image

Beate M. Weingardt

Kränkungen überwinden,
Beziehungen erneuern

images

6. Auflage 2006

© R. Brockhaus Verlag Wuppertal 2006

Umschlaggestaltung: Dietmar Reichert, Dormagen

Umschlagfoto: Dietmar Reichert, Dormagen

Gesamtherstellung: Jesusbooks, Großburgwedel

ISBN 978-3-417-21958-6 (E-Book)

ISBN 3-417-24818-3 (lieferbare Buchausgabe)

Bestell-Nr. 224 818

Datenkonvertierung E-Book:

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

In memoriam Jacqueline Weller-Hahn

Inhalt

EINLEITUNG

1 Was vergeben bedeutet

2 Was vergeben nicht bedeutet

3 Vergebung ist ein Geschenk

4 Warum können uns Menschen kränken und verletzen?

5 Wie schützen wir uns gegen Kränkungen und Verletzungen?

6 Was geschieht mit unserem Körper, wenn wir verletzt werden?

7 Warum legt Jesus so großen Wert auf Vergebung?

8 Voraussetzungen, um vergeben zu können

9 Der Prozess des Vergebens

ANMERKUNGEN

EINLEITUNG

Geh eine Meile, um einen Freund zu sehen,

zwei Meilen, um einen Kranken zu besuchen,

drei Meilen, um Frieden zwischen zwei Menschen zu stiften.

Arabisches Sprichwort

Zu meiner Tätigkeit als angehende Pfarrerin in einem großen schwäbischen Dorf gehörte es, alte Menschen zu besuchen, wenn sie Geburtstag hatten. Da am Geburtstag selbst meist viele Freunde, Nachbarn und Verwandte versammelt waren und sich deswegen keine Möglichkeit zum Gespräch mit der Jubilarin oder dem Jubilar bot, gewöhnte ich es mir an, an einem anderen Tag vorbeizukommen. Das Geburtstagskind hatte auf diese Weise mehr von meinem Besuch, und ich bekam tieferen Einblick in die Persönlichkeit dieser alten Menschen. Die meisten von ihnen erzählten mir bereitwillig aus ihrem langen Leben, und bei vielen kamen neben aufregenden Erlebnissen und Höhepunkten auch manche tiefen Enttäuschungen und Verletzungen zur Sprache.

Was mich sehr betroffen machte, war die Tatsache, dass solche Wunden – egal, aus welcher Lebensphase sie stammen – offenbar nicht von selbst heilten. »Die Zeit heilt alle Wunden« – nein, dieses Sprichwort konnte ich nicht bestätigen. Die Zeit hilft, dass Wunden vernarben – doch sie können auch jederzeit wieder aufbrechen, wenn keine echte Heilung stattfindet. Und wer schon einmal die hässlichen und oft schmerzhaften Narben gesehen hat, die bei unbehandelten Verletzungen am menschlichen Körper zurückbleiben, und sie dann vergleicht mit den feinen, oft kaum mehr sichtbaren Narben, die eine sauber und sorgfältig durchgeführte Operation hinterlässt, der muss feststellen: Es liegen Welten dazwischen. Die Zeit allein heilt nicht – es ist der Mensch, der in der Zeit etwas dafür tun muss, dass Heilung geschehen kann.

»Wissen Sie, ich hab’s als Kind nicht schön gehabt«, erzählte mir eine Frau, die ich zu ihrem 85. Geburtstag besuchte. »Meine Mutter ist früh gestorben, mein Vater hat wieder geheiratet und mit der neuen Frau auch ein Kind bekommen. Sie hat dieses Kind geliebt – und mich nicht. Und das hat sie mich unablässig spüren lassen. Eines Tages – das werde ich nie vergessen – zog sie ihr eigenes Kind zärtlich an sich heran und sagte zu mir, die ich etwas abseits stand: ›Das ist meines, und du bist nicht meines!‹ Das war so schrecklich für mich.« – Während die alte Dame mir diese Szene schilderte, sah ich Tränen in ihren Augen. Die Zeit heilt alle Wunden? Nein, nichts hatte sie geheilt – diese Frau war ihr Leben lang mit einer inneren Wunde belastet gewesen, die schmerzte und offenbar nie wirklich heilen konnte.

Immer mehr, je häufiger ich im Zuge meiner Arbeit als Pfarrerin und Psychologin die Lebensgeschichten alter und junger Menschen anhörte, erkannte ich: Verletzt werden gehört zum Leben – vergeben lernen nicht. Es ist wie in der medizinischen Heilkunst: Die Krankheiten und Beschädigungen des menschlichen Körpers sowie der Seele kommen häufig von selbst, das bringen die Natur und das Leben mit all seinen Gefährdungen und Gefahren mit sich. Doch die Kunst, sie zu behandeln und, wenn möglich, zu heilen, muss sorgfältig und gründlich erlernt werden. Das Gleiche gilt auch für die Beschädigungen und Kränkungen unserer Seele. Sie sind offenbar unvermeidlich – doch sie müssen behandelt werden. Man kann sie nicht einfach »stehen lassen« oder gar, noch illusorischer, »wegstecken« – wohin denn auch? Doch wo und wie erlernen wir die Kunst, mit Kränkungen so umzugehen, dass wir mit ihnen im doppelten Sinn des Wortes »fertig werden« und sie uns nicht »fertig machen«?

