Erster Teil

Inhaltsverzeichnis

1

In einer dunklen Kabine, die nach Seewasser und Salzlake roch, saßen fünf Männer von gewaltig breiten Schultern, mit aufgestützten Ellbogen beim Trinken. Der Raum, der für diese Gestalten viel zu niedrig war, spitzte sich gegen das eine Ende hin zu, wie das Innere einer großen, ausgenommenen Möwe; schläfrig und langsam schaukelte er hin und her, wobei das Gebälk einen klagenden Ton auszustoßen schien.

Den Zugang zu dieser Kajüte bildete ein viereckiger Ausschnitt in der Decke, den ein Holzdeckel verschloß; man merkte nicht viel davon, daß sich draußen das Meer befand und daß es Nacht war; eine alte Hängelampe beleuchtete das Zechgelage der Männer mit ihrem flackernden Licht.

Um den geheizten Ofen hingen nasse Kleidungsstücke zum Trocknen; der Dunst der von ihnen ausstieg, vermischte sich mit dem Qualm der Thonpfeifen.

Der massive Tisch nahm fast den ganzen Raum der Kajüte ein; es blieb gerade nur so viel Platz, um sich durchquetschen und auf die an der Wand festgenagelten Schiffskisten setzen zu können. Die schweren Deckenbalken berührten fast die Kopfe der Männer; hinter ihnen lagen die Kojen, die dunkel wie Grabnischen aussahen; das ganze Holzwerk war roh und verwittert, von Feuchtigkeit und Salz durchsetzt, nur die Tischkante sah vom beständigen Anfassen wie poliert aus.

Aus den Bechern auf dem Tisch war Wein und Eiderschnaps getrunken worden, und Freude leuchtete aus den offenen Gesichtern der tapferen Männer, die vergnüglich beisammen saßen und im Dialekt ihrer bretonischen Heimat über die Weiber und vom Heiraten redeten.

An der Hinterwand der Kajüte, auf dem Ehrenplatz, stand auf einem Wandbrettchen eine Jungfrau Maria aus Steingut. Wohl war diese Schuhpatronin der Seeleute schon alt und mit höchst naiver Kunst recht bunt bemalt; da aber die Steingutfiguren länger aushalten als die Menschen, so sah das rot und blaue Kleid inmitten des düsteren Grau der armseligen Holzbehausung noch ganz frisch aus. Diese heilige Jungfrau hatte in Stunden der Angst manch inbrünstiges Gebet gehört; zu ihren Füßen waren zwei Sträuße künstlicher Blumen und ein Rosenkranz auf dem Standbrettchen festgenagelt.

Die fünf Männer waren gleich gekleidet; der Hosengurt umspannte ein dichtgewebtes Tricothemd aus blauer Wolle, und auf dem Kopf trugen sie eine Art Helm aus geteerter Leinwand, den Südwester, welcher seinen Namen von dem Wind hat, der in unseren Himmelsstrichen Regen zu bringen pflegt.

Die Männer standen in ganz verschiedenem Lebensalter; ihr Kapitän mochte ein Vierziger, drei etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein; der Jüngste aber, den sie bald Sylvester, bald Lurlu nannten, war nicht älter als siebzehn. In Gestalt und an Kräften war er aber bereits ein Mann; ein feiner krauser Vollbart umrahmte die frischen Wangen, seine blaugrauen Augen hatten aber einen kindlichen Ausdruck behalten und blickten unschuldig und ungemein sanft in die Welt. Dicht aneinander geschmiegt saßen sie da, denn um bequem zu sitzen, dazu gebrach es an Raum; sie schienen sich ganz behaglich in ihrem dunklen Loch zu fühlen, obschon es draußen Nacht war und das Meer brauste, und man das Aufklatschen des Regens aufs Verdeck deutlich vernahm. Die kupferne Wanduhr stand eben auf Elf.

Ohne etwas Unpassendes zu sagen, verhandelten sie auf lustige Weise über Heiratsangelegenheiten, im Interesse derjenigen unter ihnen, die noch ledig waren; oder sie erzählten drollige Geschichten, die sich bei dieser oder jener Hochzeit daheim zugetragen hatten. Zuweilen fiel wohl unter lustigem Lachen eine etwas derbe Anspielung auf die Freuden der Liebe, aber bei diesen rauhen Leuten, die in beständiger Gefahr leben, ist es etwas Gesundes um die Liebe, und bei aller Derbheit darf man sie fast als keusch bezeichnen.

Sylvester wurde endlich die Zeit lang, da Jean, dessen Name im bretonischen Dialekt Yann heißt, immer noch nicht kommen wollte. Wo steckte er auch nur, dieser Yann? immer noch droben bei der Arbeit? warum kam er nicht herab und half das Fest ein wenig mitfeiern?

