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Leopoldo Brizuela

Nacht über

LISSABON

Roman

Aus dem Spanischen von

Thomas Brovot









Insel Verlag



Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Lisboa. Un melodrama
bei Alfaguara, Buenos Aires.



© Leopoldo Brizuela, 2010

Published by arrangement with Guillermo Schavelzon & Assoc.

Literary Agency through UnderCover Literary Agency



Abweichungen der vorliegenden Übersetzung von der Originalausgabe

wurden mit dem Autor abgestimmt.









ebook Insel Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

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verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-458-73290-7

Inhalt



Die Personen



OUVERTÜRE: DER VERBORGENE



ERSTES BUCH: LISSABON BEI NACHT

Erster Akt. Die Ankünfte

Zweiter Akt. Die Begegnungen



ZWEITES BUCH: MORGEN IN DER ALFAMA

Dritter Akt. Die Geständnisse

Zwischenspiel: Höllenschlund

Vierter Akt. Die Bündnisse



DRITTES BUCH: KALTE HELLE

Fünfter Akt. Die Übergaben

Sechster Akt. Die Abschiede



FINALE: DIE ENTHÜLLUNG



Logbuch

Für Oliverio,

Diego und

Andrés



und in Erinnerung an

Dom Luís Pedreira,



Freunde des Gesangs, des Weins
und langer Nächte.

Wächter, was spricht die Nacht?

Djuna Barnes





Was kann man die Menschen mit Worten fragen? Und was ist die Antwort wert, die sie nicht mit der Wirklichkeit ihres Lebens, sondern mit Wörtern geben?

Sándor Márai





Hingabe, was für ein Wort. Sich hingeben heißt sprechen, seinen Namen sagen, wissen wollen, was geschieht.

Sara Gallardo

Die Personen

In Lissabon, 1942



Diplomatische Vertretung Argentiniens
DR . EDUARDO M. CANTILO, »Außerordentlicher Konsul« in Lissabon
DR. JAVIER ORDÓÑEZ, Konsulatssekretär
SOFÝA ABASCAL OLIVEIRA DE ORDÓÑEZ, seine Frau; Nichte von Maestro de Oliveira
OBERST TADEO SIJARICH, Militärattaché
DIE ZWILLINGE ATUCHA, Handelsattachés



Weitere Argentinier in Lissabon
ENRIQUE SANTOS DISCÉPOLO, Dichter, Tangokomponist, Schauspieler und Dramatiker
TANIA, seine spanische Frau, Tangosängerin
MAESTRO EUGÉNIO DE OLIVEIRA, Musikagent und Gesangslehrer von Carlos Gardel
DARÝO MUÑOZ, sein Privatsekretär
»OLIVERIO« (JOSÉ DA COSTA), ehemaliger Schüler und Schützling des Maestros, Barkeeper im Gondarém



Im Nachtlokal Gondarém
AMÁLIA RODRIGUES, junge Fadosängerin
SALDANHA, Wirt des Lokals
ISIDROLOPES, Oberkellner
MR COPLEY, Eigentümer einer Tabakmanufaktur
TERESA, Prostituierte



In der argentinischen Residenz
VISCONDE DE MONTEMOR, Nachbar und Eigentümer des Hauses
DONA NATÉRCIA, Haushälterin
MACÁRIO, Butler
OSWALD DE MAEYER, belgischer Bankier



Beim Geheimtreffen in Cascais
»RICARDO DE SANCTIS«, junger Portugiese, Intimus des Patriarchen. Seine wahre Identität bleibt unbekannt.
GRÄFIN VON ALTAMONTE, aus dem Gefolge des Prinzen Umberto von Savoyen
MIRCEA ELIADE, rumänischer Gesandter
VERTRETER ANDERER NEUTRALER NATIONEN



In Buenos Aires
AMADO VILLANUEVA, Patenonkel von Konsul Cantilo, Politiker und Gutsbesitzer, später Außenminister
»MARYVONNE DE LANG« (ESTHER SCHNERB), franko-argentinische Schauspielerin und Geliebte des Vaters von Konsul Cantilo
ESTEBAN SCHNERB, ihr Sohn
ALMARENÁN, Schauspielerin und Sängerin; Anstifterin des Kadettenskandals
SEÑOR MANDELBAUM, Inhaber der Getreideexportfirma Intercontinental



Weitere
DER PATRIARCH VON LISSABON, Kardinal
ANTÓNIO SALAZAR, Alleinherrscher
MR KENDAL, Manager der Plattenfirma Odeón
CARLOS GARDEL, Tangosänger
DER JUNGE MIT DEM ROTEN HALSTUCH

Buenos Aires, 22. Nov. 1952



Es geschah vor genau zehn Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, in einem von Flüchtlingen überlaufenen Lissabon, wo man verzweifelt darauf hoffte, noch nach Amerika zu entkommen, als am Morgen des 18. November 1942 vor den entsetzten Augen einer Menge von Schaulustigen und hohen portugiesischen Amtsträgern die Barkasse, in welcher der argentinische Konsul von dem Frachter Islas Orcadas an Land zurückkehrte, nahe dem Schiff explodierte, Schlagseite bekam und die kleine Gestalt des Diplomaten in den Tejo warf, in den Armen das Köfferchen mit der Nachricht, auf die alle warteten.

Der Name des Konsuls war Eduardo M. Cantilo, und er hatte die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich gezogen, als er eines Tages überraschend die Ankunft jenes »Hilfsfrachters« ankündigte, der unbemerkt, allen Torpedobooten und internationalen Blockaden zum Trotz, den Atlantik überquert hatte, um »den Hungernden von Lissabon« eine Schiffsladung Weizen zu spenden. Portugals Machthaber António Salazar war dankbar gewesen für diese Geste Argentiniens, »eines der letzten Länder, die wie wir alle Anstrengungen unternehmen, den Frieden zu verteidigen«, wo überall in der Welt nur »dieser Wahnsinn« herrsche, »zu töten oder zu sterben, den Feind zu zerstören oder von ihm vernichtet zu werden«. Und zugleich hatte Salazar immer wieder die Genehmigung für das Entladen der Fracht hinausgezögert; sein Misstrauen hatte erregt, dass die argentinische Regierung, wenngleich sie sich nie zu der Sache äußerte, mit der Spende nichts zu tun zu haben schien und allenfalls die sture Weigerung des Konsuls missbilligte, kundzutun, wer genau der Empfänger der Weizenlieferung sein sollte. Salazar zur Eile zu mahnen war gewiss ein riskantes Manöver des Konsuls gewesen, aber nicht weniger, sich ins Visier der unzähligen in Lissabon operierenden Geheimdienste und ihrer gefürchteten Schergen zu begeben.

