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Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

Robert Musil

Der Mann ohne Eigenschaften

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Rowohlt, Berlin, 1930, 1933
2. Auflage, ISBN 978-3-954182-89-3

www.null-papier.de

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Ers­tes Buch

Ers­ter Teil – Eine Art Ein­lei­tung

Zwei­ter Teil – Sei­nes­glei­chen ge­schieht

Zwei­tes Buch

Drit­ter Teil – Ins Tau­send­jäh­ri­ge Reich [Die Ver­bre­cher]

Schluss des drit­ten Teils und vier­ter Teil

Dan­ke

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Ihr
Jür­gen Schul­ze

Zum Buch

In die­sem ge­wal­ti­gen Meis­ter­werk, das vie­le auch mit Joy­ces »Ulys­ses« oder Prousts »Auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit« ver­glei­chen, pas­siert ober­fläch­lich we­nig. Die Pro­tago­nis­ten ver­lie­ren sich in ih­ren Ge­dan­ken und Emo­tio­nen.

»Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten‹ ist ein iro­ni­scher, aber auch ein hu­ma­nis­tisch-uto­pi­scher Ro­man. Über 2000 Sei­ten um­fass­te Mu­sils letzt­lich un­voll­en­det ge­blie­be­ne Ge­schich­te, nach­dem sich der Ber­li­ner Ro­wohlt-Ver­lag wei­ger­te, wei­te­re Bän­de zu be­zah­len. Da­her lie­gen Tei­le des drit­ten und vier­ten Teils nur frag­men­ta­risch vor – sie ent­stam­men dem Nach­lass.

»Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten‹ ist eine sper­ri­ge Lek­tü­re, die sich dem Le­ser nur schwer er­schließt.

Der ti­tel­ge­ben­de „Held“ Ul­rich, ein Mann mit al­len Mög­lich­kei­ten aber ohne Hei­mat; ge­bil­det, jung, ge­sund, aber nicht fä­hig, sich fest­zu­le­gen, we­der be­ruf­lich noch mensch­lich, er bleibt ein Mann ohne Kon­tu­ren, eben ohne Ei­gen­schaf­ten.

Erstes Buch

Erster Teil – Eine Art Einleitung

1 – Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht

Über dem At­lan­tik be­fand sich ein ba­ro­me­tri­sches Mi­ni­mum; es wan­der­te ost­wärts, ei­nem über Ruß­land la­gern­den Ma­xi­mum zu, und ver­riet noch nicht die Nei­gung, die­sem nörd­lich aus­zu­wei­chen. Die Iso­ther­men und Iso­the­ren1 ta­ten ihre Schul­dig­keit. Die Luft­tem­pe­ra­tur stand in ei­nem ord­nungs­ge­mä­ßen Ver­hält­nis zur mitt­le­ren Jah­res­tem­pe­ra­tur, zur Tem­pe­ra­tur des käl­tes­ten wie des wärms­ten Mo­nats und zur ape­ri­odi­schen mo­nat­li­chen Tem­pe­ra­tur­schwan­kung. Der Auf- und Un­ter­gang der Son­ne, des Mon­des, der Licht­wech­sel des Mon­des, der Ve­nus, des Sa­turn­rin­ges und vie­le an­de­re be­deut­sa­me Er­schei­nun­gen ent­spra­chen ih­rer Voraus­sa­ge in den astro­no­mi­schen Jahr­bü­chern. Der Was­ser­dampf in der Luft hat­te sei­ne höchs­te Spann­kraft, und die Feuch­tig­keit der Luft war ge­ring. Mit ei­nem Wort, das das Tat­säch­li­che recht gut be­zeich­net, wenn es auch et­was alt­mo­disch ist: Es war ein schö­ner Au­gust­tag des Jah­res 1913.