»Das bringen Alter und Lebenserfahrung doch mit sich«, mag mancher denken. Auch ich habe es gedacht und gehofft. Doch meine Erfahrung zeigt: Dem ist nicht so. Wir werden älter – doch wir werden nicht dickfelliger. Wir werden älter – doch wir werden nicht automatisch gütiger, nachsichtiger und vergebungsbereiter. Es fällt uns auch nicht leichter, zu vergeben, nur weil wir schon eine Menge an Enttäuschungen und Kränkungen hinter uns haben und eigentlich geübt sein sollten. Es fällt uns nicht leichter zu vergeben, nur weil die Kränkung schon viele Jahre zurückliegt. Im Gegenteil: Alle unsere bitteren Erfahrungen sammeln sich in unserer Seele an wie Gifte in unserem Körper. Sie verschwinden nicht einfach, sie werden nicht still und leise ausgeschieden, sondern sie setzen sich irgendwo in unserem Inneren ab und entfalten unbemerkt und unauffällig ihre stille, doch um so nachhaltigere Wirkung – das ist das Gefährliche und Tückische daran. Und eines Tages kommt der Tag – der letzte Tag.

Wir müssen – oder wollen – sterben. »Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren«, sagt der blinde Simeon, nachdem er das Jesuskind im Tempel mit den Augen der Seele geschaut hat (Lukas 2,29). »In Frieden heimgehen« – das wollen wir wohl alle. In Frieden mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen, wenn möglich auch mit Gott. Doch wie soll das möglich sein, wenn so vieles in unserer Seele friedlos und unversöhnt ist?

Dazu eine Erfahrung, die mich sehr tief berührte: »Ich bin verwitwet und habe zwei Töchter«, erzählte mir der 88-jährige Herr Stiller1, den ich besuchte. Er war pflegebedürftig und saß im Rollstuhl. »Eine Tochter wohnt bei mir im Haus und versorgt mich, die andere wohnt auch hier im Dorf, doch ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr.« – »Warum denn nicht?«, wollte ich wissen. Er begann zu weinen: »Was die zu ihrem Vater gesagt hat, das sagt man nicht!«, schluchzte er. Ich begriff: Sie musste ihn schwer verletzt haben. Den Inhalt ihrer Äußerung wollte er nicht preisgeben, doch die Tränen rannen ihm über sein Gesicht, das sagte genug. Nach einigem Hin und Her kam ich zur Sache: »Herr Stiller, stellen Sie sich vor, Sie sterben in nächster Zeit – dann muss ich womöglich an Ihrem Grab sagen: ›Er starb unversöhnt mit seiner Tochter!‹ Das will ich doch nicht!« – »Und das sagen Sie auch nicht«, entgegnete er bestimmt. »Sie predigen über den Bibelvers, den ich anlässlich meiner Konfirmation bekommen habe. Ich habe ihn schon aufgeschlagen!«

Tatsächlich, da lag eine aufgeschlagene Bibel. Er zeigte mir die Stelle und ich las: »Der Herr ist mein Fels und meine Burg und ist mein Heil« – der Beginn eines Psalms. Ich blieb beharrlich: »Das, was da steht, Herr Stiller, das können Sie nicht sagen, das kann nicht sein! Sie können ja noch nicht einmal das Vaterunser zu Ende sprechen!« Er sah mich erschrocken und fragend zugleich an: »Warum nicht?« – »Weil Sie zwar noch beten können ›… und vergib uns unsere Schuld‹, aber nicht ›… wie auch wir vergeben unseren Schuldigem‹. Das tun Sie ja nicht! Sie verzeihen Ihrer Tochter nicht!« – Er begann wieder zu weinen. Wie ein Häufchen Elend saß er da, und schließlich schlug ich ihm vor: »Wissen Sie was, ich gehe morgen zu Ihrer Tochter und rede mit ihr, sie möge sich bei Ihnen entschuldigen, dann ist die Sache bereinigt!« – Herrn Stillers Gesichtszüge wurden starr, fast böse: »Die braucht gar nicht zu kommen!«, stieß er hervor. Da merkte ich: Seine Tränen galten nicht nur der verlorenen Tochter, seine Tränen galten ebenso ihm selbst – es waren auch Tränen des Selbstmitleids.

