Metamorphosen

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Über dieses Buch

12000 Verse voller Liebe, Begierde und Gewalt, das sind die Metamorphosen Ovids. Das Opus Magnum des römischen Dichters, das neben Vergils Aeneis zu den bedeutendsten literarischen Werken der römischen Antike zählt, umfasst 250 Verwandlungssagen – beginnend mit der Schöpfung des Universums und endend mit dem Tod und der Vergöttlichung Julius Caesars. Von einer Sage geschickt in eine andere überleitend, erschuf Ovid mit gewaltigen sprachlichen Bildern und fantastischen Geschichten ein Versepos, das von William Shakespeare bis hin zu Salman Rushdie zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beeinflusste. Die Übertragung des vielfach ausgezeichneten Heidelberger Emeritus Michael von Albrecht gilt als die beste Prosaübersetzung dieses bedeutenden antiken Werks.

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Endnoten

  1. Zur Erklärung der Eigennamen siehe das »Verzeichnis der Eigennamen« (S. 509570).

  2. Vgl. G. Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. 1: Das Altertum, Leipzig/Berlin 1907; 3., stark verm. Aufl. Frankfurt a. M. 1949/50 (in zwei Hälften). Wichtige Vorstufen bei W. Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter. Livius Andronicus, Naevius, Ennius, Hildesheim 1968. Siehe auch A. Sizoo, »Autobiographie«, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 1, hrsg. von Th. Klauser, Stuttgart 1950, Sp. 105055.

  3. Amores ii 1,1 und 16,1 ff.; iii 15,7 ff.; Tristia iv 10,3; Fasti iv 81.

  4. W. Stroh, »Ein mißbrauchtes Distichon Ovids«, in: Ovid, hrsg. von M. v. Albrecht und E. Zinn, Darmstadt 1968, S. 567580 (Wege der Forschung, 92).

  5. Siehe: Ovid, Die Liebeskunst, übers. von M. v. Albrecht, München 1979; lat./dt., Stuttgart 1992.

  6. H. Dörrie, Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968.

  7. J. C. Thibault, The mystery of Ovid’s exile, Berkeley / Los Angeles 1964.

  8. Vorbereitende Funktion haben in diesem Sinne die Schlüsse folgender Bücher: i, ii, iii, vi, xi, xii, xiv.

  9. W. Ludwig, Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids, Berlin 1965. Siehe daneben auch: H.-B. Guthmüller, Beobachtungen zum Aufbau der Metamorphosen Ovids, Diss. Marburg 1964.

  10. So im Eingang des fünften, neunten, zwölften, dreizehnten und fünfzehnten Buches.

  11. Über Parallelen zwischen Buch v, x und xv siehe: A. Bartenbach, Motiv- und Erzählstruktur in Ovids Metamorphosen, Frankfurt a. M. 1990.

  12. Vgl. das erste, das zweite und das elfte Buch.

  13. Vgl. C. Tsitsiou-Chelidoni, Ovid, Metamorphosen Buch viii. Narrative Technik und literarischer Kontext, Frankfurt a. M. 2003.

  14. Übergreifen des Themas eines Buches auf den Anfang des folgenden beobachten wir im Eingang des achten, des neunten und des elften Buches.

  15. Vgl. z. B. die Tereus-Geschichte (vi 412 ff.); das Stichwort Athen wird sogar stark hervorgehoben: vi 421. Die Wahl der Übergangstechnik ist keineswegs zufällig und äußerlich.

  16. B. Otis, Ovid as an epic poet, Cambridge 21971, S. 84 f.

  17. A. Bartenbach (s. S. 580, Anm. 10); C. Tsitsiou-Chelidoni (s. S. 581, Anm. 12).

  18. R. Heinze, Ovids elegische Erzählung, Leipzig 1919; wiederabgedr. in: R. H., Vom Geist des Römertums, hrsg. von E. Burck, Darmstadt 31960, S. 308403. Zu Kallimachos s. jetzt Tsitsiou-Chelidoni (s. die vorige Anm.).

  19. M. v. Albrecht, »Vondels niederländischer Ovid – ein poetisches Testament«, in: Lampas 12 (1979) S. 154172; wiederabgedr. in: M. v. A., Rom: Spiegel Europas, Heidelberg 1988, S. 179203.

  20. Bei Augustinus, De civitate Dei vi 5.

  21. H. Dörrie, »Wandlung und Dauer. Ovids Metamorphosen und Poseidonios’ Lehre von der Substanz«, in: Der altsprachliche Unterricht 4,2 (1959) S. 95116.

  22. H. Fränkel, Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten, Darmstadt 1970, S. 80120.

  23. C. Heselhaus, »Metamorphosen-Dichtungen und Metamorphosen-Anschauungen«, in: Euphorion 47 (1953) S. 121148; E. Zinn, »Rainer Maria Rilke und die Antike«, in: Antike und Abendland 3 (1948) S. 201250; wiederabgedr. in: E. Z., Viva Vox, Frankfurt a. M. 1994, S. 315377; M. v. Albrecht, »Metamorphose in Raum und Zeit. Vergleichende Untersuchungen zu Ovid und Rodin«, in: Teilnahme und Spiegelung. Festschrift H. Rüdiger, Berlin / New York 1975, S. 5586; wiederabgedr. in: M. v. A., Rom: Spiegel Europas, Heidelberg 1988, S. 517568.

  24. Beispielsweise H. Tränkle, »Elegisches in Ovids Metamorphosen«, in: Hermes 91 (1963) S. 459476.

  25. S. Viarre, La survie d’Ovide dans la littérature scientifique des XIIe et XIIIe siècles, Poitiers 1966.

  26. A. Dinter, Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel, Heidelberg 1979. (Studien zum Fortwirken der Antike, unter Mitwirkung von W. Marg herausgegeben von M. v. Albrecht und H. Rüdiger, Bd. 11.)

  27. M. Beller, Philemon und Baucis in der europäischen Literatur. Stoffgeschichte und Analyse, Heidelberg 1967. (Studien zum Fortwirken der Antike, Bd. 3.)

  28. F. Schmitt-von Mühlenfels, Pyramus und Thisbe. Rezeptionstypen eines Ovidischen Stoffes in Literatur, Kunst und Musik, Heidelberg 1972. (Studien zum Fortwirken der Antike, Bd. 6.)

  29. Ovid, Metamorphosen, Buch x: »Mythen um Orpheus«, ill. von M. Henninger, übers. von E. Zinn, mit einer Einl. von K. Kerényi, Heidenheim 1969.

  30. H. Finsterlin, Verwandlungen des Zeus. Erotische Miniaturen, Stuttgart 1970.

  31. Mac Zimmermann, Ölbilder, Zeichnungen, Graphik, Katalog zur Ausstellung im Kulturhaus Wiesloch vom 24. 2. bis zum 16. 3. 1980.