Au­tos schos­sen aus schma­len, tie­fen Stra­ßen in die Seich­tig­keit hel­ler Plät­ze. Fuß­gän­ger­dun­kel­heit bil­de­te wol­ki­ge Schnü­re. Wo kräf­ti­ge­re Stri­che der Ge­schwin­dig­keit quer durch ihre lo­cke­re Eile fuh­ren, ver­dick­ten sie sich, rie­sel­ten nach­her ra­scher und hat­ten nach we­ni­gen Schwin­gun­gen wie­der ih­ren gleich­mä­ßi­gen Puls. Hun­der­te Töne wa­ren zu ei­nem drah­ti­gen Geräusch in­ein­an­der ver­wun­den, aus dem ein­zel­ne Spit­zen vor­stan­den, längs des­sen schnei­di­ge Kan­ten lie­fen und sich wie­der ein­eb­ne­ten, von dem kla­re Töne ab­split­ter­ten und ver­flo­gen. An die­sem Geräusch, ohne daß sich sei­ne Be­son­der­heit be­schrei­ben lie­ße, wür­de ein Mensch nach jah­re­lan­ger Ab­we­sen­heit mit ge­schlos­se­nen Au­gen er­kannt ha­ben, daß er sich in der Reichs­haupt- und Re­si­denz­stadt Wien be­fin­de. Städ­te las­sen sich an ih­rem Gang er­ken­nen wie Men­schen. Die Au­gen öff­nend, wür­de er das glei­che an der Art be­mer­ken, wie die Be­we­gung in den Stra­ßen schwingt, bei wei­tem frü­her als er es durch ir­gend­ei­ne be­zeich­nen­de Ein­zel­heit her­aus­fän­de. Und wenn er sich, das zu kön­nen, nur ein­bil­den soll­te, scha­det es auch nichts. Die Über­schät­zung der Fra­ge, wo man sich be­fin­de, stammt aus der Hor­den­zeit, wo man sich die Fut­ter­plät­ze mer­ken muß­te. Es wäre wich­tig, zu wis­sen, warum man sich bei ei­ner ro­ten Nase ganz un­ge­nau da­mit be­gnügt, sie sei rot, und nie da­nach fragt, wel­ches be­son­de­re Rot sie habe, ob­gleich sich das durch die Wel­len­län­ge auf Mi­kro­mil­li­me­ter ge­nau aus­drücken lie­ße; wo­ge­gen man bei et­was so viel Ver­wi­ckel­te­rem, wie es eine Stadt ist, in der man sich auf­hält, im­mer durch­aus ge­nau wis­sen möch­te, wel­che be­son­de­re Stadt das sei. Es lenkt von Wich­ti­ge­rem ab.

Es soll also auf den Na­men der Stadt kein be­son­de­rer Wert ge­legt wer­den. Wie alle großen Städ­te be­stand sie aus Un­re­gel­mä­ßig­keit, Wech­sel, Vorglei­ten, Nicht­schrit­t­hal­ten, Zu­sam­men­stö­ßen von Din­gen und An­ge­le­gen­hei­ten, bo­den­lo­sen Punk­ten der Stil­le da­zwi­schen, aus Bah­nen und Un­ge­bahn­tem, aus ei­nem großen rhyth­mi­schen Schlag und der ewi­gen Ver­stim­mung und Ver­schie­bung al­ler Rhyth­men ge­gen­ein­an­der, und glich im gan­zen ei­ner ko­chen­den Bla­se, die in ei­nem Ge­fäß ruht, das aus dem dau­er­haf­ten Stoff von Häu­sern, Ge­set­zen, Ver­ord­nun­gen und ge­schicht­li­chen Über­lie­fe­run­gen be­steht. Die bei­den Men­schen, die dar­in eine brei­te, be­leb­te Stra­ße hin­auf­gin­gen, hat­ten na­tür­lich gar nicht die­sen Ein­druck. Sie ge­hör­ten er­sicht­lich ei­ner be­vor­zug­ten Ge­sell­schafts­schicht an, wa­ren vor­nehm in Klei­dung, Hal­tung und in der Art, wie sie mit­ein­an­der spra­chen, tru­gen die An­fangs­buch­sta­ben ih­rer Na­men be­deut­sam auf ihre Wä­sche ge­stickt, und eben­so, das heißt nicht nach au­ßen ge­kehrt, wohl aber in der fei­nen Un­ter­wä­sche ih­res Be­wußt­seins, wuß­ten sie, wer sie sei­en und daß sie sich in ei­ner Haupt- und Re­si­denz­stadt auf ih­rem Plat­ze be­fan­den. An­ge­nom­men, sie wür­den Arn­heim und Er­me­lin­da Tuz­zi hei­ßen, was aber nicht stimmt, denn Frau Tuz­zi be­fand sich im Au­gust in Beglei­tung ih­res Gat­ten in Bad Aus­see und Dr. Arn­heim noch in Kon­stan­ti­no­pel, so steht man vor dem Rät­sel, wer sie sei­en. Leb­haf­te Men­schen emp­fin­den sol­che Rät­sel sehr oft in den Stra­ßen. Sie lö­sen sich in be­mer­kens­wer­ter Wei­se da­durch auf, daß man sie ver­gißt, falls man sich nicht wäh­rend der nächs­ten fünf­zig Schrit­te er­in­nern kann, wo man die bei­den schon ge­se­hen hat. Die­se bei­den hiel­ten nun plötz­lich ih­ren Schritt an, weil sie vor sich einen Auf­lauf be­merk­ten. Schon einen Au­gen­blick vor­her war et­was aus der Rei­he ge­sprun­gen, eine quer schla­gen­de Be­we­gung; et­was hat­te sich ge­dreht, war seit­wärts ge­rutscht, ein schwe­rer, jäh ge­brems­ter Last­wa­gen war es, wie sich jetzt zeig­te, wo er, mit ei­nem Rad auf der Bord­schwel­le, ge­stran­det da­stand. Wie die Bie­nen um das Flug­loch hat­ten sich im Nu Men­schen um einen klei­nen Fleck an­ge­setzt, den sie in ih­rer Mit­te freilie­ßen. Von sei­nem Wa­gen her­ab­ge­kom­men, stand der Len­ker dar­in, grau wie Pack­pa­pier, und er­klär­te mit gro­ben Ge­bär­den den Un­glücks­fall. Die Bli­cke der Hin­zu­kom­men­den rich­te­ten sich auf ihn und san­ken dann vor­sich­tig in die Tie­fe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwel­le des Geh­steigs ge­bet­tet hat­te. Er war durch sei­ne ei­ge­ne Unacht­sam­keit zu Scha­den ge­kom­men, wie all­ge­mein zu­ge­ge­ben wur­de. Ab­wech­selnd knie­ten Leu­te bei ihm nie­der, um et­was mit ihm an­zu­fan­gen; man öff­ne­te sei­nen Rock und schloß ihn wie­der, man ver­such­te ihn auf­zu­rich­ten oder im Ge­gen­teil, ihn wie­der hin­zu­le­gen; ei­gent­lich woll­te nie­mand et­was an­de­res da­mit, als die Zeit aus­fül­len, bis mit der Ret­tungs­ge­sell­schaft sach­kun­di­ge und be­fug­te Hil­fe käme.

