Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke

Der Plan, unter meinen Gedichten, den schon und den noch nicht veröffentlichten, eine Auswahl zu treffen und in handlichem Format vorzulegen, ist beträchtlich älter als dieser Band, der jenen Plan verwirklicht. Es war seit jeher mein Bestreben, seelisch verwendbare Strophen zu schreiben. Im Widerspruch mit dem eigenen Bedürfnis enthielt ich mich regelmäßig jeder Publikation, die nichts weiter gewesen wäre als die Bekanntgabe persönlicher Stimmungen und Einsichten. Und seit Jahren schwebte mir, wie bereits erwähnt, diese »Lyrische Hausapotheke« vor. Ein der Therapie dienendes Taschenbuch. Ein Nachschlagewerk, das der Behandlung des durchschnittlichen Innenlebens gewidmet ist. Wer Kopfweh hat, nimmt Pyramidon. Wer an Magendrücken leidet, schluckt doppeltkohlensaures Natron. Bei Halsschmerzen gurgelt er mit Wasserstoffsuperoxyd. Und in dem Schränkchen, das Hausapotheke heißt, halten sich, dem Menschen zu helfen, überdies Baldrian, Leukoplast, Choleratropfen,

Der vorliegende Band ist der Therapie des Privatlebens gewidmet. Er richtet sich, zumeist in homöopathischer Dosierung, gegen die kleinen und großen Schwierigkeiten der Existenz. Er betrifft die Pharmazie der Seele und heißt zu Recht »Hausapotheke«. (Hinsichtlich der Homöopathie wäre noch zu bemerken, dass es zweckvoller ist, mit einem Pfeil ins Schwarze als mit einer Granate ins Blaue zu treffen.)

Eine Arzneiflasche ohne Etikett ist – auch das darf nicht unerwähnt bleiben – ebenso unnütz wie ein

Aus dieser Überlegung heraus stellte ich ein Schlagwortregister zusammen. Es folgt der Einleitung, und der Leser soll es benutzen, so oft er Störungen seines Innenlebens mindern oder beheben will. Der Katalog ist, obwohl er von A bis Z reicht, unvollständig. Es gibt zu viele Anlässe, mit sich selber und anderen zu hadern, als dass man dergleichen auf wenigen Seiten übersichtlich und erschöpfend rubrizieren könnte.

Immerhin: Mit Hilfe des Registers werden sich die gereimten Rezepte und Hausmittel in so manchem Fall bewähren können. Stecken Sie das Taschenbuch in die Tasche! Und ziehen Sie’s hervor, wenn Not am Mann ist! Es tut wohl, den eigenen Kummer von einem andren Menschen formulieren zu lassen. Formulierung ist heilsam.

Es ist zudem bekömmlich, zu erfahren, dass es anderen nicht anders und nicht besser geht als uns selber. Es beruhigt aber auch zuweilen, das gerade Gegenteil dessen, was man empfindet, nachzufühlen. Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte

mit einem Register, das von A bis Z reicht

Man lese,

 

wenn das Alter traurig stimmt:

27, 59, 63, 93, 154, 171, 186, 206;

wenn man der Armut begegnet:

45, 57, 61, 70, 92, 139, 151;

wenn die Besserwisser ausgeredet haben:

37, 79, 107, 189, 201;

wenn man das Dasein überschaut:

19, 24, 31, 59, 114, 132;

wenn die Ehe kaputtgeht:

49, 128, 145, 162, 183;

wenn man die Einsamkeit schwer erträgt:

21, 33, 39, 66, 85, 106, 160, 175, 187;

wenn man Erziehung nötig hat:

35, 58, 116, 141, 148, 164;

wenn man zur Faulheit neigt:

119, 134, 181;

35, 37, 74, 107, 165, 201, 203;

wenn man in der Fremde hockt:

39, 53, 95, 134, 177, 197;

wenn der Frühling im Anzug ist:

72, 115, 123, 170, 191;

wenn man an Gefühlsanämie leidet:

21, 22, 44, 100, 112, 117, 156;

wenn man wenig Geld hat:

24, 29, 36, 61, 70, 205;

wenn das Glück zu spät kommt:

59, 87;

wenn uns die Großstadt zum Hals heraushängt:

39, 46, 68, 116, 130, 181;

wenn man an Heimweh leidet:

53, 110, 121, 137;

wenn es Herbst geworden ist:

116, 136, 187;

wenn man an die Jugend denkt:

23, 32, 88, 93, 100, 132, 171, 195;

wenn man Kinder sieht:

23, 65, 78, 139, 145, 206;

47, 92, 110, 156;

wenn man zu wenig von Kunst versteht:

51, 62, 77, 165, 186;

wenn der Lebensüberdruss regiert:

22, 27, 42, 153, 168, 179;

wenn die Liebe entzweiging:

21, 28, 44, 49, 64, 80, 87, 112, 117, 125, 190;

wenn man etwa ein junges Mädchen ist:

28, 64, 102, 108, 117, 130, 141;

wenn man an die Mutter denkt:

95, 121, 137, 154, 173, 179, 197;

wenn man die Natur vergessen hat:

46, 82, 90, 143, 166, 170;

wenn sich Probleme melden:

19, 31, 35, 55, 79, 107, 114, 162, 203, 207;

wenn man auf Reisen geht:

53, 65, 82, 90, 99, 108, 127, 143, 173;

wenn das Selbstvertrauen wackelt:

33, 58, 66, 80, 147, 153;

wenn man vom Schlaf Trost erwartet:

149;

33, 100, 158, 183;

wenn man Unrecht tut oder duldet:

179, 183;

wenn schlechtes Wetter ist:

115, 116, 187, 191, 199;

wenn der Winter dräut:

90, 104, 127;

wenn man glaubt, dass Wohltun Zinsen bringt:

29, 84;

wenn man sich über Zeitgenossen geärgert hat:

26, 40, 43, 68, 78, 104, 127, 193.

Wir sitzen alle im gleichen Zug

und reisen quer durch die Zeit.

Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.

Wir fahren alle im gleichen Zug.

Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft. Ein andrer klagt.

Der Dritte redet viel.

Stationen werden angesagt.

Der Zug, der durch die Jahre jagt,

kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.

Wir finden keinen Sinn.

Wo werden wir wohl morgen sein?

Der Schaffner schaut zur Tür hinein

und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.

Er schweigt und geht hinaus.

Da heult die Zugsirene schrill!

Der Zug fährt langsam und hält still.

Die Toten steigen aus.

Die Toten stehen stumm

am Bahnsteig der Vergangenheit.

Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit.

Und niemand weiß, warum.

Die 1. Klasse ist fast leer.

Ein dicker Mensch sitzt stolz

im roten Plüsch und atmet schwer.

Er ist allein und spürt das sehr.

Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug

zur Gegenwart in spe.

Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.

Wir sitzen alle im gleichen Zug.

Und viele im falschen Coupé.

Das ist mein Zimmer und ist doch nicht meines.

Zwei Betten stehen Hand in Hand darin.

Zwei Betten sind es. Doch ich brauch nur eines.

Weil ich schon wieder mal alleine bin.

Der Koffer gähnt. Auch mir ist müd zumute.

Du fuhrst zu einem ziemlich andren Mann.

Ich kenn ihn gut. Ich wünsch dir alles Gute.

Und wünsche fast, du kämest niemals an.

Ich hätte dich nicht gehen lassen sollen!

(Nicht meinetwegen. Ich bin gern allein.)

Und doch: Wenn Frauen Fehler machen wollen,

dann soll man ihnen nicht im Wege sein.

Die Welt ist groß. Du wirst dich drin verlaufen.

Wenn du dich nur nicht allzu weit verirrst …

Ich aber werd mich heute Nacht besaufen

und bisschen beten, dass du glücklich wirst.

Sei traurig, wenn du traurig bist,

und steh nicht stets vor deiner Seele Posten!

Den Kopf, der dir ans Herz gewachsen ist,

wird’s schon nicht kosten.

Da steht er nun, als Mann verkleidet,

und kommt sich nicht geheuer vor.

Fast sieht er aus, als ob er leidet.

Er ahnt vielleicht, was er verlor.

Er trägt die erste lange Hose.

Er spürt das erste steife Hemd.

Er macht die erste steife Pose.

Zum ersten Mal ist er sich fremd.

Er hört sein Herz mit Hämmern pochen.

Er steht und fühlt, dass gar nichts sitzt.

Die Zukunft liegt ihm in den Knochen.

Er sieht so aus, als hätt’s geblitzt.

Womöglich kann man noch genauer

erklären, was den Jungen quält:

Die Kindheit starb; nun trägt er Trauer

und hat den Anzug schwarz gewählt.

Er ist nicht groß. Er ist nicht klein.

Und morgen früh tritt er hinein.