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Andrea Camilleri

Die Mühlen des Herrn

Roman

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Die italienische Ausgabe erschien 1999 unter dem Titel La mossa del cavallo bei Rizzoli in Mailand.

Die Mühlen des Herrn erschien 2000 als Quartbuch und 2012 als Taschenbuch im Verlag Klaus Wagenbach.

Wagenbachs E-Book-Ausgabe 2013

© 1999 RCS Libri S.p.A., Milano

© 2000, 2001, 2012 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.

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ISBN 978 3 8031 4128 6
Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2683 2

Inhalt

Samstag, 1. September 1877

Immer noch Samstag, 1. September 1877

Sonntag, 2. September 1877

Immer noch Sonntag, 2. September 1877

Montag, 3. September 1877

Immer noch Montag, 3. September 1877

Faltordner A

Mittwoch, 3. Oktober 1877

Immer noch Mittwoch, 3. Oktober 1877

Faltordner B

Montag, 15. Oktober 1877

Immer noch Montag, 15. Oktober 1877

Katalog der Träume

Anmerkung

»Das Rössel ist die einzige Figur im Schachspiel, das andere Figuren überspringen darf. Seine Bewegung ist ausgesprochen einzigartig, denn sie beschreibt ein L: zunächst zwei Felder in der Horizontalen oder in der Vertikalen, wie ein Turm, danach ein Feld nach rechts oder nach links. Nicht zu vergessen eine Besonderheit: ein Rössel, das sich von einem schwarzen Feld wegbewegt, kommt immer auf einem weißen Feld an. Umgekehrt kommt ein von einem weißen Feld wegbewegtes Rössel immer auf einem schwarzen Feld an. Das Rössel kann jede andere Schachfigur überspringen.«

A. Karpow, Schachschule

Samstag, 1. September 1877

»Dominovobisdu.«

»Ettkumm spiri tutuho«, antworteten an die zehn Stimmen, die sich im tiefen, nur hier und da gelegentlich von übelriechenden Talglichtern durchbrochenen Dunkel der Kirche verloren.

»Ite, missa jetzt.«

Betstühle wurden gerückt. Die erste Morgenmesse war zu Ende. Eine Frau bekam einen Hustenanfall, Padre Artemio Carnazza machte eine halbe Kniebeuge vor dem Hochaltar und verschwand danach eilig in die Sakristei, wo der Sakristan, tot vor Müdigkeit, wie immer auf ihn wartete, um ihm aus den Meßgewändern zu helfen. Die glaubenstreuen Besucher der Frühmesse verließen die Kirche, nur Donna Trisìna Cìcero nicht, das war die, die gehustet hatte. Sie blieb knien, tief ins Gebet versunken. Seit ungefähr zwei Wochen stellte sie sich zur Frühmesse ein. Sie galt durchaus nicht als eine, die ständig in die Kirche rennt. Zur Messe erschien sie normalerweise lediglich sonntags und an den festgelegten Feiertagen. Es war daher offenkundig, daß sie in Sünde gefallen war und diese sich jetzt von Unserem Gnädigen Herrn vergeben lassen wollte. Donna Trisìna war eine schwarzhaarige Dreißigerin, mit wildfunkelnd grünen Augen und zwei Lippen so rot wie die Flammen der Hölle. Unglückseligerweise war sie vor drei Jahren Witwe geworden. Von da an kleidete sie sich nur noch in Schwarz, nach strengster Trauer. Dennoch stellten sich bei den Männern, wenn sie sie vorübergehen sahen, sündhafte Gedanken ein. So viel göttliche Anmut, ohne daß ein strammer Kerl sie bändigen durfte. Doch im Ort gab es einige, die behaupteten, daß dieses Feld durchaus bepflügt und reichlich besät worden war, und zwar von mindestens zwei freiwilligen Helfern: dem Advokaten Don Gregorio Fasùlo und dem Bruder des Polizeiamtsleiters, Gnazio Spampinato.

Donna Trisìna wartete, bis der Sakristan die Kirche verlassen hatte, dann bekreuzigte sie sich, stand auf und ging zur Sakristei. Vorsichtig trat sie ein. Das frühe Licht des Tages reichte ihr, um sich davon zu überzeugen, daß sich keine Menschenseele in dem Raum befand. Gleich neben dem großen Schrank aus amerikanischer Bergkiefer, in welchem die Meßgewänder aufbewahrt wurden, führte eine kleine Türe auf eine Holztreppe und diese weiter zur kleinen Wohnung des Priesters hinauf.