Am 14. November hatte der Botschafter des Vereinigten Königreichs, bestärkt durch geheime Informationen (die sichere Niederlage der Deutschen in Stalingrad, die Landung der Alliierten in Nordafrika?), Salazar zu einer Unterredung gedrängt, bei der er ihn, wie alle wussten, auffordern würde, die Neutralität seines Landes aufzugeben und den Achsenmächten, mit denen Portugal weiterhin Handel trieb, den Krieg zu erklären. Salazar führte mit Deutschland noch Geheimgespräche, und es gelang ihm lediglich, das Treffen auf den Abend des 17. November zu verschieben. Die Nachrichten jener Tage jedenfalls, in denen die Besetzung des Landes durch die Deutschen und die Bombardierung Lissabons durch die Alliierten unausweichlich schien, mögen erklären, warum die Presse nicht weiter über das gewagte Engagement des Konsuls berichtete, ebenso wenig wie über seinen Tod, verursacht, so die Gerichtsakten, »durch eine selbstgebastelte Bombe«.

Weder der Attentäter noch die Gruppe, der er womöglich angehörte, wurden in dem von Amts wegen eingeleiteten Verfahren ermittelt, das man nun, zehn Jahre später, »mangels konkreter Hinweise« eingestellt hat; und da der Konsul keine Familienangehörigen hatte und von argentinischer Seite offenbar nicht einmal die Möglichkeit geprüft wurde, eine Klage anzustrengen, ist es unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Doch auch wenn nicht zu bestreiten ist, dass es sich nur um einen Tod unter Millionen handelt, scheint vieles ihm eine besondere Bedeutung zu verleihen: zum einen die Anwesenheit zweier unserer größten Künstler, Enrique Santos Discépolo und Tania, die aus Spanien nach Lissabon gereist waren, um an Bord des Frachtschiffs nach Buenos Aires zurückzukehren; vor allem aber die Legende, die, in dem Bedürfnis nach einer Erklärung, viele jener Zeugen des Attentats schufen und die heute an den Kais und in den Kneipen von ganz Lissabon umgeht wie der Fado. Als hätten die Matrosen, die ins Wasser sprangen, um den »Wohltäter« zu retten, nicht einen tödlich verletzten Mann aus den Tiefen gezogen, sondern ein Rätsel – die dunkle Wahrheit, die, einmal verschwiegen, alsbald ihr Haupt erhebt: die dunkle Seite der guten Absichten.



(Aus einem Artikel der Tageszeitung El Mundo, Buenos Aires)

OUVERTÜRE
DER VERBORGENE

Zum Sterben kam ich in die Heimat
Der Schmuggler nach Gondarém.
Nur den Rock der Räuber,
Den ziehst du mir nicht an.



Fado Gondarém

Erwarte mich am Kai

Der Konsul geht allein zum Geheimtreffen.
Eine verhängnisvolle Begegnung. Wer bist du?

1

Bairro Alto, 17. November. Um drei Minuten nach sechs, während die Glocken noch läuteten und der abendliche Lärm der Vögel über die Straßen wehte, während die Bewohner noch zu den Kneipen und Kiosken eilten, um im Radio das Kommuniqué der Regierung zu hören, vernahm Konsul Eduardo M. Cantilo, als er die Aussichtsterrasse von São Pedro de Alcântara betrat, plötzlich das Pfeifen eines Zuges und ging gleich hinüber zur Brüstung hoch über der Stadt. Er kam gerne hierher, und auch wenn es ihm nicht geheuer war, von seinem minutengenau festgelegten Plan abzuweichen, ermunterte ihn der Gedanke, dazustehen wie all die älteren Leute, die sich nach einem dumpfen Tag des Luftalarms, der Warteschlangen vor den Zuteilungsstellen und der hartnäckigen Gerüchte über ein britisches Ultimatum an Portugal im Anblick des Lissabonner Panoramas eine Atempause gönnten. Die letzten Sonnenstrahlen strichen über die Rücken der Hügel, vergoldeten die Festungsmauern des Castelo de São Jorge, die sich aus einem Mosaik verwinkelter Dächer erhoben, und von der Baixa wuchs schon die Nacht herauf, wo nichts als das Satteldach der Abfahrtshalle am Bahnhof Rossio zu erkennen war, eine Arche aus Licht, die unter dem Gebrüll von Lokomotiven, Lautsprechern und Hochrufen vibrierte. Ja, es war der Zug aus Madrid, der endlich eintraf. So viele Stunden hatte der Konsul am Morgen auf ihn gewartet, gegen alle Proteste, bösen Ahnungen und Schwarzsehereien der Angehörigen der argentinischen Gesandtschaft, dass allein der Gedanke, wie sein Sekretär nun die Gäste aus Spanien am Bahnsteig empfing, ihn vor Erleichterung erschauern ließ. Und zugleich erschrak er: Jetzt blieb ihm nur noch ein Auftrag zu erfüllen. Lissabon, Lissabon, dachte er, als flehte er um Hilfe, wenn ich dir in dieser Nacht verlorengehe, sollen deine Geheimnisse dich retten.

Hinter ihm hielt ein Auto. Er drehte sich um und tat, als wollte er im Licht der gerade aufleuchtenden Laterne nach der Uhrzeit sehen. Auf den vorderen Sitzen eines roten Wagens, der an der Ecke des Diário de Notícias parkte, saßen zwei Männer und starrten mit einer Durchtriebenheit zu ihm herüber, dass es ihm, zumal zu dieser Stunde, ein deutliches Zeichen von Gefahr zu sein schien. Aber, ermahnte er sich, was wusste er schon von Autos, von Spionen, was wusste er überhaupt? Statt sich weiter für den Wohltäter Portugals zu halten, den Benfeitor, als den die Zeitungen ihn ausgerufen hatten, statt sich als die Hauptperson dieses ganzen Rummels zu fühlen, musste er sich damit abfinden, dass er nicht mehr als ein Werkzeug war, ein einfaches Rädchen in einem Getriebe, das er kaum verstand.