»Beinah Mitternacht!« sagte der Kapitän. Er stand auf und reckte sich, und rückte den Holzdeckel mit dem Kopf ein wenig zur Seite. Ein seltsames Licht fiel durch die Luke auf den Untenstehenden. »Yann! Yann! He, Mann!« rief er hinauf. Mit rauher Stimme gab »der Mann« Antwort.

Wohl war es nahe an Mitternacht, aber das Licht, welches durch den halbgeöffneten Deckel fiel, glich fast der Tageshelle, eine Art abgeblaßten Sonnenlichtes, das in wundersamem Dämmerschein leuchtete, als käme es aus unendlicher Ferne, durch geheimnisvolle Spiegel zurückgeworfen.

Sobald das Loch wieder geschlossen, war es wieder Nacht in der Kajüte, die Lampe flackerte wie vorher in gelblichem Schein, und man hörte »den Mann« mit seinen groben Holzschuhen die Leiter herabsteigen.

Da Yann fast ein Riese war, mußte er sich hier unten zusammenkauern. Er verzog das Gesicht, und hielt sich für einen Augenblick die Nase zu, so stark schlug ihm der Dunst und Qualm entgegen. Yann überragte seine Kameraden gewaltig; der Rücken sah so breit und massiv aus, wie aus Balken gebaut, und von vorn gesehen, zeichneten sich die Schultern durch das blaue Wollhemd ab wie Kugeln, die am Oberarm saßen. Er hatte sehr bewegliche braune Augen, deren Ausdruck wild und stolz war.

Sylvester schlang den Arm um Yann und zog ihn zärtlich an sich, wie Kinder zu thun pflegen; er war mit Yanns Schwester verlobt und betrachtete ihn daher als älteren Bruder. Der Riese ließ sich liebkosen wie ein gezähmter Löwe und lächelte gutmütig, wobei er seine weißen Zähne zeigte. Obwohl sie bei ihm mehr Platz gehabt hätten als bei anderen Leuten, waren sie klein und etwas auseinander stehend. Der blonde Schnurrbart war ein wenig kurz, obwohl nie geschnitten, er lag, zwei regelmäßigen Wellen gleich, auf der sehr schön geschwungenen Oberlippe, die Spitzen aber waren etwas borstig und hingen weit an den Mundwinkeln herab. Die frischen gebräunten Wangen hatten das samtartige einer noch unberührten Frucht.

Man füllte die Becher noch einmal, und der Schiffsjunge wurde gerufen, um die Pfeifen frisch zu stopfen und anzuzünden. Das war eine Gelegenheit für ihn, auch ein wenig zu rauchen! Er war ein kräftiger Junge mit rundem Gesicht, der mit jedem der fünf Männer irgendwie verwandt war, die ihrerseits wiederum alle in näherem oder entfernterem Verwandtschaftsverhältnis zu einander standen. Neben der harten Arbeit, an der ihm nichts geschenkt ward, hätschelten ihn die Männer um die Wette. Yann ließ ihn aus seinem Becher trinken, darauf wurde er zu Bett geschickt.

Die Männer nahmen nun ihr Gespräch wieder auf.

»Wann werden wir endlich deine Hochzeit feiern?« fragte Sylvester den Freund.

»Ein Kerl von deiner Größe und mit siebenundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet! schämst du dich nicht?« rief der Kapitän. »Was sollen die Mädchen nur von dir denken, wenn sie dich sehen?«

Yann schüttelte seine gewaltigen Schultern, als wollte er damit seine Verachtung für das ganze weibliche Geschlecht ausdrücken.

»Ich halte nur für eine Nacht Hochzeit, oder auch nur für eine Stunde, je nachdem es ist,« antwortete er.

Yann hatte kürzlich sein fünftes Dienstjahr in der Marine beendet; unter den Matrosen hatte er aber neben der französischen Sprache auch höhnische Redensarten gelernt. Jetzt fing er an von seiner letzten Hochzeit zu erzählen, die, wie es schien, vierzehn Tage gedauert hatte.

Das war in Nantes gewesen, und zwar mit einer Sängerin. Eines Abends, als er Urlaub hatte an Land zu gehen, war er in angetrunkenem Zustand in eine Singspielhalle geraten. An der Thür stand eine Frau, die Bouquets so groß wie ein kleines Wagenrad für zwanzig Frank verkaufte; ohne zu wissen, was er damit machen sollte, nahm Yann eines und warf es der Sängerin auf offener Scene »mitten ins Gesicht,« halb als Liebeserklärung, halb aus Spott darüber, weil die angeputzte Puppe allzurotgeschminkt war. Der Wurf aus Yanns Hand hatte zunächst bewirkt, daß die Sängerin ohnmächtig niederstürzte, danach aber hatte sie ziemlich drei Wochen lang für den Riesen geschwärmt.