  32. Vgl. U. Reinhardt, Ovids ›Metamorphosen‹ in der modernen Kunst, Bamberg 2001. Ausführlicher zum Fortwirken s. M. v. Albrecht, Gesch. der röm. Lit., Bd. 1, 2. Aufl. München 1997, S. 644648; (engl. Leiden 1997), S. 813819 (Lit.); ders., Das Buch der Verwandlungen, Düsseldorf 2000, S. 311368.

  33. B. Britten, Six metamorphoses after Ovid (1951), op. 49, for oboe solo, London 1952 (Boosey & Hawkes). – Zur Vertonung von Ovid-Texten siehe: J. Draheim, Vertonungen

  34. antiker Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Mit einer Bibliographie der Vertonungen für den Zeitraum von 1700 bis 1978 (Diss. Heidelberg 1978), Amsterdam 1980, S. 211214 und 260 f.

  35. M. v. Albrecht, »Ovids Arachne-Erzählung«, in: Mitteilungen für Lehrer der Alten Sprachen (Baden-Württemberg) 10,1 (1979) S. 412.

  36. »Brief an Harriet Monroe, 16. 7. 1922«, in: W. Stroh, Ovid im Urteil der Nachwelt. Eine Testimoniensammlung, Darmstadt 1969, S. 130.

  37. Vgl. meinen Aufsatz zu Ovid und Rodin (s. S. 598, Anm. 22).

  38. M. v. Albrecht, »Der verbannte Ovid und die Einsamkeit des Dichters im frühen xix. Jahrhundert. Zum Selbstverständnis Franz Grillparzers und Aleksandr Pukins«, in: Arcadia 6 (1971) S. 1643; wiederabgedr. in: M. v. A., Rom: Spiegel Europas, Heidelberg 1988, S. 433469.

  39. Goethes Werke, herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. 1, Bd. 27: Dichtung und Wahrheit, Teil 2, Buch 10, Weimar 1889, S. 319 f.

  40. Geschrieben 1981. Die alte Übersetzung von A. v. Rode ist mir erst nachträglich durch G. Finks selbständige Bearbeitung (München 1989) bekannt geworden. Meine Übertragung (erstmals 1981) ist von jener völlig unabhängig.

  41. Bei Henninger (s. S. 599, Anm. 28).

  42. Homer, Die Odyssee, übersetzt in deutsche Prosa von W. Schadewaldt, Hamburg 1958, S. 321326.

  43. Aristophanes’ Werke, übers. von L. Seeger (184548), neue Aufl., Stuttgart/Berlin 1910, Bd. 1, S. 27 f.

  44. A. W. v. Schlegel, »Rezension über: Homers Werke von Johann Heinrich Voß« (Altona 1793; erstmals erschienen), in: Jenaische allgemeine Litteraturzeitung 1796. Wiederabgedr. in: A. W. von Schlegels sämmtliche Werke, hrsg. von E. Böcking, Bd. 10 (Vermischte und kritische Schriften, Bd. 4), Nachdr. der Ausg. Leipzig 1846, Hildesheim / New York 1971, S. 115 ff. – In einer Anmerkung zum zweiten Abdruck des Aufsatzes 1801 revidiert Schlegel die Kritik etwas, im Nachwort zum dritten Abdruck 1827 kehrt er zu seinen ursprünglichen Ansichten zurück.

  45. W. Kraus, »Forschungsbericht über Ovid, Metamorphosen«, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 16 (1963) Sp. 114.

Erstes Buch

Vorwort des Dichters

Von Gestalten zu künden, die in neue Körper verwandelt wurden, treibt mich der Geist. Ihr Götter – habt ihr doch jene Verwandlungen bewirkt –, beflügelt mein Beginnen und führt meine Dichtung ununterbrochen vom allerersten Ursprung der Welt bis zu meiner Zeit!

Entstehung der Welt und des Menschen

[5] Ehe es Meer, Land und den allumschließenden Himmel gab, hatte die ganze Natur ringsum einerlei Aussehen; man nannte es Chaos: eine rohe, ungeordnete Masse, nichts als träges Gewicht und auf einen Haufen zusammengeworfene, im Widerstreit befindliche Samen von Dingen, ohne rechten Zusammenhang. [10] Noch kein Titan spendete der Welt Licht, keine Phoebe ließ ihr Mondhorn immer wieder aufs neue nachwachsen. Keine Tellus schwebte in der Luft, die sich um sie ergoss, und hielt sich durch ihre eigene Schwerkraft im Gleichgewicht; keine Amphitrite hatte die Arme weit um den Rand der Länder gespannt. [15] Zwar gab es da Erde, Wasser und Luft; doch konnte man auf der Erde nicht stehen, die Woge ließ sich nicht durchschwimmen, und die Luft war ohne Licht. Keinem Ding blieb die eigene Gestalt, im Wege stand eines dem anderen, weil in ein und demselben Körper Kaltes kämpfte mit Heißem, Feuchtes mit Trockenem, [20] Weiches mit Hartem, Schwereloses mit Schwerem.

Diesen Streit schlichtete ein Gott und die bessere Natur. Er schied nämlich vom Himmel die Erde und von der Erde die Gewässer, und er sonderte von der dichten Luft den klaren Himmel. Nachdem er diese vier herausgeschält und aus dem unübersichtlichen Haufen genommen hatte, [25] trennte er sie räumlich und verband sie so in einträchtigem Frieden. Die feurige Kraft des schwerelosen Himmelsgewölbes sprühte empor und schuf sich ganz oben in der höchsten Höhe einen Platz. Am nächsten steht ihr die Luft, was die Leichtigkeit und den Standort betrifft. Dichter als beide ist die Erde; sie zog die wuchtigen Elemente an sich [30] und wurde durch die eigene Schwere nach unten gedrückt. Ringsum strömte das Feuchte, nahm den Rand in Besitz und umschloss das feste Erdenrund.