Padre Artemio Carnazza war ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, von rötlicher Haut, kräftiger Statur, der das Essen und Trinken liebte. Mit wahrhaftem Christenherzen war er stets bereit, Bedürftigen Geld zu leihen, was er sich dann, mit wahrhaftem Heidenherzen, doppelt und gelegentlich dreifach zurückzahlen ließ. Besonders liebte Padre Carnazza die Natur. Nicht die Vögelein, die Schäflein, die Bäume, die Morgen- und die Abenddämmerungen, nein, die scherten ihn sogar einen Dreck. Das, was ihm die Sinne bis zum Wahnsinnigwerden raubte, war die Natur der Frau, die, in ihrer unendlichen Vielfalt, das Lob auf den Phantasiereichtum des Schöpfers sang: bald schwarz wie Tinte, bald rot wie Feuer, bald blond wie die Ähre des Weizenhalmes, doch stets mit anderen Farbschattierungen, wobei die Gräser manchmal hochstanden und unter seinem Atem wogten, wenn er über sie hinwegblies, ein anderes Mal niederlagen, als wären sie gerade gemäht worden, und wieder ein anderes Mal sich ganz dicht und ineinander verwoben zeigten wie eine dornige Wildhecke. Immer wieder verwunderte es ihn, daß er derart eine neue Natur entdeckte, neu, brandneu mit all dem Besonderen, das es zu erforschen gab, wenn er Zentimeter für Zentimeter bis zur ausgehöhlten, feuchten kleinen Grotte hinabstieg, in die man nur langsam eindringen durfte, vorsichtig, sanft, weil einen nachher die kleine Grotte eng umschloß, ihre Wände fest an einen schmiegte, um einen in die tiefste Tiefe zu geleiten, dorthin, wo das Wasser des Lebens hervorquillt.

Donna Trisìna stieg die Holztreppe hinauf, hob ein Bein, setzte das andere ab, sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, doch das Holz knarrte von Stufe zu Stufe mehr, bis es schließlich wie eine Klage klang.

»Besser so«, hatte der Pfarrer ihr erklärt, »wenn jemand zu mir kommt, höre ich es gleich.«

Während Donna Trisìna hinaufstieg, hatte Padre Carnazza den Priesterrock abgelegt und über das Unterhemd und die Unterhose einen Morgenmantel gezogen, aus goldbestickter roter Seide, wie sie nicht einmal der Bischof kennt, das Geschenk einer Frau aus seiner Gemeinde.

Da der Diener Gottes nicht im Eßzimmer war (nach der Frühmesse machte er sich ein Frühstück aus einem halben Liter Ziegenmilch und einem halben Dutzend Spiegeleiern), trat Donna Trisìna an die Tür des Schlafzimmers und schaute hinein, wobei sie den Kopf leicht vorbeugte. Die Fensterläden waren zwar angelehnt, ließen aber das Licht eines Tages herein, der noch sehr heiß zu werden versprach. Aber auch dort sah sie niemanden. Schließlich gelangte sie zu der Überzeugung, daß Padre Artemio sich gezwungen gesehen habe, sich auf dem stillen Örtchen einzuschließen, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugeben. Sie machte einen Schritt nach vorn. Da schoß der Gottesmann, der versteckt hinter einer Türe gestanden und den Atem angehalten hatte, hervor, packte sie von hinten, stieß sie zum Bett hinüber und zwang sie, sich bäuchlings darauf zu legen. Donna Trisìna gelang es, keinen Laut von sich zu geben, so erschrocken war sie, doch als sie spürte, wie die freie Hand Padre Artemios (mit der anderen preßte er ihren Rücken nach unten, um sie in dieser Stellung zu halten) sich ohne viel Federlesens unter ihren Rock, ihren Unterrock und ihr Leibhemd schob, um ihren Schlüpfer herunterzuziehen, reagierte sie und stieß ein trockenes »Laß das!« hervor, das wie ein Peitschenknall schnalzte. Der Gottesmann schien sie nicht gehört zu haben, er atmete so schwer, daß sie den Eindruck hatte, ihn könne jeden Augenblick der Schlag treffen. Donna Trisìna begriff, daß die Stellung, in der der Diener Gottes sie festhielt, ziemlich gefährlich war, sie hob einen Fuß und trat einfach irgendwohin. Voll in die Samenkugeln getroffen, lockerte Padre Artemio seine Umklammerung, beugte sich vor Schmerzen mit weit aufgerissenem Mund vornüber und schnappte nach Luft.

Diese Gelegenheit nutzte Trisìna, um sich vom Bett aufzurichten und ihre Kleider in Ordnung zu bringen.

