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VORWORT

Das Bild der Indianer wurde jahrhundertelang nach den Vorstellungen der Weißen gezeichnet. Dabei kam es zu einer verzerrten, häufig klischeehaften Darstellung der indianischen Kultur. Ein wirkliches Verständnis ist aber nur möglich, wenn die Indianer aus ihrer eigenen Welt, ihren Mythen, ihren Traditionen und ihrem eigenen Bewußtsein heraus begriffen werden. Dazu können die hier gesammelten Märchen wichtige Anhaltspunkte und Hilfen geben.

Entscheidend ist bei einer solchen Betrachtungsweise freilich die Kenntnis darüber, wie die Texte der Indianermärchen überliefert, von wem sie aufgezeichnet und zunächst ins Englische bzw. ins Französische übersetzt worden sind. Mit anderen Worten:

Sind diese Texte wirklich frei von fremden Zutaten, also »echt«, oder wurden auch sie nach einer vorgefaßten Meinung zurechtgeschliffen?

Bei der Antwort auf diese Frage kommt man ohne einen gerafften Abriß der Forschungsgeschichte auf diesem Gebiet nicht aus.

Die ersten Weißen, die Indianermärchen und -mythen sammelten, waren die Jesuiten. So taucht beispielsweise das Märchen vom Jungen, der die Sonne fing, schon in einem ihrer Berichte aus dem Jahre 1633 auf. Festzuhalten wäre außerdem, daß die Märchen bei den indianischen Stämmen nur mündlich tradiert wurden. Eine Schriftsprache besaßen die nordamerikanischen Indianer nicht. Nur ein einziger Stamm hat nach dem Kontakt mit den Weißen quasi künstlich eine Schrift entwickelt und Übersetzungen aus dem Englischen auf diese Art fixiert.

In den folgenden Jahrhunderten finden sich sporadisch Indianermärchen und -legenden in den Aufzeichnungen von Handels- und Forschungsreisenden über ihre Erlebnisse im Indianerland.

Erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts kam ein breiteres Material indianischer Folklore zusammen. Damit begann aber sogleich auch die Entstellung. Henry Rowe Schoolcraft, der die Märchen der Ojibwa und ihrer Nachbarn sammelte, neigte leider dazu, die Geschichten entsprechend seinem persönlichen literarischen Geschmack zu verändern und einzufärben.

Hierfür nur ein Beispiel: Manabozo, der auch in einigen Märchen unseres Bandes auftritt, erhielt hier plötzlich und völlig unmotiviert den Namen der Irokesen-Gestalt Hiawatha, die durch Gedichte Longfellows Eingang in die Literatur des weißen Amerika gefunden hatte.

Die sentimentalisierende Einfärbung in Schoolcrafts Notierung wurde verbindlich und prägte ein romantisches Indianerbild. Hiawatha wurde zum typischen nordamerikanischen Indianer.

In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts trat dann eine gewisse Wendung zur originalgetreuen Wiedergabe, wenigstens in Hinblick auf den Handlungsverlauf, ein. Den Stil des Erzählers änderten jedoch die Sammler dieser Jahre weiterhin ziemlich sorglos ab, wenn er ihnen persönlich nicht gefiel. Auf die Bewahrung und Sammlung von Varianten wurde wenig Wert gelegt.

Um 1890, vor allem unter dem Einfluß von Professor Franz Boas, begann dann die Epoche der systematischen und wissenschaftlich exakten Sammlung und Niederschrift des Märchenmaterials der indianischen Stämme und Völkergruppen. In den Fachblättern des »Bureau of American Ethnology«, des »Museum of Natural History« und in den »Journals of American Folklore« erschienen nun Märchen von fast allen Stämmen des nordamerikanischen Subkontinents.

Einzelne Universitäten gingen dazu über, sich auf bestimmte indianische Volksgruppen zu spezialisieren; so die »University of California« auf die kalifornischen Stämme, die »Columbia University« auf die Indianer der nordwestlichen Pazifikküste und der »Canadian Geological Survey« auf die Indianer der mittleren und östlichen Waldgebiete.

