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Beat Portmann, geboren 1976 in Luzern. Vorkurs an der Jazzabteilung der Musikhochschule Luzern, lebt als freier Autor und Singer/Songwriter in Luzern. Er wurde mit einem Werkpreis des Kantons und der Stadt Luzern ausgezeichnet. Sein Kartenspiel «jarmony» wurde von der Musikhochschule Luzern herausgegeben. Im Limmat Verlag ist der Vorgängerroman mit «Herr Arnold» als Ermittler, «Durst», lieferbar (auch digital), der ins Albanische übersetzt wurde. Im Sommer 2013 wird sein Theaterstück «Wetterleuchten» von Volker Hesse im Luzern uraufgeführt.

BEAT PORTMANN

alles still

Roman

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«Der Tod einer schönen Frau ist also fraglos der dichterischste Gegenstand auf Erden – und ebenso zweifellos ist der geeignetste Mund für einen solchen Gegenstand der eines Liebenden, der die Geliebte durch den Tod verlor.»

Edgar Allan Poe

Die apart gekleidete Frau, die auf der goldbestickten Tagesdecke des antiken Bettes lag, schien friedlich zu schlafen. Ihre Lider waren geschlossen, ihre Züge entspannt, ihre schmalen Hände über der Brust gekreuzt und zu Fäusten geballt, als hielten sie unsichtbare Insignien pharaonischer Macht. Mit der beringten Rechten umklammerte sie ein Paar weisse Handschuhe, am Hals trug sie eine goldene Kette. Das Seltsame ihrer Erscheinung rührte indessen von dem folkloristischen und zugleich mondänen Stil ihrer Garderobe her. Sie trug eine langärmlige weisse Bluse mit Spitzeneinsätzen, darüber ein leuchtend rotes Trägerkleid, das mit goldgefassten dunkelgrünen Bändern versehen war und ihr bis zu den Knöcheln reichte. Die kleinen Füsse steckten in hochhackigen Sandaletten, die Zehennägel waren dunkelrot lackiert. Das naturblonde, ins Silberne spielende Haar war zu einer kunstvollen Kranzfrisur geflochten mit einem gelben Stoffblümlein hinter dem linken Ohr. Es sah aus, als hätte sie sich nur kurz hingelegt, aber ihre Tochter versicherte mir, dass sie tot sei.

«Sie ist eiskalt …», brachte die junge Frau hervor. Mit einer fahrigen Bewegung machte sie mich auf die Medikamente aufmerksam, die auf dem Nachttisch neben einem schwarzen Buch lagen. «Die habe ich im Papierkorb gefunden …»

Ich sah sie mir an, dankbar, den Blick von der Toten abwenden zu können. Sie trugen den Namen Digoxin und wurden offenbar bei Herzkrankheiten angewendet. Ich zog die Blister aus den Packungen. Die Pillen waren restlos herausgebrochen.

«Sie hat sie allesamt geschluckt …», sagte Salesia Pfyffer mit erstickter Stimme.

Ich legte den leeren Blister, den ich noch in der Hand hielt, auf die Kommode und wandte mich meiner Klientin zu. Sie hatte eine durchschimmernde blasse Haut, eine verletzliche kleine Nase – und erstaunliche Augen. Noch nie in meinem Leben hatte ich Augen von solcher Grösse gesehen. Ihr Gesicht war umrandet von einer dunkelbraunen Pagenfrisur und einem schwarzen Rollkragen. Ich schätzte sie auf Ende zwanzig.

Um der entstehenden Intimität etwas entgegenzuhalten, fragte ich, ob ihre Mutter einen Abschiedsbrief hinterlassen habe.

Sie schüttelte den Kopf und bedrängte mich von Neuem mit ihren grossen braunen Augen. Kein Zweifel, sie erwartete von mir Antworten; Erklärungen, Mutmassungen, irgendetwas, was ihr das weitere Vorgehen aufzeigen würde. Oder erhoffte sie sich am Ende gar Trost?

Ich trat ans Fenster und blickte auf den schneebedeckten Klosterplatz hinaus. Er war leer bis auf eine Gruppe alter Frauen vor dem Marienbrunnen und einen Pater im schwarzen Ordenskleid, der vorsichtig die Freitreppe hinunterstieg. Über dem Nordturm schimmerte es blassblau zwischen den faserigen Wolken.

«Wir hatten eine Auseinandersetzung, gestern Nacht …», vernahm ich Salesia Pfyffers Stimme. «Bevor … bevor ich mit Ihnen telefonierte.»

Ich drehte mich langsam um.

«Ich habe Sie nach Einsiedeln bestellt, um meine Mutter unter Druck zu setzen … Verstehen Sie?»

Ich nickte, obschon ich gar nichts verstand.

«Und ungefähr eine halbe Stunde, bevor Sie eintreffen … Weil es den ganzen Morgen über so still war … gehe ich nach ihr schauen und entdecke – entdecke das hier.»

Sie sah mich an und liess die Arme sinken.

«Sie sollten sich kein Gewissen machen», begann ich vorsichtig, «Menschen tun das auf eigene …»

«Ich mach mir kein Gewissen», fiel sie mir ins Wort. «Habe ich etwas in der Art gesagt? Ich versuche nur die Kausalitäten darzulegen.»

Sie wandte sich ab und schlug die Hände vors Gesicht. Die Art, wie sie lautlos und in sich gekehrt weinte – nur ihre schmalen Schultern zitterten unmerklich –, hätte wohl auch den abgebrühtesten Kriminalbeamten in Verlegenheit gebracht.

Ich hätte jetzt einfach gehen können. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen – mit wenigen Schritten wäre sie zu erreichen gewesen.

«Sie müssen mir helfen», drang ihre Stimme wie von fern an mein Ohr. Sie drehte sich um und liess den Blick an mir hinuntergleiten, sah wieder auf und erklärte: «Ich bezahle Sie gut.»

«Was haben Sie vor?», sagte ich nicht eben begeistert.