»Ich sagte: Laß das doch!« Sie war äußerst verärgert. »Du weißt, daß ich den vollen Akt nicht vollziehen will! Noch ist die Leiche meines armen Ehemannes im Grabe nicht erkaltet!«

Padre Carnazza war noch benommen vom Schmerz, doch bei Donna Trisìnas Worten fühlte er, wie ihm das Blut in den Kopf schoß.

»Was für einen Quatsch faselst du denn da! Auch Lazarus fing nach zwei Tagen im Grabe an zu stinken. Was soll dann da nicht erkaltet heißen, nicht erkaltet, wo doch das riesengehörnte Rindvieh von deinem Mann schon drei Jahre tot ist!«

Ohne ihn eines Wortes der Erwiderung zu würdigen, kehrte Donna Trisìna ins Eßzimmer zurück, nahm einen Stuhl und setzte sich. Nach einer kurzen Weile machte der Diener Gottes das gleiche: wenn nämlich Trisìna nicht empört weggegangen war, bedeutete das, daß die Verhandlungen weitergehen konnten.

Diese Geschichte ging nun schon seit zehn Tagen so: Trisìna tauchte nach der Messe in seiner Wohnung auf, doch sobald er sie mit der Hand berührte, wand und drehte sie sich wie eine Viper, die sie im Grunde auch war. Aber was für eine schöne Viper! Er konnte ihr nicht widerstehen. In seinem Inneren wußte er, daß er, wenn er eine auch noch so kleine Kleinigkeit von ihr erhalten wollte, wieder dafür zahlen mußte.

Bis jetzt hatte ihn der Anblick einer ihrer nackten Brüste hundert Gramm guten Bohnenkaffees gekostet; der Anblick beider nackten Brüste dreihundert Gramm Zucker; ein Kuß ohne Zunge ein Pfund Mehl; ein Kuß mit Zunge ein Kilo feiner neapolitanischer Pasta; ein Kuß mit Zunge und zwei nackte Brüste drei Mokkatassen aus Porzellan mit den jeweiligen Untertassen; ein hauchzartes Streicheln der nackten Brüste ein Kaffeelöffelchen aus echtem Silber; ein Kuß auf jede Brustwarze einen Ballen feinsten Mousselinestoffs für Blusen. Trisìna war zwar eine durchaus vermögende Frau, ihr Gemahl hatte ihr Häuser und Grundstücke hinterlassen, aber sie hatte vor allem anderen den Instinkt einer diebischen Elster und an zweiter Stelle den Verstand einer ausgesprochenen Hure, der es Spaß machte, sich bezahlen zu lassen.

»Diese Matratzensau räumt mir noch die Wohnung aus«, dachte der Gottesmann verbittert, »und dafür erlaubt sie mir lediglich, mir in ihren oberen Etagen zu schaffen zu machen!«

Und da kam ihm eine Idee, wie er es anstellen könnte, sich in diesen oberen Etagen bequemer einzurichten.

Trisìna sah sich unterdessen ein bißchen um.

»Wie schön diese Lampe ist!« rief sie.

Sie betrachtete den Gegenstand mit halb geöffnetem Mund, so daß man die Spitze ihrer Zunge sehen konnte. Bei diesem Anblick ging der Atem des Gottesmannes wie ein Blasebalg.

»Gefällt sie dir?«

»O ja«, sagte Trisìna, streckte ihre Zunge heraus und ließ sie über die Feuerlohen ihrer Lippen gleiten. Sie leckte sich wie eine Katze vor einem Stückchen Fleisch. »Dann schenk ich sie dir. Mir bricht es zwar das Herz, denn sie ist ein seliges Erinnerungsstück. Sie gehörte meiner Schwester Agatina, die der Herr zu sich berufen hat.«

»Aber ich will sie«, sagte sie und verschloß ihren Mund fest und spitz wie ein Hühnerärschlein.

»Doch zuerst spielen wir ein Spielchen«, sagte der Priester und machte sich daran, die Idee, die ihm gekommen war, gleich in die Tat umzusetzen.

»Was für ein Spielchen? Ich hab’ keine Lust auf Spielchen.«

Padre Carnazza stand auf, öffnete eine kleine Tür und verschwand in der Vorratskammer, in der er Eßbares und Trinkbares aufbewahrte.

»Weißt du, Priesterchen«, sagte Trisìna laut. »Ich hab’ ein Haus vermietet, das in Vigàta, das ganz nah an der Küste.«

»Ach ja? Und an wen?« fragte Padre Carnazza, als er wieder ins Zimmer zurückkam. Seine rechte Hand hielt er hinter dem Rücken verborgen.