Diese eifrige Forschungs- und Sammlertätigkeit führte dazu, daß es mittlerweile kaum einen primitiven Kulturbereich gibt, dessen Mythen, Legenden und Märchen so erschöpfend und genau notiert worden sind wie derjenige der nordamerikanischen Indianer.

Die Skript-Methode, die dabei angewandt wurde, sieht etwa folgendermaßen aus:

Man notierte den Text, den ein indianischer Gewährsmann erzählte, und stellte nach der Lautschrift zunächst eine Wort-für-Wort-Übersetzung in eine europäische Sprache her. Hierzu wurden sogleich im Gespräch mit dem Gewährsmann text- und sprachkritische Angaben festgehalten, die dazu bestimmt waren, die Strukturunterschiede zwischen der indianischen »Sprechsprache« einerseits und der englischen oder französischen Schriftsprache andererseits zu überbrücken.

Ausgehend von diesem Wort-für-Wort-Original und dem Kommentar, wurde dann eine vor allem am wissenschaftlichen Zweck orientierte Rohübersetzung hergestellt. Bei den in diesem Band gesammelten Märchen wurde in den meisten Fällen auf diese Protokolle zurückgegriffen, die inzwischen für eine ganze Reihe von Wissenschaftsgebieten, und nicht nur für die Märchenforschung, wichtige Aufschlüsse gebracht haben.

Von diesem Vermittlungsweg her, aber auch aus der spezifischen Erzählhaltung der Indianer, erklärt sich eine gewisse Sprödigkeit und Starrheit. Anders ausgedrückt: Es gibt in diesen Geschichten kaum Rankenwerk oder überflüssige Schnörkel, wie wir es aus Märchen anderer Regionen kennen. Wo die Handlung auf der Stelle tritt, wo Wiederholungen auftauchen, dienen diese dazu, etwas zu unterstreichen oder die Schwierigkeiten einer Situation hervorzuheben.

Man kann davon ausgehen, daß die mündliche Version viel Spielraum für die Phantasie ließ. Verkürzungen, die im Original manchmal bis an den Rand der Zusammenhanglosigkeit getrieben werden, wurden wohl deshalb als nicht störend empfunden, weil alle im Märchen vorkommenden Personen und Dinge für den indianischen Zuhörer gewissermaßen mit einer magischen Aura umgeben waren, auf die der Erzähler nicht ausdrücklich eingehen mußte, weil sie vom Zuhörer schon auf den geringsten Anstoß hin dazuassoziiert wurde. Hierin liegt eine der Hauptschwierigkeiten für eine lesbare und aus unserem Blickwinkel voll verständliche, geschriebene Fassung.

Was nun den Begriff »Märchen« angeht, mit dem wir diese Texte bezeichnen, so mag er manchem Kenner nicht zutreffend erscheinen. Doch ist von der amerikanischen Wissenschaft nachgewiesen worden, daß bei den Indianertexten eine Unterscheidung zwischen Märchen und Mythe wenig sinnvoll ist. So hat es sich im englischen Sprachbereich allgemein durchgesetzt, für diese Geschichten die Bezeichnungen »Myths« (Mythen), »tales« (Geschichten, Erzählungen, Märchen) oder »legends« (Legenden, Wundergeschichten, Sagen) gleichbedeutend zu verwenden, woraus sich die deutsche Bezeichnung »Märchen« gewissermaßen als gemeinsamer Nenner ergibt.

Betrachtet man nun die Handlungselemente dieser Texte, so kehren bestimmte Motive und Handlungstypen immer wieder: eine Schöpfungsmythe bzw. eine Erzählung vom Beginn der Menschenwelt, mythologisch begründete Schöpfungsvorgänge wie die Einsetzung des Feuers, der Jahreszeiten und der Gestirne, Reisen in eine andere Welt und schließlich die meist einen ganzen Zyklus bildenden »Hero and trickster tales«, die Helden- und Gaunergeschichten.

Bei den Heldengeschichten – oft handelt es sich dabei um Zwillingshelden – steht im Mittelpunkt der Handlung meist ein lebensgefährliches Abenteuer, in das sich der Held freiwillig einläßt, um sich zu bewähren. Häufig zieht er auch aus, um seinen Vater zu finden oder die Zustimmung eines meist nicht-menschlichen Schwiegervaters zur Heirat zu erlangen (Reise der Zwillinge zur Sonne, Narbengesicht).