«Ich möchte meine Mutter in ihr Geburtshaus bringen. Dies hier ist nicht der Ort, wo sie hingehört.»

Die Tote lag in meinen Armen wie eine lebensgrosse Dreikönigskuchenfigur. Salesia Pfyffer hatte sie zuvor in die Tagesdecke gewickelt – mit flinken Fingern und knappen Anweisungen, wie ich den steifen Körper zu wenden hatte. Während sie ihren Wagen vor den Hinterausgang stellte, trug ich ihre Mutter in den Flur und setzte sie vorsichtig ab.

Es war nie meine Absicht, solche Szenen zu schreiben, geschweige denn darin vorzukommen. Zudem widerstrebte es mir, mich als etwas auszugeben, was ich in Wirklichkeit nicht war. Also beispielsweise einer verzweifelten jungen Frau, deren Mutter gerade Selbstmord begangen hatte, den Privatdetektiv vorzuspielen.

«Kommen Sie …», flüsterte sie, als sie im Eingang erschien. Da ich zögerte, setzte sie hinzu: «Na machen Sie schon, wir haben nicht ewig Zeit!»

Widerwillig legte ich meine Arme um die Tote und hob sie in die Horizontale. Für ihre schlanke Statur war sie erstaunlich schwer. Ich stieg seitlich ins Parterre hinunter, wo mir Salesia Pfyffer die Tür zum Innenhof aufhielt.

Die Karosserie ihres Wagens, eine dunkelblaue Limousine, gab eine expressionistisch angehauchte Spiegelung der Umgebung wieder. Die Hecktür stand offen, die Fondsitze waren heruntergeklappt. Ich schob den toten Körper mit den Füssen voran hinein und drückte die Tür zu.

«Würden Sie fahren? Ich sehe mich dazu ausserstande …»

Mit einem Schulterzucken nahm ich den Zündschlüssel, setzte mich hinters Lenkrad, holte tief Luft und startete den Motor.

Während ich den Wagen vom Innenhof auf die gepflasterte Dorfstrasse lenkte, suchte Salesia Pfyffer mit der Frequenztaste einen Radiosender. Mit DRS 2 und irgendeinem Violinkonzert gab sie sich zufrieden. Ich schaltete in den fünften Gang und liess das Gefährt rollen.

Bis vor wenigen Wochen hatte ich meiner schriftstellerischen Laufbahn mit Zuversicht entgegengesehen. Nachdem ich turbulente Zeiten durchlebt hatte – mein Verleger im Gefängnis, sein Verlag konkurs und ich vertragslos –, hatte sich scheinbar alles zum Guten gewendet: Ich war mit meinem auf Tatsachen basierenden Kriminalroman überraschend schnell bei einem neuen Verlag untergekommen und erzielte damit ganz ordentliche Verkaufszahlen – zumindest im Vergleich zu meinen beiden bisherigen Romanen. Aber nun hatte ich mich wieder der Fiktion zuwenden wollen, diesem gottähnlichen Walten im stillen Kämmerlein, wo der Autor seinen eigenen kleinen Kosmos entwirft. Das Leben mit seinem Monopol auf Wirklichkeit, seinen Winkelzügen und abstrusen Zufällen interessierte mich nicht.

«Sie sieht so friedlich aus … Als würde sie nur ein wenig schlafen.»

Salesia Pfyffer richtete den Blick wieder auf die Strasse.

«Haben Sie schon viele Leichen gesehen?»

Einigermassen irritiert, dass sie ihre tote Mutter eine Leiche nannte, zuckte ich mit den Schultern. «Eigentlich nicht …»

«Stört es Sie, wenn ich rauche?»

Ich hatte damit aufgehört, als dem zweiten Jahrtausend der Schnauf ausgegangen war. Das war jetzt ziemlich genau hundertzweiunddreissig Stunden her.

«Wenn Sie mir auch eine geben …»

Sie reichte mir ihre brennende Zigarette.

«Danke, aber ich mach das gern selber.»

Sie hielt mir die Packung hin und gab mir Feuer.

Ich tat vorsichtig den ersten Zug, während ich den Wagen aus der Felsenschlucht in die offene Landschaft der Hochebene führte. Dann den zweiten, kräftigeren, und gleich danach den dritten. Mir wurde ein wenig schwindlig, mein Herz pochte, und ich fühlte mich eins mit der Landschaft und dem wattierten Winterhimmel.

Mein neuer Verleger hatte vor einigen Wochen einen ersten Blick in mein jüngstes Romanprojekt geworfen, in das ich während mehreren Jahren mein Herzblut geträufelt hatte. Zuerst hatte er ein wenig vor sich hin genuschelt und dann gesagt: «Dieser Versuch, die Prinzipien romantischer Literatur auf den Kontext des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts anzuwenden, ist eigentlich sehr interessant.» Pause – und mit einem Seufzer: «Nur frage ich mich, ob sich dafür ein Publikum findet.» Wieder Pause. «Könntest du dir vielleicht vorstellen, zuerst noch einmal einen Krimi zu machen? Ich finde, du hast wirklich Talent dazu!»

Mein Verleger hatte gut reden. Offenbar verwechselte er meine Neigung, mich in komplizierte und mitunter gefährliche Abenteuer zu stürzen, mit der Fähigkeit, sich eine kriminalistische Handlung auszudenken.

«Sie fahren mit übersetzter Geschwindigkeit!»

Tatsächlich. Ich nahm den Fuss vom Pedal.

Salesia Pfyffer drückte ihre Kippe im Aschenbecher aus. Dann pomadisierte sie sich die Lippen, rieb sie gegeneinander und meinte: «Für einen Privatdetektiv scheinen Sie mir nicht besonders neugierig zu sein.»