Immerhin, sagte sich der Konsul, war es schon neun Minuten nach sechs, und bisher hatte er Schritt für Schritt alles mühelos bewältigt. Seit er zum Entsetzen von Oberst Sijarich am Bahnhof verkündet hatte, er werde den Anweisungen des Patriarchen folgen und allein zu dem Geheimtreffen gehen, hatte er für sich beschlossen, zu seinem Schutz die Nähe der zahlreichen Gendarmen zu suchen, die in Erwartung nächtlicher Unruhen aus ganz Portugal in die Stadt beordert worden waren. So hatte er, als er sein Haus verließ, demonstrativ den Polizisten an der Praça do Príncipe Real gegrüßt, auch wenn der bestimmt nur dort postiert war, um zu kontrollieren, wer bei ihm aus und ein ging. Danach hatte er sich mit dem Gendarmen aus Ribatejo unterhalten, der den Zugang zur Rua da Rosa mit ihren Bordellen bewachte, und während er nun weiterging, versuchte er wieder einen auf sich aufmerksam zu machen, einen kräftigen, misstrauisch äugenden, der sich bemühte, ein Dutzend älterer Herrschaften davon abzuhalten, noch in die überfüllte Standseilbahn zu steigen, die wie eine gelbe Fregatte langsam vom Rossio heraufkam: Welchen Kurs Salazar für Portugal an diesem Abend auch einschlug, sie erfuhren es lieber in den eigenen vier Wänden. Der rote Wagen folgte ihm nicht, woher auch! Bestimmt wartete er bloß auf eine der vielen käuflichen Damen, die in der Umgebung des Zeitungshauses wohnten. Und auch als Paco, der Wirt des kleinen Cafés, das der Konsul nachmittags gern auf ein Gläschen Portwein besuchte, ihm einen besorgten Blick zuwarf und dann empört tat, war dies nicht mehr als ein Angebot aufrichtiger Solidarität. Es schien ihn zu verwundern, dass der Konsul ausgerechnet heute vorbeiging, wo sich die Leute um die Marmortischchen drängten und nicht nur auf die Radionachrichten warteten, sondern auch auf ihn, den Benfeitor, ihren Helden. Konsul Cantilo schenkte dem Wirt ein bemühtes Lächeln und deutete mit einer Handbewegung an, er komme wieder. Und nachdem er um den Bahnwagen mit den alten Leuten herumgegangen war, die so damit beschäftigt waren, das Trittbrett zu erklimmen, dass sie ihn gar nicht sahen, verschwand er in einer dunklen Gasse, von der er schon wusste, dass sie das schlimmste Stück des Wegs war.

Das Schlimmste, sagte er sich und achtete darauf, seinen Stock in die Fugen zwischen den Basaltsteinen des schmalen Bürgersteigs zu setzen, das Schlimmste war aber nicht das rutschige Pflaster der abschüssigen Gasse, die an der blinden Klostermauer entlangführte, auch nicht die lange Zeile der wegen Einsturzgefahr geräumten Gebäude mit ihren finsteren Torwegen gegenüber, wo man ihm ungestört auflauern konnte. Das Schlimmste war dieses Gefühl, ganz allein zu sein mit der Stimme von Esteban, mit seinem Hass und seiner Kraft, ihn zu demütigen. Der Konsul wusste genau, dass niemand ihm je eine solche Verrücktheit zugetraut hätte, aber es war das Einzige, was er in Lissabon tun konnte, und er musste es tun. Durfte er nicht auch einmal ein echter Mann sein?

Als nach kaum dreißig Metern die wenigen Straßenlaternen angingen, sah er weiter unten, auf der Praça de São Roque, eine Ansammlung Bedürftiger, die ungeduldig darauf warteten, dass die wohltätigen Damen ihnen von den Balkons der Casa da Misericórdia endlich die Essensreste zuwarfen, die sie in den Bäckereien und Gasthäusern der Stadt einsammeln ließen. Ein Radio war zu hören, offenbar hatte man es auf einem der Balkons aufgestellt, und verblüfft drehten sich die armen Leute zu ihm um, zu ihm, dem Benfeitor: War ihm Salazars Antwort auf die Drohung des englischen Botschafters denn ganz egal? War es ihm egal, ob Portugal in den Krieg eintrat? Ja, es war ihm egal, dachte der Konsul, obwohl, korrigierte er sich verwirrt, natürlich war es ihm nicht egal, aber er musste sich auf seinen Auftrag konzentrieren. Und selbst wenn Portugal jetzt seinen Eintritt in den Krieg verkündete, wann käme es wohl zur ersten Schlacht, zum Einmarsch der Deutschen oder zum Luftschlag der Alliierten? Nicht vor dem Morgengrauen, wenn er am Kai seinem Schicksal entgegentrat. Und angenommen, eine Gruppe von Flüchtlingen, die in ihm den Wohltäter erkannte, würde jetzt aus irgendeinem Haus stürzen und ihn nach Neuigkeiten ausfragen, er würde ihnen zum ersten Mal und ohne jede Reue sagen, dass er Dringenderes zu tun habe, vielleicht sogar davonrennen. Was für ihn ein Leichtes wäre, sagte er sich, dank des Mittagsschlafs, in den die Erschöpfung ihn hatte sinken lassen, vor allem aber dank der Schale heißer Milch, mit der die arme Marcenda ihn nach dem Aufstehen erwartete. Bei der Erinnerung an sein Dienstmädchen, an das er in seiner Nervosität nicht mehr gedacht hatte, musste er unter einer Laterne stehenbleiben, und er tat so, als läse er ein vom Kleister noch feuchtes Plakat.

europa liegt in trümmern, stand dort in großen schwarzen Lettern, doch in portugal herrscht ordnung, das leben geht weiter. Und darunter, nur wenig kleiner und in roter Schrift: und wem hast du das zu verdanken, portugiese? antónio salazar und seiner politik der neutralität!

Natürlich war das nicht der Moment für rührselige Gedanken an ein Dienstmädchen, sagte sich der Konsul, aber man hätte sie sehen müssen, die arme Marcenda, wie sie vor ein paar Stunden in der Küche an der Spüle gestanden hatte, das Geschirrtuch in den zusammengepressten Händen, ganz durcheinander wie einer dieser vom einfallenden Glockengeläut verwirrten Vögel und außerstande, all die Aufregung weiter klaglos zu ertragen. Seit sie vom Land gekommen und in seine Dienste getreten war, hatte ihr die immergleiche, geradezu liturgische Routine ihres etwas undurchsichtigen Patrons das Gefühl gegeben, vor dem unvorhersehbaren Chaos der Stadt geschützt zu sein. Und jetzt das. Da war er von einem Tag auf den anderen berühmter als die Kinoschauspieler und lief tagelang vom Zoll zum Ministerium und vom Ministerium zu irgendwelchen Schifffahrtsgesellschaften, und dann zog er auch noch in aller Herrgottsfrühe los und kam mittags ohne Bewachung, fix und fertig und verzweifelt wie ein Flüchtling zurück und verbot ihr obendrein, ans Telefon zu gehen, das dann den ganzen Nachmittag pausenlos klingelte. Und diese Gleichgültigkeit gegenüber den Meldungen im Radio, die Marcenda natürlich, wie alle in Lissabon, im Wohnzimmer hörte. Und jetzt wieder allein hinaus? »Ach, meine Liebe«, hatte der Konsul gesagt, wie um seine eigene Angst zu überspielen, »Sie sind doch bestimmt auch besorgt über das Säbelrasseln des englischen Botschafters, oder? Wenn der mir vor die Flinte kommt, dieser Mr Hudson. Er denkt, nur weil sie Konzessionen für die Eisenbahn besitzen, wären Portugal und Argentinien ihre Kolonien.« Marcenda verzog keine Miene, offenbar verstand sie nichts, und so fuhr er fort: »Erinnern Sie sich noch an den Tag, als Sie zum ersten Mal herkamen und ich gleich zum Palácio de São Bento musste, um Salazar unsere Beglaubigungsschreiben zu überreichen?« Bevor das Dienstmädchen auch nur nicken konnte, war der Konsul schon aufgestanden, und Marcenda sprang gleich zu ihm hin, half ihm in den Mantel und reichte ihm Stock und Hut, und während sie einen letzten prüfenden Blick über ihn gleiten ließ, knöpfte er sich sorgfältig die Innentasche zu, in der sein Pass steckte. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber wir Angehörigen der argentinischen Gesandtschaft sind alle ledig und kinderlos.« Marcenda errötete und schlug die Augen nieder, mit dieser Schamhaftigkeit der Frauen vom Lande, wenn es um Männerdinge ging. »Ich selbst habe sie unter meinen Bekannten und mir Anempfohlenen ausgewählt. Welcher Familienvater würde schon in ein Land kommen, in dem Hunger herrscht, mitten im Krieg? In der Welt der Karrierediplomaten, und so einer ist dieser famose Mr Hudson, gibt es ein Schimpfwort dafür, und er hat es sich nicht verkniffen, uns damit zu beleidigen.« Der Konsul glaubte, er hätte sie beruhigt, und war schon auf dem Weg zur Tür, als Marcenda sich plötzlich krümmte und in ein jämmerliches Schluchzen ausbrach, ein Akt der Entblößung, vor der er sich nur beschämt zurückziehen konnte. Und als hätte er ihr Weinen nicht gehört, sagte er von der Tür aus: »Warten Sie heute Abend nicht auf mich, meine Liebe. Vielleicht komme ich über Nacht nicht nach Hause.«

