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Hobbit Presse

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Titus Awakes/Search Without End« im Verlag Vintage Classics, London 2011

© 2011 by Mervyn Peake und Meave Gilmore, Erben

Für die deutsche Ausgabe

© 2011 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: HildenDesign, München, www.hildendesign.de

Artwork: © Birgit Gitschier, HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93924-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10183-6

Inhalt

Vorbemerkung von Meave Gilmore

Titus erwacht oder: Von ungefähr

1. Kapitel: Der Abstieg vom Gormenberg

2. Kapitel: Titus im Schneegestöber

3. Kapitel: Titus erwacht aus dem Schnee

4. Kapitel: Sehet das Opfer

5. Kapitel: Die Berge erwachen

6. Kapitel: Titus’ Erwachen

7. Kapitel: Zwei schwarze Augen forschen nach Titus

8. Kapitel: Mit dem Frühling erwachen die beiden Fremden

9. Kapitel: Erwachen ist süßes Leid

10. Kapitel: Wiedergefundenes Leben

11. Kapitel: Das Leben kann ein Wunder sein

12. Kapitel: Unvermeidliche Begegnung

13. Kapitel: Herbst und Winter, ihr gemeinsamer Schmerz

14. Kapitel: Fort von den Bergen

15. Kapitel: Der Pfad, der irgendwohin führt

16. Kapitel: Titus erfährt von anderen Lieben als denen, die er bereits kennengelernt hat

17. Kapitel: Titus verlässt einen Hafen

18. Kapitel: Zwischen den Flüssen

19. Kapitel: Am Fluss und zwischen den Inselgruppen

20. Kapitel: Sie erreichen die Inselgruppen und Wälder

21. Kapitel: In dem Titus lernt, wie man Feuer macht

22. Kapitel: Lagunen – Feuer – Fluten

23. Kapitel: Unter Soldaten

24. Kapitel: Immer noch unter Soldaten

25. Kapitel: Zurück im Lager

26. Kapitel: Fluchtpläne

27. Kapitel: Flucht

28. Kapitel: Eine unerwartete Begegnung

29. Kapitel: Eine liebenswerte Begrüßung

30. Kapitel: Titus als Modell

31. Kapitel: Titus denkt an die Vergangenheit

32. Kapitel: Momente der Heiterkeit

33. Kapitel: Bei Mrs. Sempleton-Grove

34. Kapitel: Vom Millionär zum Tellerwäscher

35. Kapitel: Andere Orte, andere Arbeit

36. Kapitel: Unter den Toten

37. Kapitel: Mitteilungen anderer Tage

38. Kapitel: Zwischenfall in einer Seitenstraße

39. Kapitel: Unter den Masken

40. Kapitel: Eine Zufluchtsstätte

41. Kapitel: Ein unwillkommenes Zwischenspiel

42. Kapitel: Das Ende eines unwillkommenen Zwischenspiels

43. Kapitel: Endlose Suche

Nachwort von Alexander Pechmann

Vorbemerkung

Die Gormenghast-Romane wurden nicht als Trilogie konzipiert. Es sollte ein viertes Buch geben, in welchem Titus Groan, nachdem er sein Reich zum ersten Mal freiwillig und in dem Wissen verließ, nicht zurückkehren zu können, eine Welt betrat, in der er unbekannt, jung und allein war. Das Leben, das er außerhalb des Schlosses vorfand, war ihm gleichgültig; manches erinnerte ihn an seine Kindheit, und der Feuerstein, den er bei sich trug, versicherte zumindest ihm, wenn auch niemandem sonst, dass alles wirklich geschehen war.

Gormenghast war kein Traum. Die Welt, der er außerhalb begegnete, war kein Traum, und die Welt, die in den ersten drei Büchern geschaffen wurde, sollte die ganze Spannbreite des Lebens umfassen – ein Entwurf, dessen Phantasie so kühn und ungeheuerlich war, dass nur jemand, der eine ihm ebenbürtige Kühnheit und Vorstellungskraft besitzt, seiner Herr werden konnte.

Ich werde nun versuchen, den letzten Lord Groan in jene Welt zu führen. Die ersten Passagen wurden von dem Mann, der mit seinem versagenden Verstand und seiner versagenden Hand rang, unter großen Anstrengungen geschaffen, um eine derart gewaltige Vision heraufzubeschwören.

Maeve Gilmore

Titus erwacht oder: Von ungefähr

J

uli 1960.
Unterdessen grollte das Schloss. Große Mauern fielen in sich zusammen – manchmal mit dem Auf brausen einer Staubwolke, manchmal geräuschlos.

Die Farben der Trakte waren entsetzlich. Das abscheulichste Grün. Das grässlichste Purpur. Hier der faulige Schimmer verwesender Pilze – dort ein Trakt voller Bücher, die vor Mäusen wimmelten.

In jede Himmelsrichtung öffneten sich herrliche Ausblicke, so dass Gertrude, die an dem kleinen Fenster eines hohen Zimmers stand, eine vor ihr liegende Welt scheinbar mit ihren Augen beherrschte, obwohl ihre Sicht verschwommen war.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, an ebendiesem Fenster zu stehen, vor dem sich ihr eine Welt enthüllte; eine Katzenschar zu ihren Füßen und ihr dunkelrotes Haar voller Vogelnester.

Wer sonst lebte in dieser widerhallenden Welt? Und doch, trotz all dem Zusammenbruch und Verfall schien das Schloss kein Ende zu haben. Immer noch gab es die endlosen Formen und Schatten, die von den Schneisen aus Stein geworfen wurden.