Mißverständlich für europäische Ohren könnte der Begriff »Gauner-Märchen«, abgeleitet von »trickster tale«, sein.

Die »trickster«-Gestalt hat viele Facetten. Der »trickster« kann ein halb menschliches, halb überirdisches Wesen sein, das einem Stamm unter Abenteuern die Sonne oder ein wichtiges Grundnahrungsmittel erobert und diese Errungenschaften vor feindlichen Mächten schützt. So etwa, wenn Saynday den Plan zum Raub der Sonne ersinnt, seinen Freunden die Büffel zuführt und die Krähe bestraft, weil sie die Büffel vor den Jägern warnt.

Der »trickster« kann aber auch ein plumper Tölpel sein, wie Manabozo, der aus Gier oder Hochmut die natürliche Ordnung der Dinge verletzt und als Neunmalkluger schließlich selbst hereingelegt wird.

Der Typ des »Helden« ändert sich von Gebiet zu Gebiet. An der nördlichen Pazifikküste sind die Helden oft Wesen zwischen Mensch und Tier, in den Märchen aus Kalifornien und den Großen Ebenen wird meist die übernatürliche Geburt des Helden betont; in den Märchen der Irokesen, der Stämme aus den Großen Ebenen und des Zentralplateaus findet sich häufig die Geschichte vom armen, verachteten Jungen, der schließlich reich wird oder aus dem Geschehen als Sieger hervorgeht (Das braune Pferd). Zwillingshelden deuten ebenfalls auf das Gebiet der Großen Ebenen und auf den Südwesten der USA hin.

Verwirrend mag es erscheinen, daß in den Märchen von Reisen in eine andere Welt die Lage dieses »Jenseits« oft ganz verschieden ist. Manchmal liegt die andere Welt »oben«, manchmal »unten«, dann wieder »jenseits des Meeres« oder »hinter den Hügeln«. Hier läßt sich die Bedeutung dessen, was der Erzähler meint, oft nur dann ganz verstehen, wenn man sich mit den religiösen Vorstellungen des betreffenden Stammes eingehend vertraut macht. Trotzdem kommen gewisse Bilder, also etwa »Sternwelt«, »Sternfenster«, »Seil zum Himmel« und »Regenbogenbrücke zu der oberen Welt«, wie Stith Thompson nachgewiesen hat, bei fast allen Stämmen des nordamerikanischen Kontinents vor.

Einflüsse anderer Kulturkreise, mit denen die Indianer in Berührung kamen (Weiße und Schwarze), sind bei manchen Märchen nicht zu übersehen.

Zwar haben wir in diesem Band darauf verzichtet, indianische Nacherzählungen »weißer« Märchen aufzunehmen, doch lassen sich auch innerhalb der strengeren Begrenzung, unter den echten indianischen Texten und Stoffen, Spuren solcher Einflüsse nachweisen.

So im Text des Märchens vom Kaninchen und dem Farmer, das aus der Alabama-Coushatta-Reservation in Polk County im östlichen Texas stammt. Hier werden im Tonfall, im Witz und in der Art, wie die Pointe serviert wird, Anleihen an die Folklore der amerikanischen Schwarzen sehr deutlich spürbar.

Man darf dabei nicht vergessen, daß eine Vermischung von Menschen schwarzer und roter Hautfarbe gerade im Südwesten der USA, aber auch anderswo, im 19. Jahrhundert so selten nicht war.

Auch die letzte Geschichte des Saynday-Zyklus »Roter Saynday trifft Weißen Saynday« geht auf die Assimilierung fremder, in diesem Fall mexikanischer Einflüsse zurück.

Was den Umfang der Märchen angeht, so ist interessant, daß bei Stämmen, die es auf Grund ihrer Umweltbedingungen zu einem gewissen Wohlstand brachten und seßhaft wurden, sich die Handlungsbögen der Geschichten ausweiten, die Stimmungen mehr ausgemalt werden und die Bemerkungen über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation einen breiteren Raum einzunehmen beginnen, während sie sonst nur in formelhafter Verkürzung erscheinen (Nenem).

