Titelseite

Ich heiße Felix Vorndran,

und man braucht nicht viel Phantasie, um sich die blöden Bemerkungen vorzustellen, die ich mir wegen dieses Namens anhören muss. Manchmal wünschte ich, meine Eltern hätten sich bei ihrer Heirat auf den Nachnamen meiner Mutter geeinigt. Neumann ist so ein richtig schön langweiliger Allerweltsname. Aber mein Vater ist Architekt, und als er meine Mutter kennenlernte, hatte er gerade einen wichtigen Wettbewerb gewonnen, für den Entwurf einer Schwimmhalle. Das Dach schwebte sehr elegant in der Luft, und wahrscheinlich ist das Schwimmbad deswegen auch nie gebaut worden. Aber mein Vater bekam den ersten Preis und sein Name stand in der Zeitung. Da wollte er ihn natürlich behalten.

Im September bin ich zwölf geworden und seit den Sommerferien gehe ich in die sechste Klasse des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums. Das zumindest stimmt. Das steht schwarz auf weiß auf meinem Schülerausweis. Da ist sogar der Schulstempel drauf. Und mein Foto. Obwohl, das auf dem Foto könnte auch jemand anderes sein. Als der Fotograf in unsere Klasse kam und wir uns aufstellen mussten, hat Ella mir irgendwas zugeflüstert. Genau in dem Moment, in dem ich ihr den Kopf zuwandte, hat der Fotograf abgedrückt. Jetzt sieht man auf dem Foto nur meine Haare, und die sind ziemlich lang. Aber ich weiß, dass ich es bin. Der Fotograf hatte es furchtbar eilig – wir waren die fünfte Klasse an diesem Tag und er war genervt, weil Mario die ganze Zeit irgendwelche Verrenkungen machte und beim Gruppenfoto seinem Vordermann mit gespreizten Fingern Hörner aufsetzte, und weil Robert mit seiner Luftpumpe herumfuchtelte.

Ich sehe das alles noch deutlich vor mir, aber hat es sich auch so abgespielt? Ich kann meiner Erinnerung nicht mehr trauen. Seit dem 25. Oktober. Ich erinnere mich zwar genau daran, was an diesem Tag und auch an den folgenden Tagen geschah, aber ich könnte nicht mehr beschwören, dass sich alles auch so abgespielt hat. Ich habe keinen Beweis, nicht einen einzigen. Dabei hätte ich nur mal zur Digitalkamera meines Vaters greifen und ein Foto oder auch zwei machen müssen. Aber Fotos kann man manipulieren, es ist ein Kinderspiel, einen Zweimetermann so mit dem Hintergrund zusammenzumontieren, dass es aussieht, als sei er ein Zwerg. Nein, auch ein Foto wäre kein Beweis gewesen. Den einzigen, richtigen Beweis, den ich hatte, hab ich mir wegnehmen lassen. Kein Wunder, dass mir niemand glaubt.

Ich habe beschlossen, alles aufzuschreiben. Tag für Tag, Stunde für Stunde. Vielleicht kann ich dann entscheiden, ob alles nur ein Traum war oder Wirklichkeit.

Heute ist Mittwoch, der sechste November. Ich weiß nicht, wann ich mit meiner Geschichte fertig bin. Meine Deutschlehrerin meint immer, ich muss aufpassen, dass ich in meinen Aufsätzen nicht abschweife und von Dingen erzähle, von denen sie findet, dass sie mit dem Thema nichts zu tun haben. Ich schreibe eben gern. Wenn ich einmal angefangen habe, fällt es mir schwer, wieder aufzuhören. Aber ich werde mir Mühe geben, diesmal bei der Sache zu bleiben. Versprechen kann ich es allerdings nicht.