Dennoch tat er mir Leid, und ich verabschiedete mich mit der Ankündigung, mit seiner Tochter Anne zu reden. Inzwischen war die im Haus wohnende Tochter Brigitte2 dazugekommen, und sie bestärkte mich in meinem Vorhaben. Ich besuchte die »verstoßene« Tochter, und sie gestand mir freimütig, ihrem Vater im Zorn in der Tat etwas sehr Hässliches gesagt zu haben. Doch ihr Versuch, sich bei ihm zu entschuldigen, sei gescheitert – ihr Vater hätte sie nicht einmal ins Haus gelassen. Ich sagte: »Wären Sie bereit, noch einen Versuch zu wagen? Wir wissen nicht, wie lange Ihr Vater noch lebt, und ich biete Ihnen an, Sie zu begleiten. Uns beide wird er wohl nicht vor der Tür stehen lassen!« – Sie erklärte sich einverstanden.

Doch in der Folgezeit geschah etwas, was mir im Rückblick unerklärlich ist: Ich schob den gemeinsamen Gang zum Vater auf die lange Bank – und schließlich vergaß ich das Vorhaben sogar. Seither kann ich ein Sprichwort nicht vergessen, das ich einmal gelesen habe: »Die lange Bank ist des Teufels liebstes Möbelstück!« Wochen und Monate vergingen, ich zog aus dem Dorf weg in eine nahe gelegene Stadt. Eines Tages fiel mir der alte Mann wieder ein, als ich auf der Suche nach einem Thema für eine Rundfunkandacht war. Sofort beschloss ich: Diese Sache musst du noch zu Ende bringen! Ich fuhr in das Dorf, klingelte an der Tür des alten Mannes, eine fremde Frau öffnete mir und sagte auf meine Nachfrage: »Sie kommen zu spät. Herr Stiller ist vor einigen Wochen gestorben.« Ich erstarrte förmlich vor Schreck, doch dann kam Brigitte, die im Haus wohnende Tochter des Vaters, dazu und bat mich herein.

Sie erzählte mir, dass ihre Schwester Anne einige Zeit nach meinem Besuch bei ihrem Vater schwer an Brustkrebs erkrankt sei; eine Operation stand bevor. Sie teilte dies ihrem Vater mit, der immer noch keinen Kontakt mit Anne hatte, und sagte ihm, dass niemand wisse, wie die Operation ausgehen würde. Außerdem wies sie ihn warnend darauf hin, dass ihre Mutter – seine Ehefrau – ebenfalls an Brustkrebs erkrankt und gestorben sei. »Willst du dich nicht vor der Operation mit Anne versöhnen?«, fragte Brigitte und bekräftigte den Vorschlag mit den Worten: »Die Frau Pfarrer hat doch auch gesagt, dass es gut wäre!« Und siehe da, das Wunder geschah: Der alte Mann willigte ein. Hatten meine Worte in ihm doch »weitergearbeitet«, hatte ihn die Erinnerung an seine Frau weich gemacht? Auf jeden Fall gab es eine tränenreiche Versöhnung zwischen Vater und Tochter. Sie überstand die Operation und erholte sich gut – doch der Vater starb wenige Wochen später.

Als Brigitte ihre Erzählung beendet hatte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Wie schuldig hätte ich mich gefühlt, wenn er gestorben wäre, ohne sich vorher zu versöhnen, dachte ich. Andererseits: Vielleicht konnte er ja nur dann und nur deswegen »in Frieden heimgehen«, weil er zuvor Frieden geschlossen hatte, ging es mir durch den Kopf. Würde er vielleicht immer noch leben und müsste als schwerer Pflegefall rund um die Uhr betreut werden, wenn er nicht diese letzte Hürde der Versöhnung doch noch genommen hätte? Der Ausspruch einer Krankenhauspfarrerin kam mir plötzlich in den Sinn, die ich Jahre zuvor zu Beginn meiner Pfarrausbildung einmal gefragt hatte, welche Menschen ihrer Erfahrung nach schwer sterben. Sie hatte mir damals wie aus der Pistole geschossen geantwortet: »Wer Unerledigtes vor sich hergeschoben hat – der stirbt schwer.«

Etwas Unerledigtes – damit sind nicht Aufgaben gemeint wie Frühjahrsputz oder Äpfel ernten. Dabei handelt es sich in aller Regel um Aufgaben der Versöhnung, der Vergebung, der Aussprache und der Bitte um Entschuldigung. In einem Gedicht von Friedrich Hölderlin heißt es: »Die Seele, der im Leben ihr göttlich’ Recht nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht.« Mit anderen Worten: Die friedlose Seele bleibt auch im Sterben unruhig und un-erlöst. Wie oft habe ich in der Folgezeit, als ich Pfarrerin in einem Alten- und Pflegeheim war, an den friedvollen Tod von Herrn Stiller gedacht und mir gewünscht, es möge immer solch ein Happy End geben. Doch wie oft musste ich zu der harten Erkenntnis kommen, dass es auch ein »zu spät« gibt. Zurück bleiben oft genug unzufriedene, man könnte auch sagen friedlose Angehörige: Ehepartner, Geschwister, Kinder. Auch sie hatten keine Chance mehr, ihr Verhältnis zum Verstorbenen noch rechtzeitig in Ordnung zu bringen. Übrigens: Das hebräische Wort für Ordnung ist das gleiche Wort wie für »Ganzsein, Frieden«: Schalom. Was in Ordnung ist, ist heil, ist nicht zerteilt und nicht zerrissen: Es ist so, wie es sein sollte, nämlich »im Frieden«.