»Der Makler sagte mir, es wäre für einen Fremden, den neuen Hauptinspekteur für die Mühlen. Er arbeitet hier, in Montelusa. Persönlich kenne ich ihn nicht.«

Mit einem feinen Lächeln zeigte Padre Carnazza ihr, was er aus der Vorratskammer geholt hatte. Gebannt schaute Trisìna darauf. Ganz sicher waren es Früchte, aber sie hatte sie vorher noch nie gesehen.

»Das sind Bananen«, erklärte Padre Carnazza. »Sie wachsen in Afrika. Ein Freund, der zur See fährt, hat sie mir gestern nach dem Mittagessen vorbeigebracht. Eine habe ich gegessen. Eine Frucht wie im Paradies. Und mit diesen beiden hier spielen wir unser Spielchen.«

Er setzte sich vor die Frau und schälte eine Banane. Kaum war er damit fertig, streckte Trisìna ihre Hand aus. Doch Padre Carnazza wich ihr aus.

»Ich füttere dich«, sagte er, »wie man’s mit den Kleinen macht.«

Folgsam schloß Trisìna die Augen und machte ihr Mündchen auf. Gefühlvoll führte Padre Carnazza zwischen ihre Lippen die Spitze der Banane ein, die die Frau augenblicklich köpfte. Der Gottesmann zuckte zusammen. Trisìna kaute, schluckte und öffnete die Augen wieder.

»Mehr.«

Als sie die Banane gegessen hatte, zeigte sie sich enttäuscht.

»War das schon das Spielchen?«

»Nein, das Spielchen kommt jetzt erst«, antwortete Padre Carnazza. Er nahm die Banane, die er auf den Tisch gelegt hatte, und fing an sie zu schälen. »Jetzt stehe ich auf und stelle mich mit der Banane in der Hand vor dich hin. Du bleibst sitzen und hältst die Augen geschlossen. Einmal beißt du schön in die Banane, danach gibst du mir schön einen Kuß. Wenn du dich vertust, wenn du zwei Küsse nacheinander gibst oder zweimal nacheinander hineinbeißt, zahlst du ein Pfand. Und das Pfand bestimme ich. Wenn du es richtig machst, schenk ich dir die Lampe.«

»Also gut«, sagte Trisìna, kniff die Augen fest zusammen und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge. Sie hatte genau verstanden, was für ein Spielchen der geistliche Herr spielen wollte.

Beim Gedanken an Trisìnas Zähne brach Padre Carnazza der kalte Schweiß aus: Wenn die sich vertut, hätte das schlimme Folgen.

Der »Mistkäfer« trägt den wissenschaftlichen Namen »Scarabaeus sacer«, obwohl er durchaus nichts Heiliges an sich hat. Ihn zeichnet die Besonderheit aus, daß er Kugeln aus Scheiße dreht, ob menschliche oder tierische ist einerlei, und diese dann zu seinem Bau rollt. Er braucht sie als Nahrungsvorrat für die Winterzeit. Die Montelusaner hatten die Eigenart, jeder Person, die in ihrem Blickfeld auftauchte, den geeigneten Spitznamen anzuheften, und so hatten sie den Finanzpräsidenten, Commendatore Felice La Pergola, von Beginn an »Mistkäfer« genannt. Man erzählte sich, daß er, sobald ihm ein Bündel Geldscheine zugesteckt worden war, diese schnell zusammenrollte, in die Tasche stopfte und zu Hause versteckte, denn es war bekannt, daß er keine Geldeinlagen in einer der beiden Banken der Stadt hatte. Unter den vielen Mistkugeln, die der Präsident sich in seiner fünfjährigen Amtszeit in Montelusa eingesackt hatte, kamen die größten und gespicktesten zunächst vom Hauptinspekteur der Mühlen, Tuttobene Gerlando, der während einer einsamen Angelpartie auf dem Meere verschollen und nie mehr an Land zurückgekehrt war, und danach von seinem Nachfolger, Bendicò Filiberto, der zwar aufgefunden worden war, jedoch in einer Schlucht und halb aufgefressen von Hunden, ausgelöscht durch einen Schuß aus einer Lupara.

Nach diesen tristen Geschehnissen hatte der in Rom amtierende Generaldirektor sich lange vor der Frage gesperrt, wer den beiden Ehemaligen auf ihrem Posten nachfolgen sollte, und schließlich die Entscheidung getroffen, einen Hauptinspekteur nach Montelusa zu schicken, der alle Voraussetzungen erfüllte, die Angelegenheiten zu ordnen.

Allein schon beim Anblick dieses neuen Hauptinspekteurs hatte der Mistkäfer gleich zu Beginn zweierlei begriffen. Das erste war, daß eine Zeit ungeheueren Mistmangels bevorstand, und das zweite, daß man mit diesem Menschen sehr vorsichtig umgehen und jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte.