Erst jetzt, da er seinen Weg hinunter zum Platz mit den Bettlern wiederaufnahm, schoss es ihm durch den Kopf, und es war, als triebe die Scham ihn an, als flüchtete er vor einem Vorwurf. Was Marcenda unter der Beschimpfung zu verstehen geglaubt hatte, war nicht, dass sie castrati wären, nein, sondern uneheliche Kinder, Bastarde! Wie hatte er nur so dumm sein können? Wie hatte er so lange mit einer Frau unter einem Dach wohnen können, ohne sich auch nur einmal zu fragen, ob nicht auch sie keinen Vater hatte? Plötzlich sah der Konsul, wie eine der Frauen auf dem Platz einen Jungen zu ihm schickte, dahinter zwei weitere, dann ein nur wenig älteres Mädchen, das sie zurückhalten sollte, und ihm fiel nichts Besseres ein, als ein paar Lakritzbonbons, die er am Morgen den Gästen aus Spanien hatte anbieten wollen, hervorzukramen und sie wie Almosen zu verteilen. »Die Kinder . . .!«, hörte er die Leute rufen und dabei die Vokale betonen, da sie ihn erkannt hatten und wussten, dass er Ausländer war, »wo hat man die Kinder hingebracht?« Erst allmählich verstand der Konsul, dass sie nicht die Kinder meinten, die er heute im Vorbeigehen an den Fenstern der Suppenküche der Israelitischen Gemeinde beobachtet hatte, sondern die anderen, die portugiesischen Waisenkinder, die bis gestern hier im Spital gewohnt hatten. »Ach, es geht ihnen gut, estão bons«, stammelte er, womit er der Frage auswich, aber wie er in Lissabon gelernt hatte, bestand darin nun mal die hohe Kunst der Diplomatie. »Man hat sie auf eine alte Fregatte auf dem Tejo gebracht, damit man hier vorübergehend Flüchtlinge unterbringen kann. Sie kommen bald wieder, machen Sie sich keine Sorgen.« Eine der wohltätigen Damen zischte ihn vom Balkon des Spitals aus an und forderte ihn mit schulmeisterlicher Miene auf, still zu sein, Himmel noch eins, in den Nachrichten war von Salazar die Rede! Worauf der Benfeitor eine Entschuldigung andeutete und seinen Weg fortsetzte.

Vom Eingang des Teatro da Trinidade schaute ein Gendarm aufmerksam zu ihm herüber, und als der Konsul ihn sah, erschrak er, als hätte der ihn bei etwas ertappt. Was wissen Sie schon von Politik, Señor Eduardo? Was wissen Sie überhaupt?, unterbrach ihn Estebans Stimme, und der Konsul ging rasch weiter: es war nur sein eigener Wahn, der ihn verfolgte. Da dachten Sie, Sie wären der große Verführer von Lissabon, und auf einmal sind Sie allein und wehrlos und fallen ergebenst auf die Schnauze. O nein, ganz gewiss nicht, dachte Konsul Cantilo. Es mochte ja sein, dass Salazar die Genehmigung für die Einfahrt des Hilfsfrachters so lange hinausgezögert hatte, weil er verstimmt darüber gewesen war, dass der Konsul erst nach dem Löschen der Ladung bekanntgeben wollte, welcher konkreten Person oder Einrichtung die Spende zugedacht war. Zwar hatte er Sicherheitsbedenken angeführt, aber er konnte ihn verstehen, es musste tatsächlich wie eine Unverschämtheit wirken. Vielleicht stimmte es ja, dass die Behörden das Schiff weit vor der Küste hatten ankern lassen, damit die deutschen Torpedoboote die Drecksarbeit machten, die Salazar sich nicht erlauben konnte. Denn allein durch die Tatsache, dass dieser unbekannte Konsul sich binnen weniger Tage den Ruf eines Heiligen erworben hatte, waren Salazar die Hände gebunden, alles andere hätte bedeutet, Argentinien und seinen amerikanischen Freunden den Krieg zu erklären. Aber dass der Patriarch von Lissabon, der Kardinal persönlich, das Geheimtreffen organisiert hätte, um ihn in eine Falle zu locken? Nein, nie und nimmer, sagte sich der Konsul. Das waren Hirngespinste seiner Angestellten, und er konnte sie ja verstehen. Sechs Stunden hatten sie schon am Bahnsteig auf den Zug aus Madrid gewartet und sich von den vielen Menschen bedrängt gefühlt, die, als sie den Wohltäter erkannten, auch ihre Anwesenheit wahrnahmen und den Blick nicht von ihnen wandten, als erwarteten sie, ja, was? Hatte Konsul Cantilo nicht in Buenos Aires beteuert, ihre Entsendung nach Lissabon sei reine Routine? Außerdem waren sie noch ganz verstört, weil der argentinische Botschafter in Spanien ihnen vorgestern, gleich nach seiner Ankunft in Lissabon, mitgeteilt hatte, dass er und der Außenminister empört seien über diese »absonderliche Idee« einer Getreidespende, welche nicht nur die argentinische Neutralität aufs Spiel setze, sondern auch das Leben der Diplomaten. Nein, nahm der Konsul seinen Gedanken wieder auf, der Patriarch mochte ja wunderliche Ideen haben, bei einem Kardinal sicher verzeihlich, aber er war die Barmherzigkeit in Person. Ach, Sie und Ihr unterwürfiger Katholizismus, Señor Eduardo, tadelte ihn die Stimme. O nein, das hätte er mal sehen müssen, mit welcher Milde der Patriarch sich damit abfand, dass der Konsul nicht einmal ihm die mysteriöse Bestimmung der Fracht verriet, und dann hatte Seine Eminenz ihn noch mit einer Erzählung von der Auferstehung des Fleisches belohnt. Konnte es in einer solchen Nacht einen sichereren Ort geben als ein vom höchsten Amtsträger der katholischen Kirche in Portugal organisiertes Treffen? »Ich erwarte Sie also bei Tagesanbruch am Kai, meine Herren«, hatte der Konsul am Bahnsteig verkündet, und die Mitglieder der Gesandtschaft entblödeten sich nicht, beleidigt zu tun und anzuführen, wie beschäftigt sie seien. Schließlich war er einfach losgegangen, und sie machten so erschrockene Gesichter, dass er selbst kaum ein Wort herausbrachte, als er in einer plötzlichen Eingebung an einen Zeitungsjungen herantrat und ihn um diesen Sonderdruck mit dem Text eines Fados bat, Erwarte mich am Kai, der eine gewisse Amália Rodrigues fast so berühmt gemacht hatte wie ihn selbst.

