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Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Bodo Kirchhoff

DER PRINZIPAL

Novelle

1. Auflage 2007

© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,

Frankfurt am Main 2007

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung und Umschlaggestaltung:

Laura J Gerlach, Frankfurt am Main

unter Verwendung einer Fotografie von Thomas Ruff.

eISBN: 978-3-627-02139-9

Für Claudius

1

Ein Tag im Spätsommer am größten oberitalienischen See, dort, wo er sich nach Süden weitet, ein Garten mit Olivenbäumen. Endloses Tönen zweier Zikaden in der Stille über einem Ort mit steinernem Uhrturm und blassroten Schindeln, mit Zypressen wie Federkiele vor zittrigem Wasser; ein Haus in bevorzugter Lage. Auf der Terrasse ein Mann in dunkler Hose, barfuß, man sieht ihn kraftvoll einen Korken ziehen, erst von hinten, dann von der Seite, vermutlich der Hausherr. Er riecht am Korken, Falten auf der Stirn, die sich gleich wieder glätten, in den Augen ein Blitzen von der Sorte So bin ich, und auf einmal erkennt man ihn oder meint ihn zu erkennen, der kleine Schreck ist derselbe. Mit Schritten, als hätte er Schuhe an, geht er ins Haus und kommt mit zwei Gläsern zurück, während in der Türscheibe eine Gestalt auftaucht, weites T-Shirt, helle Shorts, Gesicht halb verdeckt von einem Camcorder.

So, und du bist also mein Enkel, sagt der barfüßige Mann, nachdem er beide Gläser mit Wein gefüllt hat. Dann trink mit mir auf meinen Vierundsechzigsten! Aber der Enkel lehnt ab, ein Nein ohne Danke; er trinkt nicht, er filmt nur, immer wieder den See, in einem schon blendenden, keineswegs freundlichen Dunst, dazwischen den blühenden Garten und einen Pool, beneidenswert wie Haar und Figur des Hausherrn – der jetzt mit Blick in das Gerät allein auf sein Wohl trinkt, einen Blick, an den man sich noch erinnert (leicht amüsiert, stets auf der Lauer). Mein lieber Enkel trinkt also nicht, ruft er lachend, wie meine Frau Tochter, die mit ihrer Mutter an diesem Tag natürlich Einkäufe machen muss, damit ich am Abend noch etwas zum Auspakken habe. Aber immerhin sind wir beide dadurch allein – wann haben wir uns zuletzt gesehen, war es die Firmung?

Ja, wahrscheinlich, hört man den Enkel sagen, der Stimme nach ein Halbwüchsiger oder schon junger Mann, mit gutem Auge für die Umgebung, man sieht das Profil des Großvaters, dahinter den See mit einem Berg auf der anderen Seite, die steile Flanke über dem Dunst, ein kalkulierter Ausschnitt. Vier, fünf Sekunden lang nur dieses Bild, bis einem auffällt, dass die felsige Kuppe des Berges auch ein Profil ergibt, das eines schlafenden Mannes in Rückenlage, dem Hausherrn mit seiner Nase, seinem Kinn gar nicht unähnlich; ein Gedanke, den man nicht weiter verfolgen kann, denn der Gefilmte macht sich auf den Weg zum Pool. Als ich dich zum ersten Mal vor mir sah, warst du gerade auf die Welt gekommen, sagt er im Gehen. Und die gute Tochter drängte mich, den jungen Großvater, dass ich dich, den Enkel, im Krankenhauspark umhertrage, aber ich habe mich dem höflichst entzogen – wer weiß, was passiert wäre. Und dann gab es ja diese Begegnung anlässlich deiner Taufe mit dem Essen, das ich arrangiert habe, im Parkhotel Adler. Und ein weiteres Essen anlässlich deiner Firmung. Und heute bist du zum ersten Mal hier, und wir sind auch noch unter uns. Und sonst haben wir uns nie gesehen in diesen achtzehn Jahren? Ich glaube, einmal in Mailand noch oder war das mit Marianne, deiner Großmutter, die sich mit diesem Wort etwas schwer tut? Tatsache ist: Als du auf die Welt kamst, hatte ich schon Sechzehnstundentage. Und doch war ich einige Male – ich könnte das prüfen lassen – in eurem Ort mit der schönen Barockkirche. Ich habe sogar zweimal eine Tagung in die Nähe verlegt, die Amerikaner lieben den Schwarzwald. Nur hat es die Frau Tochter stets einzurichten gewusst, dass du immer gerade fort warst. Oder ich war verhindert, wenn sie mit dir auftauchte, ohne deinen Vater, den ich auch kaum gesehen habe. Und trotzdem war ich gegen die Scheidung. Eine Scheidung hinterlässt immer Wunden, und wenn es Wunden im Bankkonto sind. Marianne und ich waren in unseren vielen Jahren nicht immer glücklich zusammen, aber doch immer ein Paar. Wir waren zusammen unglücklich. Und heute haben wir einen Pakt, der zählt mehr als das Glück, den Pakt, es hier, an diesem See, schön zu finden. Und das mit Recht, wie man sieht.