Giovanni Bovara sah im Grunde eher wie ein Berufsmilitär in Zivil aus und weniger wie ein Beamter der öffentlichen Verwaltung. Ein Mann um die Vierzig mit Bürstenhaarschnitt und äußerst gepflegtem, herunterhängendem Oberlippenbart, in einem dunklen Anzug aus gutem Zwirn, von aufrechter Haltung. Seine Augen waren hellblau. Commendatore La Pergola war er unsympathisch. Er richtete seinen Blick auf die vor ihm liegenden Papiere und hielt in einer Hand den Kneifer.

»Eine blinde Ratte«, so qualifizierte ihn Bovara, der von dem anderen Spitznamen nichts wußte.

»Hier steht, Sie sind in Vigàta geboren, das ist nur wenige Kilometer von hier entfernt.«

»Ja.«

»Aus Ihren persönlichen Unterlagen geht hervor, daß Sie, kaum drei Monate alt, nach Genua gekommen sind, wo Ihr Vater Arbeit gefunden hatte.«

»Ja.«

»In Genua haben Sie die Schule besucht, das Diplom als Buchhalter erworben, Sie haben an einer öffentlichen Stellenausschreibung für die Verwaltungslaufbahn teilgenommen, diese bestanden und dann eine glänzende Dienstzeit in Modena, Bologna und Reggio Emilia abgeleistet.«

»Ja.«

»Junggeselle?«

»Ja.«

»Wie finden Sie das Haus in Vigàta, das ich Ihnen durch den Makler verschafft habe?«

»Ich hatte noch keine Zeit hinzufahren.«

»Aber heute?«

»Nein. Heute abend bleibe ich hier im Hotel, in Montelusa. Morgen früh werde ich umziehen, in aller Ruhe. Ich hielt es für meine Pflicht, mich nach meiner Ankunft zuerst meinem Vorgesetzten vorzustellen.«

»Ich höre, daß nicht einmal in der Emilia die Lage ruhig ist.«

»Tja.«

»Hier ist es auch nicht gerade lustig, Wertester. Die Mahlsteuer ist, unter uns gesagt, verhaßt.«

»Tja.«

Commendatore La Pergola entschloß sich, das Thema zu wechseln, in der Hoffnung, nicht immer nur »Ja« und »Tja« von diesem Kaktuslappen zu hören.

»Sind Sie schon einmal in Sizilien gewesen? Ich meine als Erwachsener.«

»Nein.«

»Wie Sie sicher wissen, haben Sie, um Ihrer Inspektionstätigkeit nachzukommen, Anrecht auf eine Kutsche mit zugehörigem Gnuri.«

»Wie bitte?«

»Sie sprechen unseren Dialekt nicht?«

»Ich habe ihn fast völlig vergessen.«

»Dann sind Sie ja ein Sizilianer, der genuesisch spricht«, sagte der Präsident, indem er mit seinen kleinen Augen zwinkerte und ein Kichern von sich gab, das in Bovaras Ohren wie ein Quieken klang.

»Er ist wirklich eine blinde Ratte«, dachte er. Und antwortete nicht.

»Gnuri bedeutet bei uns Kutscher«, erklärte der Präsident. Und er fuhr fort:

»Natürlich ist das eine Ausgabe, die unser Amt Ihnen zurückerstatten wird, nach Vorlage der Belege.«

»Ich glaube, ich brauche das nicht.«

»Den Gnuri? Verzeihung, den Kutscher?«

»Die Kutsche.«

»Ach, nicht? Aber wie wollen Sie dann herumkommen?«

»Mit dem Pferd. Ich reite ziemlich gut.«

»Na ja, wissen Sie, da Sie unseren Dialekt doch nicht sprechen, könnte es Ihnen gelegentlich schwerfallen, sich zurechtzufinden.«

»Ich werde es versuchen.«

»Sie müssen auch daran denken, daß Sie unerwünschte Begegnungen haben könnten …«

»Ich bin bewaffnet. Ich habe einen Waffenschein.«

»Und wenn es regnet?«

»Dann werde ich naß.«

»Hören Sie, Wertester, denken Sie nur nicht, daß in Sizilien immer die Sonne scheint, wie man das gern glauben macht. Wenn es hier regnet, dann schüttet es.«

»Verzeihen Sie, Commendatore. Aber gerade wenn es regnet, erhält man die besten Ergebnisse bei einer Inspektion. Keiner erwartet einen bei schlechtem Wetter.«

»Tja«, sagte nun der Präsident nachdenklich.