»Und wie unser Schiff weiter fuhr, hat sie mir zum Abschied auch noch eine goldene Uhr geschenkt,« schloß Yann, indem er die Uhr wie ein wertloses Spielzeug auf den Tisch warf.

Yann hatte diese Geschichte auf seine Art und mit den ihm eigenen bilderreichen Ausdrücken erzählt; das banale Erlebnis aus der civilisierten Welt paßte aber nicht recht zu diesen ursprünglichen Menschen inmitten des Schweigens, das über der ungeheuren Wasserwüste draußen lag; die Erzählung paßte auch nicht zu dem mitternächtlichen Licht, das durch die Deckenluke brach und Kunde gab vom zu Ende gehen des Sommers am fernen Nordpol.

Was Yann erzählt hatte, überraschte Sylvester und that ihm weh, denn er war reinen Gemüts und von einer alten Großmutter, die als Witwe eines Fischers im Dorf Ploubazlanec wohnte, streng religiös erzogen worden. Tagtäglich war sie mit dem kleinen Knaben auf das Grab seiner Mutter gegangen, um dort auf den Knieen einen Rosenkranz mit ihm zu beten. Von diesem Kirchhof aus, der auf den Klippen lag, erblickte man in der Ferne das graue Gewässer des Kanals, in dessen Wogen sein Vater bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen war. Da die Leute arm waren, hatte er schon sehr früh mit auf den Fischfang hinaus gemußt und seine Kindheit geradezu auf dem Meer verbracht. Auch jetzt noch betete er gewissenhaft jeden Abend, und seine Augen hatten sich eine fromme Reinheit bewahrt. Er war ein schöner Mensch und nach Yann der Kräftigste an Bord; seine überaus sanfte Stimme und kindliche Redeweise kontrastierte mit seiner großen Gestalt und dem schwarzen Bart, und da er sehr schnell gewachsen, war er ganz verlegen ob der Thatsache, auf einmal so groß und breit geworden zu sein. Er gedachte sich bald mit Yanns Schwester zu verheiraten, hatte aber das Entgegenkommen anderer Mädchen nie beachtet.

Das Schiff hatte nur drei Kojen, in welchen die Männer abwechselnd schliefen.

Es war etwas über Mitternacht, als sie ihr Trinkgelage aufhoben, das sie heute an Maria Himmelfahrt zu Ehren ihrer Schutzpatronin, der Jungfrau Maria, abgehalten. Ihrer drei verschwanden in den dunkeln Löchern von Kojen, und die drei andern stiegen die Leiter zum Deck hinauf, um der unterbrochenen Arbeit des Fischfangs obzuliegen, Yann, Sylvester und einer aus ihrer Gegend, der Guillaume hieß.

Draußen war es ewiger Tag, aber es war ein bleiches Licht, als wäre es der Reflex einer erstorbenen Sonne. Um sie her eine ungeheure, farblose Leere, und außer den dunklen Planken ihres Schiffes erschien alles durchsichtig, ungreifbar und gespenstisch. Das Auge unterschied kaum was das Meer sein mochte: zuerst erschien es wie eine Art zitternden Spiegels, der jedoch kein Bild zurückwarf; erst bei längerem Hinsehen glich es einer nebelreichen Ebene, und außerdem sah man nichts, gar nichts, weder Horizont noch Umrisse.

Die feuchte Frische der Luft war durchdringender als wirkliche Kälte, und beim Atmen empfand man ihren starken Salzgehalt. Es hatte aufgehört zu regnen und alles war ruhig; form- und farblose Wolken schienen das blasse Licht zu enthalten, für dessen Töne sich kein Name hätte finden lassen; man sah vollkommen deutlich, obwohl man das Bewußtsein davon hatte, daß es Nacht war, bei dem fahlen Licht, das auf das Schiff fiel.

Die drei Männer da lebten seit ihrer Knabenzeit auf diesen nördlichen Meeren inmitten dieser Spiegelungen, unklar und verschwommen, wie eine Vision. Die wechselvolle Unendlichkeit um ihr enges Fahrzeug her war ihnen ein gewohnter Anblick, und ihre Augen damit vertraut wie die Vögel des Meeres. Das Schiff lag schaukelnd auf einer und derselben Stelle, wobei die ächzenden Planen immer den gleichen klagenden Ton von sich gaben, monoton wie ein bretonisches Lied von den Lippen eines Schlafenden.