Während Gräfin Gertrude sich durch ihre Heimstatt bewegte, hätte man denken können, dass sie in einer Art Trance gefangen war, so still war sie. Die einzigen Geräusche kamen von ihrem Haar, in dessen tiefen Locken kleine Vögel zwitscherten.

Die Katzen wiederum umschwärmten sie wie die Gischt.

Eines Tages, als die massige Gräfin vor dem kleinen Fenster ihres Schlafzimmers stand, hob sie ihr matriarchalisches Haupt und schärfte den Blick. Die Vögel verstummten, und die Katzen erstarrten zu einer Arabeske.

Und als sie von Westen näherkam, näherte sich Prunesquallor hoch erhobenen Hauptes von Osten, und während er einhertänzelte, sang er im Falsett, unaussprechlich bizarr.

»Sind Sie das, Prunesquallor?«, fragte die Gräfin, deren Stimme schroff über die Pflastersteine hallte.

»Aber ja«, trillerte der Doktor, seine eigenartige Improvisation unterbrechend. »Ganz gewiss bin ich es.«

»Sind Sie das, Prunesquallor?«, fragte die Gräfin erneut.

»Wer sonst?«

»Wer sonst?«, sagte ihre über Pflastersteine hallende Stimme.

»Wer sonst?«, rief der Doktor. »Ganz gewiss bin ich es! Zumindest hoffe ich das.« Und Prunesquallor betätschelte sich hier und da und zwickte sich, um sich seiner eigenen Existenz zu versichern.

1. KAPITEL
Der Abstieg vom Gormenberg

M

it jedem Schritt entfernte er sich weiter vom Gormenberg und von allem, was zu seiner Heimat gehörte.

In jener Nacht, als Titus in einer großen Scheune schlief, wurde er von einem Albtraum gepackt. Manchmal stöhnte er, während er sich im Schlaf wälzte, manchmal sprach er laut und mit außergewöhnlich befremdlicher Betonung. Seine Träume bedrängten ihn. Sie wollten ihn nicht gehen lassen.

Früher Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Vor der Scheune waren die Hügel und Wälder mit eiskaltem Tau weißlich benetzt und mit gefrorenen Pfützen gesprenkelt.

Was macht er hier, der junge Mann, der 77. Graf und Herr von Gormenghast? Dieser Ort ist doch sicher sehr weit entfernt von seiner Heimat und seinen Freunden. Freunde? Was von ihnen übrig war. Und seine Heimat – jene Welt zerklüfteter Türme. Gab es sie wirklich? Welchen Beweis hatte er für ihre Existenz?

Der Schlaf brachte es in all seinen Erscheinungen an die Oberfläche, und als er sich erneut herumwälzte, stützte er sich auf den Ellenbogen und flüsterte: »Muzzlehatch, mein Freund, bist du also für immer fortgegangen?«

Die Eule regte sich nicht beim Klang seiner Stimme. Ihre gelben Augen starrten den schlafenden Eindringling an, ohne zu blinzeln.

Titus fiel zurück in das Stroh, und sofort schlichen sich drei Geschöpfe in sein Gehirn.

Das erste, leichtfüßige, war Swelter, jener Berg aus Fleisch, dessen Bauch bei jeder Bewegung mit einer vorzüglichen Vibration erbebte. Schweiß rann ihm in Strömen an Gesicht und wulstigem Hals herab. Er schwamm geradezu in seiner eigenen Feuchtigkeit, seine feuchten Augen lediglich stecknadelkopfgroß.

Als wäre es ein Spielzeug, trug er ein zweihändiges Beil in der Hand.

Bei seiner Schulter stand etwas, das schwer zu beschreiben war. Es war größer als Swelter und verbreitete eine Ahnung von Holz und roher Gewalt. Doch das war es nicht, was die Sinne fesselte, sondern das knackende Geräusch der Kniegelenke.

Einen Moment lang betrachtete sich dieses grässliche Paar in einer Mischung aus Schweiß und Leder – und dann hielt ihr gegenseitiger Hass wieder Einzug, einer verfaulten Pflanze oder einem Pilz nicht unähnlich. Und doch fassten sie sich an den Händen, und als sie durch die Arena von Titus’ Gehirn spazierten, sangen sie einander ein Lied vor – Swelter in einer dünnen Flötenstimme und Flay in einem Ton, der an einen rostigen Schlüssel erinnerte, der sich in einem Schloss dreht.

Sie sangen von Freude, mit Mord in den Augen. Sie sangen von Liebe, mit Galle auf ihren Zungen.

Diese Zungen! Es genügt zu erwähnen, dass Swelters wie eine Karotte herausragte. Flays war indessen ein Ding aus korrodiertem Metall.

Wer war die dritte Person? Die im Schatten von Swelters Bauch lauerte? Ihre Zunge war grün und feurig. Eine Gestalt, die nicht leicht zu ergründen war. Sie war zum Großteil unter einem Büschel gesprenkelten Haars verborgen.

Diese dritte Erscheinung, ein Neuling in Titus’ Gehirn, blieb im Schatten, ein winziges Wesen, das nicht höher als Swelters Kniegelenk reichte.

Während die anderen beiden mit verschränkten Händen tanzten, war es das winzige Geschöpf zufrieden, ihr abscheuliches Einherschreiten zu beobachten, bis Swelter und Flay ihren Griff lösten, sich zu voller Größe erhoben, auf die Zehenspitzen stellten und gleichzeitig aufeinander einschlugen, während sich Titus in seinem Traum von ihnen wegdrehte.