Nachdenklich aus zwei Gründen: Zum einen mußte er unverzüglich Advokat Fasùlo verständigen, damit dieser den Zuständigen benachrichtigt, daß der neue Inspekteur die Absicht habe, über Land zu reiten, und zwar auch bei schlechtem Wetter, und deshalb alle Mühlenbesitzer der Provinz in Alarmbereitschaft versetzt werden müßten; zum zweiten, damit der neue Hauptinspekteur nach Ablauf einiger Wochen in einer Schlucht, halb aufgefressen von Hunden, aufgefunden würde, wie der vielbeweinte Bendicò.

»Und weil ich schon einmal da bin, würde ich gerne das Büro sehen, das mir zugewiesen worden ist.«

Der wollte ja auf der Stelle sein Büro in Besitz nehmen, dem brannte ja richtig der Arsch, unverzüglich Unheil anzurichten, der war ja ganz auf Autopsie versessen.

»Ich lasse Sie dorthin begleiten. Danach unterhalten wir uns noch ein bißchen, mit Muße.«

»Haben Sie Befehle für mich?«

»Befehle? Aber ich bitte Sie! Ratschläge bestenfalls. Nützliche Ratschläge für jemanden wie Sie, der noch nie in Sizilien war.«

Selbstverständlich war ihm das Büro in der zweiten Etage zugewiesen worden, das vorher schon Bendicò und davor Tuttobene gehört hatte. Giovanni wollte erst die Finger an seine Geschlechtsteile legen, zur Abwehr von Unheil, schämte sich dann aber doch dieses Gedankens.

Es war ein geräumiges Zimmer mit einem großen Balkon, von dem aus man das Land mit den Mandel- und Olivenbäumen sah. In einer Ecke stand die Vervielfältigungspresse, an der linken Wand ein hoher Karteikastenschrank, verschlossen zwar, aber der Schlüssel steckte. Dann waren da noch der Schreibtisch, ein kleines Kanapee, zwei Sessel und drei Stühle. Giovanni war bestürzt über die Unordnung der überall verstreut herumliegenden Blätter, nicht nur auf dem Schreibtisch, den Sesseln, dem Kanapee, den Stühlen, sondern auch auf dem Fußboden. Er drehte sich um und sah Caminiti, den Amtsdiener, an.

»Woher diese Unordnung?«

»Ehee!«

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß keiner Hand an die Papiere von dem Cavaliere Bendicò nicht legen will«, sagte Caminiti. Und präzisierte: »Keiner nicht von der Direktion.«

»Und wieso?«

Der Amtsdiener fing an zu grinsen, was Giovanni verwirrte.

»Antwortet lieber, statt albern zu grinsen.«

»Xellenza, möglich, daß, wenn einer Hand an diese Papiere legt, er von einem giftigen Dier gebissen wird.«

»Dier?«

»Ja, ja, giftiges Tier, Bestie. Einer Tanzlibelle vielleicht oder irgend so einer Viper … solche Diere eben.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nicht doch, Xellenza. Ich mach’ keine Witze nicht, nie. Und auch Ihr müßt aufpassen bei diesen Papieren … Man sollte nicht in ihnen herumstochern. Macht einfach ein paar Pakete daraus, danach bringe ich sie raus zum Verbrennen. Hab ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Nein, Ihr habt Euch überhaupt nicht verständlich ausgedrückt«, sagte Giovanni barsch und entließ ihn auf der Stelle.

Ein vertrottelter Amtsdiener, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie konnte er nur glauben, daß ein giftiges Tier seinen Bau ausgerechnet inmitten von Papieren eines Amtsbüros errichten würde? Das, so nahm er sich vor, würde er Tante Giovanna schreiben. Die würde sich vor lauter Lachen bäuchlings auf dem Boden wälzen.

»Den erschieß’ ich, diesen ausgekochten Hurensohn von Pfaff«, platzte Memè Moro heraus, kaum daß er das Gerichtsgebäude verlassen hatte. Advokat Losurdo packte ihn am Arm.

»So beruhigen Sie sich doch, Don Memè.«

»Beruhigen Sie sich, ’nen Scheißdreck! Ich erschieß’ den, dieses gehörnte Rindvieh von Padre Carnazza, so wahr Christus ans Kreuz genagelt wurde!«

»Sprechen Sie doch leiser, Don Memè, man kann Sie ja hören.«

»Das kümmert mich einen Scheißdreck, ob man mich hört!«

Memè Moro hatte gerade den letzten Prozeß gegen seinen Cousin, Padre Carnazza, verloren, einen Cousin aus der mütterlichen Linie. Es ging um eine Erbschaftsangelegenheit, die sich ungefähr zehn Jahre hingezogen hatte. Mit der Zeit, nach jedem weiteren Prozeß, hatte sich Padre Carnazza das genommen, wovon Memè Moro glaubte, es gehöre rechtens ihm, Land und Häuser.