Ich war ziemlich überrascht gewesen, als mich tags zuvor, einige Wochen nach jenem Gespräch mit meinem Verleger, eine Frauenstimme am Telefon mit «Herr Arnold» angesprochen hatte. Ich hatte mich vor drei Jahren unter diesem Pseudonym als Privatdetektiv im Telefonbuch eintragen, jedoch im darauf folgenden Jahr wieder streichen lassen. Es stellte sich heraus, dass Salesia Pfyffer aus der Ferienwohnung ihrer Mutter anrief, wo noch ein Telefonbuch von 1998 herumlag – dem Jahr des Wohnungsbezugs. Meiner Veranlagung entsprechend, hatte ich dies als Wink des Schicksals gedeutet.

«Möchten Sie immer noch, dass ich Ihren Vater ausfindig mache?»

«Mehr denn je!»

Ich musste abbremsen und runterschalten, weil aus einer Neben strasse ein Traktor in unsere Fahrbahn einspurte. Nachdem ich ihn überholt hatte, fragte ich: «Haben Sie denn konkrete Anhaltspunkte?»

Zuerst verneinte sie, um sich gleich darauf zu widersprechen. Dann redete sie eine ganze Weile, wobei sie sich schwertat, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Aus den reichlich wirren Ausführungen schloss ich, dass sie bis vor wenigen Wochen geglaubt hatte, ihre Zeugung einer «Romanze» ihrer Mutter mit einem adligen Engländer zu verdanken – offenbar während eines Aufenthalts in Zermatt. Ihr Vater soll noch vor ihrer Geburt von einer Gletscherwanderung nicht mehr zurückgekehrt sein. Anscheinend hatte ihre Mutter bis zuletzt an dieser Version festgehalten.

Der Gedanke an den Tod ihrer Mutter liess sie verstummen. Mit einem Seitenblick bemerkte ich ihre zusammengepressten Lippen. Sie senkte die Lider und lauschte – nahm ich an – den Violinen, die sich in einer klagenden Melodie über das Orchester erhoben.

Offen gestanden, hatte ich aus purer Verzweiflung zugesagt, als mich Salesia Pfyffer gebeten hatte, anderntags nach Einsiedeln zu kommen. Möglich auch, dass mich ihr Name neugierig gemacht hatte – die Aussicht, jemanden aus einer so alten und bedeutenden Patrizierfamilie kennenzulernen.

«Weshalb haben Sie denn auf einmal diese Geschichte in Zweifel gezogen?»

Salesia Pfyffer hatte sich eine neue Zigarette angesteckt und betrachtete sich im Spiegel der Sonnenblende.

«Mir wurde die Kopie eines Vertrags zugeschickt …»

«Ein Vertrag?»

Sie zog aus ihrer Handtasche ein Blatt Papier und reichte es mir.

Ich warf einen Blick darauf. Der Text war mit einer Schreibmaschine aufgesetzt und mit «Verzichterklärung auf die Vaterschaft» überschrieben. Als Datum war der 23. April 1973 angegeben.

Auf meine Bitte hin las sie mir vor: «Mit der Unterzeichnung dieses Vertrags erklärt sich der biologische Vater bereit, gegen eine pauschale Entschädigung von Schweizerfranken zweihunderttausend von allen Rechten und Pflichten der Vaterschaft zurückzutreten. Die Auszahlung der pauschalen Entschädigung erfolgt nach Unterzeichnung und Eintreffen des Vertrags bei der juristischen Mutter. Der biologische Vater verpflichtet sich hiermit, über seine Vaterschaft und diesen Vertrag lebenslängliches Stillschweigen zu wahren. Das Kind wird im Glauben aufwachsen, sein Vater sei unmittelbar vor der Geburt tödlich verunglückt.»

Sie verstummte.

«Das ist alles?»

Sie nickte.

«Darf ich mal?»

Der Name des Vaters war auf der Kopie mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht, auch fehlte seine Unterschrift. Unterzeichnet war der Vertrag einseitig mit Charlotte Johanna Pfyffer.

«Eine Menge Geld für etwas, was sich andere Väter teuer erkaufen müssen …»

Ich hielt ihr den Vertrag hin und sah wieder auf die Strasse.

«Finden Sie diese Bemerkung etwa witzig?» Sie riss mir das Papier aus der Hand und attackierte mit ihrem Zigarettenstummel den Aschenbecher.

Ich entschuldigte mich, worauf sie sich wieder beruhigte.

Für eine Weile floss die Welt im Gleichklang mit der barocken Musik an den Fenstern vorbei.

«Glauben Sie, dass der Vertrag echt ist?», brach ich das Schweigen.

«Bis zu dem Moment, als ich ihn meiner Mutter zeigte, hatte ich meine Zweifel.»

«Was ist mit der Unterschrift?»

«Sie sieht aus wie die meiner Mutter … Aber natürlich könnte sie auch gefälscht sein.»

«War dieses Papier die Ursache Ihres Streits?»

«Der Auslöser: Ich konfrontierte sie damit. Aber sie behauptete, sie habe diesen Vertrag noch nie gesehen. Ich drohte, einen Privatdetektiv einzuschalten, wenn sie mir nicht die ganze Wahrheit erzählte. Darauf hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen.»

«Ihr Geburtsdatum?»

«Meines? Oder das meiner Mutter?»

«Ihres, wenn es genehm ist.»

Sie wandte mir ihr Gesicht zu.

«Ich verspreche, dass ich Ihr Alter nicht errechne.»

«Sie versuchen wohl schon wieder, witzig zu sein?»

Sie verschränkte die Arme und sah wieder auf die Strasse. «Siebzehnter September Neunzehnhundertdreiundsiebzig.»

Ich dachte kurz nach.

«Ihre Mutter wollte das also geregelt haben, bevor Sie überhaupt auf der Welt waren …»

Ich schnitt die Mittellinie, um einer grauen Katze auszuweichen, die mit ihren Innereien auf dem Asphalt festgefroren war.

«Aber dass sie deswegen den Freitod wählte … Sie glauben doch nicht, dass es ein Unfall war?»

