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Peter Strauch · Wer bin ich, wenn mich keiner sieht?

Peter Strauch

Wer bin ich, wenn mich keiner sieht?

Von der Sehnsucht, echt zu sein

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Die zitierten Bibeltexte ohne Quellenhinweise entstammen der Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Alle anderen Bibelzitate sind der Lutherbibel entnommen, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

2. Auflage 2006

© 2006 R. Brockhaus Verlag Wuppertal

Umschlag: Dietmar Reichert, Dormagen

Satz: Christoph Möller, Hattingen

Druck: Ebner & Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-417-21947-0 (E-Book)

ISBN-10: 3-417-24931-7 (lieferbare Buchausgabe)

ISBN-13: 978-3-417-24931-6 (lieferbare Buchausgabe)

Bestell-Nr. 224.931

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

Vorwort

Es war vor zehn Jahren, als ich in der englischen Bischofsstadt Canterbury auf den Titel dieses Buches stieß: Who you are when no ones looking? (Wer bist du, wenn keiner hinsieht?). Geschrieben hatte es Bill Hybels, und der Titel saß von Anfang an fest in meinem Kopf. Weshalb? Ich bin überzeugt, er berührt ein aktuelles Problem. Viele von uns sind auf ihre Umgebung fixiert, betrachten sich mit den Augen anderer und sind geradezu gefangen in dieser Sicht.

Sie glauben das nicht? Dann schlage ich Ihnen ein Experiment vor. Prüfen Sie einmal Ihren Tagesablauf, am besten gleich jetzt. Nehmen Sie ein Blatt Papier zur Hand, schreiben Sie auf, was Sie in den beiden letzten Tagen getan und geredet haben, Sätze, Blicke und Gesten. Wie oft war dabei Ihre Umgebung bestimmend? Was bedeutete es für Sie, gesehen oder gehört zu werden, und von wem? Rücken Sie dazu die entsprechenden Menschen in Ihr Bewusstsein: Familie, Freundeskreis, Arbeitskollegen, die Frauen und Männer in Ihrer Gemeinde. Es ist kein Geheimnis: Je besser wir unsere Umgebung kennen, desto besser wissen wir auch, wie sie sich uns wünscht, was ihre Erwartung an uns ist. Manchmal haben wir es dabei mit ganz unterschiedlichen Erwartungen zu tun, sonntags sind wir schließlich mit anderen Leuten zusammen als während der Woche. So schlüpfen wir in wechselnde Rollen. Die sich dabei ergebenden Zwänge können ziemlich anstrengend sein.

Wer sind wir eigentlich wirklich? Was ist echt, was ist unecht an uns und unserem Verhalten? Was wurde uns nur anerzogen oder übergestülpt? Hermann Heinrich Grafe, der Gründer der ersten Freien evangelischen Gemeinde in Deutschland, schrieb: Um zu wissen, was meine Werke vor Gott wert sind, muss ich mich fragen, was ich tun würde, wenn mich kein Mensch sähe und beurteilte. Mit anderen Worten: Vor Gott zählt nur das Echte und das zeigt sich am ehesten, wenn wir ohne Zuschauer sind.

Nein, dies ist nicht nur ein Buch für Christen. Die Frage danach, wer wir wirklich sind, und die Sehnsucht nach Echtheit und Ehrlichkeit beschäftigt schließlich viele – weit über den Kreis der Frommen hinaus. Aber es richtet sich an Menschen, die sich mindestens mit dem christlichen Glauben beschäftigen und sich danach sehnen, authentisch zu sein.

Was ich im Folgenden an Sie weitergebe, ist nicht erdacht oder konstruiert. Wenn ich dabei relativ oft die Bibel zitiere, dann deshalb, weil ich immer wieder staune, wie aktuell und auch ehrlich sie ist. Schon oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie meine Fragen – wer ich bin und wozu ich lebe – beantwortet. Meist werde ich die Gute Nachricht Bibel benutzen – nicht weil ich andere Übersetzungen weniger mag, sondern weil es gut ist, die vertrauten Texte einmal anders zu hören. Das regt zu neuem Hinhören an. Die entsprechenden Bibelstellen werden dabei jeweils angegeben, sodass Sie selbst nachschauen können, was dort steht. Ab und zu finden Sie dieses kleine Symbol

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auf den Seiten. Es ist ein kleiner Impuls, das Lesen für einige Augenblicke zu unterbrechen, um über das Geschriebene nachzudenken, sich eventuell ein paar Notizen zu machen und darüber mit Gott ins Gespräch zu kommen.