Yann und Sylvester hatten ihre Köder und Angeln schnell bereit gemacht, während Guillaume ein Salzfaß öffnete, und nachdem er sein großes Messer geschärft, setzte er sich wartend hinter den Fischern nieder. Er brauchte nicht lange zu warten, denn sobald die Angeln in diesem ruhigen, kalten Wasser ausgeworfen waren, konnten sie auch schon mit großen, stahlgrau glänzenden Fischen in die Höhe gezogen werden. Ein Kabeljau nach dem andern wurde gefangen, und schnell und unaufhörlich gedieh der Fang weiter. Guillaume nahm die Fische aus, schlug sie mit seinem großen Messer platt, salzte ein, zählte, und der Haufen von Fischen, der bei der Heimkehr ihr Vermögen ausmachen sollte, türmte sich frisch und wassertriefend immer höher hinter ihnen auf.

Eintönig vergingen die Stunden in fleißiger Arbeit; währenddem wechselte die eigentümliche Beleuchtung, der falbe Dämmerschein machte ohne Übergang einem wirklichen Morgenlicht Platz, und alle Meeresspiegel warfen unklar rosa Streifen zurück.

»Du solltest ganz entschieden heiraten, Yann,« sagte Sylvester plötzlich in tiefem Ernst, während er hinab ins Wasser schaute. Es schien, als wüßte er eine daheim, die ihr Herz an seinen großen Bruder verloren hätte, fühlte sich aber zu schüchtern, um viel über diesen ernsten Gegenstand zu sagen.

Yann lächelte verächtlich. »Ich?« rief er. »O ja, ich werde mich sicher eines Tages vermählen, aber mit keinem Mädchen aus der Heimat, sondern mit dem Meer, und zu dem Ball, den ich zu meiner Hochzeit geben werde, lade ich euch alle miteinander ein!«

Yann und Sylvester fischten weiter, denn man durfte keine Zeit mit Schwatzen verlieren, befanden sie sich doch inmitten einer ungeheuer großen Fischmenge, »Bank« genannt, die seit zwei Tagen vorüber zog und kein Ende nehmen zu wollen schien. Vorige Nacht hatten sie alle miteinander gewacht, und in dreißig Stunden Arbeit über tausend starke Kabeljaus gefangen, jetzt aber waren auch diese starken Arme müde; sie verrichteten die Arbeit rein mechanisch und fischten ununterbrochen weiter, während der Geist manchmal für ein paar Augenblicke schlummerte. Die Luft auf dem weiten Ocean war aber so frisch und belebend, wie in den ersten Tagen der Welt, und trotz der Übermüdung spürten die Männer wie sie scharf über die Wangen strich und die Brust sich weitete.

Das Morgenlicht, das wirkliche Licht, war endlich erschienen; es hatte sich, wie in den Schöpfungstagen, von der Finsternis geschieden, die wie zurückgeschoben als schwere Dunstschicht am Horizont stand; trotz aller Helligkeit merkte man, daß der Tag eben der Nacht entstiegen war, und der nun versunkene Schein ein unbestimmtes, traumhaftes Licht gewesen war.

Das dichte Gewölk, welches jetzt den Himmel bedeckte, war da und dort zerrissen und ließ starke Strahlen eines rosigen Lichtes hervorbrechen. Die unteren Wolkenschichten traten mehr und mehr zusammen und begrenzten den Horizont als schwere verdüsternde Masse, die aussah, als sollte sie einen zugezogenen Vorhang vor der Unendlichkeit bilden, damit deren allzu gigantische Geheimnisse nicht den Augen der Menschen zugänglich würden. Um das Fahrzeug her, welches Yann und Sylvester trug, schien die Welt an diesem Morgen ein Feierkleid angelegt zu haben, würdig des großen Sanktuariums unter dem Himmelsdom, von welchem aus der Reflex der rosenfarbenen Strahlenbündel sich in der unbeweglichen See so ruhig widerspiegelte wie auf Marmorfliesen.

Ganz allmählich fingen fernes Nebelbild an, sich in scharfkantige Zacken zu verwandeln, die das Morgenlicht mit zartem Blaßrot überhauchte und diese Zacken waren ein Vorgebirge der düsteren Insel Island.

Mit dem Meere wollte Yann Hochzeit halten? Sylvester wagte nichts mehr zu sagen und fischte weiter; es schmerzte ihn, das heilige Sakrament der Ehe von Yann also verspottet zu sehen, und ein abergläubischer Schauer überlief ihn, als er jetzt wieder an Yanns Reden dachte. Der gute Junge hatte sich längst im stillen ausgedacht, daß Yann einmal keine andere als die blonde Gaud Mével in Paimpol freien sollte, und hatte sich gewünscht, daß die Hochzeit noch vor seinem Eintritt in die Marine stattfinden möchte. Das unausbleibliche Nahen dieser fünfjährigen Dienstzeit machte ihm jetzt manchmal das Herz recht schwer!