Eine gepflegte Frauenstimme ordnete die Musik Buxtehude zu, die Angaben zum Orchester gingen in Salesia Pfyffers Worten unter: «Freitod … Ich finde es schön, dass Sie diesen Begriff verwenden.»

Sie liess ihre linke Hand aus dem Handgelenk heraus kreisen. «Wissen Sie, meine Mutter war ein äusserst bewusster Mensch. Sie hätte niemals etwas dem Zufall überlassen. Ist Ihnen aufgefallen, wie sie sich zurecht gemacht hat? Dieses Kleid hatte sie sich eigens für meine Taufe anfertigen lassen.»

Ich lenkte den Wagen beim «Wilden Mann» in die Münzgasse, drehte auf Salesia Pfyffers Geheiss um hundertachtzig Grad und stellte ihn rückwärts vor den Eingang des Pfyffer’schen Stipendihauses.

«Warten Sie hier», flüsterte sie, schloss das massive, reichverzierte Portal auf, stiess es mit der rechten Schulter einen Spalt weit auf und schlüpfte in den dämmrigen Eingangsbereich.

Ich sah mich um: Kopfsteinpflaster, gedrungene Torbögen, organisch zusammengewachsene Häuser. Auf einer Tafel stand zu lesen: «Pfandleihanstalt Luzern, 1886». Das Pfyffer’sche Stipendihaus selbst: weiss, winklig, nach Höhe strebend, die Unteransicht des Daches rot. Ich trat ein paar Schritte zurück und entdeckte den gotischen Treppenturm, das Dach mit goldener Kugel und nordwärts gerichteter Windfahne. Der Eingang lag gleich neben einem Torgang, durch den man zum Reusssteg gelangte.

Hier also wohnte Salesia Pfyffer. Ich war beeindruckt. Bisher hatte ich solche Schauplätze für Inszenierungen des Fremdenverkehrsvereins gehalten.

Als sie zurückkam, blieb sie in der Tür stehen und sah sich um.

«Die Luft ist rein, beeilen Sie sich!»

Ich öffnete den Kofferraum, zog ihre Mutter an den Achseln heraus und trug sie durch die Tür, die mir Salesia Pfyffer aufhielt.

«Dritter Stock – seien Sie doch vorsichtig!»

Ich war mit dem Kopf ihrer Mutter am Handlauf angestossen und sah im letzten Moment davon ab, mich zu entschuldigen. Ich stieg seitlich die sandsteinerne Wendeltreppe hoch und stapfte hinter Salesia Pfyffer in die Wohnung. Sie führte mich in ein Schlafzimmer, das jenem in Einsiedeln verblüffend ähnlich sah: die gleichen wuchtigen Möbel im Empirestil, eine stillstehende Pendeluhr und Bildnisse von übel gelaunten Ahnen in vergoldeten Rahmen.

Ich legte die Tote auf das Bett und wickelte sie aus der himmelblauen Tagesdecke. Als ich damit fertig war, stand ich auf und betrachtete das Ergebnis: Das Kleid war an einigen Stellen zerknittert, das Stoffblümlein ein wenig verrutscht, die goldene Kette hing unvorteilhaft über die linke Schulter – aber das sollte nicht mehr meine Sache sein.

Ich bemerkte, wie sich Salesia Pfyffers Blick verschleierte und zog mich zum Fenster in der Erkernische zurück. Das Haus stand direkt an der Reuss, in unmittelbarer Nähe zum Nadelwehr, und bot einen unbekannten Ausblick auf die alte Stadt mit ihren Türmen, ihren Brücken und Bürgerhäusern. Ich versenkte mich in den Anblick des Wassers, das wie eine gläserne Strasse entlang der geschwungenen Häuserzeile verlief.

Salesia Pfyffer in meinem Rücken räusperte sich. «Danke …»

Ich drehte mich um.

«Wollen wir eine Tasse Kaffee trinken?»

An ihrem unversehrten Make-up erkannte ich, dass sich ihre Trauer nicht allzu tränenreich geäussert hatte. Sie führte mich in die Küche, legte eine Kapsel in die Maschine, drückte einen Knopf. Mit der Erklärung, sie wolle schnell ihren Hausarzt verständigen, verliess sie den Raum.

Als sie kurz darauf zurückkam, war ich gerade daran, einen zweiten Kaffee herauszulassen.

«Er kommt noch vor Mittag vorbei … Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie bis dann bleiben könnten.»

Wir setzten uns an den Küchentisch.

«Haben Sie sonst niemanden, den Sie benachrichtigen möchten?»

«Meine Tante. Sie wohnt hier. Ich will es ihr nicht am Telefon sagen.»

Sie steckte sich eine Zigarette an, schob mir die Packung zu.

«Ich habe unserem Hausarzt alles erklärt; er ist ein Freund der Familie. Ich möchte nicht, dass die Polizei eingeschaltet wird. Meine Mutter soll ihren Frieden haben – ich glaube, das geschieht in ihrem Sinn.»

Ich konnte nicht widerstehen und griff mir eine Zigarette. Salesia Pfyffer gab mir Feuer.

«Und wie gedenken Sie vorzugehen?»

Ich musste sie wohl etwas verständnislos angeschaut haben, denn sie sagte ein wenig ungehalten: «Ich spreche von meinem Vater. Wie Sie vorhaben, ihn ausfindig zu machen.»

Ich setzte eine zerstreute Miene auf. «Ach so. Nun ja, ich müsste alles über ihre Mutter erfahren – vor allem aus der Zeit vor Ihrer Geburt. Falls es Tagebücher gibt, Briefe, irgendwas Schriftliches, so muss ich das sehen; zudem möchte ich mich mit Freunden und Bekannten ihrer Mutter unterhalten.»

«In Ordnung. Aber versprechen Sie sich nicht zuviel davon. Meine Mutter war eine äusserst diskrete Person. Im Übrigen soll niemand erfahren, dass ich einen Privatdetektiv mit der Suche nach meinem Vater beauftragt habe. Da müssen Sie wohl mit mir und der Schwester meiner Mutter vorlieb nehmen.»