»Sie werden schon sehen, daß der Schiedsentscheid über das Landstück Pircoco zu unseren Gunsten ausfällt«, versuchte der Advokat ihn zu besänftigen. »Soviel ich von Recht und Gesetz verstehe, besteht diesmal überhaupt kein Zweifel …«

»Sie, Signor Advokat, verstehen von Recht und Gesetz so viel wie ein Ziegenbock! Nachdem Sie alle Prozesse verloren haben, haben Sie jetzt auch noch für das Landstück Pircoco das Schiedsgericht angerufen. Und wissen Sie, wie’s ausgehen wird? Man wird es mir in den Arsch jagen, mitsamt dem Schiedsentscheid!«

»Gehen wir einen Espresso trinken«, schlug der Advokat vor.

Er mochte es nicht, wenn die Leute, die ins Gericht gingen und herauskamen, hörten, wie sein Mandant über seinen Rechtsbeistand dachte.

Memè Moro antwortete nicht einmal und ging weg.

»Den erschieß’ ich! Den erschieß’ ich, wie er’s verdient hat!«

Das verkündete er lauthals vor der Urbs und dem Orbis. Und die Leute drehten sich nach ihm um und schauten ihm nach.

Immer noch Samstag, 1. September 1877

Er begriff, daß er dieses Zimmer unmöglich am Montag, dem Tag seines Dienstantritts, beziehen konnte, wenn er es nicht augenblicklich in Ordnung brachte.

»Könntet Ihr mir wohl ein bißchen Brot kaufen, ein Stück Käse und ein Glas Wein?«

Caminiti sah ihn an wie ein völliger Tölpel.

»Was soll das, Euer Ehren? Wollen Sie sich etwa hier hinsetzen und essen?«

»Ja. Ist das verboten?«

»Wie Sie wollen, Euer Ehren. Was für einen Käse wünschen Sie? Tuma?«

»Was Ihr wollt.«

Giovanni räumte einen Stuhl frei, setzte sich niedergeschlagen hin und blickte sich im Raum um. Wo beginnen? Vielleicht wäre es sinnvoll, einen flüchtigen Blick auf die Papiere zu werfen. Wahllos griff er ein Blatt heraus und fing an zu lesen.

Eine viertel Stunde später kehrte Caminiti mit einem Metalltablett zurück, auf dem ein Laib Brot, eine Scheibe Schafskäse, eine weitere Scheibe Käse mit Pfefferkörnern, eine Süßspeise aus Ricotta, eine schon entkorkte Flasche Rotwein und ein Glas zusammengestellt waren.

»Jeh, so viel! Was habt Ihr dafür bezahlt?«

»Nichtsnicht.«

»Was heißt nichts?!«

»Ich bin hinunter in die Trattoria gegangen, habe bestellt, habe gesagt, daß es für den neuen Hauptinspekteur der Mühlen wäre. Da sagte einer, der mit anderen Herrschaften beisammensaß, das würde alles auf seine Rechnung gehen.«

»Und Ihr, heiliger Herrgott, habt das angenommen?«

»Was hätte ich denn tun sollen? Den Kleinlichen spielen? Immerhin war das Don Cocò Afflitto!«

»Und wer ist das?«

»Einer.«

»Gut«, sagte Giovanni, »jetzt nehmt Ihr das Tablett so wie es ist, tragt es wieder hinunter, dankt diesem Herrn und kommt zurück.«

»Was soll das? Wollen Sie nicht mehr essen?«

»Ich werde heute abend essen.«

Caminiti zuckte die Schultern.

»Euer Ehren mögen mir verzeihen, aber Sie sind einer, der es wirklich drauf anlegt.«

Der Amtsdiener ging hinaus, Giovanni fuhr damit fort, die Papiere zu überfliegen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Sollte Bendicò wirklich in diesem Büro gearbeitet haben, in dieser Unordnung? Caminiti mußte zurück sein, er rief ihn mit lauter Stimme.