Was nun die vorliegende Auswahl angeht, so bietet sie höchstens eine kleine Kostprobe aus dem – wie schon angedeutet – außerordentlich reichhaltigen Material, das für wissenschaftliche Zwecke aufbereitet vorliegt, aber über den Kreis der Fachleute hinaus bisher kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Es kam dem Herausgeber darauf an, vor allem solche Texte auszuwählen, die auch etwas über die Lebensumstände der einzelnen Stämme, die magischen Vorstellungen und das Selbstverständnis der Indianer aussagen, und gleichzeitig bezeichnende Beispiele für die zuvor skizzierten verschiedenen Handlungstypen zu geben.

Von hier aus läßt sich der Bogen zurückschlagen zu dem, was zu Anfang gesagt worden ist. Eine wichtige Voraussetzung für den immer noch fortbestehenden Konflikt zwischen der magischen Welt der nordamerikanischen Indianer und der weißen Gesellschaft in den USA, die weitgehend immer nur Anpassung und Unterwerfung gefordert hat und ihr fragwürdiges Bild von den Indianern als verbindlich hinstellte, wäre, daß man sich bemüht, die Indianer aus ihrer eigenen Tradition und Weltsicht heraus kennen – und verstehen zu lernen. Für den, der bereit ist, sich darum zu bemühen, und nicht nur exotisches Vergnügen sucht, könnten – so hoffen wir – diese Märchen ein wichtiges Hilfsmittel sein.

Frederik Hetmann

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Über dieses Buch

Im überlieferten Erzählstil entfalten diese Märchen das tiefe Naturverständnis, die schöpferische Kraft und die magische Welt der Indianer Nordamerikas. Sie erlauben zugleich einen Einblick in indianische Lebensweisheit und Kultur. Diese Geschichten erzählen von Abenteuern und Heldengeschichten, von Schlangenbrüdern und Himmelsfrauen und vielem mehr.

Über den Herausgeber

Frederik Hetmann (Hans-Christian Kirsch), 1934 in Breslau geboren, 2006 in Limburg verstorben, war und ist einer der wirkungsreichsten, zuverlässigsten und vielseitigsten Märchenexperten der Gegenwart.

In vielen Ländern hat er Feldforschung betrieben: in Archiven und Bibliotheken oder aber ausgestattet mit altmodischen Diktiergeräten, etwa zur Aufnahme von Erzählern tief im Süden der USA. Oder unterwegs mit Pferd und Planwagen irgendwo im Westen Irlands.

Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Ungekürzte Sonderausgabe des Titels »Der Junge, der die Sonne fing.
Märchen der nordamerikanischen Indianer« von Frederik Hetmann, 2003

 

 

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

E-Book-Ausgabe

2015 Krummwisch bei Kiel

© Frederik Hetmann c/o Montasser Media

© 2015 by Königsfurt-Urania Verlag GmbH

D-24796 Krummwisch

www.koenigsfurt-urania.com

Umschlaggestaltung: Stefan Hose, Götheby-Holm,
unter Verwendung eines Motivs von Lo Scarabeo,Turin

Satz: Noch & Noch, Menden

ISBN 978-3-86826-304-6

Indianer-Märchen

zum Erzählen und Vorlesen

 

Herausgegeben von
Frederik Hetmann

 

 

KÖNIGSFURT-URANIA

INHALT

Vorwort

Die Himmelsfrau

Der Gute und der Böse

Wie das Feuer auf die Erde kam

Die Flucht aus der Unterwelt

Die Reise der Zwillinge zur Sonne

Der Junge aus dem Blutklumpen

Die verlorenen Kinder

Narbengesicht

Der Mann mit den Hörnern

Das Kaninchen überlistet den Farmer

Der Junge, der die Sonne fing

Manabozos Abenteuer

Die Geschichten um Saynday

Der Schmetterlingsmann

Ishanihura

Nenem

Die Geisterbraut

Der Schlangenbruder

Das braune Pferd

Der verzauberte Baum

Die Mädchen, die einen Stern heiraten wollten

Die sieben Sterne

Quellenverzeichnis

DIE HIMMELSFRAU

Einst lebte die Menschheit in einem himmlischen Paradies. Unter dem Himmel lag nicht die Erde, sondern so weit man blicken konnte, dehnte sich das Meer aus, in dem Wasservögel und andere Tiere wohnten.

