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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2012

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Illustrationen von Silke Brix

E-Book-Umsetzung: pagina GmbH, Tübingen 2012

ISBN 978-3-86274-061-1

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Die Operation

Das ist Jenny.

Und das sind Mama und Papa,

und das ist Jennys Schwester Lisa.

Hier siehst du, sie ist noch ziemlich klein.

Heute ist ein besonderer Tag. Heute hat Jenny von Oma Elli einen Arztkoffer geschenkt gekriegt.

Zuerst haben Mama und Papa sich mit dem Stethoskop abhorchen lassen, und am Schluss durfte Jenny ihnen sogar eine Spritze geben. Aber jetzt will keiner mehr ihr Patient sein. Jetzt wollen sie mit Oma Elli Kaffee trinken, und Jenny soll mit Lisa im Kinderzimmer spielen.

»Komm, Lisa, du bist krank!«, sagt Jenny und will ihr das Stethoskop auf die Brust drücken.

Aber Lisa ist noch zu dumm. Sie lacht und läuft zu ihrem Gitterbett.

»Du bist zu krank zum Laufen«, sagt Jenny und hält sie am Arm fest. »Du brauchst eine Spritze!«

Aber da fängt Lisa an zu schreien, und Jenny lässt sie lieber schnell wieder los.

»Weißt du was, Lisa?«, sagt Jenny. »Du bist ja vielleicht gesund, aber unsere Puppen sind alle ganz krank!« Und sie holt die Puppen aus dem Wagen und aus der Wiege und aus dem Buggy und legt sie nebeneinander auf den Fußboden.

Lola hat Scharlach und kriegt eine Spritze, und Susi hat es an den Mittelohren, und die Arm-ab-Puppe hat sich nun auch noch das Bein gebrochen. Aber ganz schlimm ist es bei Lisas Riesenbaby Betty.

»Ts, ts, ts«, sagt Jenny und pumpt den Blutdruckmesser auf, dass der Zeiger sich wild im Kreis dreht. »Das ist der Blinddarm! Ich hab es doch geahnt!«

Sie guckt Lisa erschrocken an, aber Lisa spielt gerade unter dem Fenster mit der Autowaschanlage.

»Das muss operiert werden«, sagt Jenny energisch. »Sonst ist sie uns morgen tot.« Und sie geht, um Papas Schraubenzieher und Mamas Küchenschere zu holen.

»Keine Sorge, Sie werden betäubt«, sagt Jenny und gibt der Riesenbetty eine Spritze in die Nase. Dann hämmert sie ihr vorsichtig den Schraubenzieher in den Kopf und schneidet mit der Küchenschere nach. Das Loch wird ordentlich groß und rund. Aber von innen ist Bettys Kopf hohl.

»Da ist der Blinddarm wohl lieber schon selber verschwunden«, sagt Jenny zufrieden.

Sie sucht Klebeband, um den Kopf wieder zuzukleben, und dann packt sie die Betty zurück in ihre Wiege.

Mama mag nämlich keine Unordnung.

 

»Heute Nachmittag wart ihr beiden aber schön friedlich«, sagt Mama, als sie Jenny und Lisa ins Bett bringt. »Hast du die ganze Zeit Arzt gespielt?«

Jenny nickt und zieht sich die Decke ans Kinn.

»Da hat Oma dir aber was Schönes geschenkt«, sagt Mama und gibt Jenny einen Gutenachtkuss. »Endlich mal ein Spiel, das keinen Krach macht und bei dem nichts kaputtgeht.«

Jenny nickt. »Der Betty hab ich das Leben gerettet«, sagt sie.

»Wie lieb von dir, mein Schatz«, sagt Mama und knipst das Licht aus.

Die Brille

Niko ist Jennys bester Freund. Er wohnt im selben Haus, nur drei Treppen höher, und ist ein ganz bisschen älter als Jenny.

Wenn Jenny sich langweilt, geht sie meistens zu Niko nach oben. Über die Treppe. Weil Kinder nicht allein mit dem Fahrstuhl fahren dürfen.

Niko hat viel schöneres Spielzeug als sie, findet Jenny. Deshalb spielt sie so gerne bei ihm. Niko findet, Jenny hat schöneres Spielzeug. Er will deshalb immer bei Jenny spielen.

Aber heute geht Jenny zu Niko rauf.

»Hallo, Jenny«, sagt Nikos Mutter, als sie die Tür aufmacht. »Da wird Niko sich aber freuen. Er will dir nämlich was Neues zeigen.«

Niko ist nirgends zu sehen. Das ist komisch. Sonst kommt er immer gleich auf Strumpfsocken angerannt, wenn er Jenny hört.

»Geh mal in sein Zimmer«, sagt Nikos Mutter und schiebt Jenny in den Flur. »Du wirst schon sehen.«

Niko steht vor dem Spielzeugregal mit dem Rücken zur Tür. Als Jenny hereinkommt, dreht er sich ganz langsam um.

Niko sieht ganz neu aus! Fast wie ein fremder Junge und viel schöner als sonst. Er hat seinen alten Mickymaus-Pullover an und eine Strumpfhose wie immer, und seine Haare sind auch nicht anders. Aber im Gesicht hat er eine Brille, die ist so hübsch! Der Rand ist fast rund und rot, und wenn man ganz genau hinsieht, glitzert er ein kleines bisschen.