Die vielen Erfahrungen, Gespräche und Eindrücke dieser Jahre haben mich darin bestärkt, dem Thema Vergebung meine ganze Aufmerksamkeit und eine intensive Forschungstätigkeit zu widmen. Das ist der eine Grund, weshalb ich dieses Buch schreibe: Ich will, dass wir alle, Sie und ich, nicht nur versöhnt und in Frieden leben, sondern auch einmal in Frieden sterben können – in Frieden mit uns selbst, mit unseren Nächsten und mit Gott.

Ein weiterer Grund kommt aus einer anderen Richtung: Ein bekannter Psychologieprofessor schrieb in den 90er Jahren einen Artikel mit dem Titel »Verzeihen: Die doppelte Wohltat«3. Darin schilderte er, dass ihm in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Psychotherapeut unzählige Male Menschen mit seelischen Verletzungen begegnet seien: Verletzungen, mit denen sie allein nicht fertig wurden, Kränkungen, über die sie nicht hinwegkamen und die deshalb ihr ganzes Leben belasteten und beeinträchtigten. Ihm wurde klar: Vergebung ist eine Möglichkeit, diese seelischen Schmerzen zu vermindern.

Doch zu seinem großen Erstaunen suchte er sowohl in der psychologischen als auch in der psychotherapeutischen Fachliteratur vergeblich nach dem Stichwort »Vergebung«. Wie kann es sein, so fragte er, dass ein so zentrales Thema so wenig die Aufmerksamkeit der Forscher und Therapeuten auf sich zieht? Warum beschäftigen sie sich nicht damit?

Beim Lesen dieses Artikels musste ich dem Autor auf Anhieb Recht geben: Weder in meinem Theologie- noch in meinem Psychologiestudium war ich jemals mit dem Stichwort »Vergebung« konfrontiert worden, geschweige denn mit dem Thema. Die Problematik schien nicht zu existieren, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging – oder sie wurde in einem Nebensatz abgehandelt. Lediglich im Zusammenhang mit Gott fand Vergebung die Aufmerksamkeit der Theologen. Aber heißt es in dem Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat, nämlich im Vaterunser, nicht ausdrücklich: »… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern«?

1 Was vergeben bedeutet

Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.

Sören Kierkegaard

Vergeben bedeutet verzichten

Vergeben besteht aus dem Verb »geben« und der Vorsilbe »ver-«. Die Vorsilbe »ver-« bedeutet in unserem Fall »weg-«, so wie im Wort »verschenken« oder »veräußern«. Wer etwas vergibt, gibt etwas her: einen Anspruch, den er gegenüber einem anderen Menschen hat oder zu haben glaubt. Einen Anspruch auf Sühne, auf Strafe, auf irgendeine Art von Wiedergutmachung des Unrechts, das der andere mir angetan hat. Wer vergibt, schenkt also dem anderen etwas. Wer vergibt, verzichtet auf etwas, das ihm eigentlich zustünde. Auch »verzeihen« bedeutet vom Wortsinn her ursprünglich: verzichten.

Vergeben bedeutet loslassen

Wer vergibt, lässt etwas los. Er lässt das schwere Paket los, das er mit sich trägt – Gefühle wie Hass, Bitterkeit, Wut, Groll, Enttäuschung. Wer dieses Paket nicht loslässt, muss es zwangsläufig tragen, nach-tragen: demjenigen, der uns Böses angetan hat. Wer nicht vergibt, ist also nachtragend – und muss dementsprechend schwer schleppen. »Am Nachtragen schleppen wir uns noch zu Tode«, sagte einmal eine erfahrene Seelsorgerin. Ob der, der die Kränkung zugefügt hat, an der Last seines Unrechts schwer trägt, ist oft nicht erkennbar. Wer aber gewiss schwer daran trägt, ist der gekränkte Mensch. Er meint vielleicht, den Verletzer damit zu strafen, dass er ihm nicht einfach vergibt – doch der eigentlich Gestrafte ist in erster Linie er selbst. Der Gekränkte weiß meist nicht, ob der andere etwas davon ahnt, wie tief er ihn verletzt hat, ob ihm bewusst ist, wie sehr er ihm grollt. Und-falls er es weiß-ob es ihn überhaupt belastet oder gar peinigt. Der Verletzte hat das in der Regel auch nicht in der Hand und kann es oft nicht wesentlich beeinflussen.