Auch die Dame und ihr Beglei­ter wa­ren her­an­ge­tre­ten und hat­ten, über Köp­fe und ge­beug­te Rücken hin­weg, den Da­lie­gen­den be­trach­tet. Dann tra­ten sie zu­rück und zö­ger­ten. Die Dame fühl­te et­was Un­an­ge­neh­mes in der Herz-Ma­gen­gru­be, das sie be­rech­tigt war für Mit­leid zu hal­ten; es war ein un­ent­schlos­se­nes, läh­men­des Ge­fühl. Der Herr sag­te nach ei­ni­gem Schwei­gen zu ihr: »Die­se schwe­ren Kraft­wa­gen, wie sie hier ver­wen­det wer­den, ha­ben einen zu lan­gen Brems­weg.« Die Dame fühl­te sich da­durch er­leich­tert und dank­te mit ei­nem auf­merk­sa­men Blick. Sie hat­te die­ses Wort wohl schon manch­mal ge­hört, aber sie wuß­te nicht, was ein Brems­weg sei, und woll­te es auch nicht wis­sen; es ge­nüg­te ihr, daß da­mit die­ser gräß­li­che Vor­fall in ir­gend eine Ord­nung zu brin­gen war und zu ei­nem tech­ni­schen Pro­blem wur­de, das sie nicht mehr un­mit­tel­bar an­ging. Man hör­te jetzt auch schon die Pfei­fe ei­nes Ret­tungs­wa­gens schril­len, und die Schnel­lig­keit sei­nes Ein­tref­fens er­füll­te alle War­ten­den mit Ge­nug­tu­ung. Be­wun­derns­wert sind die­se so­zia­len Ein­rich­tun­gen. Man hob den Ve­r­un­glück­ten auf eine Trag­bah­re und schob ihn mit die­ser in den Wa­gen. Män­ner in ei­ner Art Uni­form wa­ren um ihn be­müht, und das In­ne­re des Fuhr­werks, das der Blick er­hasch­te, sah so sau­ber und re­gel­mä­ßig wie ein Kran­ken­saal aus. Man ging fast mit dem be­rech­tig­ten Ein­druck da­von, daß sich ein ge­setz­li­ches und ord­nungs­mä­ßi­ges Er­eig­nis voll­zo­gen habe. »Nach den ame­ri­ka­ni­schen Sta­tis­ti­ken«, so be­merk­te der Herr, »wer­den dort jähr­lich durch Au­tos 190.000 Per­so­nen ge­tö­tet und 450.000 ver­letzt.«

»Mei­nen Sie, daß er tot ist?« frag­te sei­ne Beglei­te­rin und hat­te noch im­mer das un­be­rech­tig­te Ge­fühl, et­was Be­son­de­res er­lebt zu ha­ben.