Über dem großen Wasser stand keine Sonne; doch der Himmel war erleuchtet vom Baum des Lichtes, der vor dem Haus des Himmelsherrn wuchs.

Ein Traum riet dem Herrscher über das himmlische Paradies, eine schöne, junge Frau zu heiraten, und er tat, wie ihm im Traum befohlen worden war. Vom Atem des Himmelsherrn wurde die Frau schwanger, doch der Mann begriff nicht das Wunder der Natur, sondern entbrannte in Wut und Zorn. Da träumte ihm abermals, und die Stimme des Traumes riet ihm, den Baum des Lichtes vor der Schwelle seines Palastes auszureißen. Und wieder hörte er auf die Stimme seines Traumes. So entstand draußen vor dem Haus ein großes, klaffendes Loch.

Als der Himmelsherr nun sah, wie sein Weib neugierig durch das Loch hinabblickte, überkam ihn wieder eifersüchtiger Zorn, und er gab ihr von hinten einen Stoß. Da stürzte sie aus dem himmlischen Paradies und fiel hinab, dem großen Wasser entgegen.

Immer noch zornig; warf ihr der Himmelsherr alle Gegenstände und Lebewesen nach, die ihr lieb und wert gewesen waren, einen Maiskolben, Tabakblätter, ein Reh, Wölfe, Bären und Biber, die später alle in der unteren Welt leben sollten. Aber noch gab es diese Welt nicht, die jetzt unsere Welt ist. Das unglückliche Weib des Himmelsherrn stürzte durch die Luft herab, und die weite Wasserfläche, in der sie würde ertrinken müssen, kam immer näher. Das sahen die Tiere, die in dem großen Wasser wohnten, und sie beschlossen, ihr zu helfen. Die Wasservögel breiteten ihre Flügel aus und flogen so dicht nebeneinander her, daß sich die Spitzen ihrer Federn berührten. Sie wollten die Himmelsfrau auffangen. Die Wassertiere suchten einen Landeplatz. Die große Wasserschildkröte tauchte auf und hob ihren Panzer über den Meeresspiegel, während die anderen Tiere zum Meeresboden hinabtauchten, um dort Schlamm und Sand zu holen.

Die Bisamratte brachte ein paar Steine, und die Kröte schleppte Algen und Tang herbei, und sie warfen Schlamm, Sand, Algen und Steine auf den Panzer der Schildkröte. So entstand eine Insel, die nach und nach größer und größer wurde.

Unterdessen hatten die Vögel die Himmelsfrau in der Luft aufgefangen und trugen sie zur unteren Welt herab. Von Zeit zu Zeit kamen neue Vögel und lösten jene ab, die müde geworden waren von der schweren Last, die auf ihrem Gefieder ruhte.

Endlich landete die Himmelsfrau wohlbehalten auf der Insel der großen Wasserschildkröte. Sie dankte den Vögeln, die ihr und dem Kind in ihrem Leib das Leben gerettet hatten. Sie nahm eine Handvoll Erde und warf die Erde von sich. Da vermehrte sich das Land durch die Zauberkraft, die in den Fingerspitzen der Himmelsfrau sitzt; die Insel wuchs und wuchs und wurde eine Welt, und die Horizonte rückten in die Ferne. Pflanzen und Bäume begannen zu sprießen, und die Tiere, die der Himmelsherr seinem Weib nachgeworfen hatte, fanden Wohnung und Nahrung und vermehrten sich. So entstand die Erde, und die Himmelfrau wurde die Große Erdmutter.

(Seneca)

DER GUTE UND DER BÖSE

Die Himmelsfrau gebar eine Tochter, um die warben, als sie herangewachsen war, viele männliche Wesen und Tiere, die männliche Menschengestalt angenommen hatten. Doch die Mutter riet ihrer Tochter, alle Freier abzuweisen, bis ein junger Mann ihres eigenen Volkes vom Totem der Großen Taube komme.