(Ab hier sind Inhalt und Schrift zu schwer zu entziffern, und von nun an bin ich, wie Titus auf seiner Wanderschaft, allein.)

2. KAPITEL
Titus im Schneegestöber

T

itus erwachte aus unruhigem Schlaf. Das unheimliche, weiße Licht begann sein Hirn zu durchdringen.

Die Kälte war grausam, und seine Einsamkeit war grausam. Es herrschte völlige Stille. Schnee ist so leise! Sein sanftes Fallen war grausam, verdammte ihn zu fortgesetzter Einsamkeit, fortgesetztem Hunger. Das Scheunentor ließ sich nicht bewegen. Titus kam es so vor, als sei er das letzte lebende Wesen auf Erden, und als das strahlende, unheilvolle Weiß die Scheune erreichte, sah er um sich herum die kleinen traurigen Körper toter Vögel und Mäuse, und ihr Anblick schien ihm keineswegs traurig, weil sie ihm in seinem Kerker für unbestimmte Zeit als Nahrung dienen würden.

Auf seiner Wanderschaft hatte er sich selbst kennengelernt. Vor der Einsamkeit hatte er keine Angst mehr. Die Menschen waren es, die ihm Angst machten.

Wenn Menschen lange Zeit allein sind, verlassen sie die Welt, die wir kennen. Ist es Wahnsinn – eine Flucht vor der Realität – oder der schiere Selbsterhaltungstrieb, der den Menschen anspornt, wenn er allein ist, sei es an einer gefährlichen Bergwand, oder als Höhlenforscher in einer entsetzlichen Sackgasse, ohne Möglichkeit, nach oben oder unten weiterzukommen, oder auf See, mit den Naturgewalten als einzigen Gefährten, oder in Einzelhaft aufgrund von Verstößen gegen gesellschaftliche oder politische Regeln, die Menschen anderen Menschen auf bürden?

Welcher Art die Einsamkeit auch war, die Titus umfing, er wusste, dass ihn nur sein Scharfsinn retten konnte, und trotz seiner Vergangenheit und der Leere, die die Zukunft versprach, wollte er nicht allein in einer unbekannten Scheune sterben, umgeben von Nagern, die, wie sie da im durchscheinenden Licht lagen, beinahe schön waren, die Klauen so mitleiderregend an ihre gefrorenen Gesichter gezogen.

Er durchsuchte die Scheune nach dem kleinsten Stückchen Bequemlichkeit – seine Augen waren so scharf wie es jene der toten Eule gewesen waren, die sich, obwohl erfroren, immer noch an ihren Dachsparren klammerte.

Alle Klischees der Welt vereinten sich, als er sich wie eine Heuschrecke streckte, unempfindlich für jedes menschliche Gefühl. Der Wind heulte, die Dunkelheit des Schneefalls hüllte ihn ein, und die Tränen des Selbstmitleids froren wie maßlose Gletscher auf seinen Wangen, so dass jeder, der ihn zum ersten Mal sah, denken musste, er leide an einer Krankheit aus Eis.

Wie er sich einsam streckte, hörte er ein Geräusch, das von keinem Tier stammen konnte, denn er wusste, dass all die kleinen Drosseln, Stare und Waldtiere – die Füchse, die Wildkatzen, die in die Scheune gekommen waren, bevor er sich selbst eingekerkert hatte – näher an ihn herankrochen; jedes Wesen, so klein es auch sein mochte, spendete ihm ein klein wenig Wärme.

Unter normalen Umständen erstarrt ein Mensch zur Unbeweglichkeit. Titus war schon vor Kälte erstarrt, doch dieses seltsame, unerwartete Kreischen des Scheunentors, das – wenn auch kraftlos – aufgestoßen wurde, ließ seinen steifgefrorenen Körper zusammenzucken, und das, was von seinem Herz übrig war, pumpte eisiges Blut durch sein ganzes Wesen.

Er konnte sich nicht aufsetzen, nicht rufen, um demjenigen, der jene stille Atmosphäre durchquerte, beizustehen, wer immer es sein mochte.

Wenn er noch weiter hätte erstarren können, hätte er es getan, doch er öffnete den Mund, um seine Anwesenheit durch ein Pfeifen kundzutun, und aus seinen gespitzten Lippen drang kein Laut. Gebannt beobachtete er, wie sich das Scheunentor langsam, knirschend, kreischend von Schmerz und der Mühseligkeit eines Krüppels, allmählich öffnete und den eiskalten Schnee einließ. Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf etwas, das sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde. Ob es ein Mensch oder etwas anderes war, er wusste es nicht.

Wieder ein Kreischen, dann noch eines und noch eines, bis das schreckliche Geräusch kaum mehr zu ertragen war. Gleich einem Baby, das nach dem Platzen der Fruchtblase das zwingende Bedürfnis verspürt, der Gebärmutter zu entkommen, wurde die dunkle Leibesfrucht vorgedrängt und in den Staub geworfen; keine Hebamme und keine freundlichen Hände halfen ihr ins Leben, nur der heulende Wind und der schwarze Schnee.

Titus wusste, dass noch ein anderer Mensch hier war; ob Mann oder Frau, konnte er nicht sagen. Er brauchte eine Stunde, um sich über den gefrorenen Staub zu dem zu schleppen, was neben der Tür lag.