Und im Bild wieder der See, langsam herangeholt, sein zittriges Wasser, darauf einzelne Windsurfer, etwas verloren im Dunst. Ohne solche Pakte, fährt der Hausherr fort, erdrücken einen die hässlichen Seiten des Lebens, mein lieber Viktor, als der du getauft worden bist, auch wenn deine Mutter dich Vigo nennt und damit den Sinn dieses Namens preisgibt. Wer sein Leben bestreiten will, muss auch siegen wollen, nur dadurch kann man mehr erreichen als andere und freilich auch mehr verlieren – wie du weißt, habe ich zuletzt eine Niederlage erlitten, die größtmögliche in einem Leben, das auf Gelingen ausgerichtet war. Um diese Mittagszeit an meinem Geburtstag hätten sonst schon ein Dutzend Vorstände angerufen, dazu alle drei Parteivorsitzenden der Mitte und von den Gewerkschaftsführern der gemäßigte Flügel. Doch selbst von den treuen Verbänden bisher kein Wort. Nur ein Betriebsrat, der mir seinen dritten Frühling verdankt, hat sich gemeldet, samt der teuersten Blüte dieses Frühlings, für deren Entfaltung ich mitgesorgt habe – nimm das ruhig auf. Ein gutes Gerät?

Kein schlechtes, erwidert der Enkel – natürlich gibt es bessere. Aber in den Zeitungen stand nichts von Frühling und Entfaltung. Es hieß dort Bestechung und Untreue.Der Prinzipalauf seinemWeg nach oben.

Nach oben, wohin? In den Himmel? Ein Lächeln wie das von Heiligen, wenn die Maler zweitklassig waren, geht über das Hausherrngesicht, die Augen schließen sich etwas, das Lauernde bleibt. Nein, mein Ziel hieß Das Beste. Oder willst du nicht das beste Gerät? Welches sollte man sonst wollen; ich werde sehen, was sich tun lässt. Und stand noch mehr in der Zeitung? Die Augen gehen wieder auf, das Lächeln verschwindet, der Enkel räuspert sich hinter der Kamera, es scheint ihm jetzt schwerzufallen, noch etwas zu sagen. Er, dem hier alles gehöre, sei einer von unten, der eben alles gewollt habe, hört man ihn antworten, und der Jubilar widerspricht: Nicht von unten – vom Mangel. Mein Vater war Hausmeister in einer Badeanstalt, das Gymnasium lag da nicht auf der Hand, aber während meiner Lehre in einer Autowerkstatt besuchte ich Abendkurse, schloss die Lehre aber auch ab und kam durch Fleiß und ein Kirchenstipendium dann sogar auf die Schule, die du gerade hinter dir hast. Ich glänzte dort in Physik und allen sprachlichen Fächern wie auch im Schülertheater, etwa als Diener zweier Herren. Die Folge war, dass ich Schauspieler werden wollte und mich nach dem Abitur an staatlichen Bühnen herumtrieb, bis ich erkannte, wie schlecht sie geführt werden, und auch begriff, dass die eigentlichen Bühnen außerhalb des Theaters lagen. Man musste dafür nur ein Studium vorweisen, das es nicht gratis gab, und so fing ich mit Autowaschen an, schon mal Autos gewaschen?

Er greift in den Pool, er macht ein paar Wellen, seine auch zu niederen Diensten bereite Hand füllt das Bild. Also nein, sagt er. Nun, ich kannte dadurch bald jedes Modell und bekam auch ein feines Gefühl für das Äußere von Autos. Und mit diesen Vorkenntnissen nahm ich ein Studium auf, und das feine Gefühl für Autos brachte mich bald mit den Herstellern feiner Autos zusammen, die damals gern mehr exportiert hätten. Also sah ich mich nach Märkten um und entdeckte Italien; ich lernte die Sprache, ich lernte die Gepflogenheiten, ich schuf ein Vertriebsnetz. Es war das Jahr vierundsiebzig, der PC war noch graue Theorie, vom Mobiltelefon konnte man noch nicht einmal träumen, während ich davon träumte, als nächstes die Bühne von Amerika zu erobern. Und später wechselte ich auch die Kontinente, um schließlich zu landen, wo ich immer hatte landen wollen. Und dort kam ich schon bald durch die Art, mit der ich Ideen durchsetzte, mein Gespür für das Menschliche, ob bei Politikern oder Vorständen, aber vor allem aufgrund meiner italienischen Sitten und dem Instinkt für Applaus zu dem Beinamen Principale. Der Rest dürfte bekannt sein. Und du willst also später Filme drehen?