Kaum hatte er – welcher der Götter es auch sein mochte – das Durcheinander so geordnet, zerschnitten und gegliedert, da ballte er zuerst die Erde zusammen, damit sie auf allen Seiten gleich sei, [35] und gab ihr die Gestalt einer großen Kugel. Dann gebot er den Meeren, sich weithin zu ergießen, von stürmischen Winden gepeitscht anzuschwellen und die Küsten der Erde rings zu umfließen. Dazu schuf er noch Quellen, unermessliche Seen und Teiche. Mit kreuz und quer sich hinschlängelnden Ufern umsäumte er die abschüssigen Ströme, [40] die, an verschiedenen Orten, teils von der Erde selbst verschlungen werden, teils ins Meer gelangen und, von der freieren Wasserfläche aufgenommen, statt an Flussufer an Meeresküsten branden. Er gebot auch den Feldern, sich auszubreiten, den Tälern, sich zu senken, den Wäldern, sich mit Laub zu bekleiden, und den steinigen Bergen, sich zu erheben. [45] Und wie den Himmel zwei Zonen zur Rechten und ebenso viele zur Linken durchschneiden, wobei die fünfte heißer ist als die anderen, so teilte des Gottes Vorsorge die vom Himmel umschlossene Erdmasse durch dieselbe Zahl, und gleich viele Zonen hat die schwere Erde. Die mittlere von ihnen ist wegen der Hitze unbewohnbar; [50] zwei Zonen bedeckt tiefer Schnee; ebenso viele hat der Gott dazwischengesetzt und ihnen ein gemäßigtes Klima gegeben, indem er Feuer mit Kälte mischte. Darüber schwebt Luft, die so viel schwerer ist als Feuer, wie Wasser leichter ist als Erde. Dort gebot er den Nebeln, dort den Wolken zu wohnen, [55] den Donnerschlägen, die Menschenherzen erschrecken sollten, und den Winden, die Blitze und Wetterleuchten bewirken. Doch auch ihnen überließ der Schöpfer der Welt die Luft nicht uneingeschränkt; selbst heute kann man ihnen nur mit Mühe verwehren, dass sie die Welt in Stücke reißen, [60] wo doch jeder von ihnen in einer ganz anderen Richtung weht; so groß ist die Uneinigkeit der Brüder. Der Ostwind entwich zur Morgenröte, zum Reich der Nabataeer, nach Persien und zu den Bergen, auf welche die ersten Strahlen des Tages fallen; der Abend und die Küsten, welche die untergehende Sonne wärmt, sind dem Zephyr am nächsten; in Scythien und dem Norden fiel der Nordwind ein, [65] der uns schaudern lässt; das entgegengesetzte Ende der Welt befeuchtet der Südwind beständig durch Regenwolken. Darüber stülpte der Schöpfer den klaren, schwerelosen Äther, dem gar kein irdischer Bodensatz anhaftet.

Kaum hatte er so alles mit klar umrissenen Grenzen aufgegliedert, [70] als plötzlich die Sterne, die lange von undurchdringlichem Dunkel bedeckt gewesen waren, am ganzen Himmel aufzuglühen begannen. Und damit kein Bereich ohne Lebewesen sei, die ihm angehören, haben Gestirne und Göttergestalten den Himmelsboden inne, den schimmernden Fischen fielen die Wogen als Wohnstatt zu, [75] die Erde nahm Tiere auf und Vögel die bewegliche Luft.

Noch fehlte ein Lebewesen, heiliger als diese, fähiger, den hohen Geist aufzunehmen, und berufen, die übrigen zu beherrschen. Es entstand der Mensch, sei es, dass ihn aus göttlichem Samen jener Weltschöpfer schuf, der Ursprung der besseren Welt, [80] sei es, dass die junge Erde, erst kürzlich vom hohen Äther getrennt, noch Samen des verwandten Himmels zurückbehielt; diese mischte der Spross des Iapetus mit Regenwasser und formte sie zum Ebenbild der alles lenkenden Götter. Und während die übrigen Lebewesen nach vorn geneigt zur Erde blicken, [85] gab er dem Menschen ein emporblickendes Antlitz, gebot ihm, den Himmel zu sehen und das Gesicht aufrecht zu den Sternen zu erheben. So nahm die Erde, die eben noch roh und gestaltlos gewesen war, verwandelt die bisher unbekannten menschlichen Formen an.

Die vier Weltalter

Als Erstes entstand das goldene Geschlecht, das keinen Rächer kannte [90] und freiwillig, ohne Gesetz, Treue und Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren fern, keine drohenden Worte las man auf öffentlich angebrachten Erztafeln, keine bittflehende Schar fürchtete den Spruch ihres Richters, sondern sie waren auch ohne Rächer geschützt. Noch nicht war die Fichte gefällt und noch nicht, um ferne Länder zu besuchen, [95] von ihren Bergen in die klaren Fluten hinabgestiegen; und die Sterblichen kannten keine Küste außer ihrer eigenen. Noch umzogen keine steil abfallenden Gräben die Städte, es gab keine Tuba aus geradem, keine Hörner aus gekrümmtem Erz, keine Helme, kein Schwert: Ohne Soldaten zu brauchen, [100] lebten die Völker sorglos in sanfter Ruhe dahin. Auch gab die Erde, frei von Pflichten und Lasten, von keiner Hacke berührt, von keiner Pflugschar verletzt, alles von selbst. Und zufrieden mit den Speisen, die gewachsen waren, ohne dass jemand Zwang ausübte, sammelten sie Früchte vom Hagapfelbaum, Erdbeeren vom Berge, [105] Kornelkirschen, Brombeeren, die an stachligen Sträuchern hingen, und Eicheln, die von Iuppiters weit ausladendem Baum gefallen waren.

Ewiger Frühling herrschte, und sanfte Westwinde streichelten mit lauen Lüften Blumen, die ungesät entsprossen waren. Bald trug ungepflügte Erde auch Getreide, [110] und ohne nach einer Brache neu bearbeitet zu sein, war der Acker weiß, voll schwerer Ähren. Ja, Ströme von Milch, ja, Ströme von Nektar flossen, und gelb tropfte Honig von der grünenden Steineiche.

Als Saturn in den dunklen Tartarus verstoßen war und die Welt Iuppiter unterstand, folgte ein silbernes Geschlecht, [115] geringer als Gold, wertvoller als rötliches Erz. Iuppiter verkürzte die Dauer des ehemaligen Frühlings, und durch Winter, sommerliche Gluten, ungleichmäßige Herbstzeiten und kurzen Lenz gliederte er das Jahr in vier Zeiträume. Damals erglühte zum ersten Mal die Luft von dörrender Hitze und, [120] im Winde erstarrt, hingen Eiszapfen. Damals suchte man zum ersten Mal Unterschlupf in Häusern; als Haus dienten Höhlen, dichtes Gebüsch und mit Rinde verflochtene Reiser. Damals versenkte man zum ersten Mal Samen der Ceres in langen Furchen, und die Pflugstiere stöhnten unter der Last des Joches.