Seine Hände waren in Lumpen gewickelt, seine Beine von Elefantitis geschwollen, und unter was sein Kopf verborgen war, wusste er nicht mehr; und sein Körper war um ein Vielfaches größer, als er es sonst gewesen wäre, denn er war überall mit Lumpen, Stroh und Stoff umwickelt.

Die kleinen Füchse und Wildkatzen lagen eng aneinandergeschmiegt, wo er sie zurückgelassen hatte, und schließlich stieß er auf die Dunkelheit, die in seine Scheune eingedrungen war. Es war unmöglich, etwas zu empfinden, weder physisch noch emotional. Er wusste nur, dass er mit der wenigen Kraft, die er noch übrig hatte, die Tür schließen musste, um die heulenden Schneeflocken auszusperren.

Wenn die Natur den Platz menschlichen Strebens einnimmt, bleibt so wenig von dem Wesen übrig, das unter zivilisierten Bedingungen zivilisiert gewesen wäre. Titus tat nur das, wozu die Natur ihn zwang, als er sich zu dem formlosen Bündel schleppte, das seine Einsamkeit gestört hatte, um die Tür zu schließen.

Zeit hatte keine Bedeutung mehr, und wenn er nicht gewusst hätte, dass dort ein anderes Lebewesen war, dessen Überleben von ihm abhing, dann hätte er den kleinen und schwindenden Griff gelöst, mit dem er sich ans Leben klammerte. Mit der Unbeholfenheit eines Kranken schleppte er sich näher an die Tür und die wundervoll sechseckigen Schneeflocken heran, und was unter normalen Umständen nicht länger als eine halbe Sekunde gedauert hätte, war nun, da Zeit keine Bedeutung hatte, das Werk einer guten Stunde.

Die Tür zuzudrücken erforderte erneut Energiereserven, die rasch dahinschwanden. Er war nie eitel gewesen, nur überaus arrogant, und das aufgrund des Ansehens seines Familienerbes; ein Gefühl, das während seiner Wanderungen in ihm immer mächtiger wurde und gleichzeitig immer weniger glaubwürdig in der Welt, die er freiwillig, unter Verzicht auf sein Geburtsrecht betreten hatte, so dass jeder aus seinen zwei Vergangenheiten, der ihn nun sehen würde, ihn weder erkannt noch sich darum gekümmert hätte, was er sah. Er war ein geschlechtsloses Wesen, in Lumpen gehüllt, mit drolligen Eiszapfen, die sich an seiner Nasenspitze bildeten, und an dem, was von seinen Brauen und Wimpern zu sehen war. Und da war niemand, der sagte: »Ein armes Ding, aber ich hab es lieb.« Als er sich zu dem anderen menschlichen Bündel hinschleppte, das ebenfalls weder Mann noch Frau war, streckte er allmählich seine steifen Arme, um am Scheunentor zu ziehen oder zu drücken – was genau er tun würde, wusste er noch nicht. Alles, was er durch den wolligen Schmutz, der seine Ohren bedeckte, hören konnte, war äußerst gedämpft – als käme es aus einer anderen Welt. Alle Welten sind grausam. Der Klang seines Keuchens war bloß kläglich, als er endlich das Tor erreichte und mit ausgestreckten, aber bewegungsunfähigen Armen wie gelähmt dalag und an einer daran befestigten, ebenfalls gefrorenen Schnur zog, die so brüchig war, dass sie riss. Die Tränen der Enttäuschung, die er vergoss, gefroren an seinen unteren Augenlidern, als das kleine verstümmelte Seil riss. Der Überlebenswille war so stark in ihm, dass er lautlos lachte, und mit einer einzigen gewaltigen Anstrengung und einem letzten Schrei, der so durchdringend war, dass das Bündel am Boden sich einen Millimeter weit aufrichtete, bevor es in Ohnmacht sank, und mit all der Kraft einer erschöpften Energie zog er an der Tür, fegte wie ein Schneepflug die sechseckigen Schneeflocken, die sich bereits wie ein Hexengebräu angesammelt hatten, beiseite und schloss mit Hass und Triumph die einfarbige Tür. Zurück blieb nur die Stille.

Eine solche Anstrengung kann nur ein Ergebnis haben. Völlige Erschöpfung. Titus lag innerhalb seines Triumphes – wie ein Gekreuzigter, aber nun ohne Schmerzen. Irgendwo, in all dieser Pein, wusste er, dass seine Gefühle wiederkehren würden; aber jetzt noch nicht.

Er schloss die Augen, und der Klang schmelzenden Eises war wie ein Orchester in Weiß.

Alles verstummte.

3. KAPITEL
Titus erwacht aus dem Schnee

N

ach der Heftigkeit des Schmerzes Taubheit, und dann das furchtbare Erwachen.

Eine kleine Bewegung – wo war sie? Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft waren unergründlich. Mann, Frau und Tier. Alle unergründlich. Ein kleiner Tropfen. Ein winziger Blick auf etwas, das man nicht Licht nennen konnte – das man nicht Sonne nennen konnte.

Ein weiterer Tropfen.

Ein Stöhnen – das langsame Erwachen.

Es ist leichter zu sterben.

Irgendwo ein Rascheln – irgendwo eine Bewegung, weder von Mensch noch Tier.

Ein weiterer Tropfen. Die Zeit wie tropfendes Wasser, doch das Hirn zu abgestumpft, um das Geräusch schmelzenden Schnees zu erkennen, sich vor der Flut, die es vielleicht ankündigt, zu fürchten.