«Beginnen wir damit, was Sie mir erzählen können.»

Bis es ein wenig später an der Tür klingelte, erfuhr ich, dass das Leben von Charlotte Johanna Pfyffer eher unspektakulär verlaufen war. Geboren 1943 in eben diesem Haus, verlebte sie eine unbeschwerte, von den Nöten der Zeit unbehelligte Kindheit. Nach der Primarschule besuchte sie das Töchtergymnasium und ging fürs Lyzeum an die Kantonsschule, die damals noch im «Jesuitenquartier» untergebracht war. Aus Gründen, über die sie später mit ihrer Tochter nicht sprechen wollte, wechselte sie im dritten Trimester des ersten Lyzeums an ein Mädchenpensionat, wo sie eine Bürolehre machte. Danach hatte sie einige Monate in Paris und Rom verbracht, um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen und – wie Salesia Pfyffer anmerkte – wohl auch ein wenig, um ihrer Neigung zum grossstädtischen Savoir-vivre nachzuleben. Wieder in Luzern, hatte sie als Sekretärin und Empfangsdame gearbeitet, bis sie schliesslich eine Anstellung auf dem Sekretariat der Erziehungsdirektion fand. Nachdem sie 1973 ihre Tochter zur Welt gebracht hatte, zog sie sich aus dem Erwerbsleben zurück.

Um finanzielle Belange hatte sie sich scheinbar nie zu kümmern gebraucht. Wie ich später ausfindig machen sollte, waren sie und ihre Schwester in den Genuss des grossen Vermögens gekommen, das ihr Vater durch Immobilien und weitreichenden Landbesitz erworben hatte.

Es vergingen beinahe zwei Wochen, ohne dass ich von Salesia Pfyffer etwas hörte. Ich hatte mich bereits mit dem Gedanken abgefunden, sie habe es sich inzwischen anders überlegt. Ohnehin war mir nicht ganz wohl bei der Sache. Erstens hatte ich meine Zweifel, ob die Suche nach ihrem Vater wirklich Stoff für einen Kriminalroman barg, und zweitens war mir in der Zwischenzeit nicht entgangen, wie naiv, ja geradezu fahrlässig ich vorgegangen war. Was, wenn Charlotte Pfyffer nicht Selbstmord begangen hatte? Wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – ermordet worden war, und ihre Tochter ein Interesse daran hätte, dies zu vertuschen? Ich hatte keine Sekunde daran gedacht, die Tote auf Spuren von Gewalt – blutunterlaufene Stellen etwa oder Nadeleinstiche – zu untersuchen. Stattdessen hatte ich bereitwillig bei der Spurenverwischung mitgeholfen und an allen erdenklichen Stellen meine Fingerabdrücke hinterlassen.

Anderseits hätte ich das in Aussicht gestellte Honorar gut gebrauchen können. Dies hätte es mir auch leichtgemacht, über gewisse Ungereimtheiten grosszügig hinwegzusehen. Mein Entschluss weiterzumachen stand also fest, als mich Salesia Pfyffer wieder anrief. Sie sei in den letzten Tagen wegen des Todes ihrer Mutter «äusserst beansprucht» gewesen, entschuldigte sie sich und bestellte mich für den Nachmittag zu sich nach Hause.

Ich lehnte mein Velo an die Hausmauer und klingelte an der Tür. Salesia Pfyffer bat mich, unten zu warten, sie werde gleich kommen. Ich steckte mir eine Zigarette an – hatte ich es doch nicht übers Herz gebracht, meine Kioskfrau zur blossen Zeitungshändlerin zu degradieren –, und entnahm der Tafel links des Eingangs, dass die Gebrüder Pfyffer das Gebäude schon bald nach dessen Erstellung im Jahr 1579 den Jesuiten überlassen hatten.

Salesia Pfyffer war hübscher, als ich sie in Erinnerung hatte. In ihren schwarzen Stiefeletten, den schwarzen Strümpfen und dem ebenfalls schwarzen Kaschmirmantel strahlte sie dezente Eleganz aus. Sie lächelte verhalten, kramte in ihrer Handtasche und zog eine Zigarette hervor. Ich gab ihr Feuer.

«Danke.» Sie blies den Rauch zur Seite. «Macht es Ihnen etwas aus, mich zum Grab meiner Mutter zu begleiten?»

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie voran. Sie hatte den Kopf leicht gehoben und besah ihre Umgebung mit wachem Blick. Bemerkenswert fand ich, dass sie den Passanten auf unserem Weg neugierig in die Augen sah.

«Sie können sich gar nicht vorstellen, was für eine komplizierte Angelegenheit der Tod ist …», sagte sie, während wir die Reuss an ihrer schmalsten Stelle überquerten. «Sie müssen die Stadt informieren, die Todesbescheinigung vorbeibringen, die AHV, die Kranken- und die Pensionskasse verständigen. An tausend Dinge müssen Sie denken! Das Treffen mit dem Geistlichen, Kirchenmusik, Gottesdienstgestaltung. Nicht zu vergessen die Todesanzeige. Ach, Sie können sich das gar nicht vorstellen.»

Ihr Blick hüpfte von Passant zu Passant, während jedes ihrer Worte von lebhaften Gebärden begleitet wurde.

«Aber das Schlimmste ist die Angst, Sie könnten vergessen, jemanden zu benachrichtigen.»

Wir mussten einer Gruppe Touristen ausweichen, die sich um ihren Reiseleiter scharte.

«Mich haben Sie vergessen!»

Zum ersten Mal, seit wir aufgebrochen waren, sah sie mir in die Augen. Ihr Mund stand ein wenig offen, die Brauen hatte sie unter die Stirnfransen gezogen.

«Ach, Sie versuchen wieder witzig zu sein.»

Sie sah wieder gerade aus.