Wer bin ich?

Auf der Suche nach dem Original

Hildegard Knef wurde an ihrem 75. Geburtstag interviewt und gefragt, was sie empfinde, wenn sie an ihr Leben denke. Dankbarkeit, antwortete sie. Dankbarkeit gegenüber wem?“ „Dankbarkeit gegenüber dem, den ich nicht kenne. Und dann begann sie von den Höhen und Tiefen ihres Lebens zu erzählen, von Zeiten der Liebe und zerbrechenden Beziehungen, vom prallvollen Leben und qualvollen Krankheiten. Ein ehrliches Interview mit einer beeindruckenden Persönlichkeit! Es enthüllte eine faszinierende Lebensgeschichte, bei der allerdings offen blieb, wer ihr eigentlicher Autor ist.

Aber genau das ist die Schlüsselfrage unseres Lebens: Wer veranlasst und schreibt mein Leben? Wie soll ich herausfinden, was echt ist, wenn ich nichts über die Bedeutung und Bestimmung meines Lebens weiß? Wie soll ich dann überhaupt herausfinden, wer ich bin und zu welchem Zweck ich existiere? Echtsein heißt, in Übereinstimmung mit dem Original sein. Aber worin besteht meine Originalität?

Sehnsucht nach Leben

Als kleiner Junge stillte ich meine Sehnsucht nach Leben mit imaginären Spielen. Mein Vater fuhr einen schweren LKW und weil mich sein Beruf beeindruckte, legte ich beim Spielen mit Modellautos auf dem Muster unseres Teppichbodens beeindruckende Touren zurück. Manchmal durfte ich meinen Vater auf seinen Fahrten begleiten und wenn der LKW stand, um beladen zu werden, setzte ich mich auf den Fahrersitz, nahm das große Lenkrad in meine kleinen Hände und legte in meiner Fantasie großartige Strecken zurück, meist verbunden mit waghalsigen Fahrmanövern. Aber irgendwann begriff ich, dass fantasievolle Spiele meine Sehnsucht nach echtem Leben nicht zufrieden stellen können. Ich wollte ich selbst sein, mit einem ganz eigenen Leben und einer Lebensberufung, die nur mir gilt und niemandem sonst. Wir alle wollen das.

Wer oder was bin ich? Woraus besteht mein Ich? In welche Welt wurde ich hineingeboren? Vor einiger Zeit habe ich mir den Film Die Truman Show angesehen. Truman, ein junger Mann, lebt in Seahaven, einer kleinen, gut funktionierenden idyllischen Stadt am Meer. Was er nicht weiß: In Wirklichkeit lebt er in einem riesigen Studio, alle Menschen um ihn herum sind Schauspieler. Er selbst ist ungewollt Hauptdarsteller in einer riesigen Reality-Show mit über 5000 Kameras, hinter allem steht ein machthungriger Regisseur. Ist das unser Leben? Sind wir Teil eines großen Spiels, dessen Spielführer wir weder kennen noch durchschauen?

Oder ist es eher wie bei Big Brother, dem Medienspektakel bei RTL? Auch die Personen dort leben in einer Show und führen ihr Leben vor den Augen der Fernsehwelt. Mit einem Unterschied: Sie wissen es. Sie sind fixiert auf ihr Publikum. Wenn sie gut abschneiden wollen, sind sie gezwungen, ihre Zuschauer niemals aus dem Bewusstsein zu verlieren. Überall lauern die Kameras, dahinter applaudiert und pfeift das Publikum, es gibt oder verweigert ihnen seine Anerkennung. Fazit: Nicht nur unsere eigenen Erwartungen an das Leben, auch die Erwartungen unserer Umgebung an uns können zu einer Zwangsjacke werden, die uns hindert, echtes Leben zu entfalten. Die Sehnsucht nach Anerkennung und die Angst, etwas falsch zu machen, halten uns gefangen.

