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Max Frisch

Entwürfe

zu einem dritten

Tagebuch

Herausgegeben und
mit einem Nachwort
von Peter von Matt

Suhrkamp Verlag

















ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

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www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-73540-4

Entwürfe zu einem dritten Tagebuch

*

New York als Herausforderung – darauf konnte ich mich über Jahrzehnte hin verlassen, dass ich dort nicht verdöse, dass ich mich dort nicht erhole wie im Engadin oder in Paris, dass es mich schüttelt jeden Tag:

I HATE IT

I LOVE IT

I HATE IT

I DON’T KNOW

I LOVE IT

etc.

New York als Wallfahrtsort sozusagen (Visum INDEFINITELY) über drei Jahrzehnte hin – und jetzt besitze ich dort eine sogenannte Loft, endlich so weit eingerichtet, dass man darin wohnen kann, hocke draussen auf der eisernen Feuertreppe im fünften Stock und kann es mir nicht verhehlen: Wie dieses Amerika mich ankotzt!

LOVE IT OR LEAVE!

*

*

Also Lebensabend auf dem Lande –

CH-6611 BERZONA

Das Haus, ein altes Gemäuer, das ich vor siebzehn Jahren habe ausbauen lassen, hat vier Zimmer und ein Kämmerlein, eine Loggia, eine zu kleine Küche, zwei Bäder, im Keller auch eine Sauna; neben dem Haus steht ein Stall, dreistöckig, so dass er wie ein kleiner Turm aussieht, umgebaut zum Studio; alle Räume sind heizbar.

*

*

Sie sind eine Super-Macht, die uns alle zerstören kann. Und sie sind schon auf dem Mond gewesen, das vergisst man; denn das hat eigentlich keine Weltgeschichte gemacht. Was hingegen kaum ein Amerikaner weiss: dass der amerikanische Wohlstand (man kann hier leben, ohne je einen Slum zu sehen) zu einem beträchtlichen Teil auf Ausbeutung andrer Völker und Länder beruht. Ausbeutung ist hier kein Wort, dafür haben sie ein anderes: KNOW HOW. Das ist es, was sie den ärmeren Völkerschaften bringen, wobei sie manchmal auf Unverständnis stossen; man muss einen Militär-Putsch unterstützen da und dort, um Demokratie einzuführen usw., KNOW HOW. Ihr Lieblingswort: POWER. Ich treffe nicht Leute aus der Armee; es ist das Wort, das ich am meisten höre in diesem Land: POWER. Darauf ist man stolz: POWER. Ohne das geht es nicht einmal im Kunsthandel. MONEY? Das ist das anspruchslosere Synonym. Das ethische Synonym: LIBERTY. Und darum geht es doch: LIBERTY, das ist es, was jeden Amerikaner überzeugt: POWER = LIBERTY. Und da gibt es keine Dialektik. Wieso denn? Darüber zu reden hat keinen Zweck – sie fühlen sich als die beste Art von Menschen, die es geben kann, und deswegen vertragen sie Kritik an Amerika nicht einmal innerhalb einer Allianz, da sie in dieser Allianz zweifellos die Stärkeren sind, also wissen sie es besser …

*

*

Hier blühen die ersten Magnolien.

Ein Gast macht mich darauf aufmerksam!

Aber man muss noch heizen.

*

*

Nachdem er auf die übliche Frage am Telefon: UND WIE GEHT’S DIR? zuerst mit einem halben Lachen gesagt hat: VORDERHAND NOCH GUT, dann trocken: ICH HABE KREBS, haben wir uns zum Abendessen getroffen in Zürich.

(Das war im Dezember.)

Er weiss es seit drei Tagen. Ich finde ihn gefasst und bei Kräften, ein Mann der noch gerne lebt. Aber der medizinische Befund ist klar und hoffnungslos. Ein halbes Jahr? Ein Vierteljahr? Er weiss genau Bescheid, wie weit sein Krebs (Blase) gediehen ist, und er lehnt die Operation ab, das ist ebenso klar. Seine Entscheidung. Er will nicht sterben als entmündigtes Objekt in der Medizin-Maschinerie. Wie also stirbt man? Wir reden auch über Freitod (technisch) und über Sterbehilfe (juristisch) und während des Essens, das er geniesst, reden wir auch über anderes, was wir sonst besprochen hätten; beide empfinden das nicht als Ausflucht. Es gibt keine Ausflucht. Warum soll man nicht mehr lachen. Seine sokratische Ruhe lässt alles zu, bloss keine Trösterei. Während wir dann auf die Rechnung warten und eine Pause entsteht, kommt er auf seine Bitte zurück, dass ich ihm eine Totenrede halte drüben im Grossmünster. DU HAST JA NOCH ETWAS ZEIT, lacht er mit Blick in meine Augen. Als endlich die Rechnung bezahlt ist und meine Bedenkfrist abgelaufen, gebe ich ihm das Versprechen.