»Ich hof­fe, er lebt« er­wi­der­te der Herr. »Als man ihn in den Wa­gen hob, sah es ganz so aus.«


  1. Li­ni­en glei­cher som­mer­li­cher Ma­xi­mal­tem­pe­ra­tur  <<<

2 – Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften

Die Stra­ße, in der sich die­ser klei­ne Un­glücks­fall er­eig­net hat­te, war ei­ner je­ner lan­gen, ge­wun­de­nen Ver­kehrs­flüs­se, die strah­len­för­mig am Kern der Stadt ent­sprin­gen, die äu­ße­ren Be­zir­ke durch­ziehn und in die Vor­städ­te mün­den. Soll­te ihm das ele­gan­te Paar noch eine Wei­le wei­ter ge­folgt sein, so wür­de es et­was ge­se­hen ha­ben, das ihm ge­wiß ge­fal­len hät­te. Das war ein teil­wei­se noch er­hal­ten ge­blie­be­ner Gar­ten aus dem acht­zehn­ten oder gar aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert, und wenn man an sei­nem schmie­de­ei­ser­nen Git­ter vor­bei­kam, so er­blick­te man zwi­schen Bäu­men, auf sorg­fäl­tig ge­scho­re­nem Ra­sen et­was wie ein kurz­flü­ge­li­ges Schlöß­chen, ein Jagd- oder Lie­bes­schlöß­chen ver­gan­ge­ner Zei­ten. Genau ge­sagt, sei­ne Trag­ge­wöl­be wa­ren aus dem sieb­zehn­ten Jahr­hun­dert, der Park und der Ober­stock tru­gen das An­se­hen des acht­zehn­ten Jahr­hun­derts, die Fassa­de war im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert er­neu­ert und et­was ver­dor­ben wor­den, das Gan­ze hat­te also einen et­was ver­wa­ckel­ten Sinn, so wie über­ein­an­der pho­to­gra­phier­te Bil­der; aber es war so, daß man un­fehl­bar ste­hen blieb und »Ah!« sag­te. Und wenn das Wei­ße, Nied­li­che, Schö­ne sei­ne Fens­ter ge­öff­net hat­te, blick­te man in die vor­neh­me Stil­le der Bü­cher­wän­de ei­ner Ge­lehr­ten­woh­nung.

Die­se Woh­nung und die­ses Haus ge­hör­ten dem Mann ohne Ei­gen­schaf­ten.

Er stand hin­ter ei­nem der Fens­ter, sah durch den zart­grü­nen Fil­ter der Gar­ten­luft auf die bräun­li­che Stra­ße und zähl­te mit der Uhr seit zehn Mi­nu­ten die Au­tos, die Wa­gen, die Tram­bah­nen und die von der Ent­fer­nung aus­ge­wa­sche­nen Ge­sich­ter der Fuß­gän­ger, die das Netz des Blicks mit quir­len­der Eile füll­ten; er schätz­te die Ge­schwin­dig­kei­ten, die Win­kel, die le­ben­di­gen Kräf­te vor­über­be­weg­ter Mas­sen, die das Auge blitz­schnell nach sich zie­hen, fest­hal­ten, los­las­sen, die wäh­rend ei­ner Zeit, für die es kein Maß gibt, die Auf­merk­sam­keit zwin­gen, sich ge­gen sie zu stem­men, ab­zu­rei­ßen, zum nächs­ten zu sprin­gen und sich die­sem nach­zu­wer­fen; kurz, er steck­te, nach­dem er eine Wei­le im Kopf ge­rech­net hat­te, la­chend die Uhr in die Ta­sche und stell­te fest, daß er Un­sinn ge­trie­ben habe. – Könn­te man die Sprün­ge der Auf­merk­sam­keit mes­sen, die Leis­tun­gen der Au­gen­mus­keln, die Pen­del­be­we­gun­gen der See­le und alle die An­stren­gun­gen, die ein Mensch voll­brin­gen muß, um sich im Fluß ei­ner Stra­ße auf­recht zu hal­ten, es käme ver­mut­lich – so hat­te er ge­dacht und spie­lend das Un­mög­li­che zu be­rech­nen ver­sucht – eine Grö­ße her­aus, mit der ver­gli­chen die Kraft, die At­las braucht, um die Welt zu stem­men, ge­ring ist, und man könn­te er­mes­sen, wel­che un­ge­heu­re Leis­tung heu­te schon ein Mensch voll­bringt, der gar nichts tut.

Denn der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten war au­gen­blick­lich ein sol­cher Mensch.

Und ei­ner der tut?

»Man kann zwei Schlüs­se dar­aus zie­hen« sag­te er sich.