Als er an die Praça de Camðes kam, hörte er Pfiffe, irgendjemand fluchte, ein Stück weiter wurden Fenster zugeschlagen, Mütter schimpften mit ihren Kindern, weil sie die Unaufmerksamkeit der Erwachsenen für dumme Streiche ausnutzten, und aus dem Hotel Borges traten unter lautem Protest wohlhabende Flüchtlinge und setzten sich an die Tische vor dem Café A Brasileira, um ihre Prognosen auszutauschen, da auch diesmal das Radio nichts Konkretes vermeldet hatte. Vielleicht hatte ja tatsächlich niemand in Lissabon ein so festes, so würdiges Ziel wie der Konsul.

Er war kaum an der ersten Straßenecke, als er hinter sich Motorenlärm hörte und herumfuhr. Natürlich war es nicht der rote Wagen, der ihn verfolgte, so ein Unsinn, es war eine Kolonne von Militärfahrzeugen, die langsam an der Rua Garrett auftauchten, wahrscheinlich kamen sie vom Hauptquartier der Geheimpolizei PVDE, und statt über die Calçada do Combro weiterzufahren, fuhren sie hinunter zum Fluss. Schwer vorstellbar, dass ein solcher Tross kam, um ihn festzunehmen, doch aus Sorge, sie könnten ihn erkennen, lief er weiter und ging dabei in Gedanken die Liste seiner Rechtfertigungen durch: Er müsse gleich in der argentinischen Residenz ein Künstlerpaar empfangen, das heute angekommen sei, drüben am Hafen von Alcântara . . . Aber wenn sie die beiden auch verdächtigen!, unterbrach ihn Estebans Stimme. Ach, ich bitte dich, beschwor ihn der Konsul ganz verwirrt, während die Wagen schon dröhnend an ihm vorbeizogen. Was war mit diesen Künstlern, dass man ihnen misstrauen könnte? Seit der portugiesische Konsul in Madrid ihm den Besuch von Enrique Santos Discépolo und Tania angekündigt hatte, eine schwer zu begründende Stippvisite, wohl wahr, hatte Oberst Sijarich alles unternommen, um zu gewährleisten, dass ihnen weder etwas zustieß noch von ihnen eine Gefahr ausging. Aber sei’s drum, für den Konsul waren die Gäste eine perfekte Ausrede, um die Gesandtschaft aus dem Spiel zu halten.

»Señor Eduardo!«, hörte er von irgendwoher nach ihm rufen, und aus Angst vor einer erneuten Sinnestäuschung drehte er sich gar nicht erst um. »Señor Eduardo, Señor Eduardo«, rief die Stimme weiter, und nicht etwa »Dr. Cantilo« oder »Seine Exzellenz«, wie Marcenda zu ihm sagte, sondern »Señor Eduardo«, genau wie jener Junge in der Vergangenheit und in seinen Albträumen. Schließlich schaute er sich um und glaubte zwischen zwei Lastwagen eine Gestalt zu erkennen, zu der die Stimme gehörte, und diesmal war die Stimme echt, und er wusste, dass er nun seine angekündigte Strafe fand.

2

»Señor Eduardo, Señor Eduardo!«, rief von der anderen Straßenseite her ein noch sehr junger Mann mit breitkrempigem Hut, weitem Mantel und einer Art Talar, »Señor Eduardo, Señor Eduardo!«, geradezu amüsiert über diesen unvermuteten militärischen Konvoi, der sich endlos die Straße hinunterzog: ein Lastwagen voller Soldaten, einer mit Gendarmen und Hunden, drei Polizeitransporter, zwei Motorräder, noch mal zwei Motorräder und am Ende dann, schier apokalyptisch, der imposante Aufzug der Kavallerie.

»Señor Eduardo!«, rief er ihn wie einen guten Bekannten und machte Anstalten, durch die Lücken zwischen Stoßstangen und Mähnen, Scheinwerfern und Beiwagen hindurchzuschlüpfen.

Doch dem Konsul stand ein anderes Bild vor Augen, es war das Büro in Buenos Aires, wo sein Patenonkel die Ländereien verwaltete, damals, als er selbst noch ein junger Mann war und dort arbeitete, und er hörte, wie die zaghafte Stimme eines kleinen Jungen ihn aus seinen Berechnungen riss: Señor Eduardo, den Kopf gesenkt und eigens für den Anlass im weißen Sonntagshemd, Maryvonne braucht Sie, oder, wenn ein Kunde da war oder die Frau seines Onkels zu Besuch kam, nur knapp: Es gibt ein Problem oben, worauf er seinen Ärger verbiss und sich entschuldigte und dem Jungen durch den Dienstboteneingang ins Treppenhaus folgte, und während sie unter dem Girren und den über das große Oberlicht scharrenden Füßen unzähliger Tauben zur Dachstube hinaufgingen, hörten sie: Palomó, Palomó, tu ne l’as pas trouvé, c’est ça?, worauf der Junge rief: Mais si, maman, on arrive, und dann probte sie verzweifelt weiter vor dem Spiegel irgendeine unmögliche Zeile eines schwierigen Monologs.

»Señor Eduardo, Señor Eduardo!«, rief der junge Mann wieder und versuchte nun, zwischen den letzten Pferden hindurchzuspringen.