Wer bin ich? Erst wenn ich darauf eine Antwort habe, kann ich aufhören, mir und anderen etwas vorzuspielen. Dann erst kann ich echt sein.

Das Wunder Mensch

Rein physisch gesehen, sind wir ein einziges Wunderwerk. Aus 1000 Billionen Zellen besteht unser Körper, das sind 1000-mal mehr, als die Lichtstraße Sterne hat. Jede einzelne Zelle in sich ist eine winzige biochemische Fabrik, ein weitgehend selbstständig funktionierender Mikrokosmos. Viele hundert Mal kreisen am Tag ca. fünf Liter Blut durch unseren Körper und versorgen die Zellen mit allen notwendigen Ressourcen. Das wiederum ist nur möglich, weil unser Herz das Blut ununterbrochen in Bewegung hält, kein Muskel unseres Körpers leistet mehr. Die Nervenfasern eines Menschen sind zusammen 780 000 km lang. Über die Nervenstränge kommuniziert das Gehirn mit dem Körper, empfängt Daten von den Sinnesorganen, steuert Muskeln und innere Organe, reguliert die Vorgänge in den Geweben. Darüber hinaus ist es lernfähig, speichert Informationen, hält Erfahrungen fest, verhilft uns zur Kreativität, lässt uns planen und vermittelt Bewusstsein. Ich könnte diese Beschreibung des Menschen noch lange fortsetzen, könnte vom Knochenbau und von den Muskelfasern erzählen, von der Lunge und von der Haut, einem unglaublichen Multifunktionsorgan. Aber ist damit wirklich beschrieben, wer wir sind und wozu es uns gibt?

Einige Wissenschaftler scheinen das tatsächlich zu glauben. Sie sind der Meinung, hinter unserer Existenz stünde nichts weiter als ein rein biologischer Vorgang, und um die Wahrheit darüber zu entdecken, müsse man diesen Prozess des Werdens von allen religiösen und philosophischen Vorstellungen befreien. Für sie beginnt menschliches Leben mit der Verschmelzung von Samen und Ei, einer mikroskopisch kleinen Menge menschlicher Substanz. Selbstverständlich hat das Konsequenzen. Wenn ein zehn Tage alter Embryo tatsächlich nichts weiter als ein winziges Klümpchen Blut und Gewebe ist, dann mag es zwar gute Gründe geben, über seine biologischen Funktionen zu staunen, aber eine besondere Bestimmung für dieses Leben gibt es dann nicht. In dem Fall wäre der einzelne Mensch ohne Bedeutung, man könnte ihn zum Experimentieren freigeben und seine Stammzellen klonen.

Dieser Trend setzt sich fort. Nachdem man den genetischen Code entziffert hat, soll nun der neuronale Code erforscht werden. Das Bewusstsein des Menschen sei nur die Summe aller bewussten Wahrnehmungsprozesse, las ich vor kurzem. Wissenschaftler wollen unser Bewusstseins-Ich erforschen und hoffen, so Hirnkrankheiten heilen und Computer nach menschlichem Vorbild bauen zu können. Auch zur künftigen Verbrechensbekämpfung sollen diese Erkenntnisse beitragen. Die Nasa entwickelt Gehirnscanner, mit denen potentielle Terroristen in Zukunft bereits am Flughafenschalter entdeckt werden sollen. Auf diese Weise könnte man ihnen die Einreise verweigern, bevor es zum Terrorakt kommt. Das alles scheint zwar nicht in Übereinstimmung mit den geltenden Rechtsvorschriften zu sein, aber Professor Reinhard Merkel (Autor des Buches Forschungsobjekt Embryo) vermutet, dass sich das sehr schnell ändern kann. Sollte es tatsächlich möglich werden, antisoziales Verhalten vor der auszuführenden Tat zu erkennen, werde das Recht entsprechend angepasst. Von der gebotenen Ehrfurcht vor dem Schöpfer spricht dabei kaum noch jemand. Wenn überhaupt noch jemand geehrt wird, dann nicht der Schöpfer des Himmels und der Erde, sondern die ungeheure Kraft der Evolution, die so etwas wie z. B. die Komplexität des Gehirns in 500 Millionen Jahren hervorgebracht haben soll.