Der einzige Mensch, auf den wir wirklich Einfluss haben, sind wir selbst. Was mit dem anderen geschieht, können wir häufig gar nicht mehr in Erfahrung bringen. Sei es, dass man einander aus dem Weg geht, sei es, dass der Täter über alle Berge ist, wir keinen Kontakt mehr zu ihm haben, oder sei es, dass er sich nichts von seinen Gefühlen anmerken lässt – wie es in ihm aussieht, bleibt ein großes Rätsel für den, der gekränkt wurde. Seine Hoffnung, es durch Nachtragen dem Schädiger möglichst schwer zu machen, ihn womöglich zur Reue zu zwingen, lenkt deshalb vom eigentlichen Drama ab: dass er es auf jeden Fall sich selbst schwer macht. Denn er ist es schließlich, der die Last trägt. Der andere und sein Unrecht rutschen ihm eben nicht den Buckel hinunter, auf jeden Fall nicht von selbst. Der Gekränkte ist es, der loslassen muss.

Vergeben ist ein bewusster Akt

Mag sein, dass auch Folgendes gelegentlich vorkommt: Eines Tages stellen wir fest, dass alle Hass- und Grollgefühle verschwunden sind. Einfach so – ohne unser Zutun. Doch darauf zu hoffen wäre gefährlich, denn ein solches Wunder ereignet sich höchst selten. Und es ereignet sich schon gar nicht dann, wenn wir darauf spekulieren, weil wir uns auf diese Weise eigenes Nachdenken und eigene Arbeit ersparen wollen. Bequemlichkeit wird von Gott selten gefördert. »Herr, ich habe dich so inständig gebeten, dass ich im Lotto gewinne, und nun habe ich keinen Cent gewonnen«, jammert ein gläubiger Mensch. »Du musst mir schon eine Chance geben, dein Gebet zu erhören!«, antwortet Gott. »Wie denn?« – »Wie wär’s, wenn du einen Losschein kaufen würdest?«4

Vergebung geschieht selten ohne unser Zutun – und schon gar nicht, ohne dass wir es bewusst und entschieden wollen. Vergeben ist so etwas wie eine Entscheidung, das Steuer herumzureißen, den Blick wieder in eine andere Richtung zu lenken, den Kopf wieder freizubekommen und neue Ziele anzusteuern.

Vergebung ist das Ende eines langen Weges

Art und Tiefe der Verletzung entscheiden meist darüber, wie schnell wir den Weg zur Vergebung zurücklegen, ebenso der eigene Charakter, die persönlichen Vorerfahrungen und Prägungen. Mancher Mensch vergibt leichter, mancher tut sich sehr schwer damit. Es spielt auch eine große Rolle, wem wir vergeben, wie der Verletzer zu seinem Verhalten steht, wie unser Verhältnis zu dieser Person war und ist, wie viel sie uns bedeutet, welche Vorerfahrungen wir mit ihr haben und vieles mehr. Und dennoch: Auch wenn Vergebung von vielen Bedingungen und Faktoren abhängt, bleibt eines gleich: Sie lässt sich nicht übers Knie brechen. Wir können sie nicht im Hau-Ruck-Verfahren hinter uns bringen und schon gar nicht durch Druck erzwingen. Im Gegenteil: Vergebung ist wie das Ende einer langen Bergwanderung. Endlich stehen wir oben und können das Gepäck ablegen. Wir atmen tief ein. Der Blick ist wieder frei und kann ins Weite gehen. Endlich hat die Mühe ein Ende – wir haben den Gipfel erreicht und sehen, welch weiten Weg wir hinter uns gebracht haben. Ein Weg, der sich nicht abkürzen ließ und den kein anderer für uns gehen konnte. Ein Weg, den wir in unserem ganz persönlichen Tempo zurücklegten; den wir aber auch – hoffentlich – nicht allein gehen mussten. Und am Ende steht ein Ziel, das einfacher und bequemer nicht zu erreichen war. Doch es ist ein Ziel, das sich gelohnt hat, das den Schweiß und die Tränen, die Mühe und Anstrengung nicht vergeblich sein lassen.

Vergeben ist Befreiung

Wer verzeiht, löst sich aus negativer Verstrickung. So lange ich einem Menschen etwas nach-trage, muss ich ihm auch nach-gehen. Mit anderen Worten: Ich bleibe an ihn gebunden, ich komme von ihm nicht los. In meinen Gedanken verfolge ich ihn, laufe ihm hinterher. Die Verletzung, die er mir zugefügt hat, ist wie ein unsichtbares Band, das zwischen uns gespannt ist und uns nicht im Guten, sondern im Bösen ver-bindet. Wenn ich verzeihe, schneide ich dieses Band durch.5 Ich löse mich in Gedanken und Gefühlen von dem, der mich verletzte, weil ich weiß: Nur so kann ich frei werden. Nur so kann ich auch heil werden. Nur so ist ein Neuanfang möglich – für mich, vielleicht auch für uns.