Es war ein Geistlicher, ein junger Priester, der nicht daran zu zweifeln schien, dass der Konsul ihn erkannte. Als er so nah war, dass sie sich besser sehen konnten – welche Eleganz, so ein schöner Junge, gar nicht wie einer dieser bäurischen Portugiesen! –, machte er ein liebevoll verwundertes Gesicht und fragte in bemühtem Spanisch: »Ist Ihnen nicht wohl?«

Woher sollte er auch wissen, an wen er den Konsul erinnerte und was die Erinnerung bei ihm auslöste, die Erinnerung an jene andere Zeit, als Esteban, weil Maryvonne ihn ins Internat gegeben hatte, ganz verbittert gewesen war und er selbst ein kleinmütiger Feigling, der ihm nicht in die Augen sehen konnte. Auch war Esteban schmächtig und ein dunkler Typ, und dieser Priester war großgewachsen und hatte grüne Augen, und während Esteban sich immer wie ein Arbeiter kleidete, zeigte der hier die schlichte Eleganz eines höheren Geistlichen. Außerdem hatte Esteban ihn nie liebevoll behandelt, und dieser junge Mann brachte ihm ganz offensichtlich Sympathie entgegen. So dass Konsul Cantilo, als der Priester schließlich bei ihm war und ihn gegen die Tür eines Postamtes drängte und ein Gendarm weiter unten in seine Pfeife trillerte, um deutlich zu machen, dass er alles sah, wider Erwarten keinerlei Angst verspürte, und statt ihn zu fragen, wer er sei und was ihm einfalle, war ihm absurderweise so, als sollte er ihn fragen: Wer bin ich?

»Ich bin Ricardo, wir haben uns gestern Abend beim Patriarchen kennengelernt, Sie erinnern sich doch bestimmt«, sagte der Priester, als hörte er nicht das Trillern des Gendarmen.

Beschämt hätte der Konsul am liebsten verneint, denn tatsächlich hatte er in dem Kurienhaus in Lapa mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass nirgendwo Soutanen zu sehen gewesen waren, wo er all die Jahre solche Qualen gelitten und nicht ein einziges Mal den Mut aufgebracht hatte, zur Beichte zu gehen. Der junge Mann lächelte milde und versuchte es auf einem anderen Weg.

»Wir waren eben bei Ihnen zu Hause, Señor Eduardo, und haben mit Ihrer Haushälterin gesprochen, eine bezaubernde Person. Zum Glück konnte das Fräulein uns sagen, wie wir Sie erreichen. Der Patriarch war zwar der Ansicht, Sie gingen besser allein zu dem Treffen, nur leider«, und das Gesicht des Priesters leuchtete seltsam bedeutungsvoll, »hat sich die Situation noch verschlimmert, Señor Eduardo«, und indem er sich mit dem Rücken zum Fluss drehte, als sollte der Polizist sie nicht sehen, packte er den Konsul so heftig am Unterarm, dass der vor Schmerz zuckte und seinen Stock fallen ließ.

»He, was ist da los . . .«, rief der Gendarm, der den Benfeitor offenbar nicht erkannt hatte.

»Sie können sich vorstellen«, säuselte der junge Mann und lächelte gezwungen, »wie dieser Auftrag mich gefreut hat. Den Wohltäter zu begleiten, den Stern, der uns leitet! Aber wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben . . .«

Um den Gendarmen zu verscheuchen und weitergehen zu können, rief der Konsul: »Wir kommen zu spät!«, in einem Portugiesisch, das weder der Polizist noch sonst jemand verstehen mochte, dessen Bedeutung jedoch klar wurde, als er losstürmte und der Priester ihm folgte und ihn stützte.

Dem Konsul fiel ein, dass sein Stock noch auf dem Bürgersteig lag, aber wozu brauchte er ihn noch, wo dieser Junge, Ricardo, an seiner Seite war, was sollte er sich nach ihm bücken?

»Wir kommen zu spät!«, rief er noch einmal.

Wir kommen zu spät!, hatte er auch zu Esteban gesagt, als sie Maryvonne, ein einziges Mal, in dem finsteren Hof der Irrenanstalt besuchten.

Der Gendarm schaute nach wie vor misstrauisch zu ihnen hinüber, ließ sie aber gehen, und gemeinsam liefen sie das letzte Stück der Straße zum Fluss hinunter, und ihm war, als würde der Junge ihn wie die Apostel bei den frühen Taufen mit jedem Schritt ein wenig tiefer in den Strom seines Vertrauens ziehen, einen Strom, der ihn vom Schmutz befreite, vom Aussatz seiner Erinnerung, seines Wahns, seiner Stimmen. Ach, es ist zum Barmen, sagte er sich und dachte nicht nur an diese schreckliche Person, die er sein Leben lang gewesen war, sondern auch daran, wie naiv es gewesen war, zu glauben, er könne seinen Auftrag allein erfüllen. Und während Ricardo ihm auf die Brücke hinaufhalf, von wo aus sie auf den Bahnhof Cais do Sodré blickten, sagte sich der Konsul immer wieder, dass er eine solche Wertschätzung nicht verdiente. Er konnte ihm ja nicht einmal die Wahrheit sagen! Sosehr Ricardo ihn auch an Esteban erinnerte, an die verehrten Maristenbrüder an seiner eigenen Schule, dieser Geistliche blieb ein Fremder, geleitet vom Patriarchen und dem nicht ganz reinen Gewissen der Zeitungen, die in ihm die Verwirklichung einer Hoffnung sahen, die die Welt längst verloren hatte.

Unten am Fluss war schon dunkle Nacht, und rings um das Rondell vor dem Regionalbahnhof machte der Militärkonvoi halt, um einen anderen Konvoi passieren zu lassen, Diplomatenwagen, die vielleicht ebenfalls zu dem Geheimtreffen fuhren und nicht zu übersehen waren mit ihren weißgestrichenen Reifen und dem flatternden Fähnchen an der Hupe, vor allem aber wegen der erstaunten Gesichter, mit denen die Menschen stehenblieben und manche sich gar bekreuzigten. Konnte es ein deutlicheres Zeichen dafür geben, wie finster die Zeiten waren, wenn diese aufgeblasenen Angeber in den Augen des Volkes eine solche Wichtigkeit erlangten?

Plötzlich hörten sie das Pfeifen eines Zuges, seinen Widerhall in der Kuppel des Bahnhofs, und der Konsul blickte sich erschrocken nach Ricardo um. Und wenn sie den letzten Expresszug des Tages verpassten? »Er hat Verspätung«, sagte der junge Mann, »bestimmt haben sie ihn bei jedem Halt auf der Strecke durchsucht, es gibt Bombenalarm überall. Wir haben also Zeit und können uns hier ausruhen, wenn Sie möchten.«