Niko schiebt ein wenig die Unterlippe vor. »Na?«, sagt er. Ganz vorsichtig.

Aber Jenny sagt gar nichts. Es ist so gemein! Erst kriegt Niko zu Weihnachten ein gelbes Pumucklrad und dazu einen riesigen Plastikkran und jetzt auch noch eine Brille! Jenny geht lieber gleich wieder nach Hause.

»Ich hab nämlich eine Brille«, sagt Niko und nimmt sie sich von der Nase. Dann hält er sie Jenny hin. »Du kannst auch mal«, sagt er.

Da geht Jenny doch noch nicht. Sie setzt sich die Brille auf, und plötzlich sieht alles ein bisschen verschwommen aus. Dann schleichen sich beide ins Schlafzimmer zum Spiegelschrank, damit Jenny gucken kann, wie ihr die Brille steht.

»Was willst du dafür haben?«, fragt Jenny. Die Brille sieht toll bei ihr aus, und sie kennt auch kein anderes Kind, das so eine schöne hat. Nur immer Erwachsene.

»Brillen kann man nicht tauschen«, sagt Niko und zieht die Nase hoch.

»Doch«, sagt Jenny ernsthaft. »Gegen ein anderes Schmuckstück fürs Gesicht. Dann schon.«

»Ja?«, fragt Niko zweifelnd.

Jenny nickt energisch. »Was auch schön aussieht«, sagt sie. »Auch fürs Gesicht. Ohrringe.«

Das ist ihr zum Glück eben eingefallen. Ohrringe tut man sich auch an den Kopf, um schöner auszusehen. Noch schöner wären natürlich Nasenringe, wie sie die Leute im Fernsehen in einem Film über Afrika drin hatten, aber so was hat Jenny in echt noch nie gesehen.

»Gegen Ohrringe kannst du ehrlich tauschen«, sagt Jenny, und da sagt Niko, dass er es macht.

 

Abends kommen Mamas und Papas Freunde zum Doppelkopfspielen und Jenny und Lisa dürfen noch guten Abend sagen, schon gebadet und im Schlafanzug. Aber ein kleines bisschen geschmückt hat Jenny sich trotzdem noch.

»Guten Abend, Onkel Peter«, sagt sie und zieht Lisa an der Hand hinter sich her auf den Flur.

Onkel Peter wickelt gerade einen großen Blumenstrauß für Mama aus, und Papa hilft Tante Gerda aus dem Mantel.

»Guten Abend, Jenny!«, sagt Onkel Peter fröhlich. Dann starrt er sie erschrocken an. »Liebe Zeit«, sagt er. »Braucht die arme Jenny seit Neuestem eine Brille?«

»Natürlich nicht«, sagt Papa und lacht, aber er guckt jetzt auch zu Jenny hin, und da wird er ganz aufgeregt.

»Nimm sofort die Brille ab!«, sagt Papa. »Und sag mal gefälligst, wo du das Ding herhast!«

»Das ist meine!«, sagt Jenny böse und hält die Brille ganz fest. »Die hab ich ehrlich von Niko eingetauscht!«

»Meine Güte, Jenny«, sagt Mama. »Eine Brille kann man doch nicht tauschen! Die kriegt man doch, weil man ohne nicht richtig gucken kann! Am besten, ich bring sie Niko gleich wieder rauf.« Und sie nimmt Jenny die Brille einfach aus der Hand.

Jenny geht böse in ihr Zimmer. Ihre Ohrringe will sie dann aber auch zurück. Und Mama muss sie morgen mal fragen, ob man Ohrringe vielleicht auch nur drin hat, weil man schlecht hören kann. Und Nasenringe wegen dem Riechen.

Jenny passt auf

Heute war Lisa den ganzen Tag biestig zu Jenny, und Jenny hat sie trotzdem kein Mal gehauen.

Zuerst hat Lisa Jennys großes Duplo-Haus umgeschmissen, dass alle Bausteine durch die Gegend geflogen sind, und dann hat sie zwei Seiten aus Jennys neuem Vorlesebuch angebissen.

»Du doofe Ziege!«, schreit Jenny und will Lisa eins auf den Kopf geben, aber Lisa schreit und rennt zu Mama in die Küche.

»Dass du mir Lisa nicht haust!«, sagt Mama böse. »Große Geschwister müssen lieb zu den kleinen sein!«

»Aber wenn sie mir immer alles kaputt macht!«, sagt Jenny. »Ich bestraf sie nur. Gerecht.«

»Du unterstehst dich!«, sagt Mama. »Bestrafen dürfen hier im Haus nur Papa und ich. Lass dich ja nicht dabei erwischen, Fräulein, sonst setzt es was.«

Und jetzt muss Mama auch noch zum Arzt. Papa hat gesagt, er sieht zu, dass er früher nach Hause kommt, damit Mama die Kinder nicht mitnehmen muss, aber jetzt müsste Mama längst gehen, und Papa ist immer noch nicht da.

»Was soll ich bloß machen?«, jammert Mama und sieht auf ihre Uhr.