Vier Uhr morgens. Die drei, welche geschlafen hatten, kamen jetzt auf Deck, um Yann und Sylvester abzulösen. Der Schlaf lag ihnen noch in den Augen; sie zogen ihre großen Stiefeln an, atmeten mit voller Brust die kalte frische Luft ein und schlossen für eine Minute die Augen vor der Blendung des Morgenlichts.

Yann und Sylvester aßen nun eiligst etwas Schiffszwieback zum ersten Frühstück; sie mußten ihn erst mit dem Hammer zerschlagen, zerbissen ihn geräuschvoll und lachten laut darüber, daß er gar so hart wäre. Sie wurden ganz munter und vergnügt bei dem Gedanken, nun bald in ihren Kojen ordentlich warm werden zu dürfen, umschlangen einander und gingen, indem sie ein altes Lied trällerten, zur Luke.

Ehe aber einer nach dem anderen durch das Loch verschwand, spielten sie erst noch mit dem Schiffshund Türk, einem ganz jungen Neufundländer mit sehr großen Pfoten und kindlich linkischen Bewegungen. Sie neckten ihn; der Hund schnappte scherzend nach den Händen, endlich aber biß er auch einmal derber zu. Mit einem Zornesblick in den Augen stieß ihn Yann weg; das Tier fiel hin und heulte kläglich.

Er war gutherzig, dieser Yann, aber von ungezähmter Natur und wenn die physische Kraft allein ins Spiel kam, so konnte eine sanfte Liebkosung bei ihm einer brutalen Heftigkeit merkwürdig nahe kommen.


2

Das Schiff hieß »Marie.« Kapitän Guermeur und zog alljährlich auf den gefahrvollen Fischfang in den nördlichen Meeren aus, wo die Sommer keine Nächte haben. Es war ein sehr altes Schiff – so alt wie seine Schutzpatronin, die Muttergottes in Steingut. Seine dicken Flanken mit den starken Eichenholzrippen zeigten Risse und waren von Nässe und Salzlake ganz durchsetzt, das Holz war aber noch gesund und strömte kräftigen Teergeruch aus. Bei Windstille sah es in seiner massiven Gliederung plump aus, wenn aber ein starker Westwind blies, so segelte es mit einer Leichtigkeit wie die Möwen vor dem Wind. Alsdann hatte es eine ganz eigene Art sich zu heben und auf den Wellen zu schaukeln, weit leichter als manches neue Schiff, das nach den Regeln moderner Schiffsbaukunst gebaut ist.

Die Mannschaft der »Marie« gehörte vom Kapitän bis zum Schiffsjungen den Islandfischern an, jenem tapferen Geschlecht von Seeleuten, das hauptsächlich in der Gegend vom Paimpol und Tréguier seinen Sitz hat, und sich vom Vater auf den Sohn forterbend, diesen gefahrvollen Berufszweig wählt.

Kaum einer der sechs Männer hatte je einen Sommer in Frankreich verlebt. Ging der Winter zu Ende, so rüsteten sich die Fischer zur Ausfahrt und empfingen im Hafen von Paimpol den Abschiedssegen. Zu dieser Feier wurde alljährlich derselbe Altar auf dem Quai errichtet; er stellte eine Felsgrotte dar, in deren Mitte thronte von Ankern, Rudern und Netzen umgeben, die heilige Jungfrau, die Schutzpatronin der Seeleute. Um dieser ihrer Schutzbefohlenen willen verließ sie alle Jahre einmal ihre Kirche, und ihre leblosen Augen schauten von einer Generation zur andern auf die Männer, welche zu einem Teil mit reichem Fang wiederkommen, zum andern Teil nicht heimkehren sollten.

Das heilige Sakrament, dem ein langer Zug von Ehefrauen und Müttern, Bräuten und Schwestern folgte, wurde in langsamer Prozession um den Hafen getragen, wo die Schiffe der Islandfischer zur Ausfahrt bereit lagen. Der Priester hielt bei jedem einzelnen an und sprach unter den üblichen Ceremonien den Segen, worauf ein Schiff nach dem andern grüßend die Wimpel hißte. Nach beendeter Feier liefen sie aus wie eine Flotte; und Ehemänner, Söhne oder Geliebte gab es fast in der ganzen Gegend nicht mehr. Von den Schiffen erscholl aus starken Kehlen der Abschiedsgesang: »Heilige Maria, Stern des Meeres;« und diese Feier wiederholte sich jedes Jahr.

Von da an begann das einförmige Leben auf hoher See, wo drei oder vier rauhe Kameraden aufeinander angewiesen waren, auf schwankenden Planken inmitten der kalten Gewässer nördlicher Meere.

Bisher war man stets glücklich heimgekehrt – die heilige Jungfrau hatte das Fahrzeug beschützt, das ihren Namen trug!