«Ich hatte bisher also kaum Zeit, die Sachen meiner Mutter durchzusehen. Dass sie Tagebuch führte, schliesst meine Tante allerdings aus. Alles, was ich auftreiben konnte, sind ein Brief, den meine Mutter während eines Aufenthalts im Heiligen Land an ihre Schwester geschrieben hatte, einige Ansichtskarten von anderen Destinationen und zwei Briefe ihres väterlichen Freundes.»

Sie blieb stehen, zog ein Couvert aus ihrer Handtasche und reichte es mir. Nachdem ich einen Blick auf den gelben Umschlag geworfen hatte, rollte ich ihn zusammen und steckte ihn in meine Jackentasche.

«Die Kopie des Vertrags habe ich übrigens auch beigelegt», sagte sie, während wir weitergingen.

«Was verstehen Sie unter ‹väterlicher Freund›?»

«Was es bedeutet: eine Freundschaft zwischen zwei Menschen, die mindestens eine Generation auseinanderliegen.»

«Und wer ist dieser Mann?»

«Sein Name ist Alois Walter. Er konnte leider nicht an der Abdankungsfeier teilnehmen.»

«Wegen seines Alters?»

«Ja, zudem, wissen Sie – er ist Jesuit.»

«Jesuit … Na und?»

«Er hat sich im liberalen Luzern nie sehr wohl gefühlt …»

«Wir leben im Jahr zweitausendundeins! Soviel ich weiss, sind die Jesuiten seit gut dreissig Jahren wieder salonfähig …»

«Trotzdem, er ist jetzt ein alter Mann, weit über achtzig. Er sagt, er verlasse Bad Schönbrunn nur noch im äussersten Notfall.»

Eine Weile gingen wir schweigend.

«Ihre Mutter wurde im Hof beigesetzt, richtig?»

«Genau. Wir haben dort ein Familiengrab.»

Die Hofkirche sah mit ihren beiden gotischen Türmen stoisch auf die Stadt hinunter, die sie einst vollumfänglich beherrscht hatte. Während wir die Stufen des gewaltigen Treppenaufgangs nahmen, vermittelte sie einem das Gefühl, mit jedem Schritt kleiner und unbedeutender zu werden. Nur Salesia Pfyffer schien das nicht zu beeindrucken.

Auf dem Kirchenplatz angekommen, schlug sie auf der Nordseite den leicht ansteigenden Hohlweg zu den Gräberhallen ein. Neben dem Eingang zur St.-Leonhards-Kapelle stand ein hölzernes Grabkreuz mit bronzenem Heiland, darüber war in weisser Schrift zu lesen: Charlotte Pfyffer, 19432001. Auf einem Gestell ruhte ein blütenbesteckter Lorbeerkranz mit synthetisch schimmernder kardinalroter Schleife, am Boden standen zahlreiche Gestecke und Blumensträusse. Auf einem schwarzen Marmorepitaph an der Wand waren mit goldenen Lettern die Namen und Lebensdaten einiger Ahnen vermerkt.

Salesia Pfyffer entnahm ihrer Handtasche eine Grabkerze, zündete sie an und stellte sie auf die Grabplatte. Dann senkte sie den Blick und verharrte regungslos.

Ich trat einen Schritt zurück und sah mir die Grabstätten an. Meist waren die Inschriften in den Sandstein eingraviert, an manchen Platten waren Tafeln oder Wappenschilder angebracht. Immer drei nebeneinander, schätzte ich sie auf höchstens hundertfünfzig Zentimeter Länge. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie darunter ein Sarg Platz haben sollte.

Eine ältere Frau näherte sich unter den Arkaden und verwickelte Salesia Pfyffer in ein Gespräch.

Als wir uns kurz darauf entfernten, sagte ich: «‹Jaja, das Herz, das Herz.› Alle glauben, dass Ihre Mutter eines natürlichen Todes gestorben ist …»

«Alles andere würde nur unnötig Verwirrung stiften.»

«Und der Arzt hat den Totenschein anstandslos ausgestellt?»

«Er hatte Verständnis für die Situation.»

Sie blieb stehen und senkte die Stimme: «Wissen Sie, meine Mutter hat mit niemandem darüber gesprochen – nicht einmal mit mir. Ich habe es auch erst von unserem Hausarzt erfahren…»

«Was denn?», widersetzte ich mich der Geheimnistuerei.

Sie wandte den Blick zur Seite. «Meiner Mutter stand eine Operation am Herzen bevor. Sie soll eine Heidenangst gehabt haben, obschon der Arzt ihr versichert hatte, dass es ein reiner Routineeingriff sei.»

«Ach so?», sagte ich skeptisch.

Sie ging wieder weiter. «Warum plötzlich so misstrauisch? Sie haben doch alles gesehen.»

«Eben hab ich nichts gesehen. Ich hätte die Leiche auf Spuren von Gewalt untersuchen müssen …», sagte ich und bereute es umgehend.

Wir waren an der grossen Freitreppe angelangt. Salesia Pfyffer pomadisierte sich die Lippen, liess den Stift in ihre Handtasche gleiten und fixierte mich mit ihren grossen braunen Augen. «Haben Sie mich etwa im Verdacht? Das ist widerlich. Und überhaupt, was versprechen Sie sich davon? Sie wollen doch nicht gegen die Person ermitteln, die Sie bezahlt.»

Sie griff sich eine Zigarette, kam meinem Feuerzeug zuvor und stiess den Rauch energisch zur Seite.

Ich wartete, bis das Nikotin seine Wirkung tat.

«Gehen wir was trinken? Ich lade Sie ein.»

Sie hatte die Augenbrauen unter die Stirnfransen gezogen.

«Rebstock», schlug ich vor.

Wir hatten an einem Zweiertisch in der Gaststube Platz genommen. Schon Kafka soll seinerzeit hier geweilt haben. Nicht, dass das damals irgendwen interessiert hätte. Wir sassen schon eine geraume Weile an unserem Tisch und mussten mit anhören, wie die Pächterin einen jungen Kellner zurechtwies.