Hunger beginnt.

Das Licht beginnt.

Die Welt beginnt.

Die Augen öffnen sich, doch sie schmerzen so sehr, dass es fast besser wäre, sie für immer geschlossen zu halten. Aber warum klammern sich Menschen stets an ihre Menschlichkeit?

Die verhutzelten Füchse, die knochigen Katzen begannen ihre Augen zu öffnen und erwachten zu neuem Leben.

Der Schmerz des Hungers begann.

Wer sollte essen?

Was sollte gegessen werden?

Es muss ein Opfer geben.

Wer wird das Opfer sein?

Wer ist stark genug, sich zu weigern, das Opfer zu sein?

4. KAPITEL
Sehet das Opfer

E

in Licht schrillt durch die Scheune. Draußen ertönen Geräusche. Geräusche, die Titus allmählich als Stimmen erkennt, obwohl sie noch fern sind. Schließlich erwacht er aus einem derart betäubten Schlaf, dass es für ihn vorstellbar wäre, in einem Zustand zu erwachen, den man als Wahnsinn bezeichnen könnte. Seine Augen hatten sich wieder geschlossen.

Die Glocken dringen ihm in die Ohren.

Er konnte nicht sprechen.

Er konnte nicht auf das zeigen, was einige Meter von ihm entfernt lag. Eine Hängematte. Eine Ohnmacht. Ein Stück Land. Ein Wesen.

Die Glocken drangen ihm weiterhin in die Ohren, und die Glocken erzeugten Töne, von denen er wusste, dass er sie verstehen sollte, aber er konnte es nicht.

Durch seine geschwollenen Lider sah er Formen, die sich bewegten. Irgendwo, hinter gefrorener Wolle verborgen, die zu tropfen begann, konnte er erneut hören, was Stimmen sein mussten, was seiner Erinnerung nach Stimmen hätten sein können, bevor die Zeit sie ausgelöscht hatte.

Und doch war diese Sprache nicht das, was er unter einer Sprache verstand. Geräusche – und in seinem Verstand waren sie wie die Laute, mit dem eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegt.

Aus der Ferne sah und hörte er kleine Schüsse, und die kleinen Opfer, die gerade zum Leben erwacht waren, ringelten sich zusammen in schmerzlosem Zustand.

Töne, Töne, immer noch so fern, und Bewegung, und die schaukelnde Hängematte, doch schaukelte sie nicht aus eigenem Antrieb. Als ob sie mit einer Sanftheit bewegt würde, die allzu schwer zu ertragen war. Dann konnte er sich selbst spüren – Titus – Titus, so einsam, ohne noch länger kämpfen zu müssen.

Starr vor Kälte, mit einer Mattigkeit, die seinen Körper gefangen hielt, spürte er ein warmes Rinnsal, eine Berührung wie von den Flügeln eines Nachtfalters, eine Kehle hinabgleiten, die nicht mehr an das Schlucken gewöhnt war. Ein ausgetrocknetes Flussbett – doch von einer Wärme, die kein natürlicher Balsam vermitteln könnte.

Eine riesenhafte Gestalt stand über ihm. Er war isoliert und dennoch umschlossen. Er träumte, und er träumte nicht. Das Rinnsal schlängelte sich seinen Weg in einen Magen, der nach Nahrung gierte, sich aber zugleich davor fürchtete.

Wenn er Worte gehabt hätte, um seine Gedanken zu formulieren, hätte er zu sich gesagt: »Dies ist ein Hund, und diese anderen beiden Gestalten sind Menschen.« Ohne Worte verstand er nur undeutlich, was er sah, als ein schwacher Lichtstrahl sich seinen Weg durch das Gemetzel bis zu ihm bahnte, und als er so dalag, spürte er wie sein Körper mit der Sanftheit eines Schmetterlingsjägers angehoben wurde, der seine erbeutete Schönheit aufspießt und auf einem Brett befestigt, bevor er sie für immer in ihrer Glasvitrine verschließt.

Stimmen kamen und gingen wie die Gezeiten – kein rauher Seegang, sondern ein rhythmischer und friedvoller. Er wusste, dass er solch einen Frieden nie wieder erleben würde. Seine Gedanken kamen und gingen mit den Gezeiten, und er trieb wie ein Stück Strandgut vor und zurück, in die Stimmen hinein und wieder hinaus.

Die Fracht, die in seiner Scheune über Bord geworfen worden war, war verschwunden – nun würden er, ich, Titus, ihr folgen.

5. KAPITEL
Die Berge erwachen

E

in Licht, nicht von dieser Welt. Blassrot, rosig, schimmernd, strahlend.

Immer noch Stimmengemurmel. Nichts Grobes. Manchmal ein Gleiten und manchmal ein Rutschen, und der unheimliche Ton eines Berghorns, kein Warnsignal wie das eines Nebelhorns, sondern eine Begleitmusik, während er, Titus, sich den Luxus gönnte, sich helfen zu lassen.

Erst sehr viel später kam ihm in den Sinn, dass er für die unerschrockenen Männer mit ihrem Berghund eine Gefahr darstellte, und erst da begann er über eine Entschädigung nachzudenken, aber wie er sie entschädigen könnte, lag in diesem Augenblick so fern von Allem, dass er wieder ins Vergessen sank.

Er wusste weder, wie lang dieses Vergessen andauerte, noch dass er sich wünschte, es möge für immer sein. Doch die Empfindung, die – wie ein Wichtigtuer – die Nase in alle Angelegenheiten außer die eigenen steckt, zwang sich allmählich ihren Weg in die Speisekammer von Titus’ schlafendem Hirn.