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*

Die wissenschaftliche Prognose, dass Atombomben unter anderem auch die Ozon-Schicht um unseren Planeten, ohne die ein organisches Leben nicht möglich wäre, ein für allemal zerstören, vielleicht ist sie zu pessimistisch. Wie soll man als Laie das wissen können? Man mag sich nicht immer erschüttern lassen. Wer ist denn dieser Jonathan Schell? Er recherchierte fünf Jahre lang, so heisst es im Klappentext, und führte zahlreiche Interviews durch mit Biologen, Genetikern, Medizinern, Chemikern, Physikern. Einiges weiss man auch als Laie nachgerade. Warum soll man immer wieder erschrecken?…

*

*

Wenn ich ins Dorf hinauf gehe, um Wein zu kaufen oder Butter, Eier, Käse (Fleisch gibt es in dem Laden nicht, Gemüse nicht immer) und wenn ich auf dem Weg die Witwe treffe, eine der vier Witwen im Dorf, die Witwe eines Freundes, bin ich manchmal versucht zu fragen: Und wie geht’s denn Fred? Eine unerlaubte Frage, ich lasse sie. ALFRED ANDERSCH 1914-1980.

Mein Grundstück grenzt an den kleinen Friedhof.

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Hänge ich am Leben?

Ich hänge an einer Frau.

Ist das genug?

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Das Bewusstsein, dass es mit unserer Zivilisation bald einmal zu Ende sein könnte – wirklich verdrängen können dieses Bewusstsein nur Schwangere und Politiker. Allen anderen hört man es an, auch wenn es nie zur Sprache kommt oder nur ironisch; einer hofft entschieden, dass er eines Tages in der grossen Oper singe, und Vera sehnt sich nach der Zeit, da sie endlich nicht mehr an die zwei Kinder gebunden ist, sondern frei wird für Kreativität, was immer das sei, und andere reden nach wie vor von Investment, das schleichende Bewusstsein aber, dass alles bald zu Ende sein könnte, wirkt sich aus: Zukunft über die eigene Person hinaus ist für die meisten kaum noch eine verbindliche Kategorie.

*

*

Ein fast unüberwindlicher Ekel vor der Schreibmaschine, Versuche mit Handschrift, einmal auch mit dem Tonband, aber das hilft nicht –

Muss ich etwas zu sagen haben?

Das sture Gesumme einer dicken Fliege an der oberen Fensterscheibe reicht aus, dass ich verzage, aber ich stehe nicht auf, um das Fenster zu öffnen; die Stille wäre genau so öde. Und wenn das Telefon klingelt, lasse ich es klingeln –

Ich bin nicht da.

Ich weiss nicht, was los ist.

*

*

Die Reise nach Mexiko (meine vierte) haben wir nach dem ersten Abend abgebrochen. Unsere Paarschaft ist ohne Zukunft. Das sehe ich ein, ja, nicht erst in diesem spanischen Gartenhof mit Springbrunnen. Ich sitze also und verstehe, im Augenblick überhaupt nicht müde trotz der Flüge: Zürich–New York, New York–Los Angeles, Los Angeles–Mexico City. Ihre blanke Offenheit macht mich wach; die Folklore-Musik in dem Gartenhof stört nicht, wir können uns alles sagen. Was habe ich mir eingebildet? Ein schlechtes und zu enges Doppelzimmer mit Fenster zum Hof, sodass man die Läden schliessen muss; immerhin gibt es eine Dusche. Nach Mitternacht hört draussen auch die Musik auf. Das mehrfache Erwachen am Morgen ist härter; nämlich es ist wahr, was wir am Abend ausgesprochen haben. Jetzt muss es nur noch vollstreckt werden. Natürlich wollen wir Freunde bleiben, ja, das ist klar…

Ein schöner Tag:

Die Pyramiden von Teotihuacán –

Unsere Freundschaft hat schon begonnen.

Und dann noch ein schöner Tag:

Die Pyramide von Cholula –

(Das ist im Januar gewesen.)