Die Bilder wackeln, der Junge nickt hinter seinem Gerät, er richtet es jetzt auf das Gesicht des Großvaters – an dem alles zu deutlich erscheint, wie man es sonst nur von Leinwandgesichtern kennt, bis hin zu einem amerikanischen Kinn mit Spalt, darin weiße Stoppeln, die kein Rasierer erreicht, ein kleines Ensemble der Verwahrlosung, aber auch der Wahrheit im Gegensatz zu seinem braunen, mit Hilfe von Anwälten vor jeder Nachrede in Schutz genommenen Haar. Und was tust du, um das angestrebte Ziel zu erreichen, was ist der erste Schritt?, fragt er den Enkel und zeigt dabei auf den Ort mit einem kleinen, sicherlich romantischen Hafen. Dort liege sein Boot, ein kaum vorstellbares Privileg, im Hafen von Torri einen Liegeplatz zu besitzen! Mit erhobenem Finger kommt dieser Hinweis, aber der Enkel geht darauf nicht ein, er beantwortet die Frage. Erster Schritt sei die Bewerbung an einer entsprechenden Hochschule. Und dazu gehöre ein kleiner, kostengünstiger Film.

Also eine Talentprobe! Der Großvater oder Principale, als den man ihn kennt, legt seinem Enkel eine Hand auf die Schulter. Und hast du die schon? Ich nehme an, nein. Ein erster Schritt fällt immer schwer, nicht wahr? Er sieht in die Kamera, und wieder eine Unruhe im Bild, wieder das stumme Bejahen. Also muss dieser Film schleunigst gedreht werden, sagt er. Dann sollten wir beide jetzt mit dem Boot auf den See. Zehn Kilometer nördlich, auf der anderen Seite bei den Felswänden findet man die prächtigsten Motive. Oder darf es kein Film mit Natur sein? Er zieht die Hand wieder zurück und betrachtet seine Nägel, während der Junge ein anderes Detail der Hand aufnimmt, den Ehering, von dem man sich kaum vorstellen kann, dass er sich je wieder vom Finger ziehen lässt; ganz nah die Goldfessel inmitten von Härchen, dazu das Lärmen der Zikaden, ein hysterisches Anund Abschwellen, das jäh endet. Und in der Stille danach bald ein leises Geräusch von den Fingern des Hausherrn, ihrem Klavierspielen auf dem Gehäuse eines Telefons, aufgebracht wie die Zikaden, während das Telefon weiter ruhig bleibt und überhaupt sein Leben eher dieser zermürbenden Ruhe zu gleichen scheint als dem Tosen im Silberrauch der Olivenblätter, als würde eine ganze Belegschaft ihn und seine Reformen mit Beifall begrüßen.

Die Natur, fährt der Prinzipal oder Principale fort, gibt es jedenfalls umsonst, der See ist die gebührenfreie Kulisse, für alles Übrige solltest du Rat einholen, Kostendämpfung war das Ziel aller Reformen. Und ein Boot und damit die Bewegung hätten wir auch, ja, ich könnte sogar eine Waffe beisteuern! Er deutet mit der Hand eine Pistole an und berührt mit der angedeuteten Mündung das Telefon. Bei der Gefährdungsstufe, die für mich gilt oder gegolten hat, war es kein Problem, an eine Waffe zu kommen. Wir bringen sie aufs Boot und geben vor der Felswand einen Schuss mit Echo ab. Aber bedenke: Wenn am Anfang der Handlung eine Waffe auftaucht, sollte am Schluss auch jemand sterben dadurch – wer hat das gesagt, der alte Hitchcock? Wilder? Shaw? Ich hole nur die Bootstasche, dann brechen wir auf! Man sieht den Hausherrn ins Haus gehen, man hört ihn mit jemandem reden, vermutlich Personal, und sein Enkel schwenkt auf den See, ein beschlagener Spiegel; dazu die Zikaden, die sich erneut überbieten, wie ein Aufruhr gegen die Mittagsschwüle, und dann schon eine Stimme, unternehmungslustig, Bist du soweit? Dann gehen wir – und es war der gute Shaw!