Er öffnete die Augen und spürte seinen Körper. Seine Arme und Beine waren noch da. Er konnte sehen, und als er schrie, wusste er, dass er hören konnte. Er konnte Laute ausstoßen, und er wiederholte für sich die Namen der Menschen, die seine Kindheit gewesen waren, die seine Jugend gewesen waren und die in seinen Jahren als junger Mann wie Geister gekommen und gegangen waren. Er rief die Zimmer zurück, die er gekannt hatte – er zählte die Toten. Er rief und rief, und als er langsam die Arme ausstreckte und eine Leere fand, wusste er, dass er lebte.

»Ich bin wach«, schrie er.

»Ich bin Titus – wo bin ich?«

Eine alte Frau glitt in sein Blickfeld. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Mit dem Finger deutete sie in die hintere Ecke des Zimmers, in dem Titus sich befand.

Er sah eine Gestalt. Er dachte, er könne vielleicht nichts sehen, oder das, was er sah, sei nicht vorhanden. Er sah noch einmal hin. Er sah eine Gestalt, doch dieses Mal konnte er das, was er sah, ein wenig besser erkennen.

Er hielt es für das Gesicht einer Frau.

Seine Augen, deren Dunkelblau immer verlockend gewesen war, suchten noch einmal die Gestalt auf der anderen Seite des Zimmers.

Etwas, das ihm vertraut vorkam, glitt in sein Blickfeld, doch was es war, konnte er nicht länger sagen. Ein Echo war zu hören, das jedoch zu tief unter den Zeitschichten verborgen war, so zart und ausgewogen wie das französische Gebäck milles feuilles oder die endlosen Ringe, die eine Zwiebel entfaltet, dass er nicht wagte, tiefer in das Geheimnis zu dringen, das so träge wie er dort lag.

Die Wiederkehr der Empfindungsfähigkeit ist so langsam und schmerzhaft, dass manche sie hinauszuzögern wünschen, während andere wollen, dass sie niemals zurückkehrt, doch Titus hatte sich, trotz all der Schmerzen, die er zu Hause und anderswo, in der Außenwelt, erleiden musste, immer an sein Leben geklammert.

6. KAPITEL
Titus’ Erwachen

E

r sah und spürte eine Körperwärme, die seine ganze Seele erleuchtete. Seine Augen öffneten sich willig, zum ersten Mal, seit er in der frostigen Scheune gefangen gewesen war.

Er wusste, er befand sich in einem Zimmer, das armen Leuten gehörte. Sein Blick schweifte suchend umher, und er begriff alles. Viel gab es nicht zu sehen. Ein Dachsparren, an dem ein Schinken hing, erinnerte ihn an andere Sparren in größeren Räumen, wo eine Ratte von einem derart boshaften Mann zu Tode zermalmt worden war, dass er die Augen schloss, um zu vergessen.

Als er sie wieder öffnete, erblickte er an der Seite des Strohbetts, auf dem er lag, eine alte Frau, die eine Schale an seine Lippen hielt und mit einem Holzlöffel seinen Mund zwang, sich zu öffnen. Ihre Augen waren vom Alter blutunterlaufen, und als er den Mund öffnete, um den Segen der Speise zu empfangen, lächelte sie, und ihr zahnloses Zahnfleisch war in diesem Moment lieblicher als die Lippen junger Mädchen, deren Segen das Vorspiel zu den gewaltigen körperlichen Sehnsüchten war, nach denen seine Natur verlangte und die sie befriedigten.

Er konnte nicht feststellen, was das für eine Flüssigkeit war, die aus der grobgeschnitzten Holzschale mithilfe eines ebenso groben Löffels sachte in seine Kehle geträufelt wurde. Er wusste nur, dass sie genauso gut sein musste wie jene, die ein Kind an der Mutterbrust saugte. Als der Inhalt des letzten Löffels in sein ganzes Wesen hinab rann, schloss er die Augen, und ein Seufzer, der von mehr als nur körperlicher Befriedigung kündete, brach die Stille des ärmlichen Zimmers.

So wie ein Blinder fühlt, fühlte auch er. Er wusste, dass in diesem Zimmer außer der alten Frau noch jemand anderer war, der ebenfalls Beistand benötigte.

»Ich muss die Augen öffnen.«

»Ich muss ein Teil von allem sein.«

Der Rücken der Alten verbarg vor ihm, was er zu sehen wünschte. Er konnte nur die Bewegungen der Zuwendung erkennen, die er selbst vor Kurzem empfangen hatte. Der alte Arm in dem schwarzen Gewand bewegte sich mit der Regelmäßigkeit eines Zinnsoldaten, der seine Trommel schlägt – auf und nieder, aber geräuschlos, und dann hielt er still, und die dunkle Gestalt bewegte sich von der Stelle fort, wo sie gehockt hatte, um – soviel er wusste – einem anderen Wesen zu helfen, und die Kerze, die sie zurückgelassen hatte, zeigte zwei dunkle, brennende Augen, leuchtend wie damals der Schnee. Nur Augen, groß und noch blicklos. Als er sie sah, spürte er solch eine Begierde, dass sein Magen, der so lange leer geblieben war, sich zu einer Aushöhlung dehnte, die größer war, als er es für möglich gehalten hätte, und was von ihm übrig war, stülpte sich zu jener Krankheit um, die er früher als Lust gekannt hatte und nun als eine Art Liebe wahrnahm. Welche Art, wusste er nicht. Eine geteilte Demütigung von Körper und Geist – die Liebesprobe –, die man ertragen kann, um in der reinen Zerbrechlichkeit der Geliebten, nach dem ersten Zauber der Jugend und in ihrer wahren Vollkommenheit, ihre Sorglosigkeit und Verschwendung zu sehen.