Wenn ich vergebe, kann ich zwar nicht vergessen, aber ich bin nicht mehr im Banne des Geschehenen. Ich muss nicht mehr zwanghaft meinen Blick auf das richten, was mir angetan wurde – auch nicht auf den Menschen, der daran schuld ist. Ich kann frei entscheiden, worauf ich meine Aufmerksamkeit richten möchte.

Wer verzeiht, löst Schmerzen. Vergeben heißt: den Pfeil, den der andere auf mich abgeschossen hat, nicht mehr dafür zu benutzen, um in der Wunde zu rühren und damit die Qualen noch zu vergrößern. Vergeben bedeutet vielmehr: den Pfeil (mit Gottes und der Menschen Hilfe) vorsichtig, aber entschlossen herauszuziehen, die Wunde zu versorgen und ihr so eine Chance zu geben, in absehbarer Zeit zu heilen.

2 Was vergeben nicht bedeutet

Wenn du etwas Wichtiges tun willst, genügt es nicht, den Verstand zu befriedigen; du musst auch das Herz berühren.

Mahatma Gandhi

Vergeben bedeutet nicht, auf materielle Wiedergutmachung zu verzichten

Vergeben heißt, dass der seelische Schaden, den jemand angerichtet hat, nicht mehr nachgetragen wird. Man kann ihn in der Regel ja auch nicht vollständig wiedergutmachen, selbst durch ein Schuldeingeständnis samt Reue nicht. Anders ist es mit dem materiellen Schaden. Hier ist Wiedergutmachung – z. B. durch Geldzahlung, Inanspruchnahme der Versicherung oder andere Formen des Schadenersatzes – häufig möglich. Sie kann und soll geleistet werden. Warum? Weil es nicht nur recht und billig, sondern für beide Seiten wichtig ist, wenn der Schädiger den Schaden, den er angerichtet hat, auszugleichen versucht. Und weil noch genug zu vergeben bleibt, wenn dieser äußerliche Schaden behoben ist.

Nehmen wir einen alltäglichen Fall: Jemand fährt Ihnen ins Auto. Sie werden leicht verletzt, Ihr Auto ist beträchtlich demoliert. Sie sind unschuldig, der andere ist Ihnen zu dicht aufgefahren und konnte bei einem plötzlichen Stau nicht mehr rechtzeitig bremsen. Sie sind erleichtert, dass nichts Schlimmeres passiert ist, aber auch wütend, denn Sie haben nun eine Menge Arbeit und Probleme vor sich: Schmerzen, Arztbesuche, Werkstatttermine, Schriftwechsel mit der Versicherung, um nur einiges zu nennen. Der Fahrer, der Ihr Auto beschädigt hat, beteuert, dass es ihm Leid tut, und entschuldigt sich. Sie glauben ihm sein Bedauern und akzeptieren seine Entschuldigung, mit anderen Worten: Sie verzeihen ihm seinen Fehler. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass Sie darauf verzichten, Ihren Wagen auf Kosten seiner Versicherung reparieren zu lassen und unter Umständen Schmerzensgeld zu beantragen! Im Gegenteil: Diese Formen des materiellen Schadensersatzes sind für den Schädiger eine Möglichkeit, wenigstens einen Teil seiner Schuld abzutragen. Man darf ja nicht vergessen: Viele, die anderen Menschen Schaden zufügten, werden von Schuldgefühlen geplagt, und es wäre geradezu eine Strafe für sie, wenn man ihnen nicht erlauben würde, wenigstens den materiellen Schaden, so weit wie möglich, wiedergutzumachen.

Natürlich ist es uns freigestellt, ob wir in unser Verzeihen auch den Verzicht auf materiellen Schadensersatz einschließen – zum Beispiel weil es sich, materiell gesehen, um einen Bagatellschaden handelt. Aber man sollte nicht vergessen, dass zu viel Großzügigkeit auch leicht etwas Erniedrigendes an sich hat oder beim anderen einen irreführenden Eindruck erweckt (»Dann war’s wohl nicht so schlimm«). Das muss man vor allem bei Kindern beachten, die den Wert der Dinge oft noch nicht richtig einschätzen.