Die Kamera, jetzt ohne Ton, folgt dem Weg, zuerst durch den ansteigenden Garten und über die Zufahrt mit Flusskieselpflaster, dann zwischen alten geschichteten Steinen einen Hohlweg hinunter, gewunden wie ein Fragezeichen, und schließlich hinein in den Ort Torri (oder Torri del Benaco, nach dem römischen Namen des Sees). Im Bild nur der Gassenverlauf und ab und zu eine Tür, bogenförmig, mit einem Eisenring als Klopfer; zwischendurch noch ein, zwei Katzen, milchweiß, und eine junge Frau auf einem Stuhl vor ihrem Laden, rauchend. Erst als die Gasse endet, geht es in die Totale – der Hafen zwischen einer Burgruine und einem Hotel mit Arkaden, dazu wieder Ton, das Flattern kleiner Fahnen über flaschengrünem Wasser, darin Fischerkähne, familiär beieinander im Halbrund der Mole, einige Segeljachten und nur zwei Motorboote. Es ist tatsächlich ein romantischer Hafen, alle Bilder, die der Junge macht, sprechen dafür; er streift an der Mole entlang, von Kahn zu Kahn, er hat ein Auge für die Frauennamen am Bug – Carlotta, Agnese, Emilia, wie einem Gedicht entnommene Wörter –, bis seine Hauptperson auf das größere der Motorboote zugeht, eine Colombo von elf Metern Länge mit der üblichen Sitzlandschaft im mittleren Teil und Liegeflächen über dem Motorraum und einer Kabine im langen Rumpf. Zweimal Zweihundertvierzig-PS-Kompressor, sagt der Bootsbesitzer fast in einem Ton des Bedauerns und schlägt mit einem Tauende auf die Regenplane. Warum habt ihr nur an meinem Sechzigsten gefehlt, ruft er im selben Ton dem Enkel zu – mehr kann ein Mensch anderen Menschen nicht bieten, mein lieber Vigo!

Aber der Junge oder liebe Vigo erwidert nichts, er hält das Entfernen der Plane fest, den trockenen Möwenkot, der dabei zerstäubt; er filmt das Heck mit dem Namen des Boots, gleich dem des Besitzers, er zieht die Schuhe aus. Und erst jetzt hört man ihn antworten: Wir hatten uns in Amerika diese Magensache geholt, sonst wären wir gekommen! Eine längst bekannte Antwort oder Erklärung für das Fernbleiben, wie man gleich sieht. Der Großvater, inzwischen mit nacktem Oberkörper, nickt nur schwach, während er den Enkel aufs Boot winkt, und der setzt erstmals, um nicht ins Hafenwasser zu fallen, sein Gerät ab.

2

Der Principale löst die Taue in den Farben des Boots, weiß und blau. Und ist dir klar, was du versäumt hast?, ruft er. Der ganze Markusplatz hat mir gehört! Das Orchester des Florian spielte nur für mich, und seine Kellner schwärmten mit Champagner aus und bedienten neben meinen Gästen auch alle Schaulustigen, die auf mich anstoßen wollten, während die Glocken des Campanile um Mitternacht wie bestellt läuteten, wofür unser Kanzler nur ein einziges Wort fand: Respekt – zumal noch zwei Schauspielerinnen aus Mariannes Kreis in der Weite der Piazza zu tanzen anfingen, wie es Schauspielerinnen, wenn die Blüte vorbei ist, nun einmal gern tun, Schühchen in der Hand und die Augen zu. Aber tröste dich: Hier gibt es auch Champagner – man sieht ihn einen Kühlschrank öffnen –, Franciacorta und dazu Oliven und Peccorino, oder hast du nichts übrig für einfache Dinge? Er bekommt keine Antwort, aber die einfachen Dinge sind auf einmal im Bild, samt der Waffe, die er dazu legt, als müsse sie auch gekühlt werden. Dann lässt er die Motoren an, mit ein paar Worten zu Drehzahl und Öldruck, und stößt das Boot von der Mole ab, das perfekte Manöver unter den Augen des Enkels. Die Colombo dreht sich ein Stück und gleitet auch schon aus dem Hafen, ihr Besitzer gibt etwas Gas. Man hört das Motorengeräusch, zwei ruhige Achtzylinder, dazu das schäumende Wasser hinter den Schrauben, die gerade Bahn, die das Boot zurücklässt, das immer raschere Verschwinden von Hafen und Ortschaft, wie Bilder eines Abschieds, nicht eines Aufbruchs.