»Ich bin Titus – wer bist du? Wer bist du? Wir waren zusammen in der Scheune. Dein Haar ist noch immer geschoren – aber deine Augen sind schön. Sie verbrennen mich. Irgendwo in meiner Erinnerung gibt es eine Geschichte über ein Feuer – doch kann ich mich nicht erinnern, welches es war.« Und als er versuchte, sich zu erinnern, trieb er fort in eine bessere Welt, die weder Erinnerung noch Wirklichkeit umfasste.

7. KAPITEL
Zwei schwarze Augen forschen nach Titus

A

ls der Tag durch das kleine vergitterte Fenster drang, schien es vom anderen Ende des Zimmers aus, als ob es leer wäre, bis auf zwei große, gleichförmige mitternachtschwarze Teiche mit zwei halbrunden Lichtkreisen, die mit der Leuchtkraft von Glühwürmchen allein die Dunkelheit erkundeten.

Die Lichter aus den Teichen strahlten so hell, dass sich Titus von ihnen herausgefordert fühlen musste.

Er hielt seine Hand an die Stirn, um sich abzuschirmen, merkte jedoch, dass das, wovor er sich schützen wollte, eine Schönheit war, die er als flüchtig empfand.

»Nichts bleibt bestehen.«

Er sprach nur zu sich selbst.

Die Augen setzten ihre Suche fort und fanden sein Gesicht und seine Augen, so anders, so wissend.

Er wollte, dass sie lächelten, und er wollte, dass das Lächeln erwidert wurde. Vier forschende Blicke.

Er spähte durch das karge Zimmer, und jene schwarzen, leuchtenden Augen jagten ihn beinahe so wie ein Stück Glas, ein Brennglas, dessen Magnet die Sonne war.

Er fühlte sich von ihnen verwundet. Es waren tote Augen, doch so strahlend, dass sie ihn trotz des Grauens, das sie gesehen haben mussten, mit Blicken liebkosten. Er spürte, wie seine Wangen rot wurden – sein Mund stand offen, und ein Zucken der Lust raubte ihm fast die Sinne.

»Ich heiße Titus«, sagte er mit einer Stimme, die brüchig war, so selten hatte er sie gebraucht.

Die Augen erforschten weiterhin, ohne zu zwinkern, sein Gesicht.

»Ich bin Titus.«

»Ich bin Titus – ich bin Titus«, und seine Stimme wurde vor Ohnmacht schrill.

Er stieß alle Bettdecken beiseite; entschlossen, sich zu bewegen. Er betrachtete seinen Körper und erkannte nicht, was er da sah. Zwei Heuschrecken stützten seinen Rumpf, und an ihrem äußersten Ende ein Paar Füße, weiß, ungebraucht und runzlig. Er warf die Heuschrecken über die Bettkante, und als seine Füße den kalten Stein berührten, fiel er schmachvoll zu Boden. Da war keine Kraft in ihm.

Aus dieser unwürdigen Position hob er den Kopf zu den Augen, die ihn bedrängten – der Kopf erhob sich zu einem so dünnen Arm, dass er erkannte, seine eigene Gefangenschaft war nichts im Vergleich zu dem, was die ehemals rundliche Weiße des Fleisches zu diesem traurigen, hautbedeckten Knochen gemacht hatte, den er vor sich sah.

Er hatte die Absicht gehabt, jenes Fleisch zu verletzen – er wollte Schmerzen zufügen, weil er selbst Schmerzen hatte, doch seine eigene Schwäche hinderte ihn daran, und anstatt die anmaßende Lebenskraft eines jungen Mannes zu spüren, spürte er, dass sein Körper zur Schwachheit des Alters herabgesunken war, und inzwischen, als er zurück in die Sicherheit seines Bettes kroch, war es ihm gleichgültig, dass er einen lächerlichen Anblick bot.

8. KAPITEL
Mit dem Frühling erwachen die beiden Fremden

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ie Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Die alte Frau, die Krankenschwester und Magd zugleich war, fütterte Titus und seine Gefährtin. Als die Nahrung zunehmend handfester wurde, spürte auch Titus seine Kräfte zurückkehren, während die Sonne, ein Eindringling in dem einsamen Zimmer, in unablässigen Bewegungsvariationen auf den kahlen Wänden spielte. Geheimnisvoll und schön.

Er hatte aufgehört, seinen Namen zu rufen, und die langen Stunden der Stille damit verbracht, immer wieder in seine Kindheit und zu seiner mehr unmittelbaren Vergangenheit zurückzukehren, wobei er sich stets der dunklen Schönheit bewusst war, die ihn und nicht nur sein Gesicht beobachtete. Es kam zu keiner Verständigung, außer durch ein Schweigen, das er lernte, nicht länger als einsam zu empfinden.

Trotz allem, was er lernte, konnten seine Jugend und Lebenskraft nicht unterdrückt oder wie die erlöschende Glut eines vielsagenden Feuers ausgetreten werden.

Er wollte leben. Er sehnte sich danach, den gefährlichen Pfad der Zerstörung zu betreten, falls man dies als Leben bezeichnen konnte.