[125] Als Drittes folgte darauf das eherne Geschlecht; es war grausamer von Natur und schneller bereit, zu den schrecklichen Waffen zu greifen, doch nicht frevelhaft. Das letzte ist von hartem Eisen. Alsbald brach in das Zeitalter des schlechteren Metalls alle Sünde ein, es flohen Scham, Wahrheitsliebe und Treue; [130] an ihre Stelle rückten Betrug, Arglist, Heimtücke, Gewalt und die frevelhafte Habgier. Segel setzte der Seemann den Winden aus – er war mit ihnen bisher nicht vertraut –, die Bäume, die lange auf hohen Bergen gestanden hatten, tanzten übermütig als Schiffe auf Fluten, die sie noch nicht kannten, [135] und den Erdboden, der zuvor Gemeingut gewesen war wie das Sonnenlicht und die Lüfte, zeichnete der umsichtige Feldmesser mit einer langen Grenzlinie. Und man forderte vom ertragreichen Boden nicht nur Saaten und die Nahrung, die er uns schuldig war, sondern man wühlte sich in die Eingeweide der Erde. Und die Schätze, die sie nah bei den Schatten der Styx verborgen hatte, [140] gräbt man aus – Anreiz zu allem Bösen. Schon war das gefährliche Eisen erschienen und das Gold, das noch gefährlicher ist als Eisen. Da erscheint der Krieg, der beides zum Kampf verwendet und mit blutiger Hand klirrende Waffen schüttelt. Man lebt vom Raub; kein Gastfreund ist vor dem Gastfreund sicher, [145] kein Schwiegervater vor dem Schwiegersohn, auch zwischen Brüdern ist Einvernehmen selten. Der Mann trachtet der Frau nach dem Leben und sie dem Gemahl; schreckliche Stiefmütter mischen bleichmachendes Gift; der Sohn forscht vor der Zeit nach der Lebensfrist des Vaters. Besiegt liegt die fromme Scheu darnieder; und die Jungfrau Astraea hat [150] als letzte der Himmlischen die blutgetränkte Erde verlassen.

Die Giganten

Und damit der hohe Äther nicht sorgloser sei als die Erde, sollen die Giganten, voll Gier nach der Herrschaft im Himmel, Berge zusammengetragen und bis an die Sterne empor getürmt haben. Da zerschmetterte der allmächtige Vater mit einem Blitzstrahl den Olymp [155] und schlug den Pelion von dem darunterliegenden Ossa. Als die ungeschlachten Leiber von ihrem eigenen Bauwerk erdrückt dalagen, soll die Erde von dem reichlich strömenden Blut ihrer Söhne feucht geworden sein und das warme Blut beseelt und in Menschengestalt verwandelt haben, damit an ihre Nachkommenschaft eine Erinnerung bleibe. [160] Aber auch diese Brut verachtete die Himmlischen, lechzte nach grausamem Mord und war gewalttätig: Sie war ja auch aus Blut geboren.

Die Götterversammlung (I)

Kaum hat der Vater Saturnius dies von der höchsten Himmelshöhe gesehen, seufzt er auf; und in Erinnerung an das grässliche Mahl an Lycaons Tisch [165] – die Tat war noch frisch und nicht allgemein bekannt – wird sein Herz von gewaltigem Zorn ergriffen, wie er Iuppiters würdig ist, und er beruft eine Versammlung ein; die Gerufenen kommen ohne Zaudern.

Hoch oben gibt es eine Straße; sie ist bei heiterem Himmel zu sehen. Milchstraße heißt sie, schon am weißen Lichtschimmer ist sie leicht zu erkennen; [170] auf ihr führt der Weg die Himmlischen zum Hause des großen Donnerers und zum Königspalast. Rechts und links von ihr stehen die Hallen der vornehmen Götter; die Türflügel sind für die zahlreichen Besucher geöffnet. Das einfache Volk wohnt an einem ganz anderen Ort; hier haben die mächtigen und angesehenen Himmelsbewohner ihre Penaten aufgestellt. [175] Dies ist die Stätte, die ich, wenn man mir den kühnen Ausdruck erlaubt, ohne Scheu das Palatium des Himmels nennen möchte.

Sobald also die Himmlischen im Marmorgemach saßen, schüttelte Iuppiter, auf seinem erhöhten Thron sitzend und auf das elfenbeinerne Zepter gestützt, drei-, viermal sein furchterregendes Haupthaar, [180] mit dem er Erde, Meer und Sterne bewegte; dann tat er seinen Mund auf und sprach voll Entrüstung folgendermaßen:

»Um die Weltordnung habe ich mir nicht einmal damals größere Sorgen gemacht, als jeder der Schlangenfüßler sich anschickte, den Himmel mit hundert Armen zu ergreifen und gefangenzunehmen. [185] Denn obwohl der Feind grimmig war, ging doch jener Krieg nur von einer Gruppe aus und hatte einen einzigen Ursprung; jetzt aber muss ich, so weit Nereus rings um den ganzen Erdkreis rauscht, das sterbliche Geschlecht vernichten. Ich schwör’ es bei dem Strom in der Tiefe, der unter der Erde im stygischen Hain dahingleitet! [190] Zwar muss man vorher alles versuchen; aber ein unheilbar kranker Körperteil muss mit dem Stahl abgeschnitten werden, damit das Gesunde nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Ich habe Halbgötter, ich habe ländliche Gottheiten: Nymphen, Faune, Satyrn und Silvane, die auf den Bergen hausen. Da wir ihnen ja noch nicht die Ehre zuerkennen, im Himmel zu weilen, [195] müssen wir sie doch ganz gewiss die Erde bewohnen lassen, die wir ihnen gegeben haben! Glaubt ihr etwa, ihr Himmlischen, sie seien künftig hinreichend sicher, da doch selbst mir, der ich den Blitz, der ich sogar euch zu eigen habe und regiere, der wegen seiner Grausamkeit bekannte Lycaon einen Hinterhalt gelegt hat?«

Da murrten alle und forderten mit glühendem Eifer die Bestrafung dessen, der solches gewagt hatte. [200] So ergriff, als die Rotte der Frevler grausam im Caesarenblut den römischen Namen auslöschen wollte, das Menschengeschlecht tiefes Entsetzen angesichts des plötzlichen Sturzes, und der ganze Erdkreis schauderte. Und dir, Augustus, ist die Anhänglichkeit der Deinen nicht weniger willkommen, [205] als sie es damals Iuppiter war. Nachdem er durch Wort und Gebärde dem Murren Einhalt geboten hatte, schwiegen alle. [Als das Geschrei sich legte, unterdrückt von der Würde des Herrschers, brach Iuppiter zum zweiten Mal das Schweigen und sprach Folgendes:]

Lycaon

»Er wenigstens hat die verdiente Strafe erlitten – macht euch darüber keine Sorgen! [210] Was aber seine Schuld ist und was die Sühne, will ich euch mitteilen. Zu Ohren gekommen war mir der üble Ruf der Zeit. Im Wunsch, ihn widerlegt zu sehen, schwebe ich vom hohen Olymp hinab und ziehe in Menschengestalt durch die Lande, obwohl ich ein Gott bin. Es würde zu weit führen aufzuzählen, wie viel Sünde überall zu finden war. [215] Das Gerücht war sogar weniger schlimm als die Wirklichkeit. Ich hatte die Maenalushöhen überschritten; sie sind schaurig, weil dort wilde Tiere hausen; hinter mir lagen auch Cyllene und die Pinienwälder des eisigen Lycaeus. Hierauf betrete ich den Wohnsitz und das ungastliche Haus des arcadischen Tyrannen, als die späte Abenddämmerung die Nacht nach sich zog. [220] Ich gab Zeichen, dass ein Gott gekommen sei, und das Volk hatte begonnen zu beten. Zuerst verspottet Lycaon die frommen Gelübde, dann sagt er: ›Ich will herausfinden, ob dies ein Gott oder ein Sterblicher ist, und zwar durch eine eindeutige Prüfung; an der Wahrheit wird man nicht mehr zweifeln können.‹ Bei Nacht versucht er, während der Schlaf auf mir lastet, mich meuchlings zu ermorden. [225] Das ist seine Art, die Wahrheit herauszufinden. Und auch das genügt ihm noch nicht: Einer Geisel vom Molosserstamm öffnet er mit einem Dolch die Kehle; teils kocht er die erst halbtoten Glieder in siedendem Wasser, teils hat er sie auf dem Feuer geröstet.