»Zu Ihrer Verfügung, Xellenza.«

»Habt Ihr das Zeug hinuntergebracht?«

»Sicher doch, Xellenza.«

»Und was hat der bewußte Herr gesagt … wie heißt er noch gleich?«

»Don Cocò Afflitto. Nichtsnicht, was sollte der schon gesagt haben? Gelacht hat er. Ein witziger Mann ist der, Don Cocò.«

»Sagt einmal: Hat Bendicò wirklich so gearbeitet?«

»So? Wie?«

»Seht Ihr denn nicht diese Unordnung?«

»Ah, nein! Cavaliere Bendicò war außergewöhnlich ordentlich.«

»Wer war es dann?«

»Na ja … Leute sind gekommen … Don Ciccio La Mantìa … Advokat Fasùlo …«

»Sind das Beamte des Finanzpräsidiums?«

»Wer?«

»Na die, die Ihr gerade genannt habt, La Mantìa, Fasùlo …«

»Ach woher!«

»Was für Leute sind sie dann?«

»Weiß nicht, was das für Leute sind.«

»Aber Ihr kennt sie doch sogar mit Namen!«

»Was soll das heißen? Eines ist es, den Namen einer Person zu kennen, etwas ganz anderes ist es zu wissen, wer einer ist.«

»Wieso habt Ihr sie hereingelassen?«

»Das hatte seine Xellenza, der Signor Finanzpräsident, so angeordnet.«

Vier Stunden brauchte Giovanni, um ein wenig Ordnung in die Papiere zu bringen. Er hatte sie in zwei große Stapel unterteilt: zum ersten gehörten private Briefe, Zeitungsseiten, unverständliche Notizen, Entwürfe für Antwortschreiben auf Widerspruchseingaben; auf dem zweiten hatte er Dokumente, Memoranden, Berichte gesammelt, die er für würdig hielt, sie noch einmal zu lesen.

Signora Pippineddra Camastra gehörte nicht zu den Getreuen der Frühmesse von Padre Carnazza. Sie war eine Anhängerin des Angelus. Mit ihrer Gevatterin Nitta Fragalà, die, statt früh in die Kirche zu gehen, Haus und Laden versorgte, sah sie sich daher bei der Abendandacht, und sie gingen dann ein Stück des Weges gemeinsam, weil ihre Häuser in derselben Gasse benachbart waren.

»Da ist diese Frau, von der ich nicht ganz überzeugt bin«, begann Signora Nitta eines Abends.

»Wer ist die, Gevatterin?«

»Mit Namen, glaub’ ich, heißt sie Trisìna Cìcero.«

»Die kenn’ ich. Die ist Witwe. Sie war mit Don Arminio verheiratet, der sechzig war, sie dagegen noch keine zwanzig. Die Kleine hatte Arminio den Kopf verdreht. Und warum seid Ihr von der nicht überzeugt, Gevatterin?«

»In die Kirche ging sie vorher nie. Jetzt sind’s ungefähr zwei Wochen, daß sie zur Frühmesse geht, und danach schlüpft sie in die Sakristei.«

»Oh, oh«, machte Signora Pippineddra.

Die beiden Gevatterinnen wußten, wie Pfarrer Carnazza beschaffen war, was weibliche Oasen mit Palmen anging, aber das regte sie nicht weiter auf: ein Mann ist und bleibt ein Mann, auch wenn er das Gewand des Papstes trägt. Und außerdem, wie sagten die Alten, die mit der Weisheit noch regen Umgang pflegten? Sie sagten:

»Bei Mönch und Pfaffenkloß

hör nur die Meß,

dann gieb ihm den Nierenstoß.«

Was bedeutete, daß Pfaffen nur dazu taugten, daß man bei ihnen die heilige Messe hörte, danach durften sie sich ruhig das Kreuz brechen.

»Und Signoradonna Romilda?« fragte Signora Pippineddra.

»Na ja«, machte Signora Nitta. »Morgens läßt sie sich nicht mehr blicken.«

»Nun ja«, sagte Signora Pippineddra, »ich muß jetzt gehen, Gevatterin. Mir ist eingefallen, daß ich noch was zu erledigen habe.«

Das, was sie soeben von ihrer Gevatterin Nitta erfahren hatte, wollte sie auf der Stelle ihrer Tochter Catarina erzählen, die Dienstmädchen im Hause von Signoradonna Romilda war.

Signoradonna Romilda, Gattin des Posthalters Cavaliere Arturo Brucculeri, war die Frau, die vor dem Auftauchen von Donna Trisìna gleich nach Beendigung der Messe in die Sakristei zu schlüpfen pflegte.

Er blickte zum Fenster hinaus aufs Land und bemerkte, daß die Sonne nur noch ein dünner Hauch am Horizont war. Jesses! Wie lange hatte er eigentlich gebraucht, um Ordnung in die Papiere zu bringen?

»Caminiti!«

Der Amtsdiener antwortete nicht. Daraufhin ging Bovara zur Türe.

»Caminiti!«