Eines Tages stellte ihm die zahnlose Alte das Essen so hin, dass er sich selbst bedienen konnte. Wie ein Clown ahmte sie Essbewegungen nach, und als sie beobachtete, wie er sich die Nahrung schwerfällig und unbeholfen in den Mund schob, nickte sie beifällig. Eine große, weiche, sandfarbene Pfote legte sich sanft auf seine Knie, und er sah, was er gehört haben musste, als er aus dem Vergessen auftauchte, doch er ahnte nicht, wie lange es her war.

Er schlug seine Zähne zusammen, und eine weiche empfindsame Schnauze leckte ihm über die Wange, kläffte ein wenig und schob sich ihm unter das Kinn. Ein großer, aber sanfter Hund, und die erste Wiederkehr der Empfindung seit seinem unterbrochenen Akt der Begierde, der endete, bevor er begonnen hatte, als er die leblosen schwarzen Augen erblickte, die ihn noch immer verschlangen.

»Ich bin ich.«

»Ich lebe.«

»Ich beginne von Neuem.«

»Wer bist du?«, schrie er, wissend, dass seine Frage unbeantwortet bleiben würde.

»Ich bin so lange ernst geblieben. Was kann ich tun, um Leben in diese Augäpfel zu bringen?«

Als Titus diesmal die Decke seines Strohbetts umschlug, spürte er in seinen beiden Stecken das Zittern der Empfindung.

Die sanfte sandfarbene Pfote krümmte sich in jener Vorfreude, die ein Kind verspürt, dem ein Fest versprochen wird, und als Titus nach links blickte, sah er noch ein anderes Augenpaar – hündisch, treu und lebensbegierig.

Diesmal war er vorsichtiger. Er wusste, dass nur die Zeit ihm die Bewegungen zurückbringen konnte, die er immer als selbstverständlich betrachtet hatte.

Eine Tür stand offen, und durch sie kam eine ganze Welt herein, eine milde Sonne, eine schwache Brise, eine sanfte Zunge, die seine Wangen und seine ungebrauchten Beine leckte.

»Oh, ich will leben. Ich will lebendig sein.«

Titus konnte nur mit sich selbst sprechen, obwohl der Hund mit einer Freude heulte, die nur ein Tier zum Ausdruck bringen kann. Menschen haben zu viel Angst davor, sich zum Narren zu machen.

Er sehnte sich danach, sich von Kopf bis Fuß zu strecken, mit einer einzigen lebensgroßen Beredsamkeit.

Er warf sich auf den Steinboden, und diesmal stürzte er nicht.

Titus hatte ein Ziel vor Augen. Obwohl seine Bewegungen die eines alten Mannes waren, waren sein Hirn und all seine Erregungen – sein Körper und seine Bedürfnisse – die eines jungen Mannes, dem das, was er benötigte, zu lange vorenthalten worden war.

Er klammerte sich an den großen sandfarbenen Hund, legte ihm die Arme um den Hals, während er ihn humpelnd, innerlich vor Begierde schreiend, zu dem gegenüberliegenden Bett trieb, das ein Augenpaar beherbergte, das so verschlingend war, dass die Reise von Steinplatte zu Steinplatte eine Ewigkeit zu dauern schien.

Hechelnd wie ein Hund lag er am Fuß des Bettes. Mit eigenen Augen erforschte er die Dunkelheit. Der Hund jaulte, als Titus ihm beim Versuch aufzustehen auf die Pfote trat, und mit diesem Aufjaulen fiel er quer über das Bett, aus reiner Anstrengung, welche sein erster Anlauf in ein neuartiges Leben war.

»Ich liebe dich – weil du eine Frau bist«, schrie er, und die Augen erwiderten seinen Blick verständnislos.

»Ich will dich«, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Wer bist du?«, und unter der Bettdecke regte sich etwas unmerklich – eine Bewegung, die von einem so unendlich leisen Seufzer begleitet wurde, dass er kaum wusste, ob er von ihm, dem Hund oder der Frau stammte.

Er lag über den winzigen Gliedern, seufzend und vollkommen frei von Begierde.

Titus schlief, und als er erwachte, zog das Flattern eines Schmetterlings seine Bahn über seine Lider, seine eingefallenen Wangen hinab, auf seine schmalen Lippen und über sein Kinn, um auf seinem unrasierten Hals zu verweilen. War es eine Hand? – Seine eigenen Lider schlossen sich mit einem Entzücken, das ein Säugling an der Mutterbrust erfährt. Er wollte es nicht mehr erfahren.

Die Welt lag weder diesseits noch jenseits. Er spürte, wie er einmal mehr über einen kalten Steinboden gezogen wurde, doch das Abenteuer hatte wieder begonnen, und er schlief in dem Wissen, dass er einmal mehr zu neuem Leben erwachen würde. Sein letzter Blick fiel auf zwei dunkle Teiche, die ihn liebkosten, und er tauchte in den Fluss des Vergessens, nach dem der Mensch sich sehnt und den er kaum je erreicht.

9. KAPITEL
Erwachen ist süßes Leid

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ie Tür stand weit offen. Das Weiß war dem strahlenden Grün gewichen, das die Sturzfluten des Lebens ankündigt. Menschliche Stimmen. Ein Horn, dessen Klang sich von den unheimlichen Nebelhörnern auf See unterschied, hallte von den Bergen herab, immer weiter herab, lieblich, tief und ausdrucksvoll.