit Gummiknüppel hielten gleichgültig und schweigend am Eingang Wache. Kaum hatten wir die Halle betreten, da heftete sich ein Pulk von Männern an unsere Fersen, verfolgte uns wie ein Schwarm Insekten, ungestüm und wortreich bot man uns Zugfahrkarten zu Schwarzmarktpreisen an. Es war eine weitläufige Halle, in der es herging wie in einem illegalen Wettbüro, mit einem altmodischen Geldautomaten und menschenleeren Schaltern, auf dem Boden Zigarettenstummel neben stehengelassenen Eßkörbchen aus gezacktem Karton, die Fliesen bedeckt mit perlmuttern schimmernden Spuckresten in sternenförmigen Konstellationen. Zhang Xiangzhi begann die Fahrscheine zu prüfen, die die Händler ihm anboten, folgte dann einer kleinen Gruppe in den Schatten eines Pfeilers. Umringt von einem Dutzend Typen, die sich eng an ihn drängten, ragte aus dem wogenden Durcheinander von Armen und Schultern nur noch sein Kopf hervor, er zog ein Bündel verwaschener, rosaroter Hundert-Yuan-Scheine aus seiner Tasche, zählte betont langsam mit dem Daumen sechs Scheine ab, entnahm sie dem Bündel und reichte sie dem Verkäufer. Mit empörtem Gesichtsausdruck wies der sie zurück, gestikulierte mit den Armen, als wolle er sagen, daß er ein solches Angebot niemals annehmen könne, und deutete mit dem Daumen an, daß man ihm den Hals abschneiden würde, versuchte dann mit Gewalt, das ganze Bündel an sich zu reißen, um mehr für sich herauszuschlagen in dieser Verhandlung, die jetzt aus dem Ruder zu laufen drohte, sich zu einem Streit, einer Rauferei, einem Faustkampf entwickelte. Mit einem kräftigen Stoß seiner Schulter entledigte sich Zhang Xiangzhi schließlich der aufdringlichen Meute, zog noch drei alte zerknitterte Zwanzig-Yuan-Scheine aus seiner Brusttasche und tat sie zu den sechs Hundert-Yuan-Scheinen hinzu, und ehe man sich versah, war der Handel perfekt, schnell, plump und brutal, drei Zugfahrkarten Shanghai-Peking gegen sechshundertsechzig Yuan in bar.