Ende August war die Zeit der Rückkehr; die »Marie« folgte aber dem Gebrauch vieler Islandfahrer, welche den Hafen von Paimpol nur anlaufen, um nach dem Golf von Biscaya weiter zu fahren. Dort setzen sie ihren Fang gut ab, und handeln auf den sandigen Inseln mit salzreichen Buchten gleich ihren Salzvorrat für das nächste Jahr ein.

In diesen südlichen Häfen, wo es noch sommerlich ist, bleiben die Schiffe meist ein paar Tage liegen, deren Mannschaft nach den langentbehrten Vergnügungen des Festlands lechzt; dann schwelgen sie in warmer Luft und Sonne, berauschen sich in Lustbarkeiten – und an Weibern.

Mit den ersten Herbstnebeln kehren die Fischer dann heim zu den Ihrigen nach Paimpol oder in die zerstreut liegenden Hütten der Landschaft von Goëlo, um sich für ein paar Monate mit ihren Familien und der Liebe zu beschäftigen, mit Heiraten und Geburten. Die Heimkehrenden finden in der Regel Neugeborene vor, welche entweder auf die Taufe oder auf Paten warten, und es ist gut, daß die Fischersleute so kinderreich sind, denn die isländischen Meere verschlingen ihrer gar viele!


3

An einem schönen Sonntagabend im Juni waren zwei Frauen in Paimpol damit beschäftigt, einen Brief zu schreiben.

Der Tisch, worauf geschrieben wurde, stand vor einem großen offenen Fenster mit breitem Sims von Sandstein, auf welchem eine Reihe von Blumenstöcken prangte.

Wie sie so über den Tisch gebeugt da saßen, schienen sie alle beide jung zu sein; die eine trug eine ungeheuer große weiße Haube von sehr altmodischem Schnitt, die andere das kleine Häubchen, wie es die Frauen von Paimpol jetzt tragen; man hätte glauben mögen es seien zwei Verliebte, die einen recht zärtlichen Brief an einen schönen Isländer zusammen verfaßten.

Die mit der großen Haube diktierte; als sie jetzt den Kopf hob, um sich auf ein Wort zu besinnen, sah man, daß sie alt war, sehr alt sogar, obwohl die Gestalt in dem braunen Shawltuch gar nicht wie die einer alten Frau aussah. Ihren siebzig Jahren zum Trotz war sie noch hübsch, mit jenen frischen roten Bäckchen, wie sie sich manche Greisinnen zu erhalten wissen. Die Haube lag auf Stirne und Kopf flach auf, und trug zwei oder drei große Tuten aus Musselin, die tief in den Nacken hinab fielen. Die weiße Umrahmung paßte gut zu dem ehrwürdigen Gesicht, aus dessen sanften Augen Rechtschaffenheit sprach. Sie hatte keinen einzigen Zahn mehr, und wenn sie lachte, sah man den Bogen des Zahnfleisches. Ungeachtet des spitzen Kinns hatte das Profil durch die Jahre nicht allzu sehr gelitten; man konnte noch erkennen, daß es einst sehr regelmäßig, schön und rein gewesen sein mußte, wie ein Heiligenbild.

Die Alte sah jetzt durchs Fenster und dachte nach, was Lustiges sie etwa noch ihrem Enkelsohn geschwind erzählen könnte. In der ganzen Gegend verstand ja niemand so drollig zu erzählen wie sie! In dem Brief standen bereits drei oder vier unbezahlbare Geschichten, die jedoch frei von aller Bosheit waren, denn in ihrem Herzen wohnte keine schlechte Regung. Während sie nachdachte, hatte die Jüngere den Briefumschlag sorgfältig adressiert:

Herrn Sylvester Moan, an Bord der »Marie,« Kapitän Guermeur, im Isländischen Meer, über Reikyawick. »Sind wir fertig, Großmutter Moan?« fragte sie.

Die Briefschreiberin war etwa zwanzigjährig und starkblond, eine Farbe, die bei den dunkelhaarigen Bewohnern der Bretagne selten ist; die hellgrauen Augen waren mit fast schwarzen Wimpern besäumt, die Brauen aber blond wie das Haar, nur zeigten sie nach der Mitte zu einen dunkleren ins rötliche gehenden Strich, was dem Gesicht einen Ausdruck von Kraft und Willensstärke verlieh. Das etwas kurze Profil hatte immerhin einen sehr edlen Schnitt, die Nase setzte die Stirnlinie in vollkommener Regelmäßigkeit fort, genau wie bei den griechischen Gesichtern. Ein tiefes Grübchen unter der Unterlippe ließ diese besonders reizvoll erscheinen; war sie mit etwas beschäftigt, so pflegte sie die Zähne fest auf die Lippe zu setzen, was zur Folge hatte, daß man auf der feinen Haut die kleinen Blutwellen stärker hingehen sah. In der ganzen zierlichen Erscheinung lag etwas Stolzes und Ernstes, das sie von ihren Vorfahren geerbt haben mußte, die kühne Islandfahrer waren. Die Augen waren zwar sanft, konnten aber auch Eigensinn ausdrücken.