Als sie hinter dem Ausschank hervortrat, erblickte sie Salesia Pfyffer und kam an den Tisch. Sie begrüsste sie und bekundete ihr Beileid, wobei sie ihre Hand mit der Rechten hielt und mit der Linken deckte. Salesia Pfyffer nahm die Huldigung mit aristokratischer Gelassenheit entgegen und bestellte schliesslich eine Cola light.

«Und was darf ich Ihnen bringen?»

Trotz des Lächelns hatte sich ihr Gesichtsausdruck unmerklich verändert, sodass ich mich fragte, ob man mir die einfache Herkunft ansah. Ich hätte jetzt ein Bier vertragen können, stattdessen bestellte ich einen Pfefferminztee.

Während sie sich entfernte, wurde Salesia Pfyffers Aufmerksamkeit von einer Gesellschaft in Anspruch genommen, die unter lautem Stimmengewirr das Lokal betrat.

Nachdem der Kellner die Getränke gebracht hatte, sagte ich: «Ihre Mutter war eine gläubige Katholikin, nicht wahr?»

Ohne den Blick von der Gesellschaft zu wenden, die sich umständlich um einen langen Tisch verteilte, erwiderte sie: «Ich bin es im Übrigen auch.»

Ich wartete eine Weile und sagte: «Möchten Sie sich lieber zu denen setzen? Ich kann auch die Zeitung lesen.»

Sie sah mich fragend an. «Wie bitte?»

«Es ist nicht gerade angenehm, mit jemandem ein Gespräch zu führen, der mit seinen Augen dauernd woanders ist.»

Nun tat sie, was ich als Letztes erwartet hätte: Sie entschuldigte sich. «Ich weiss, dies ist eine Unart von mir.»

Sie sah mir in die Augen und begann zu lächeln. Dabei zeichneten sich winzige Falten auf ihrer Nasenwurzel ab. Etwas, was ich bisher immer für die Übertreibung verkitschter Autoren gehalten hatte, um eine reizende Person zu charakterisieren.

Ich beschloss, dass das Pfefferminzkraut nun lange genug im Wasser gelegen hatte und schenkte mir eine Tasse ein.

«Zur Zeit», begann ich aufblickend, «stehen für mich zwei Fragen im Vordergrund: Warum wollte Ihre Mutter unbedingt verhindern, dass Sie Ihren Vater kennenlernen? Und wer ausser Ihrem Vater könnte die Wahrheit kennen?»

Ich trank und verbrannte mir die Zunge und mindestens die halbe Speiseröhre. Verärgert stellte ich die Tasse wieder ab.

«Vielleicht gehörte Ihr Vater der falschen Konfession an …»

Ich machte eine Pause und fragte: «Wurde Ihre Tante eigentlich auch mit der Geschichte des adligen Engländers abgespiesen?»

«Sie sagt Ja. Aber vermutlich weiss sie mehr.»

«Warum glauben Sie das?»

«Weil sie nur widerwillig über die Zeit vor meiner Geburt spricht. Ich habe auch keine Lust, sie zu drängen.»

Ich registrierte einen Anflug von Unmut auf ihrem Gesicht.

«Sie haben diesen Jesuiten erwähnt. Ist es denkbar, dass er uns weiterhelfen könnte?»

«Könnte sein, ja. Er war über viele Jahre ihr Beichtvater. Er kannte sie wahrscheinlich besser als irgendwer sonst. Aber dass er dazu bereit ist, bezweifle ich.»

«War Ihre Mutter über die Weihnachtstage zweiundsiebzig in Luzern?»

«Abgesehen von kleineren Ausflügen in die Berge, ja.»

«Sie haben das also bereits überprüft?»

«Meine Tante hat es mir erzählt.»

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. «Was denken Sie?»

«Ich? Ich bin genau so ratlos wie Sie. Manchmal wünschte ich, ich könnte noch immer an die Geschichte mit dem Engländer glauben, den meine Mutter eines schönen Winters in Zermatt kennenlernte.»

«Ihre Mutter erwähnte, er sei adliger Abstammung gewesen?»

«Das gehörte zum Märchen.»

«Aber darauf legte sie wert.»

«Ja, schon.»

«Ihre Mutter hatte ein ausgeprägtes Standesbewusstsein, richtig?»

Salesia Pfyffer zündete sich eine Zigarette an. «Worauf wollen Sie hinaus?»

«Richtig oder falsch?»

Sie presste die Lippen zusammen.

Da ich einsah, dass ich so nicht weiterkam, erkundigte ich mich, ob sie in festen Händen sei. Sie lachte auf, stellte die Relevanz der Frage in Abrede.

«Ich will nur wissen, ob Sie einen Freund haben – ja oder nein?»

«Ja, ich habe einen Freund …»

«Patrizier?»

«Was?»

«Ob er patrizischer Herkunft ist!»

«Glauben Sie im Ernst, dass das für mich eine Rolle spielt?»

Ich griff nach der Tasse, liess sie dann aber an Ort und Stelle.

«Also kein Patrizier … Hat Ihre Mutter ihn gekannt?»

«Sie hat ihn ein paar Mal gesehen.»

«Und? Hat sie sich gut mit ihm verstanden?»

Sie machte ein Gesicht, als hätte ich einen wunden Punkt berührt.

«Also nicht wirklich … Darf ich raten? War sein Familienname zu wenig klingend in ihren …»

«Das hat doch damit nichts zu tun. Sie …»

«Ja?»

«Sie fand ihn – ordinär: seine Ausdrucksweise, seine Begeisterung für Sportwagen … Dass er mich ‹Chäferli› nennt.»

«Er nennt Sie ‹Chäferli›?»

«Im Spass, manchmal. Meine Mutter hat sich ein Urteil angemasst, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte.»

«Haben Sie sich deswegen gestritten?»

«Ein, zwei Mal. Aber es führte zu nichts. Meine Mutter behauptete immer, im Leben eines Menschen könne es nur eine einzige grosse Liebe geben. Man müsse sich daher gut überlegen, auf wen man sich einlasse.»