Wer mit einem solchen Menschenbild lebt, der wird nicht an einer besonderen und einmaligen Persönlichkeit festhalten. Nicht Echtheit und Authentizität eines Menschen sind dann erstrebenswert, sondern seine Funktionalität. Wer herausfinden will, was der Mensch wert ist und wie er seiner eigentlichen Bestimmung entsprechend leben kann, der braucht eine andere Sicht. Doch wie finden wir sie? Was ist denn das Besondere an uns?

Spurensuche

Zunächst einmal müssen wir akzeptieren, dass sich diese Fragen auf einem rein wissenschaftlichen Weg nicht beantworten lassen. Der Grund liegt nicht etwa darin, dass sich Glaube und Wissenschaft ausschließen, sondern dass die Wissenschaft hier eindeutig an ihre Grenzen stößt. Kluge Leute wie der Physiker Steven Hawking versuchen zwar, die Weltformel zu finden, um Licht in die ursächliche Entstehung unseres Universums zu bringen, aber dabei kann es immer nur um das physikalische Werden gehen. Über den Sinn, der hinter allem steht, auch über die Bedeutung des Menschen und sein eigentliches Ich, ist damit noch gar nichts gesagt. Auch Psychologen können hier nicht weiterhelfen. Sie können seelische Vorgänge beobachten, unser Verhalten und unsere Reaktionen zu erklären versuchen. Aber wer wir im Tiefsten sind, das bleibt auch für sie im Dunkel, es sei denn, sie überschreiten die Grenze ihrer Erkenntnis mit hypothetischen Erklärungsversuchen.

Es gibt nur einen Weg, die Frage nach unserer Bedeutung und Bestimmung zu beantworten: Wir müssen auf den hören, der uns geschaffen hat.

Nun habe ich am Anfang geschrieben, dies sei nicht nur ein Buch für Christen. Es könnte also sein, dass Sie an der Existenz Gottes zweifeln. Wissenschaftler versuchen inzwischen Gott biologisch zu erklären und sprechen von einem so genannten Gottes-Gen. Der amerikanische Molekularbiologe Dean Hamer meint, Spiritualität sei ein grundlegender Bestandteil unseres genetischen Erbes. Man hat begonnen, Gott als Produkt unseres Gehirns zu lokalisieren. Er wohne im Lobus parietalis superior, dem Scheitellappen. Neurotheologie nennt sich diese junge Disziplin, die versucht, Religiosität auf biologischer Basis zu verstehen.

Tatsache ist, dass die Sehnsucht nach Gott in allen Kulturen vorhanden ist. Menschen aller Kulturen sehnen sich nach Transzendenz, nach einer übergeordneten Macht, die ihre Geschicke lenkt. Der schwäbische Prälat Friedrich Christoph Oettinger (1702–1782) war der Meinung, man solle einem Wissen, dass sich in fast allen Menschen finde, mit großer Achtung begegnen. Könnte die in allen Völkern zu findende Religiosität nicht gerade ein Hinweis darauf sein, dass wir Menschen zur Gemeinschaft mit Gott geschaffen wurden, uns diese Gemeinschaft aber irgendwann verloren ging?

In der Bibel steht, dass Gott dem Menschen die Ewigkeit ins Herz gelegt hat (Prediger 3,11). Gemeint ist damit nicht nur eine für unsere Verhältnisse unvorstellbare zeitliche und räumliche Entfernung. Schon das wäre eindrucksvoll angesichts von zwölf Milliarden Lichtjahren, die wir inzwischen ins Universum schauen. Angenommen, wir wollten den uns nächstgelegenen Stern besuchen, Alpha Centauri C, dann bräuchten wir dafür mit dem heute schnellsten Raumschiff ca. 10 000 Jahre. Dabei ist er nur vier Lichtjahre von uns entfernt.