Als dieser Mann vor ihre Hütte trat, brachte er dem Mädchen zwei Pfeile, deren Spitzen aus Feuerstein gefertigt waren. Das Mädchen legte sich auf den Boden nieder; der junge Krieger aber schoß einen der Pfeile in ihre linke Brust und den anderen Pfeil in ihren Schoß. Dann ging er fort und sagte ihr, er werde am nächsten Tag wiederkommen. So geschah es, doch diesmal nahm er die beiden Pfeile mit und erklärte ihr, nun müsse er sie für immer verlassen.

Zur rechten Zeit gebar die junge Frau Zwillinge. Schon ehe die Kinder auf die Welt kamen, hörte man sie im Leib der Mutter sprechen. Das eine Kind sagte, es werde auf dem nächsten besten Weg in diese Welt kommen; das andere erklärte, es wolle den Weg nehmen, den die Natur bestimmt hat. Als nun die Stunde der Geburt gekommen war, zwängte sich der eine Knabe durch den Schoß der Mutter, der andere hingegen kroch aus ihrer Achselhöhle hervor, und die junge Frau starb.

Die Himmelsfrau war zornig über den Tod der Tochter und fragte die beiden Knaben, wer von ihnen den Tod der Mutter verschuldet habe. Der Böse klagte seinen Bruder, den Guten, an.

Die Himmelsfrau nahm den vermeintlichen Übeltäter und stieß ihn aus ihrem Reich in die Wildnis. Sie wollte, daß er dort verhungere. Aber das Kind starb nicht, es wuchs rasch, schneller als andere Kinder, und war bald ein ausgewachsener junger Mann, der wanderte durch die Welt auf der Suche nach seinem Vater, bestand viele Abenteuer und hörte, daß er der Sohn des Westwinds sei.

Als er nun seinen Vater gefunden hatte, lehrte ihn dieser, wie man eine Hütte baut, wie man Feuer schlägt, wie man pflanzt und die verschiedenen Saaten pflegt, und er schenkte dem Sohn Kornsaat, Bohnensaat und Tabaksaat. Er warnte ihn auch vor dem Bösen, der in seiner Eifersucht versuchen werde, alles zu zerstören oder zu verderben, was der Gute schaffe, und erklärte ihm, daß in der Zukunft viel Kummer und Leid durch den Bösen in die Welt kommen werde.

Darauf schuf der Gute zuerst alle Flüsse mit einer zweifachen Strömung, bergauf und bergab, damit die Menschen sie ohne Anstrengung in beiden Richtungen befahren könnten. Der Böse aber verdarb dieses Werk, indem er Wasserfälle und Strudel in die Flüsse zauberte.

Der Gute ließ Früchte wachsen und schuf viele Arten von Tieren und Vögeln. Er erschuf auch die Fische in den Flüssen als Nahrung für die Menschen.

Der Böse hexte den Fischen Gräten unter die Haut. Ersticken sollten die Menschen, wenn sie von den Fischen aßen.

Die Himmelsfrau hatte ihre Tochter in der Erde begraben. Sie trauerte. Viel Zorn und Haß war in ihrer Trauer. Nach einiger Zeit wuchs aus dem Kopf der Toten die Tabakpflanze, aus ihren Brüsten das Korn und der Mais, aus ihren Fingern die Bohnen und aus ihren Zehen die Kartoffel.

Während der Gute am Grab seiner Mutter saß und das Wachstum der Pflanzen bewachte, kochte die Himmelsfrau daheim eine Maissuppe. Sie hielt den Guten noch immer für den Mörder ihrer Tochter und sann zusammen mit dem Bösen darauf, wie sie den Enkel verderben könne. Aber all ihre bösen Anschläge schlugen fehl.

Da forderte die Himmelsfrau den Guten zu einem Spiel heraus. Wer dabei gewinne, so schlug sie vor, der solle über die Welt herrschen. Es war aber jenes Spiel, bei dem man aus einiger Entfernung Pfirsichkerne in eine Schale werfen muß.

Als der Tag des Wettkampfes herangekommen war, wollte die Himmelsfrau dem Guten ihre Schale und ihre Pfirsichkerne geben. Er aber wies diese Dinge zurück, denn er ahnte, daß sie von der Himmelsfrau verzaubert worden waren. Statt dessen rief er einen Schwarm Haubenmeisen herbei und benutzte die Hauben, die diese Vögel auf ihren kleinen Köpfen tragen, als Wurfsteine.