Vergeben bedeutet nicht verharmlosen

Wer vergibt, sagt nicht: »Es war ja nicht so schlimm.« Das würde bedeuten, das Geschehene zu bagatellisieren. Im Gegenteil: Wer vergibt, steht dazu, dass es schlimm war und weh getan tat, dass man das Erlebte nicht einfach wegsteckt. Verharmlosung hingegen wäre der Versuch, die Wirklichkeit weichzuspülen. Das klappt bei Kleinigkeiten – ein Kind schlägt sich das Knie an, trägt einen Kratzer davon und weint bitterlich. »Heile, heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Schnee – und dann tut’s nicht mehr weh!«, singt die Mutter. Das Kind lauscht, ist beruhigt, freut sich an der Zuwendung und dem optimistischen Schluss des Liedchens – und stapft getröstet von dannen. Fällt das Kind dagegen vom Baum und bricht sich ein Bein, wäre die gleiche Reaktion der Mutter nicht nur unangemessen, sondern sehr gefährlich: Das Kind wird nicht zum Arzt gebracht, der Arzt kann den Bruch nicht behandeln, das Bein schmerzt also weiter und wird aller Wahrscheinlichkeit nach schief zusammenwachsen. Das Kind müsste sich den Rest seines Lebens mit einem bleibenden Schaden abquälen, der ihm möglicherweise bei jedem Schritt weh tut oder zu schaffen macht.

Dieses Beispiel zeigt: Verharmlosen und auf die leichte Schulter nehmen kann sehr riskant sein. Leichtes soll leicht genommen werden – Schweres wird aber nicht dadurch leichter, dass wir uns einreden: »Es war ja nicht so schlimm.« Oder uns einreden lassen: »Das hat dir doch nicht geschadet!« Ob etwas leicht war oder schwer, schlimm oder harmlos, ob es uns gut getan hat oder nicht – das kann niemand anderes beurteilen als allein wir selbst. Denn niemand kann in unsere Haut schlüpfen und in unsere Seele blicken. Niemand weiß, wie wir empfinden und was wir empfinden. Darum hat auch kein Mensch das Recht, unseren seelischen Schmerz zu bagatellisieren oder nicht ernst zu nehmen: »Stell dich nicht so an!« Wer so reagiert oder spricht, fügt uns neuen Schmerz zu.

»Das war schlimm für mich«, sagt das junge Mädchen zu seinem Vater, »dass du gelacht hast, als ich bei Mutters Geburtstag beim Gedichtaufsagen ins Stocken geriet!« Darauf der Vater: »Sei doch nicht so empfindlich, das war doch nicht böse gemeint!« Die Tochter fühlt sich nicht ernst genommen, sondern aufs Neue verletzt. Je nach Temperament zieht sie sich entweder gekränkt zurück, oder sie wird wütend und greift den Vater an – ein aggressiver Konflikt droht. Hätte der Vater geantwortet: »Das tut mir Leid, daran habe ich in dem Moment nicht gedacht!«, dann hätte sich die Tochter ganz sicher geachtet und verstanden gefühlt, und die Sache wäre geklärt gewesen. Doch die Antwort des Vaters bedeutet den Versuch, die zugefügte Kränkung zu verharmlosen. Es gehören Mut und Stärke dazu, dennoch auf dem eigenen Empfinden zu beharren: »Es war aber schlimm für mich – auch wenn du das nicht verstehst oder nicht wahrhaben willst!«

Doch oft sind es nicht die anderen, die versuchen, unsere Kränkung zu bagatellisieren, sie kleinzureden. Oft sind es wir selbst. Die eine Stimme in uns sagt: »Ich bin verletzt«, und die andere widerspricht ihr: »Wegen so etwas leidet man doch nicht, das ist doch albern! Da müsstest du doch drüber stehen!« Oder sie flüstert: »Gibdir ja nicht die Blöße und zeige, dass du getroffen bist!« Möglicherweise zischt diese andere Stimme auch: »Das ist doch schon so lange her, lass es doch gut sein!« Gerade bei Kränkungen aus der Kindheit ahnen wir, dass anstrengende Arbeit auf uns zukäme, wenn wir uns mit dem, was in der eigenen Biografie schlecht gelaufen ist, auseinander setzen würden.

Sehr schön wird diese Scheu, das »Hässliche« anzupacken, in dem Märchen »Der Froschkönig« beschrieben. Die Königstochter ekelt sich vor dem Frosch, dem sie in der Not das Versprechen gegeben hat, ihn in ihr Bett zu holen. Sie will nicht zu dem stehen, was geschehen ist. Sie will den Frosch nicht küssen, ihn überhaupt nicht an sich heranlassen, kurz: Sie weigert sich verzweifelt, sich mit ihm einzulassen. Doch er bleibt hartnäckig, er ist – wie auch unsere negativen Erinnerungen – mit Wegschauen und Ausweichen nicht zu vertreiben, sondern meldet sich immer wieder zu Wort. Genauso lässt auch unser seelischer Schmerz nicht locker und nimmt notfalls den Körper zu Hilfe, um auf sich aufmerksam zu machen, sich Gehör zu verschaffen.