[230] Sobald er dies aufgetischt hatte, ließ ich mit rächender Flamme das Dach auf die Penaten stürzen, die ihres Herrn würdig waren; erschrocken flieht er selbst in die ländliche Stille, heult dort auf und versucht vergeblich zu sprechen. Seinem Wesen entsprechend atmet sein Rachen rasende Wut; seine gewohnte Mordlust [235] lässt er am Kleinvieh aus und freut sich auch jetzt noch am Blutvergießen. In Zotteln verwandeln sich die Kleider, in Schenkel die Arme. Er wird zum Wolf und behält dabei Spuren seiner früheren Gestalt: Die Grauhaarigkeit ist geblieben, geblieben die gewalttätige Miene, geblieben die leuchtenden Augen, geblieben das Bild der Wildheit.

Die Götterversammlung (II)

[240] Untergegangen ist ein Haus, aber nicht nur ein Haus verdiente unterzugehen; so weit die Erde reicht, herrscht die wilde Erinys. Man möchte meinen, sie hätten sich verschworen, Verbrechen zu begehen. Schnell mögen alle die Strafe empfangen, die sie verdient haben. So ist’s beschlossen.«

Ein Teil billigt Iuppiters Worte durch Zuruf und spornt den Wutschnaubenden an, [245] andere bekunden ihren Pflichteifer durch Zustimmung. Dennoch schmerzt alle der Verlust des Menschengeschlechtes, und sie fragen, welche Gestalt die Erde ohne Menschen haben werde, wer dann Weihrauch zu den Altären bringe und ob Iuppiter die Erde den wilden Tieren zur Verwüstung überlassen wolle. [250] Während sie solches fragen, verbietet ihnen der König der Himmlischen, sich zu beunruhigen – denn er werde für alles Übrige sorgen. Und er verspricht ihnen ein Menschengeschlecht, dem früheren Volk nicht ähnlich und von wunderbarem Ursprung.

Die Sintflut

Schon wollte er über alle Lande Blitze ausstreuen, doch befürchtete er, so viele Feuer könnten den heiligen Äther [255] in Flammen setzen und die lange Himmelsachse entzünden. Auch erinnert er sich eines Schicksalsspruchs, es werde die Zeit kommen, da Meer, Erde und Himmelsburg in Brand geraten und das Weltgebäude in schwerer Bedrängnis ist. Er legt die Waffen beiseite, die von Cyclopenhand gemacht sind, [260] und entscheidet sich für die entgegengesetzte Strafe: das sterbliche Geschlecht im Wasser zu ertränken und vom ganzen Himmel Regengüsse niedergehen zu lassen.

Alsbald verschließt er in den aeolischen Höhlen den Nordsturm und alle Winde, die heraufgezogene Wolken vertreiben, und lässt den Südwind los: Der Südwind fliegt auf feuchten Schwingen heraus, [265] das furchterregende Gesicht mit pechschwarzer Finsternis bedeckt. Der Bart ist schwer von Regen, vom grauen Haar fließt Wasser, an der Stirn ruhen Nebelschwaden, von Tau triefen die Federn und das Gewand. Kaum hat er mit der Hand die weit und breit am Himmel hangenden Wolken gepresst, platzen sie mit Getöse; dann gießt es vom Himmel in Strömen. [270] Die Botin der Iuno, Iris im bunten Farbenkleide, zieht Wasser empor und bringt den Wolken Nahrung. Zu Boden gedrückt werden die Saaten; beweint liegt die Frucht darnieder, um welche die Bauern gebetet haben, und die Arbeit eines langen Jahres ist verloren und vertan.

Und Iuppiters Zorn beschränkt sich nicht auf seinen Himmel; [275] ihn unterstützt sein wasserblauer Bruder mit helfenden Wellen. Er ruft die Flussgötter zusammen. Nachdem sie das Haus ihres Tyrannen betreten hatten, sprach er: »Es bedarf jetzt keiner langen Ermahnung. Lasst euren Kräften freien Lauf! So muss es sein. Öffnet eure Pforten, beseitigt die Dämme [280] und lasst euren Strömen ganz und gar die Zügel schießen!« Soweit sein Befehl; sie kehren heim, öffnen die Schleusen der Quellen und wälzen sich in entfesseltem Lauf zum Meer. Der Meister selbst hat die Erde mit seinem Dreizack erschüttert; sie erzitterte, und ihr Beben bahnte dem Wasser neue Wege. [285] Die Flüsse verlassen ihr Bett, stürzen durch das offene Feld und reißen zugleich mit den Saaten Büsche, Vieh und Menschen, Häuser und geweihte Räume samt den heiligen Götterbildern mit sich fort. Und wenn ein Gebäude erhalten blieb und noch standhielt, ohne von dem verheerenden Unglück in Trümmer gelegt zu sein, stehen doch die Fluten höher als sein First, [290] und tief unter dem Strudel sind die Türme versteckt. Schon gab es zwischen Wasser und Land keinen Unterschied; alles war ein einziges Meer; und das Meer hatte keine Küsten.

Der eine besetzt einen Hügel, der andere sitzt im gebogenen Nachen und rudert dort, wo er neulich gepflügt hat; [295] jener segelt über Saaten oder über Dächer eines versunkenen Landhauses hin; dieser fängt im Ulmenwipfel einen Fisch. Der Anker senkt sich, wenn es der Zufall will, in eine grüne Wiese, oder die gebogenen Kiele streifen darunterliegende Weingärten; und wo eben noch magere Ziegen Grashalme rupften, [300] legen sich jetzt hässliche Robben zur Ruhe. Die Nereiden bewundern unter dem Wasser Haine, Städte und Häuser, Delphine wohnen in Wäldern, stoßen an hohe Zweige und schlagen an Stämme, die nachschwingen. Es schwimmt der Wolf mitten unter Schafen, die Woge trägt gelbbraune Löwen, [305] die Woge trägt Tiger; seine Kraft, die dem Blitze gleicht, hilft dem Eber nicht; die schnellen Schenkel nützen dem Hirsch nicht, der hinweggespült wird; und nachdem der flüchtige Vogel lange nach Land gesucht hat, auf dem er sich niederlassen könnte, fällt er schließlich mit ermatteten Schwingen ins Meer. Die See hatte in ihrer unermesslichen Zügellosigkeit die Hügel bedeckt, [310] und ungewohnte Fluten schlugen an Berggipfel. Die meisten Menschen werden von der Woge dahingerafft, und die wenigen, welche die Woge verschont hat, zermürbt endloser Hunger; denn sie finden keine Nahrung.