Ich bat den Kellner, der eben die Gesellschaft versorgt hatte, eine Flasche Mineral zu bringen. Um zu verhindern, dass Salesia Pfyffer ihre Aufmerksamkeit dem Nachbartisch zuwandte, erkundigte ich mich, ob viele Leute zur Beerdigung gekommen seien.

«Geht so …»

«Was heisst das?»

«Vielleicht dreissig, vierzig Leute …»

«Das ist nicht gerade viel für eine bekannte Persönlichkeit.»

«Ihr ironischer Ton gefällt mir nicht!»

«Hab ich? Das war nicht meine Absicht. Dreissig Personen sind wirklich nicht viel.»

Salesia Pfyffer drückte die Zigarette aus. «Meine Mutter verbrachte die letzten Jahre sehr zurückgezogen, der Kontakt mit Freunden und Bekannten beschränkte sich auf ein Minimum.»

Eine Gelächtersalve vom Nebentisch zerriss die nachmittägliche Restaurantruhe.

«Ist Ihnen jemand Unbekanntes aufgefallen», nahm ich das Gespräch wieder auf, «ein Mann ungefähr im Alter Ihrer Mutter?»

«Ich habe mich nicht nach den Leuten umgeschaut.»

«Und danach? Auf dem Friedhof? Niemand, der aus sicherer Distanz der Bestattung beigewohnt hätte?»

«Sie denken, mein … mein Vater könnte dort gewesen sein?»

«Warum nicht? Vermutlich hat er Ihre Mutter geliebt.»

«Ein Mann muss eine Frau nicht lieben, um sie zu schwängern!», belehrte sie mich.

Nachdem der Kellner das Mineral gebracht hatte, fuhr ich fort: «Und trotzdem. Denken Sie an den Vertrag: Für mich wirkt das wie eine Zurückweisung. Und zurückgewiesen werden in der Regel Menschen, die einen Anspruch geltend machen. Anspruch auf das Sorgerecht, womöglich. Aber vielleicht auch Anspruch auf Zuneigung. Bedenken Sie, dass Ihr Vater die Forderung des Vertrags einhielt, obschon er ihn offensichtlich nicht unterzeichnet und kein Geld angenommen hatte. Das klingt doch irgendwie – nach Entsagung aus Liebe …»

Salesia Pfyffer seufzte.

«Oder ist das zu – romantisch gedacht?»

Der Blick ihrer grossen braunen Augen war warm, aber er galt nicht mir. «Zumindest eine schöne Vorstellung …»

Nachdem sie mir versichert hatte, es sei ihr an der Beerdigung niemand Verdächtiges aufgefallen, brachte ich das Gespräch auf die Geschichte mit dem Engländer.

«Ich kann Ihnen auch nicht mehr erzählen, als Sie bereits erfahren haben.»

«Ihre Mutter lernt in Zermatt einen Engländer kennen, beginnt eine Romanze und wird schwanger, bevor der Mann vom ewigen Eis verschluckt wird. Damit haben Sie sich doch nicht abspeisen lassen!»

Salesia Pfyffer führte das Glas an die Lippen, trank und stellte es wieder ab. Dann begann sie mit leiser Stimme: Eines Abends vor dem Einschlafen, sie müsse da noch ein kleines Mädchen gewesen sein, habe sie ihre Mutter gefragt, warum alle Kinder einen Vater hätten; alle Kinder, nur sie nicht.

«Da erzählte mir meine Mutter das Märchen vom englischen Prinzen, der am Hof eines alpinen Fürsten die» – sie zeichnete Anführungszeichen in die Luft – «‹Frau seines Herzens› trifft. Er gesteht ihr seine Liebe und erfährt, dass seine Gefühle erwidert werden. Die Schwester der Geliebten aber zweifelt an seiner Aufrichtigkeit. Als Beweis seiner Liebe soll er in einer einzigen Nacht den Gornergletscher überqueren. Ohne zu zögern, bricht er noch am folgenden Abend auf. Er wird nie wieder gesehen. Die Geliebte aber kehrt in ihre Heimatstadt zurück, wo sie neun Monate später ein Kind zur Welt bringt.»

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: «Immer aber, wenn es Winter wird und zu schneien beginnt, nimmt die Mutter ihr Kind bei der Hand und führt es nach draussen. Dann blicken sie nach oben, den Schneeflocken entgegen, die sie mit kalten Küssen bedecken. Denn nichts anderes sind diese ersten Schneeflocken als die Küsse des Vaters, der unentwegt an die beiden Menschen denkt, die er auf der Welt am liebsten hat.»

Salesia Pfyffer verstummte und blickte nach draussen.

Ich stellte mir vor, wie sie, als kleines Mädchen, an diese Geschichte geglaubt hatte wie andere an das Christkind.

«Von da an musste meine Mutter das Märchen jeden Abend erzählen. Mit der Zeit variierte sie es ein wenig; und ich stellte mir vor, wie ich den Prinzen eines Tages aus seinem Gefängnis im Gletscher befreien würde. Als ich älter wurde, wollte ich es genau wissen. Aber meine Mutter hielt an der Geschichte fest. Sie habe die Umstände lediglich ins Märchenhafte übersetzt.»

Sie senkte den Blick. «Während eines Streits, ich war da ungefähr siebzehn, nannte ich sie eine Lügnerin. Da sah ich meine Mutter zum ersten Mal in meinem Leben weinen. Danach habe ich sie nicht mehr damit behelligt.»

Als wir ein wenig später das Lokal verliessen, hielt die Stadt unter dem Getöse des Feierabendverkehrs den Atem an. Der Himmel hatte sich bedeckt und war nur noch eine vage Erinnerung an den vergangenen Tag. Schnee lag in der Luft, Schnee, der vielleicht in diesem Augenblick auf die erstarrten Wogen der Alpen fiel, dort in der Ferne, wo der Vierwaldstättersee sich in der Dämmerung verlor.