Wir schreiben uns –

*

*

Der Wunsch, dass einer, der denken gelernt hat wie Peter, für uns andere aufschreibt, was er denkt und wie er diese Welt erfährt mit dem sicheren Wissen um seinen nahen Tod, auch wenn er noch Ski fährt in Laax, und dass wir von ihm erfahren, was er glaubt bis in die Schmerzen hinein oder nicht glaubt bis zur letzten Luzidität, bevor das Morphium nicht die Sensibilität ausschaltet, wohl aber die Sprache dafür – dieser mein Wunsch, nicht ohne Scheu vorgebracht, machte ihn einen Augenblick lang verlegen: nämlich ein solches Log-Buch hatte er bereits begonnen.

*

*

Ich habe vergessen, dass heute Mittwoch ist, und auf Mittwoch habe ich den Gärtner bestellt – da steht er auch schon im Gelände und sagt: Hier muss einmal geholzt werden. Viele tote Äste. Ein ganzer Baum ist tot seit Jahren, eine alte Kastanie mit drei Stämmen; wenn ein Sturm sie fällt, zerschmettert sie mein kleines Haus, zumindest das Dach. Und das Gelände ist wieder verwuchert. Ich bin kein Gärtner. Zwei junge Männer, Italiener aus Novara, beginnen zu sägen und zu fällen – das scharfe Rauschen, wenn ein fallender Baum die andern Bäume streift, dann der dumpfe Krach auf dem Boden, dann Stille – und zu spalten. Nach einer Woche habe ich Holz für drei Winter, wenn es einmal kein Öl mehr gibt, und mehr Himmel. Es stört mich nicht, dass man jetzt den Friedhof sieht, der hinter meinem Haus liegt; er hat eine verwitterte und schöne Mauer. Hingegen der neue Ausblick hinunter auf die Strasse ist bedauerlich. Ich lasse drei Birken pflanzen. Birken wachsen geschwind. Ferner lasse ich Blumen pflanzen, die Dir hoffentlich gefallen, wenn Du im Sommer hieher kommst, was noch nicht sicher ist. Und es gehöre Mist unter die alten Rosenstöcke, so lasse ich mir sagen; die Stöcke sind noch gut. Ich gebe Auftrag: Mist unter die Rosen –

*

*

Leben als Oase –

der Tod als die Wüste ringsum –

Woher will ich das wissen?

*

*

Natürlich ist es immer die Kindheit, wo der Hund begraben liegt: als Vater-Mann-Gespenst, dem nur mit einer langjährigen Psychoanalyse beizukommen ist oder auch nicht.

Was hat die Frau vorher gemacht?

Sie lebte Jahre lang ohne richtigen Job.

Der klassische Fall, dass die Frau durch das Zusammenleben mit einem Mann ihren erlernten Beruf hat aufgeben müssen und damit täglich ihre Unabhängigkeit opfert, liegt bei uns nicht vor.

Wo liegt der Hund wirklich begraben?

Nicht ertragen kann sie es, wenn ein Mann sie bevatert. Ich hatte immer schon einen Hang dazu, schon als Student. Daher ihre schlechte Laune auf dem Flug nach Mexico; Stunden lang spricht sie von sich aus kein Wort, sie liest, und wenn ich etwas sage, zeigt sie mit keiner Miene, ob sie es gehört hat.

Sie kann auch fröhlich sein, o ja.

Ist sie arbeitsscheu?

Sie ist nicht arbeitssüchtig.

Sie spielt gerne vor sich hin –

(was mir gefällt!)

Das quälende oder zumindest verdriessliche Bewusstsein, von einem Mann ökonomisch abhängig zu sein, erweist sich nicht als hinreichende Motivation für eine berufliche Arbeit. Es reicht zu Vorsätzen. Was sie dann immer wieder lähmt, ist die Angst vor dem Scheitern in dieser oder jener beruflichen Tätigkeit, eine Angst, die sie Männern nie und nimmer zutraut.

Schuld an dieser Angst ist ihr Daddy –

Und so weiter!

Erreicht ist für mehr und mehr Frauen wenigstens die Befreiung von dem Bedürfnis, einem Partner zu dienen. Das ist Mittelalter: Dienerin eines Mannes zu sein. (Erwarte ich das denn?) Und zu sehen ist der notorische Katzenjammer, der zurzeit viele Lebensläufe mitteljunger Frauen kennzeichnet, da sie nur Liebhabern gegenüber sich nicht als Opfer fühlen und daher unter keinen Umständen für einen Partner da sein wollen oder können.

Das alles ist nicht Emanzipation.

Dabei wäre sie dringlich und ernster als die Politik, die täglich Schlagzeilen hervorbringt, aber unsere Gesellschaft nicht verändert; die Emanzipation der Geschlechter als die einzige Revolution, die in unserer militarisierten Industrie-Gesellschaft möglich ist –

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Fasten wirkt Wunder.