Die muschelförmige Haube des jungen Mädchens ging tief auf die Stirne herab und legte sich fast wie zwei Scheitel fest an das Gesicht an. Zu beiden Seiten war sie aber stark aufgerollt und ließ die dicken Zöpfe sehen, die schneckenförmig um die Ohren gelegt waren, eine Haartracht, welche die Frauen von Paimpol von alten Zeiten her behalten haben und die ihnen ein merkwürdig altväterisches Aussehen giebt.

Man merkte, daß das junge Mädchen anders erzogen war als die arme Alte, die sie Großmutter nannte; in Wirklichkeit war sie nur eine entfernte Großtante, die viel Unglück erlebt hatte. Ihre junge Verwandte war die Tochter des Herrn Mével, der in seiner Jugend auch zu den Islandfischern gehörte; er hatte aber auch ein wenig Seeräuberei getrieben und war durch kühne Unternehmungen aus dem Meer reich geworden. Also konnte er auch etwas an seine Tochter wenden; das schöne Zimmer, in welchem der Brief geschrieben wurde, war das ihrige; eine helle Tapete verdeckte die Unregelmäßigkeiten der dicken Steinmauer, und die schweren Deckenbalken, die das Alter des Hauses verrieten, waren weiß übertüncht. Das Prachtstück des Zimmers, das bürgerlichen Wohlstand zeigte, war ein ganz neumodisches Bett mit spitzenbesetztem Musselinvorhängen, wie es die Stadtleute haben. Die Fenster gingen auf den großen Platz hinaus, wo die Märkte abgehalten wurden und von welchem aus die Bittgänge stattfanden.

»Sind wir fertig, Großmutter Yvonne? habt Ihr ihm nichts weiter zu sagen?«

»Nein, meine Tochter; sei nur so gut und schreibe noch einen Gruß an den jungen Gaos.«

Der junge Gaos – – Yann Gaos – das schöne stolze Mädchen da war sehr rot geworden, während sie den Namen schrieb. Sobald sie aber den Gruß in geläufiger Schrift noch auf den Rand des Bogens geschrieben hatte, erhob sie sich und blickte zum Fenster hinaus, als wäre draußen auf dem Platz etwas sehr Interessantes zu sehen.

Gaud Mével war ziemlich groß, ihre wohlgeformte Figur glich der einer Dame die ein gut sitzendes Korsett trägt, und ungeachtet der Haube sah sie wie ein Fräulein aus; ihre Hände waren zwar nicht so klein und blutleer, wie es bei Damen für schön gilt, aber sie waren fein und weiß, denn sie hatte niemals grobe Arbeit gethan. Als Kind war Gaud aber oft barfuß im Wasser herumgepatscht, denn sie hatte keine Mutter und war sich fast ganz selbst überlassen, ohne Aufsicht und Pflege, während der langen Monate, wo ihr Vater alljährlich zur See war; hübsch, rosig und zerzaust, eigenwillig und dickköpfig, war sie bei der kräftigenden Seeluft gesund aufgewachsen. In den Monaten ihrer Einsamkeit hatte sie dann die arme Großmutter Moan bei sich aufgenommen und ihr den kleinen Sylvester zu hüten gegeben, während sie bei den Leuten auf Tagelohn arbeitete.

Obwohl Gaud kaum anderthalb Jahre älter war als der Kleine, so liebte und hütete sie ihn doch wie ein rechtes Mütterchen. Sie war ebenso blond wie der Knabe braun, ebenso eigensinnig und launisch, wie er liebevoll und sanft war.

Sie erinnerte sich dieser Zeit ungebundener Freiheit wie eines halbvergessenen Traumes, wie einer unklaren, geheimnisvollen Zeit, wo die Bucht noch ausgedehnter und die Klippen sicher noch gewaltiger gewesen waren ...