Die Mus­kel­leis­tung ei­nes Bür­gers, der ru­hig einen Tag lang sei­nes We­ges geht, ist be­deu­tend grö­ßer als die ei­nes Ath­le­ten, der ein­mal im Tag ein un­ge­heu­res Ge­wicht stemmt; das ist phy­sio­lo­gisch nach­ge­wie­sen wor­den, und also set­zen wohl auch die klei­nen All­tags­leis­tun­gen in ih­rer ge­sell­schaft­li­chen Sum­me und durch ihre Eig­nung für die­se Sum­mie­rung viel mehr Ener­gie in die Welt als die he­ro­i­schen Ta­ten; ja die he­ro­i­sche Leis­tung er­scheint ge­ra­de­zu win­zig, wie ein Sand­korn, das mit un­ge­heu­rer Il­lu­si­on auf einen Berg ge­legt wird. Die­ser Ge­dan­ke ge­fiel ihm.

Aber es muß hin­zu­ge­fügt wer­den, daß er ihm nicht etwa des­halb ge­fiel, weil er das bür­ger­li­che Le­ben lieb­te; im Ge­gen­teil, es be­lieb­te ihm bloß, sei­nen Nei­gun­gen, die einst­mals an­ders ge­we­sen wa­ren, Schwie­rig­kei­ten zu be­rei­ten. Vi­el­leicht ist es ge­ra­de der Spieß­bür­ger, der den Be­ginn ei­nes un­ge­heu­ren neu­en, kol­lek­ti­ven, amei­sen­haf­ten Hel­den­tums vor­au­sahnt? Man wird es ra­tio­na­li­sier­tes Hel­den­tum nen­nen und sehr schön fin­den. Wer kann das heu­te schon wis­sen? Sol­cher un­be­ant­wor­te­ter Fra­gen von größ­ter Wich­tig­keit gab es aber da­mals hun­der­te. Sie la­gen in der Luft, sie brann­ten un­ter den Fü­ßen. Die Zeit be­weg­te sich. Leu­te, die da­mals noch nicht ge­lebt ha­ben, wer­den es nicht glau­ben wol­len, aber schon da­mals be­weg­te sich die Zeit so schnell wie ein Reit­ka­mel; und nicht erst heu­te. Man wuß­te bloß nicht, wo­hin. Man konn­te auch nicht recht un­ter­schei­den, was oben und un­ten war, was vor und zu­rück ging. »Man kann tun, was man will;« sag­te sich der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten ach­zel­zu­ckend »es kommt in die­sem Ge­filz von Kräf­ten nicht im ge­rings­ten dar­auf an!« Er wand­te sich ab wie ein Mensch, der ver­zich­ten ge­lernt hat, ja fast wie ein kran­ker Mensch, der jede star­ke Berüh­rung scheut, und als er, sein an­gren­zen­des An­klei­de­zim­mer durch­schrei­tend, an ei­nem Box­ball, der dort hing, vor­bei­kam, gab er die­sem einen so schnel­len und hef­ti­gen Schlag, wie es in Stim­mun­gen der Er­ge­ben­heit oder Zu­stän­den der Schwä­che nicht ge­ra­de üb­lich ist.

3 – Auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften

Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten hat­te, als er vor ei­ni­ger Zeit aus dem Aus­land zu­rück­kehr­te, ei­gent­lich nur aus Über­mut und weil er die ge­wöhn­li­chen Woh­nun­gen ver­ab­scheu­te, die­ses Schlöß­chen ge­mie­tet, das einst ein vor den To­ren lie­gen­der Som­mer­sitz ge­we­sen war, der sei­ne Be­stim­mung ver­lor, als die Groß­stadt über ihn weg­wuchs, und zu­letzt nicht mehr als ein brach­lie­gen­des, auf das Stei­gen der Bo­den­prei­se war­ten­des Grund­stück dar­stell­te, das von nie­mand be­wohnt wur­de. Der Pacht­zins war dement­spre­chend ge­ring, aber un­er­war­tet viel Geld hat­te das Wei­te­re ge­kos­tet, al­les wie­der in Stand set­zen zu las­sen und mit den An­sprü­chen der Ge­gen­wart zu ver­bin­den; das war ein Aben­teu­er ge­wor­den, des­sen Aus­gang ihn zwang, sich an die Hil­fe sei­nes Va­ters zu wen­den, was ihm kei­nes­wegs an­ge­nehm war, denn er lieb­te sei­ne Un­ab­hän­gig­keit. Er war zwei­und­drei­ßig Jah­re alt, und sein Va­ter neun­und­sech­zig.