Aber Ewigkeit beschreibt einen Raum, der über unsere materielle Welt hinausreicht. Der Theologe Karl Heim benutzte dafür das Bild von einem zweidimensionalen Lebewesen. Für ein solches Geschöpf scheiden Höhe und Tiefe als Wirklichkeit aus – trotzdem lässt sich so durchaus komfortabel leben. Jeder Kinobesuch zeigt, dass man auf einer Fläche sogar spannende und faszinierende Ereignisse abbilden kann. Allerdings wäre es völlig falsch, daraus abzuleiten, dass es über die Fläche hinaus keine Wirklichkeit gäbe.

Eindrücklich beschreibt Heim die Grenzen unserer Erkenntnis. Nicht einmal zur Gegenwart finden wir einen Zugang – was wir erleben, ist immer schon Vergangenheit. Wir können nur sehen, was bereits geschehen ist, hören einen Ton erst dann, wenn er angeschlagen wurde. Licht und Schall brauchen eine gewisse Zeit, um unsere Augen und Ohren zu erreichen. Bei entfernten Blickpunkten ist uns das bewusst, aber das gilt eben auch bei der geringsten Entfernung. Nicht einmal uns selbst können wir in den Blick nehmen. Der sehende Punkt wird ja selbst niemals sichtbar; würde er das, wäre er nicht mehr der sehende Punkt. Was mir als Objekt gegenübertritt, bin ich niemals selbst.

Schöpfer und Geschöpf

Wie also sollen wir Menschen mit solchen Begrenzungen Gott jemals erfassen und herausfinden, was er sich dachte, als er uns schuf? Innerhalb unseres Denkens finden wir keinerlei Zugang zu ihm. Gott wohnt in einem Jenseits, das für uns Diesseitige immer verschlossen bleiben wird, selbst wenn unsere Raumschiffe immer schneller werden und gigantische Entfernungen in immer kürzeren Zeiten überbrücken. Nur Gott ist in der Lage, den Vorhang zwischen seinem Jenseits und unserem Diesseits zu öffnen. Die Bibel sagt: Er wohnt in einem uns Menschen unzugänglichen Licht (1. Timotheus 6,16). Von uns aus gibt es keinen Weg zu ihm, es bleibt nur der Weg von ihm zu uns.

Und stellen Sie sich vor: Gott hat den Vorhang geöffnet! In der Bibel wird uns gesagt, wer wir sind und woher wir kommen. Auf ihren ersten Seiten lesen wir: Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei (1. Mose 1,26a). Und im nächsten Vers: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau (1. Mose 1,27).

Demnach ist der Mensch also kein Zufallsprodukt. Er ist von Gott gewollt und wurde als Ebenbild Gottes erschaffen. Wörtlich steht da: Gott schuf ihn als sein Abbild. An anderen Stellen im Alten Testament wird dieser Begriff mit Skulptur oder Statue wiedergegeben. Das erinnert an den Mount Rushmore, jenes gewaltige Felsmassiv in den USA, wo die Köpfe von vier amerikanischen Präsidenten eindrucksvoll aus dem Stein herausgearbeitet wurden. Nein, nicht der Fels ist das Besondere, sondern das Bild, das in ihm erkennbar wird. So ist auch unser Leben ein Hinweis auf Gott – das ist unsere Bestimmung. Noch deutlicher wird das in dem zweiten Begriff: Ähnlichkeit, Nachbild, Entsprechung. Gemeint ist die einzigartige Beziehung zwischen Gott und seinen Menschen.

Gott hat uns eben nicht als funktionierende und faszinierende Maschine in die Welt gesetzt. Mit den Menschen schuf er Personen, die er liebt, mit denen er redet und Gemeinschaft pflegt. Ein gottähnliches Abbild sind wir. Das ist nicht zu fassen, wo doch der Mensch aus Erde wurde und wieder zur Erde wird (1. Mose 3,19b). Aber er ist eben mehr als ein sich irgendwann im Grab auflösender Körper. Gott schuf sich ein geliebtes Gegenüber, ein einzigartiges Wesen, das er besucht, mit dem er redet und das er beauftragt, seine Schöpfung zu bewahren (1. Mose 1+2). In der Gemeinschaft mit dem Schöpfer sollen wir Menschen das Wesen Gottes widerspiegeln, seine Liebe, seine Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Güte. Und da ein Mensch dazu alleine gar nicht in der Lage ist, schuf Gott den Menschen männlich und weiblich, also als Mann und Frau (1. Mose 1,27).