Deucalion und Pyrrha

Phocis trennt die Aonier von den oetaeischen Gefilden, ein fruchtbares Land, solange es Land war, damals aber war es [315] ein Teil des Meeres und eine neu entstandene große Wasserfläche. Dort strebt ein Berg mit zwei Gipfeln steil zu den Sternen empor, er heißt der Parnass, und seine Spitzen überragen die Wolken. Sobald Deucalion hier – alles übrige hatte nämlich das weite Meer bedeckt – mit seiner Ehefrau auf einem kleinen Floß gestrandet ist, [320] beten sie zu den corycischen Nymphen, zu den Berggottheiten und zur schicksalverkündenden Themis, die damals das Orakel innehatte. Es gab zu jener Zeit keinen Mann, der besser gewesen wäre, keinen, der Recht und Billigkeit mehr geliebt hätte, und keine gottesfürchtigere Frau.

Als Iuppiter sah, dass der Erdkreis ein Sumpf von stehenden Gewässern war [325] und dass von so vielen Tausenden, die soeben noch lebten, nur ein Mann und von so vielen Tausenden nur eine Frau übrig war, beide schuldlos, beide Verehrer der Gottheit, zerstreute er die Wolken, vertrieb die Regengüsse durch den Nordwind und zeigte dem Himmel die Erde und der Erde den Himmel. [330] Auch die Wut der See dauert nicht an; der Meeresbeherrscher legt den Dreizack beiseite, glättet die Wogen und ruft den wasserblauen Triton, der über die Meerestiefe hinausragt – auf seinen Schultern wachsen Purpurschnecken –, und befiehlt ihm, in die tönende Muschel zu blasen und durch ein Zeichen die Fluten und Flüsse zurückzurufen. [335] Er nimmt das hohle Horn, das schneckenförmig von der untersten Windung in die Weite wächst; sobald dieses Horn mitten auf dem Meer Luft aufgenommen hat, füllt seine Stimme die Küsten, die gen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang liegen. So geschah es auch jetzt: Kaum hatte es den Mund des Gottes berührt, dessen nasser Bart von Wasser troff, [340] und, wie befohlen, zum Rückzug geblasen, hörten es alle Wasser, die des Festlandes und die des Meeres, und alle, die es hörten, wies es in die Schranken. Schon hat das Meer eine Küste, jedes Flussbett nimmt seinen Strom voll auf, die Fluten fallen, und man sieht die Hügel auftauchen. [345] Es hebt sich der Erdboden: Das Land wächst, indem das Wasser abnimmt. Und nach langer Zeit zeigen die Wälder ihre bloßgelegten Wipfel und tragen noch Reste von Schlamm auf dem Laub.

Neu geschenkt war die Erde. Kaum hat Deucalion gesehen, dass sie leer ist und dass in den trostlosen Landen tiefe Stille herrscht, [350] treten ihm Tränen in die Augen, und er spricht folgendermaßen zu Pyrrha: »Schwester, Gattin, einzig überlebende Frau, dich verband mit mir zuerst unsere gemeinsame Herkunft – denn unsere Väter sind Brüder –, dann das Ehebett und jetzt verbindet uns auch noch die Gefahr. Von allen Ländern, welche die aufgehende und die untergehende Sonne sieht, [355] sind wir beide die gesamte Bevölkerung; alles Übrige hat das Meer in Besitz genommen. Auch jetzt sind wir unseres Lebens noch nicht ganz sicher. Die Wolken machen mir immer noch Angst. Wie wäre dir jetzt zumute, wenn du ohne mich dem Tode entrissen worden wärest, du Ärmste? Wie könntest du, ganz allein, [360] die Furcht ertragen? Wer würde dich in deinem Schmerz trösten? Denn hätte das Meer auch dich verschlungen, würde ich dir folgen, Gattin, glaub mir! Dann hätte das Meer auch mich verschlungen. O könnte ich doch durch meines Vaters Künste die Völker neu erschaffen und dem geformten Lehm Leben einhauchen! [365] Nun ist das Geschlecht der Sterblichen nur noch in uns beiden vorhanden – so hat es den Göttern gefallen –, und wir bleiben als einzige Vertreter der Menschheit übrig.«

Er hatte geendet, und sie weinten. Da beschlossen sie, zur himmlischen Gottheit zu beten und bei dem heiligen Orakel Hilfe zu suchen. Unverzüglich gehen sie zusammen zu den Wellen des Cephisus, [370] die zwar noch nicht klar waren, sich aber wieder das gewohnte Flussbett bahnten. Dort schöpfen sie Wasser, besprengen Gewänder und Haupt und lenken ihre Schritte zum Tempel der heiligen Göttin; dessen Giebel war grau von hässlichem Moos, und der Altar stand ohne Feuer. [375] An den Tempelstufen angelangt, werfen sich beide vornüber zu Boden. In heiliger Scheu küssten sie den eiskalten Stein und sprachen: »Wenn Gottheiten sich durch berechtigte Bitten erweichen lassen, wenn sich der Zorn der Götter besänftigen lässt, dann sag uns, Themis, auf welche Weise der Verlust wieder ausgeglichen werden kann, den unser Geschlecht erlitten hat, [380] und komm, du Gnadenreiche, der untergegangenen Welt zu Hilfe!« Die Göttin ließ sich rühren und gab ein Orakel: »Geht hinweg vom Tempel, verhüllt euer Haupt, entgürtet eure Gewänder und werft hinter euren Rücken die Gebeine der großen Mutter!«

Lange standen sie starr. Als erste bricht Pyrrha das Schweigen, [385] weigert sich, dem Befehl der Göttin zu gehorchen, und bittet mit angstvoller Stimme um Vergebung; fürchtet sie doch durch das Werfen der Gebeine den Schatten der Mutter zu kränken. Inzwischen wiederholen sie still für sich die dunklen, geheimnisvollen Worte des Orakels und wenden sie im Gespräch hin und her. [390] Da beruhigt der Sohn des Prometheus die Tochter des Epimetheus mit sanften Worten: »Entweder täuscht mich mein Scharfsinn, oder der Orakelspruch ist fromm und rät zu keinem Frevel: Die große Mutter ist die Erde. Ich vermute, dass die Steine im Leib der Erde als Gebeine bezeichnet werden; diese sollen wir hinter unseren Rücken werfen.«