Der alte Herr war ent­setzt. Nicht ei­gent­lich we­gen des Über­falls, wenn­gleich auch des­we­gen, denn er ver­ab­scheu­te die Un­über­legt­heit; noch we­gen der Kon­tri­bu­ti­on, die er leis­ten muß­te, denn im Grun­de bil­lig­te er es, daß sein Sohn ein Be­dürf­nis nach Häus­lich­keit und ei­ge­ner Ord­nung kund­ge­ge­ben hat­te. Aber die An­eig­nung ei­nes Ge­bäu­des, das man, und sei es auch nur im Di­mi­nu­tiv, nicht um­hin konn­te als ein Schloß zu be­zeich­nen, ver­letz­te sein Ge­fühl und ängs­tig­te es als eine un­heil­ver­hei­ßen­de An­ma­ßung.

Er selbst hat­te als Haus­leh­rer in hoch­gräf­li­chen Häu­sern be­gon­nen; als Stu­dent und fort­fah­rend noch als jun­ger Rechts­an­walts­ge­hil­fe und ei­gent­lich ohne Not, denn schon sein Va­ter war ein wohl­ha­ben­der Mann ge­we­sen. – Als er spä­ter Uni­ver­si­täts­do­zent und Pro­fes­sor wur­de, fühl­te er sich aber da­für be­lohnt, denn die sorg­fäl­ti­ge Pfle­ge die­ser Be­zie­hun­gen brach­te es nun mit sich, daß er all­mäh­lich zum Rechts­kon­su­len­ten fast des ge­sam­ten Feu­dala­dels sei­ner Hei­mat auf­rück­te, ob­gleich er ei­nes Ne­ben­be­rufs nun erst recht nicht mehr be­durf­te. Ja, lan­ge nach­dem das Ver­mö­gen, wel­ches er da­mit er­warb, schon den Ver­gleich mit der Mor­gen­ga­be ei­ner rhei­ni­schen In­dus­tri­el­len­fa­mi­lie aus­hielt, die sei­nes Soh­nes früh­ver­stor­be­ne Mut­ter in die Ehe ge­bracht hat­te, schlie­fen die­se in der Ju­gend er­wor­be­nen und im Man­nes­al­ter be­fes­tig­ten Be­zie­hun­gen nicht ein. Ob­gleich sich der zu Ehren ge­kom­me­ne Ge­lehr­te nun vom ei­gent­li­chen Rechts­ge­schäft zu­rück­zog und nur ge­le­gent­lich noch eine hoch­be­zahl­te Gut­ach­ter­tä­tig­keit aus­üb­te, wur­den doch noch alle Er­eig­nis­se, die den Kreis sei­ner ehe­ma­li­gen Gön­ner an­gin­gen, in ei­ge­nen Auf­zeich­nun­gen sorg­fäl­tig ge­bucht, mit großer Ge­nau­ig­keit von den Vä­tern auf die Söh­ne und En­kel über­tra­gen, und es ging kei­ne Aus­zeich­nung, kei­ne Hoch­zeit, kein Ge­burts- oder Na­mens­tag ohne ein Schrei­ben vor­über, das den Emp­fän­ger in ei­ner zar­ten Mi­schung von Ehr­er­bie­tung und ge­mein­sa­men Erin­ne­run­gen be­glück­wünsch­te. Eben­so pünkt­lich lie­fen dar­auf auch je­des­mal kur­ze Ant­wort­schrei­ben ein, die dem lie­ben Freund und ge­schätz­ten Ge­lehr­ten dank­ten. So kann­te sein Sohn die­ses ari­sto­kra­ti­sche Ta­lent ei­nes fast un­be­wußt, aber si­cher wä­gen­den Hoch­muts von Ju­gend auf, wel­ches das Maß ei­ner Freund­lich­keit ge­ra­de rich­tig be­mißt, und die Un­ter­wür­fig­keit ei­nes im­mer­hin zum geis­ti­gen Adel ge­hö­ren­den Men­schen vor den Be­sit­zern von Pfer­den, Äckern und Tra­di­tio­nen hat­te ihn im­mer ge­reizt. Es war aber nicht Be­rech­nung, was sei­nen Va­ter da­ge­gen un­emp­find­lich mach­te; ganz aus Na­tur­trieb leg­te er auf sol­che Wei­se eine große Lauf­bahn hin­ter sich, er wur­de nicht nur Pro­fes­sor, Mit­glied von Aka­de­mi­en und vie­len wis­sen­schaft­li­chen und staat­li­chen Aus­schüs­sen, son­dern auch Rit­ter, Kom­tur, ja so­gar Groß­kreuz ho­her Or­den, Se. Ma­je­stät er­hob ihn schließ­lich in den erb­li­chen Adels­stand und hat­te ihn schon vor­her zum Mit­glied des Her­ren­hau­ses er­nannt. Dort hat­te sich der Aus­ge­zeich­ne­te dem frei­sin­ni­gen bür­ger­li­chen Flü­gel an­ge­schlos­sen, der zu dem hoch­ade­li­gen manch­mal im Ge­gen­satz stand, aber be­zeich­nen­der­wei­se nahm es ihm kei­ner von sei­nen ade­li­gen Gön­nern übel oder wun­der­te sich auch nur dar­über; man hat­te nie­mals et­was an­de­res als den Geist des auf­stre­ben­den Bür­ger­tums in ihm ge­sehn. Der alte Herr nahm eif­rig an den Fach­ar­bei­ten der Ge­setz­ge­bung teil, und selbst wenn ihn eine Kampf­ab­stim­mung auf der bür­ger­li­chen Sei­te sah, emp­fand man auf der an­de­ren Sei­te kei­nen Groll dar­über, son­dern hat­te eher das Ge­fühl, daß er nicht ein­ge­la­den wor­den sei. Er tat in der Po­li­tik nichts an­de­res, als was schon sei­ner­zeit sein Amt ge­we­sen war, ein über­le­ge­nes und zu­wei­len sanft ver­bes­sern­des Wis­sen mit dem Ein­druck zu ver­ei­nen, daß man sich auf sei­ne per­sön­li­che Er­ge­ben­heit trotz­dem ver­las­sen kön­ne, und hat­te es, wie sein Sohn be­haup­te­te, ohne we­sent­li­che Ver­än­de­rung vom Haus­leh­rer zum Her­ren­haus­leh­rer ge­bracht.