Er erklärte den Vögeln, daß es bei diesem Spiel um die Macht über die Welt gehe, und so liehen sie ihm ihre Federn gern.

Der Gute hüllte also seine Wurfsteine in zarten Federflaum. So flogen sie sicher in die Schale, wie Vögel zu ihrem Nest fliegen, und es gelang ihm, das Spiel gegen die Himmelsfrau und den Bösen zu gewinnen.

Noch heute spielen deshalb die Indianer am kürzesten Tag des Jahres, beim Fest des grünen Maises, das Große Pokerspiel mit den Pfirsichkernen, um sich daran zu erinnern, daß wenigstens einmal vor langer Zeit das Gute in der Welt den Sieg über das Böse davontrug.

(Seneca)

WIE DAS FEUER AUF DIE ERDE KAM

Im Anfang war die Welt kalt, und die Tiere und Vögel hatten ihre Pelze und Federn sehr nötig, um sich warm zu halten. Da schaute der Donnergott hinab auf die kalte, unfreundliche Erde, und er sah, daß es so nicht gut war. Er schickte also einen Blitzstrahl hinab, der setzte einen Sykomoren-Baum auf einer kleinen Insel in Brand.

Der Stamm loderte wie eine Fackel, und alle Tiere sahen zu und freuten sich über die helle Wärme. Aber wie sollten sie das Feuer von der Insel zum Festland bringen? Sie hielten Rat, und ein jedes von ihnen wollte helfen. Als erster sprach der Rabe:

»Das beste wird sein, ich fliege hinüber zur Insel und bringe etwas von dem Feuer mit.«

Gesagt, getan. Er flog hin zu der Insel und versuchte, das Feuer zu holen, aber zurück kam er verbrannt und verängstigt und ohne Feuer. Seit diesem Tag ist der Rabe schwarz.

Als nächstes Tier versuchte es die kleine Eule. Sie kam wohlbehalten bis zu dem Baum, aber als sie in den brennenden, hohlen Stamm hinabschaute, schlug ihr die Lohe ins Gesicht und verbrannte ihr beinahe die Augen. Seither sind ihre Augen rot und blinzeln bei grellem Licht.

Die schwarze Schlange wollte besonders schlau sein. Sie schwamm zu der Insel, kroch vorsichtig durch das Gras und fand ein kleines Loch am Fuß des Stammes. Dort schlüpffte sie hinein und hoffte, sie werde ein wenig Glut davontragen können. Aber im Inneren des brennenden Baumes war es schrecklich heiß. Die Schlange fürchtete zu ersticken. Rasch schnellte sie wieder zu dem kleinen Loch zurück und schlüpfte hinaus ins Freie.

Nachdem es auch der Schlange nicht gelungen war, das Feuer zu holen, waren die Tiere verzweifelt. Keines wagte sich in die Nähe des glühenden Baumes, und immer noch war die Welt kalt und unfreundlich. Da meldete sich die kleine schwarz-rot-gestreifte Wasserspinne und bat, einen Versuch wagen zu dürfen. Sie webte eine kleine Schüssel und befestigte sie auf ihrem Rücken. Sie lief über das Wasser zur Insel, zog ein winzig kleines Stück glühender Holzkohle aus dem Baum, glitt eilig wieder über das Wasser zurück zum Festland und brachte den Tieren das Feuer.

Und wer sich heute die Wasserspinne anschaut, der wird auf ihrem Rücken immer noch die Schüssel entdecken, in der sie die Wärme in eine kalte Welt trug.

(Cherokee)

DIE FLUCHT AUS DER UNTERWELT

In der Unterwelt gab es nichts als Wasser. Zwei Frauen, Huruing Wuhti im Osten und Huing Wuhti im Westen, wohnten weit voneinander entfernt, und die Sonne reiste zwischen ihren Wohnungen hin und her. Da beschlossen die Frauen, Land zu erschaffen. Sie teilten das Wasser, damit die Erde erscheine. Aus Lehm formten sie zuerst Vögel, die gehörten der Sonne, dann Tiere, die gehörten den beiden Frauen. Endlich formten sie auch menschliche Wesen und rieben sie zwischen ihren Handflächen, damit sie Verstand bekämen.