[395] Obwohl die Titanentochter von der Deutung, die ihr Mann dem Spruche gab, beeindruckt war, ist dennoch die Hoffnung ungewiss; so sehr misstrauen die beiden dem himmlischen Gebot. Aber was kann ein Versuch schaden? Sie entfernen sich, verhüllen ihr Haupt, entgürten ihre Kleider und werfen, wie befohlen, die Steine hinter ihre Fußspuren. [400] Wer möchte dies glauben, wenn nicht das Alter der Sage einen Zeugen ersetzen würde? Die Steine begannen ihre Härte und ihre Starre abzulegen, allmählich weich zu werden und, einmal weich geworden, Gestalt anzunehmen. Sobald sie dann gewachsen sind und ihnen eine sanftere Natur zuteil geworden ist, [405] lässt sich die Andeutung einer Menschengestalt erkennen – freilich noch nicht offenkundig, sondern wie ein eben in Arbeit genommener Marmorblock, nicht ganz ausgeführt, unfertigen Bildwerken sehr ähnlich. Was an jedem Stein feucht und erdig war, kam den Muskeln zugute; was fest ist und sich nicht biegen lässt, verwandelt sich in Knochen; [410] das Geäder aber blieb Geäder. Und in kurzer Zeit bekamen durch die Macht der Götter die von Männerhand geworfenen Steine das Aussehen von Männern; und aus den Steinen, welche die Frau warf, erstand das weibliche Geschlecht aufs Neue. Daher sind wir ein harter, ausdauernder Menschenschlag [415] und legen Zeugnis davon ab, woraus wir entstanden sind.

Die Urzeugung

Die übrigen Lebewesen in ihrer Vielgestaltigkeit brachte die Erde von selbst hervor, nachdem alte Feuchtigkeit vom Feuer der Sonne durchwärmt, Schlamm und nasse Sümpfe von der Hitze schwanger geworden und die fruchtbaren Samen der Wesen, [420] im lebenskräftigen Boden genährt, wie im Mutterleib gewachsen waren und mit der Zeit ein bestimmtes Aussehen bekommen hatten. So ist es, wenn der siebenarmige Nil die überschwemmten Äcker verlassen und seine Strömung ins alte Flussbett zurückgelenkt hat und der frische Schlamm vom ätherischen Gestirn erhitzt ist: [425] Dann finden die Bauern beim Umhacken der Schollen sehr viele Lebewesen, darunter manche, noch kaum angedeutet, im Augenblick nach der Entstehung, manche unvollendet und ohne die artgemäßen Glieder; und in ein und demselben Körper lebt oft die eine Hälfte, während die andere noch ungeformte Erde ist. [430] Denn sobald sich Feuchtigkeit und Wärme im rechten Verhältnis gemischt haben, vollzieht sich Empfängnis, und ausgehend von diesen beiden entsteht alles. Und obwohl Feuer dem Wasser feind ist, bringt feuchte Hitze alle Dinge hervor, und zwieträchtige Eintracht ist für die Zeugung angemessen.

Apollo tötet Python

Sobald also die Erde unmittelbar nach der Sintflut schlammig [435] und wieder vom ätherischen Sonnenschein, der Glut aus der Höhe, erhitzt war, brachte sie unzählige Arten hervor und bildete dabei teils frühere Gestalten nach, teils schuf sie neue Ungeheuer. Zwar hätte sie es lieber nicht getan, aber sie gebar auch dich damals, riesiger Python, und du – eine Schlange, wie man sie noch nicht gekannt hatte – [440] warst der Schrecken der neuentstandenen Völker. So viel Raum nahmst du am Berg ein! Der bogentragende Gott, der solche Waffen zuvor nur an Damhirschen und flüchtigen Rehen erprobt hatte, tötete diesen Drachen, der von tausend Pfeilen starrte – der Köcher war beinahe leer – und aus schwarzen Wunden sein Gift verströmte. [445] Und damit die Zeit den Ruhm nicht auslösche, setzte er die heiligen Spiele mit ihren vielbesuchten Wettkämpfen ein, die nach der besiegten Schlange die Pythischen heißen. Hier erhielt jeder junge Mann, der mit der Hand oder im Wettlauf oder im Wagenrennen gesiegt hatte, Eichenlaub als Ehrung. [450] Noch gab es keinen Lorbeer, und Phoebus schmückte seine schönen langhaarigen Schläfen mit Kränzen von jedem beliebigen Baum.

Apollo und Daphne

Die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die Tochter des Penëus; diese Leidenschaft gab ihm nicht der blinde Zufall ein, sondern der wilde Zorn des Liebesgottes. Der Gott von Delos, stolz auf seinen Sieg über die Schlange, [455] hatte jüngst gesehen, wie Amor die Sehne anzog und die Hörner des Bogens spannte. Da hatte er gesagt: »Was willst du, loser Knabe, mit männlichen Waffen? Diese Zier steht meinen Schultern an; kann ich doch dem wilden Tier und auch dem Feind unfehlbar Wunden schlagen. Eben erst habe ich den aufgeblasenen Python, der mit seinem giftigen Bauche so viele Morgen weit das Land bedeckte, [460] mit zahllosen Pfeilen niedergestreckt. Gib du dich damit zufrieden, mit deiner Fackel irgendwelche Liebeshändel anzustiften, und maße dir nicht meinen Ruhm an!« Ihm antwortete der Sohn der Venus: »Mag dein Bogen alles treffen, o Phoebus – meiner trifft dich! [465] Dein Ruhm ist um so viel geringer als der meine, wie alle Lebewesen einem Gotte nachstehen.« Sprach’s, schlug mit den Flügeln, flatterte durch die Luft, und flink stellte er sich auf den schattigen Gipfel des Parnass. Aus dem Köcher, der die Pfeile barg, nahm er zwei Geschosse von entgegengesetzter Wirkung: Das eine vertreibt, das andere erregt Liebe. [470] Der Pfeil, der Liebe erregt, ist vergoldet und hat eine blinkende, scharfe Spitze; der sie vertreibt, ist stumpf und trägt Blei unter dem Schaft. Mit dem einen traf der Gott die Nymphe, die Penëustochter, mit dem andern schoss er Apollo durch die Knochen bis ins Mark. Sofort ist der eine verliebt; die andere flieht schon vor dem Wort »Geliebte«. [475] Sie hat nur Freude an Schlupfwinkeln im Wald und an Fellen gefangener Tiere; so eifert sie der unverheirateten Phoebe nach. Eine Binde umschloss das ungeordnet herabwallende Haar. Viele warben um sie. Sie aber verschmäht alle Freier, hat keinen Mann und will von keinem wissen, streift durch unwegsames Gehölz [480] und fragt nicht nach Hymen, Amor und Ehe. Oft sagte der Vater: »Tochter, du schuldest mir einen Schwiegersohn.« Oft sprach er: »Mein Kind, du schuldest mir Enkel!« Sie aber hasst die Hochzeitsfackeln wie ein Verbrechen; ihr schönes Gesicht war von schamhafter Röte übergossen, [485] und indem sie mit schmeichelnden Armen am Halse ihres Vaters hing, sprach sie: »Lass mich, liebster Vater, ewig Jungfrau bleiben; dies hat auch Vater Iuppiter der Diana gewährt.« Zwar erfüllt er die Bitte; aber dir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch. [490] Phoebus liebt! Kaum hat er sie gesehen, begehrt er Daphne zu heiraten; und was er begehrt, erhofft er: Da täuscht ihn sein eigenes Orakel! Wie leichte Stoppeln in Brand gesteckt werden, nachdem die Ähren abgeerntet sind, wie Zäune sich an Fackeln entzünden, die zufällig ein Wanderer zu nahe an sie heranbrachte oder im Morgengrauen zurückließ, [495] so ist der Gott in Liebe entbrannt, so glüht sein ganzes Herz und hegt hoffnungsvoll eine fruchtlose Liebe. Er sieht, wie das schmucklose Haar bis zum Hals herabhängt. »Ei«, sagt er, »wenn es erst noch frisiert würde!« Er sieht die sternengleichen Augen Funken sprühen; er schaut das Mündchen an [500] und will sich mit dem bloßen Anschauen nicht begnügen; er lobt die Finger, die Hände, die Arme und die Oberarme, die bis über die Mitte entblößt sind; und was verborgen ist, stellt er sich noch schöner vor. Sie aber flieht schneller als der leichte Lufthauch, ohne auf seine Worte hin stehen zu bleiben, mit denen er sie zurückruft:

»Nymphe, Penëustochter, bitte, bleib stehn! Ich folge dir nicht als Feind. [505] Nymphe, bleib stehn! So flieht das Lamm vor dem Wolf, die Hirschkuh vor dem Löwen, so fliehen vor dem Adler die Tauben mit ängstlich schlagenden Flügeln – ein jedes vor seinem Feind; Liebe ist der Grund, warum ich dich verfolge. Weh mir! Stürz nicht vornüber und lass die Dornen nicht deine Schenkel ritzen, die keine Verwundung verdienen. Ich will dir keinen Schmerz zufügen. [510] Die Gegend, durch die du dahineilst, ist rau. Lauf, bitte, langsamer und zügle deine Flucht! Dann werde ich dich langsamer verfolgen. Frag wenigstens, wessen Wohlgefallen du erregst! Kein Bergbewohner, kein Hirte bin ich, kein struppiger Wächter von Zug- und Herdentieren. Du weißt nicht, Unbesonnene, du weißt nicht, [515] vor wem du fliehst. Und nur darum fliehst du. Mir dient das delphische Land, Claros, Tenedos und die patareische Königsburg. Iuppiter ist mein Vater. Ich offenbare, was sein wird, was war und was ist; ich lasse Gesang und Saitenspiel harmonisch zusammenstimmen. Mein Pfeil trifft zwar ins Ziel, doch gibt es einen Pfeil, [520] der noch genauer ins Ziel geht; der hat meinem noch freien Herzen eine Wunde geschlagen! Die Heilkunst ist meine Erfindung, die Welt nennt mich den Heilbringer, und die Kraft der Kräuter steht mir zu Gebote. Weh mir, dass gegen die Liebe kein Kraut gewachsen ist und dass die Künste, die allen nützen, ihrem Herrn und Meister keinen Nutzen bringen!«

[525] Er wollte noch mehr sagen, doch die Tochter des Penëus entfloh ihm in angstvollem Lauf, ließ ihn hinter sich und mit ihm seine Rede, mit der er noch nicht zu Ende war. Auch in diesem Augenblick sah sie reizend aus. Windstöße entblößten ihren Körper, der entgegenkommende Luftzug ließ die Kleider, auf die er traf, flattern, ein leichtes Lüftchen ließ das Haar nach hinten wehen, [530] und die Schönheit steigerte sich durch die Flucht. Doch der jugendliche Gott erträgt es nicht länger, Schmeichelworte zu verschwenden. Und wie Amor selbst es ihm eingab, folgt er mit beschleunigtem Schritt ihren Spuren. Wie wenn ein Jagdhund aus Gallien auf dem offenen Feld einen Hasen erspäht hat und der eine nach seiner Beute, der andere um sein Leben rennt [535] – der eine sieht aus, als wolle er schon zubeißen, hofft von einem Augenblick zum andern zuzupacken und streift mit vorgestreckter Schnauze die Fersen der Beute; der andere ist sich im Zweifel, ob er schon gefangen ist, entzieht sich gerade noch den zuschnappenden Zähnen und lässt das Maul, das ihn schon berührt, hinter sich –: So erging es dem Gott und der Jungfrau; den einen beflügelt die Hoffnung, die andere die Furcht. [540] Doch der Verfolger, dem Amor Schwung verleiht, ist schneller und gönnt ihr keine Rast. Die Fliehende spürt ihn schon unmittelbar im Rücken, und sein Hauch streift ihr Haar, das ihr in den Nacken fällt. Schließlich versagten ihr die Kräfte, sie erblasste, von der Mühe der raschen Flucht erschöpft, und blickte zu den Wassern des Penëus. [545] »Vater, komm mir zu Hilfe«, sprach sie, »sofern ihr Flüsse göttliche Macht besitzt! Zerstöre durch eine Verwandlung diese Gestalt, in der ich allzusehr gefiel!« Kaum hat sie ihr Gebet beendet, da kommt über ihre Glieder eine lastende Starre. Um die zarte Brust legt sich dünner Bast. [550] Das Haar wächst sich zu Laub aus, die Arme zu Ästen; der eben noch so flinke Fuß haftet an zähen Wurzeln, das Gesicht hat der Wipfel verschlungen: Allein der Glanz bleibt ihr. Auch so liebt Phoebus sie noch. Er legt die rechte Hand an den Stamm und fühlt noch, wie die Brust unter der frischen Rinde bebt, [555] umschlingt mit den Armen die Äste, als wären es Glieder, küsst das Holz – doch das Holz weicht den Küssen aus. Zu ihr sprach der Gott: »Da du nicht meine Gemahlin sein kannst, wirst du wenigstens mein Baum sein. Stets werden mein Haupthaar, mein Saitenspiel, mein Köcher dich tragen, Lorbeer! [560] Du wirst den latinischen Feldherrn nahe sein, wenn frohe Stimmen das Triumphlied singen und das Capitol den langen Festzug sieht. Du wirst auch als treue Wächterin der Türpfosten am Hause des Augustus vor dem Eingang stehen und den Eichenkranz, der in der Mitte hängt, beschützen. Und wie mein Haupt im ungeschorenen Haarschmuck stets jugendlich ist, [565] so trag auch du fortwährend als Ehrenschmuck dein Laub.« Paean war zu Ende; der Lorbeer nickte mit den neuentstandenen Ästen und schien den Wipfel wie ein Haupt zu bewegen.