Als er die Ge­schich­te mit dem Schloß er­fuhr, er­schi­en sie ihm als die Ver­let­zung ei­ner ge­setz­lich nicht um­schrie­be­nen, aber de­sto acht­sa­mer zu re­spek­tie­ren­den Gren­ze, und er mach­te sei­nem Soh­ne Vor­wür­fe, die noch bit­te­rer wa­ren als die vie­len Vor­wür­fe, die er ihm im Lauf der Zei­ten schon ge­macht hat­te, ja ge­ra­de­zu wie die Pro­phe­zei­ung ei­nes bö­sen En­des klan­gen, das nun be­gon­nen habe. Das Grund­ge­fühl sei­nes Le­bens war be­lei­digt. Wie bei vie­len Män­nern, die et­was Be­deu­ten­des er­rei­chen, be­stand es, fern von Ei­gen­nutz, aus ei­ner tie­fen Lie­be für das so­zu­sa­gen all­ge­mein und über­per­sön­lich Nütz­li­che, mit an­de­ren Wor­ten aus ei­ner ehr­li­chen Ver­eh­rung für das, wor­auf man sei­nen Vor­teil baut, nicht weil man ihn baut, son­dern in Har­mo­nie und gleich­zei­tig da­mit und aus all­ge­mei­nen Grün­den. Das ist von großer Wich­tig­keit; schon ein ed­ler Hund sucht sei­nen Platz un­ter dem Eß­tisch, un­be­irrt von Fuß­stö­ßen, nicht etwa aus hün­di­scher Nied­rig­keit, son­dern aus An­häng­lich­keit und Treue, und gar die kalt be­rech­nen­den Men­schen ha­ben im Le­ben nicht halb so­viel Er­folg wie die rich­tig ge­misch­ten Ge­mü­ter, die für Men­schen und Ver­hält­nis­se, die ih­nen Vor­teil brin­gen, wirk­lich tief zu emp­fin­den ver­mö­gen.

4 – Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben

Wenn man gut durch ge­öff­ne­te Tü­ren kom­men will, muß man die Tat­sa­che ach­ten, daß sie einen fes­ten Rah­men ha­ben: die­ser Grund­satz, nach dem der alte Pro­fes­sor im­mer ge­lebt hat­te, ist ein­fach eine For­de­rung des Wirk­lich­keits­sinns. Wenn es aber Wirk­lich­keits­sinn gibt, und nie­mand wird be­zwei­feln, daß er sei­ne Da­seins­be­rech­ti­gung hat, dann muß es auch et­was ge­ben, das man Mög­lich­keits­sinn nen­nen kann.