Gaud war kaum sechs Jahre alt, als ihr Vater zu Geld kam. Er hatte sich darauf verlegt, ganze Schiffsladungen aufzukaufen und wieder zu verkaufen, und da sich das als lohnend erwies, brachte er sein Kind nach Saint-Brieue, später sogar nach Paris. Aus der kleinen Gaud ward ein großes Mädchen von gesetztem Wesen und mit ernstem Blick, das Fräulein Marguerite genannt wurde. Wenn auch anders als am heimatlichen Strand, so war sie auch hier gewissermaßen sich selbst überlassen und behielt ihren ungebrochenen Eigensinn. Wohl hatte sie zufällig dies und das davon gehört, wie es im Leben zugeht, eine angeborene Würde ihres Wesens leitete sie aber richtig. Es fiel ihr zuweilen ein, etwas keck aufzutreten und den Leuten allzu freie Dinge ins Gesicht zu sagen, auch senkte sie ihre schönen Augen nicht immer vor dem Blick junger Männer; diese Augen schauten aber so ehrenhaft in die Welt, daß die jungen Leute sich nicht darüber täuschen konnten, wie gleichgültig sie ihr waren, und daß sie es mit einem verständigen Mädchen zu thun hatten, dessen Herz ebenso unberührt und frisch war, wie ihre Wangen.

Gauds äußere Erscheinung hatte sich in der Stadt vielmehr verändert, als ihr Inneres. Ihre Haube hatte sie zwar behalten, denn von dieser trennt sich eine Bretonin schwer, sie hatte aber gelernt sich anders zu kleiden, und ihr kräftiger Körper hatte sich durch das Korsetttragen allmählich sehr schön geformt.

Alljährlich im Sommer brachte sie ihr Vater für ein paar Tage in die alte Heimat; da frischte sie die Erinnerungen ihrer Kindheit auf, und wurde von allen Leuten Gaud genannt. Sie hatte die tapferen Männer gern einmal gesehen, von denen so viel die Rede war, die waren aber im Sommer stets im hohen Norden, und Gaud hörte so viel vom fernen Island reden, daß es ihr endlich wie ein schrecklicher Schlund erschien, der Jahr für Jahr so viele verschlingt.

Eines schönen Tages kam es ihrem Vater in den Sinn, wieder ein seßhaftes Leben führen und seine Tage in der Heimat beschließen zu wollen; da nahm er seine Tochter aus der Pension in Paris weg und führte sie nach Paimpol in das massive Haus am Marktplatz.

Der Brief an Sylvester Moan war fertig, der Großmutter vorgelesen und der Umschlag zugeklebt. Die alte Frau bedankte sich vielmals und machte sich auf den Heimweg; sie wohnte ziemlich entfernt in einem Weiler, der zum Bezirk von Ploubazlanec gehört, und zwar in derselben Hütte, wo sie geboren war, so gut wie ihre Kinder und Enkel.

Als sie jetzt durch das Städtchen schritt, wurde ihr mancher respektvolle Gruß zu teil, entstammte sie doch einem tapferen und hochgeachteten Fischergeschlecht. Nur einer so großen Sorgfalt und Sauberkeit wie der ihrigen, war es möglich, beinahe gut gekleidet auszusehen, obwohl ihre armen alten Sachen gar nicht mehr zusammenhalten wollten. Das Tuch, das sie um die Schultern trug, war einst ihr Hochzeitsshawl und von blauer Farbe gewesen; zur Hochzeit ihres Sohnes Pierre war er braun gefärbt worden, und seit Jahrzehnten so geschont und nur am Sonntag getragen, daß er immer noch anständig aussah. Auch ging sie nicht gebückt, wie die meisten ihres Alters, sondern hatte sich ihre aufrechte Haltung bewahrt, und trotz des ein wenig zu spitzen Kinns mußte man sie noch hübsch nennen, denn das Profil war entschieden fein und lebhaft blickten die guten Augen aus dem freundlichen Gesicht.

In wie großer Achtung sie stand, das konnte man dem Gruß der ihr Begegnenden entnehmen, und es gab in der That nur einen, der ihr nicht wohl wollte: einen verschmähten Freier aus ihrer Jugend. Er war Tischler seines Zeichens, jetzt ein Achtziger und saß immer vor der Hausthür, während seine Söhne in der Werkstatt schafften. Es hieß, daß er sich nie darüber hätte trösten können, daß ihn die Jugendgeliebte auch nicht in zweiter Ehe hatte nehmen wollen; mit zunehmendem Alter aber hatte sich die Liebe in eine komische Art von Groll und Rachsucht verwandelt, und wenn sie des Weges kam, ließ er sie nie ungerupft vorüber.

»Guten Tag, schöne Frau Nachbarin!« rief er. »Nun, wann muß ich bei Euch Maß nehmen?«

Sie antwortete, daß es wohl noch ein wenig zu früh dazu sei; heut' wolle sie es noch nicht bestellen. Der Alte meinte mit seinem derben Spaß: das Maß zum Sarg nehmen, die letzte irdische Behausung, die der Mensch braucht.

»Wie Ihr wollt,« gab er zurück, »aber Ihr braucht Euch nicht zu genieren, laßt mir's nur sagen, wenn Ihr so weit seid.«