Wenn Sie die Bibel kennen, wissen Sie, dass es darin von der ersten bis zu letzten Seite um eine einzigartige Beziehungsgeschichte geht. Auch Sie und ich kommen darin vor, denn Gott hat nicht nur die ersten Menschen ins Leben gerufen, er setzte damals nicht eine Maschine in Gang. Jeder ist seine einzigartige Schöpfung, auch jeder, der noch geboren wird. Im Psalm 139 betet David: Du hast mich geschaffen mit Leib und Geist, mich zusammengefügt im Schoß meiner Mutter. Dafür danke ich dir, es erfüllt mich mit Ehrfurcht. An mir selber erkenne ich: Alle deine Taten sind Wunder! Ich war dir nicht verborgen, als ich im Dunkeln Gestalt annahm ... (Vers 13–15a).

Ob wir es nun glauben oder nicht: Jeder von uns, auch der von seinen Eltern ungewollte Mensch, ist eine eigens von Gott ins Leben gerufene Person. Und dieses einzigartige Leben war bereits ein Gedanke Gottes, noch bevor Samenzelle und Eizelle zusammenfanden. Gott sagt dem Propheten Jeremia: Noch bevor ich dich im Leib deiner Mutter entstehen ließ, hatte ich schon meinen Plan mit dir. Noch ehe du aus dem Mutterschoß kamst, hatte ich bereits die Hand auf dich gelegt (Jeremia 1,4-5).

Begreifen Sie, was das heißt? Nun kann nicht mehr die Rede davon sein, dass wir eine Zufälligkeit sind, also ein vielleicht sogar ungewolltes Produkt zweier Menschen, die miteinander geschlafen haben. Manchmal reden verliebte Paare davon, dass sie ein Kind machen wollen. Das klingt so, als könnten sie einen Menschen produzieren. Was für eine Selbstüberschätzung! Gott ist und bleibt der Schöpfer allen Lebens, auch des ihren.

Der Mensch sein, den Gott sich erdacht hat

Das hat allerdings Konsequenzen, und die haben unmittelbar mit unserem Thema zu tun. Wenn Gott uns als Person gewollt und geschaffen hat, dann macht es keinen Sinn mehr, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und ihn kopieren zu wollen. Wenn mein Leben von Gott beabsichtigt ist, dann bin ich etwas Einmaliges, dann hat jeder von uns seine ganz eigene Identität. Auch das hat David begriffen und deshalb bittet er am Ende des schon zitierten 139. Psalms: Durchforsche mich, Gott, sieh mir ins Herz, prüfe meine Wünsche und Gedanken! Und wenn ich in Gefahr bin, mich von dir zu entfernen, dann bring mich zurück auf den Weg zu dir! David möchte der Mensch sein, den Gott sich gedacht hat.

Vor Jahren bekam ich das Poesiealbum einer 12-Jährigen in die Hand. Sie hatte mich gebeten, dort etwas hineinzuschreiben. Ich blätterte zurück und entdeckte einen Satz ihres Großvaters. Er lautete etwa so: Meine liebe Bärbel, in diesem Buch wünschen Dir Menschen Gutes. Aber ich wünsche Dir das Beste, das es überhaupt für Dich geben kann: Werde die Bärbel, die Du nach dem Willen Gottes sein sollst! Bei Pindaros aus Theben (522–446 v.Chr.) heißt es: Werde, der du bist! Wenn wir davon ausgehen, dass Gott mit jedem Menschen einen bestimmten Plan verfolgt und ihn dazu mit besonderen Begabungen und Möglichkeiten ausstattet, dann trifft dieses Wort zu.