Den Konsul schien das nicht zu beruhigen, und der Priester erklärte, auch hier werde es mindestens eine halbe Stunde dauern, bis alle Reisenden durchsucht seien, sie könnten also gerne noch auf einen Kaffee in ein Lokal gehen. Der Konsul wies den Vorschlag empört zurück, war aber einverstanden, eine Weile am Brückengeländer auszuruhen und die vom Tejo heraufwehende frische Luft zu genießen. Wäre er in Begleitung irgendeines Dienstboten, hätte er sich nicht bemüßigt gefühlt zu sprechen, doch die Stille zwischen ihnen war schon fast unhöflich. Ob er ihm sagen könnte, dass er sich Sorgen um Maestro Eugénio de Oliveira machte? Sicher hatte Ricardo gesehen, wie er neulich bei der Galavorstellung, die Salazar für die ausländischen Diplomaten gab, in Ohnmacht gefallen war. Bis heute Morgen hatte der Maestro noch hier gegenüber gewohnt, im Hotel Majestic, und die ganze Woche hatte er immer wieder im Konsulat angerufen und »für einen meiner Schüler« um eine Passage auf dem Hilfsfrachter nachgesucht, aber nur den Spott dieser Kanaillen in ihren Schreibstuben geerntet. Wahrscheinlich war er es auch gewesen, der heute Vormittag bei ihm zu Hause angerufen hatte, was Marcenda derart beunruhigte – »jemand weint am anderen Ende und sagt kein Wort, Herr Doktor« –, dass er sich genötigt sah, ihr zu verbieten, noch einmal abzuheben. Doch wusste der Himmel, in welche Homogeschichten der Maestro diesmal verstrickt war, und seinen Namen zu nennen hieß vielleicht, sich zu kompromittieren.

»Ihnen ist nicht wohl«, befand Ricardo, als wäre er sein Leibarzt. »Sie werden nicht abstreiten, dass Sie am liebsten in Lissabon bleiben würden. Und jetzt zwinge ich Sie zu fahren, und Sie können sich nicht überwinden, es mir zu sagen.«

»Aber nein, bestimmt nicht«, protestierte der Konsul, der fürchtete, ihn beleidigt zu haben, auch wenn er das vage Gefühl hatte, dass der Junge ihn erpresste. »Ich mache mir nur Sorgen«, stammelte er, »wegen der beiden argentinischen Künstler, die wir heute aus Madrid erwarten und die eben am Bahnhof Rossio angekommen sind.«

Ricardos Gesicht verzerrte sich, und der Konsul schwieg verwirrt. Eine Männerstimme hallte plötzlich von der Straße herauf, und sie beugten sich über das Geländer und sahen, wie mit ihren Mützen, grauen Kittelschürzen und prallen Tornistern in einer langen Reihe Kinder unter ihnen herzogen, mit dieser geordneten, schaurigen Verschwiegenheit eines nächtlichen Schwarms.

»Ach, das Volk Israel!«, murmelte Ricardo wie für sich, wie für niemanden, mit einer Stimme, die nicht mehr die seine zu sein schien, vielleicht weil er eine Stelle aus dem Alten Testament zitierte, zumindest schien es dem Konsul so. »Wie sehr sie uns brauchen, und wie wenig wir für sie tun können!«

Der Konsul schaute ihn an und glaubte nun zu wissen, mit was für einem Menschen er es zu tun hatte. Wieso sollte dieser Priester, selbst wenn der Patriarch und seine »männliche Elite« einen besonderen Ruf genossen und sich untadelig verhielten, auch anders sein als die Geistlichen, die er bisher kannte? Ebendeshalb hatte er ihn ja von Anfang an so an Esteban erinnert.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte der junge Mann, als er merkte, dass der Konsul den Blick nicht von ihm wandte, und wischte sich diskret eine Träne aus dem Auge.

Sie hörten die Pfeife des Stationsvorstehers, vermutlich sollten jetzt die Reisenden durchsucht werden, die mit dem letzten Zug fuhren, und Ricardo nahm den Konsul wieder am Arm und zog ihn, noch zerknirscht, aber fest und ohne Pause, weiter den Hang hinunter. Wie ein Leuchtturm erhob sich nun der Bahnhof vor ihnen, und alles strömte zu ihm hin: die Diplomatenwagen, die sie das Rondell hatten umrunden sehen, der lange Zug der jüdischen Kinder, auch einige der Armeelastwagen, die an ihnen vorbeigefahren waren und aus denen nun ganze Trupps von Gendarmen ausstiegen. Doch der Konsul musste immerzu an die Worte des jungen Mannes denken, »Ach, das Volk Israel, das Volk Israel!«, und er sah ihn durchdringend an. Wieweit konnte er auf ihn zählen?

»Sie machen sich also Sorgen wegen Ihrer Künstler?«, sagte der verärgert zu ihm.

»Na ja«, grummelte der Konsul, um sich nicht weiter in den Strudel der Versuchung reißen zu lassen und ihm alles zu erzählen. »Oberst Sijarich, unser Militärattaché, hat Erkundigungen über das Gondarém eingeholt, das Lokal, das den kleinen Empfang organisiert hat, mit dem wir die beiden Künstler heute hatten ehren wollen. Der Sekretär der Gesandtschaft wird sie später sicher noch dorthin führen, um Fados zu hören.« Ricardo nickte ernst, ohne das beunruhigende Treiben der Gendarmen aus den Augen zu lassen. »Heute Morgen hat er den Chef der PVDE angerufen, aber wie es scheint, verdächtigt der mich«, wagte der Konsul sich vor, wie jemand, der die Temperatur des Wassers prüft, ehe er eintaucht, »Genaueres wollte er nicht sagen. Jedenfalls meinte er, wir hätten nichts zu befürchten, einer seiner Männer sei abgestellt, den Eingang des Lokals zu bewachen. Nach Ansicht von Sijarich«, fügte der Konsul nervös hinzu, da Ricardo nur auf die Menschenmenge vor ihnen achtete und kein Wort sagte, »hat man das Gondarém nur deshalb noch nicht zugemacht, weil sich dort abends viele hohe Tiere treffen. Ein Paradies für Spione!«

Während sie nun unter dem Wetterdach des Bahnhofs hergingen, machte Ricardo eine so hochmütige und mürrische Miene, dass der Konsul schon dachte, er hätte sich lächerlich gemacht, genau wie dieser Sijarich mit seinen plumpen Obsessionen eines Militärs, der überall nur Spione witterte. Und auch wenn der Konsul, anders als sein Begleiter, niemanden anzuschauen versuchte, spürte er, als das Licht der Halle auf sie fiel, wie sich die Blicke Hunderter von Menschen auf ihn richteten. Einige applaudierten und ließen ihn hochleben, die meisten aber waren verwirrt: Was machte der Benfeitor hier, nur wenige Stunden vor dem Entladen des Getreides, und dann noch mit einem Priester an seiner Seite? Verabschiedete er den Mann bloß, oder verließ er Lissabon?

»Papiere«, bedeutete Ricardo leise, und der Konsul erschrak so sehr, dass er mitten auf der Vortreppe stehenblieb. Sollte das ein Scherz sein? Der junge Mann streckte nur die Hand aus. Konnte es sein, dass er nicht wusste, dass in Lissabon jeden Tag Leute ihr Leben aufs Spiel setzten oder gar selber töteten, um an einen legalen Pass zu kommen? Da der Konsul sich nicht rührte, schaute Ricardo ihn fest an und sagte:

»Tut mir leid, Señor Eduardo, aber es kann sein, dass ich Ihre Identität nachweisen muss, bevor man Sie in unser Abteil lässt.«

»Mein Gott, natürlich«, sagte der Konsul und nestelte mit zitternden Fingern am Knopf der Innentasche seines Jacketts.