Winter am Bodensee –

Ich miete ein Fahrrad.

(Das war im Februar.)

Peter läuft immer noch Ski –

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Ernst Bloch, als er 90 war, sagte bei einem Frühstück in Königstein beiläufig, er sei neugierig auf das Sterben – er war damals nicht krank – Sterben als die Erfahrung, die er noch machen wolle und werde. Er wirkte wach, auch wenn er zuhörte und lange schwieg, man sass an einem Tisch im Freien, ein Frühstück zu viert, kein Symposium. Bloch spekulierte dann nicht weiter, da man noch auf eine junge Dame wartete, und sagte lediglich, er könne sich nicht vorstellen, dass nach dem Tod einfach nichts sei. Als die junge Dame kam, blieb Ernst Bloch sitzen. Seinen Satz könnten viele gesagt haben; andere sagen: ich kann mir einfach das Nichts nicht vorstellen.

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Karfreitag gilt hier nicht als Feiertag. Der alte Maurer ist auch heute gekommen und klopft Steine. Ich sehe ihn nicht, er arbeitet auf der andern Seite des Hauses, ich höre nur wie es klopft …

Heute keine Gäste.

Übrigens stimmt es nicht, was ich gestern oder vorgestern in einem langen Brief geschrieben habe: der Schnee sei weg. Da und dort in den Wiesen blüht es. Ein gelber Busch wie ein Feuerwerk. Eine Magnolie blüht. Aber auf den Bergen gegenüber liegt noch immer Schnee. Die Bläue darüber wie Bläue über dem Mittelmeer. Die Wälder sind noch nicht grün sondern braungrau, wie das Fell eines Hasen, man möchte den ganzen Hang einmal streicheln.

(Gestern wieder gesoffen.)

Das Klopfen des kleinen Hammers auf dem Stein, dann wieder Stille. Ab und zu, von anderswoher, das schnellere und schrillere Klopfen eines Spechtes, den ich nicht sehe. Ich warte auf Post. Wie der alte Maurer kniet und den Stein, den er sich ausgesucht hat, in der linken Hand hält, dann mit dem kleinen Hammer ihn sorgsam spaltet, sodass ein Stück davon in sein Mauerwerk passe – ich schaue ihm gerne zu: diese Zärtlichkeit mit einem Stein, seine Kenntnis der Struktur dieses Steines oder eines anderen Steines, seine tätige Geduld.

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ICH MÖCHTE NUR NOCH SPIELEN

Günther Eich kurz vor seinem Tod:

ICH MÖCHTE NUR NOCH SPIELEN

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Wonach drängt es mich?

Ich bin schon noch tätig –

Wäre ich ein Bauer, würde man mir kaum noch die Sense in die Hand geben, die Sichel vielleicht; es würde kaum erwartet, dass ich auf die Leiter steige, um Äpfel zu pflücken; ob man mich auf den Traktor lassen würde, frage ich mich; man fände es richtig, dass ich die Hühner füttere, die Enten usw.

Was erwartet man von einem Schriftsteller?

Dass er Interviews gibt.

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In vier oder fünf Tagen, falls es nicht regnet, sodass sich seine Arbeit verzögert, wird die kleine Mauer vollendet sein, der alte Maurer wird verschwunden sein. Meine dankbare Anerkennung hat er schon gehört: UN MURO MOLTO BELLO. Als ich es ihm sage, sitzt er unter der grossen Tanne, Mittagspause, er futtert vor sich hin, sodass er mich vorerst gar nicht bemerkt, und hat eine Weinflasche neben sich; als er mein unbeholfenes Lob gehört hat, steht er auf, um mir seine staubige Hand zu reichen.

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Ich bin nicht krank oder ich weiss es nicht. Was ist bloss mit den Wörtern los? Ich schüttle Sätze, wie man eine kaputte Uhr schüttelt, und nehme sie auseinander; darüber vergeht die Zeit, die sie nicht anzeigt.

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Glaubt heute ein Schriftsteller, dass er vielleicht in hundert Jahren noch gelesen wird? Schreiben ist ein anderes Unternehmen geworden, ein Gespräch mit Zeitgenossen und nichts weiter; der Auftrag des Schriftstellers, seinen Kindeskindern etwas mitzuteilen von seiner Zeit, wird illusorisch. Vor vierzig Jahren hat Brecht noch an die Nachgeborenen geredet.

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Warum Amerika mich heute schreckt:

1952