Der Frosch zwingt die Prinzessin mit seiner Beharrlichkeit, ihm nicht einfach auszuweichen. Und das Wunder geschieht: Als sie ihren Ekel annimmt, den Frosch aufnimmt und voller Wut an die Wand wirft – bisher war sie leidend und weinerlich, aber nicht wütend! –, verwandelt er sich in einen Prinz. Das Hässliche fällt von ihm ab, das Erschreckende verschwindet, sein »wahrer Kern« kommt zum Vorschein. Er ist erlöst – doch nicht nur er. Auch sie, die Prinzessin, ist befreit! Befreit zu neuen Gefühlen, zu einer neuen Beziehung zu diesem – nunmehr verwandelten – Wesen. Befreit zum Beginn eines neuen Lebensabschnitts! Die Weisheit, die diesem Märchen innewohnt, lautet: »Man muss sich dem Hässlichen und Angstmachenden stellen, um es zu überwinden« – man darf es nicht einfach verharmlosen oder verdrängen.

Dies gilt auch für seelische Verletzungen. Vergebung bedeutet: den Schmerz zulassen, ihn anschauen, ihn aushalten – und dann beginnen, ihn loszulassen, um befreit zu sein und weitergehen zu können.

Vergeben bedeutet nicht, einen Freibrief für die Zukunft auszustellen

Vergebung bezieht sich auf das, was geschehen ist und nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wer vergibt, radiert die Vergangenheit nicht aus, aber er macht einen Strich unter die Vergangenheit, um wieder offen für die Gegenwart und die Zukunft sein zu können. Sollte der Verletzer daraus jedoch den Schluss ziehen: »Dann kann ich ja so weitermachen«, dann ist das ein gefährliches Missverständnis. Ein Missverständnis, das wir auf keinen Fall dulden sollten – es sei denn, wir haben sowieso nicht mehr die Absicht oder die Möglichkeit, mit diesem Menschen in ein engeres Verhältnis zu treten. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn unser Verletzer schon gestorben ist oder einfach nicht mehr zu unserem Beziehungsnetz gehört – sei es durch Scheidung, Umzug, Rückzug von einer oder beiden Seiten oder aus anderen Gründen.

Falls die Beziehung zu dem Menschen, der uns wehgetan hat, weiter besteht, liegt der Fall anders. Wir müssen klarstellen: »Doch, es war hart für mich, und trotzdem vergebe ich dir. Aber ich bitte dich, dass so etwas nicht mehr vorkommt. Ich möchte auf keinen Fall, dass sich dein Verhalten wiederholt! Falls ich etwas dazu beitragen kann, dann sag’ es mir bitte!« Gerade dieser letzte Satz wird meist weggelassen. Er fällt vielen schwer, sind sie doch der festen Meinung, der Fall sei eindeutig. Doch ob eindeutig oder nicht, dieser letzte Satz ist aus meiner Erfahrung unerlässlich, um die eigene Sichtweise nicht zur allein richtigen zu erklären. Es ist wichtig, auch dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, seine eigene Einschätzung der Situation – und unserer Person – einzubringen. Wenn wir ihm diese Möglichkeit nicht einräumen, besteht die Gefahr, dass unser Gegenüber, dem wir soeben großmütig vergeben haben, den Spieß kurzerhand herumdreht und uns die gesamte Schuld an dem Konflikt anlastet. Ein Streit darüber, wer mehr Recht – und weniger Schuld – hat, wäre die unausweichliche Folge, und unsere Vergebungsbereitschaft würde mit einem noch schlimmeren Zerwürfnis enden.

Unter diesem Gesichtspunkt ist Vergeben in einer bestehenden Beziehung mehr als ein Abschluss, es ist auch ein Neubeginn – nicht nur für den, der vergibt, sondern auch für den, dem vergeben wird. Wer also stillschweigend immer wieder vergibt, ohne den Verletzer darauf aufmerksam zu machen, wie weh sein Verhalten tut, darf sich nicht beschweren, wenn diesem keine Schuld bewusst ist und er folglich auch keinen Bedarf sieht, sich zu ändern. Oder wenn er sein verletzendes Verhalten als »nicht so schlimm« bewertet, da der andere ja anscheinend nicht besonders schwer daran zu tragen hat.

Vergeben bedeutet nicht versöhnen

Unter Versöhnung verstehe ich die Wiederaufnahme einer positiven Beziehung zwischen zwei oder mehr Menschen, die miteinander in irgendeiner Form verfeindet oder zerstritten waren. Das bedeutet: Zur Versöhnung gehören mindestens zwei. Es gehören jene zwei dazu, die miteinander ein Problem haben, sich zerstritten haben, verfeindet sind. Jene zwei – oder drei oder noch mehr –, zwischen denen eine Mauer steht: die Mauer der Kränkung, des Unrechts, des Verrats, der Demütigung, der Schuld, des Misstrauens, der Enttäuschung, des Zorns, des Schweigens, des Vertuschens …