Schließlich gab er dem jungen Mann seinen Pass, worauf der ihn mit einer solchen Lässigkeit in die Tasche gleiten ließ, dass es einem Vorwurf gleichkam, und noch ehe er reagieren konnte, war Ricardo schon vorausgegangen und aus seinem Blickfeld verschwunden. So trat er allein in die Bahnhofshalle, wo die Leute in langen Reihen anstanden – die Männer rechts, die Frauen links, wie gedrängt vom stillen Vorrücken der Zeiger einer großen Uhr –, um ihre Personalien an eigens aufgestellten Tischen aufnehmen zu lassen, an denen von Soldaten bewachte Eisenbahnbeamte die Angaben registrierten und die Fahrscheine abzeichneten, ehe sie den Reisenden gestatteten, auf die Abfahrt zu warten. Dem Konsul wurde schwindelig inmitten all dieser Menschen, die er so viele Jahre gemieden hatte, und zaghaft, erst recht ohne seinen Stock, ging er zu einer grünen Bank und setzte sich genau unter die große Uhr. Und er dankte dem Himmel, dass niemand sich ihm nähern zu wollen schien, auch wenn man ihn natürlich überwachte. Wie die geheime Wache jenes Verborgenen, dachte der Konsul, des verschollenen Königs Sebastião, welcher der Legende nach verkleidet nach Lissabon zurückgekehrt war und noch heute unerkannt unter seinen Untertanen lebte. Und im Grunde war es für ihn ein Segen, denn zu wissen, dass er gesehen wurde, erlöste ihn ein weiteres Mal von der Qual der Stimmen.

3

Das Volk Israel, sagte sich der Konsul immer wieder, als fände er in der Erinnerung an die Stimme Ricardos Ruhe und Gelassenheit. Und als wäre nichts anderes von Bedeutung, schaute er sich die Szenen auf den Wandkacheln an, all die Wunderwerke der Baixa: die Praça do Comércio, den Aufzug Santa Justa, die Aussichtsterrasse von São Pedro de Alcântara, von wo aus er, vielleicht zum letzten Mal, die Stadt in ihrer ganzen Pracht gesehen hatte. Das Volk Israel! Konnte sich dieser junge Mann, konnten sich all die jüdischen Flüchtlinge, die da enttäuscht das Wort Benfeitor murmelten, überhaupt vorstellen, aus welch finsterer Welt er kam? Dass er einen Vater gehabt hatte, der so krank war, dass er sich an einem Pogrom beteiligte, noch ehe er überhaupt einem Juden begegnet war? Und er selbst, welchen Juden hatte er schon gekannt vor dem Herrn Mandelbaum, bevor er erfuhr, dass auch Maryvonne und Esteban Juden waren? Nur diesen Dr. Antokoletz, der seinen Patenonkel zum Duell herausgefordert hatte, als der sich, mittlerweile ein hoher Beamter im Außenministerium, seiner Beförderung widersetzte, weil »die argentinischen Interessen nicht einer einzigen Gruppe überlassen bleiben dürfen«. Und wie sein Onkel, kaum dass sie in seinem Arbeitszimmer unter sich waren, immer gewettert hatte gegen die Getreidegesellschaften, die die argentinische Landwirtschaft nach Lust und Laune lenkten, alle in den Händen von Israeliten, genau wie die Firma von Mandelbaum. »Israeliten!«, hatte auch Pater Meinvielle sonntags von der Kanzel der Kathedrale von San Isidro herabgedonnert, und er konnte sich noch daran erinnern, wie er und seine kleine Schwester zu Gott gefleht hatten, eine Plage möge die Juden strafen. Aber glauben Sie denn, Ihr Schutzengel hier wäre so anders?, überfiel ihn erneut die Stimme Estebans, und das Gemeine war weniger seine Aufdringlichkeit als die Erbitterung, mit der er den ersten Menschen, zu dem sich der Konsul in all der Zeit hingezogen fühlte, gleich aus dem Weg räumen wollte. Oh, aber natürlich war er das! Dieser Ricardo war vielleicht etwas sprunghaft, aber jemand, der Mitgefühl hatte und aus gutem Hause kam, und einen solchen Menschen brauchte der Konsul einfach an seiner Seite. Eigentlich musste er dem Patriarchen dankbar sein, dass er ihn geschickt hatte. Schon gestern Abend hatte der ihm den Eindruck einer zugewandten Seele gemacht. Warum sonst hatte er wohl ein Bankett für ihn gegeben und ihn gleich heute zu diesem Treffen bestellt, wo sie in Ruhe miteinander sprechen könnten? Warum sonst hatte er die Großzügigkeit besessen, nach dem Essen auf eine zaghafte, bewegte Frage des Konsuls ausführlich zu antworten, auf eine Art, dass aus dieser faden, dem Protokoll verpflichteten Veranstaltung am Ende noch eine unvergessliche Zeremonie wurde? »Ich sehe Sie, Doutor Cantilo«, hatte der Patriarch gesagt, »und weiß: Morgen, im Paradies, werden wir uns erkennen.« Doch morgen ist heute.

Das Geräusch von Ketten, die auf dem Marmorfußboden rasselten, und die Rufe der Polizisten, die endlich die Erlaubnis zum Einsteigen gaben, rissen ihn zurück in die Wirklichkeit, und an den argwöhnischen Blicken um ihn herum sah er, dass er wieder mit sich selbst gesprochen hatte. Ängstlich wandte er sich in die Richtung, in die Ricardo gegangen war, doch die Flut der zum Bahnsteig drängenden Menschen verstellte ihm den Blick. Nein, für diese armen Teufel war es keine Beruhigung, Lissabon zu verlassen. Vielleicht hatten sie die letzte Gelegenheit verpasst, eine Passage auf der Boa Esperança zu erhalten, dem letzten Schiff, das noch mit jüdischen Flüchtlingen den Atlantik würde überqueren können, und jetzt wollten sie nur bei ihren nächsten Angehörigen sein und gemeinsam mit ihnen überlegen, wie sie sich verhalten sollten, wenn die Nazis einmarschierten oder die Alliierten sie bombardierten. Schließlich konnte der Konsul die kleinen Schalterfenster ausmachen, aber sie waren geschlossen. Ein handgeschriebenes Schild verkündete: fahrscheine an den kontrolltischen. Um nicht den Mut zu verlieren, versuchte er sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Ricardo bestimmt in einem der Dienstzimmer noch etwas zu erledigen hatte, auch wenn sämtliche Türen geschlossen waren und kein Licht herausdrang. Und er hat Ihren Reisepass, Señor Eduardo!