Wer ihn be­sitzt, sagt bei­spiels­wei­se nicht: Hier ist dies oder das ge­sche­hen, wird ge­sche­hen, muß ge­sche­hen; son­dern er er­fin­det: Hier könn­te, soll­te oder müß­te ge­schehn; und wenn man ihm von ir­gend et­was er­klärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könn­te wahr­schein­lich auch an­ders sein. So lie­ße sich der Mög­lich­keits­sinn ge­ra­de­zu als die Fä­hig­keit de­fi­nie­ren, al­les, was eben­so­gut sein könn­te, zu den­ken und das, was ist, nicht wich­ti­ger zu neh­men als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Fol­gen sol­cher schöp­fe­ri­schen An­la­ge be­mer­kens­wert sein kön­nen, und be­dau­er­li­cher­wei­se las­sen sie nicht sel­ten das, was die Men­schen be­wun­dern, falsch er­schei­nen und das, was sie ver­bie­ten, als er­laubt oder wohl auch bei­des als gleich­gül­tig. Sol­che Mög­lich­keits­men­schen le­ben, wie man sagt, in ei­nem fei­ne­ren Ge­spinst, in ei­nem Ge­spinst von Dunst, Ein­bil­dung, Träu­me­rei und Kon­junk­ti­ven; Kin­dern, die die­sen Hang ha­ben, treibt man ihn nach­drück­lich aus und nennt sol­che Men­schen vor ih­nen Phan­tas­ten, Träu­mer, Schwäch­lin­ge und Bes­ser­wis­ser oder Kritt­ler.

Wenn man sie lo­ben will, nennt man die­se Nar­ren auch Idea­lis­ten, aber of­fen­bar ist mit al­le­dem nur ihre schwa­che Spiel­art er­faßt, wel­che die Wirk­lich­keit nicht be­grei­fen kann oder ihr weh­lei­dig aus­weicht, wo also das Feh­len des Wirk­lich­keits­sinns wirk­lich einen Man­gel be­deu­tet. Das Mög­li­che um­faßt je­doch nicht nur die Träu­me ner­ven­schwa­cher Per­so­nen, son­dern auch die noch nicht er­wach­ten Ab­sich­ten Got­tes. Ein mög­li­ches Er­leb­nis oder eine mög­li­che Wahr­heit sind nicht gleich wirk­li­chem Er­leb­nis und wirk­li­cher Wahr­heit we­ni­ger dem Wer­te des Wirk­lich­seins, son­dern sie ha­ben, we­nigs­tens nach An­sicht ih­rer An­hän­ger, et­was sehr Gött­li­ches in sich, ein Feu­er, einen Flug, einen Bau­wil­len und be­wuß­ten Uto­pis­mus, der die Wirk­lich­keit nicht scheut, wohl aber als Auf­ga­be und Er­fin­dung be­han­delt. Schließ­lich ist die Erde gar nicht alt und war schein­bar noch nie so recht in ge­seg­ne­ten Um­stän­den. Wenn man nun in be­que­mer Wei­se die Men­schen des Wirk­lich­keits- und des Mög­lich­keits­sinns von­ein­an­der un­ter­schei­den will, so braucht man bloß an einen be­stimm­ten Geld­be­trag zu den­ken. Al­les, was zum Bei­spiel tau­send Mark an Mög­lich­kei­ten über­haupt ent­hal­ten, ent­hal­ten sie doch ohne Zwei­fel, ob man sie be­sitzt oder nicht; die Tat­sa­che, daß Herr Ich oder Herr Du sie be­sit­zen, fügt ih­nen so we­nig et­was hin­zu wie ei­ner Rose oder ei­ner Frau. Aber ein Narr steckt sie in den Strumpf, sa­gen die Wirk­lich­keits­men­schen, und ein Tüch­ti­ger schafft et­was mit ih­nen; so­gar der Schön­heit ei­ner Frau wird un­leug­bar von dem, der sie be­sitzt, et­was hin­zu­ge­fügt oder ge­nom­men. Es ist die Wirk­lich­keit, wel­che die Mög­lich­kei­ten weckt, und nichts wäre so ver­kehrt, wie das zu leug­nen. Trotz­dem wer­den es in der Sum­me oder im Durch­schnitt im­mer die glei­chen Mög­lich­kei­ten blei­ben, die sich wie­der­ho­len, so lan­ge bis ein Mensch kommt, dem eine wirk­li­che Sa­che nicht mehr be­deu­tet als eine ge­dach­te. Er ist es, der den neu­en Mög­lich­kei­ten erst ih­ren Sinn und ihre Be­stim­mung gibt, und er er­weckt sie.

Ein sol­cher Mann ist aber kei­nes­wegs eine sehr ein­deu­ti­ge An­ge­le­gen­heit. Da sei­ne Ide­en, so­weit sie nicht mü­ßi­ge Hirn­ge­spins­te be­deu­ten, nichts als noch nicht ge­bo­re­ne Wirk­lich­kei­ten sind, hat na­tür­lich auch er Wirk­lich­keits­sinn; aber es ist ein Sinn für die mög­li­che Wirk­lich­keit und kommt viel lang­sa­mer ans Ziel als der den meis­ten Men­schen eig­nen­de Sinn für ihre wirk­li­chen Mög­lich­kei­ten. Er will gleich­sam den Wald, und der an­de­re die Bäu­me; und Wald, das ist et­was schwer Aus­drück­ba­res, wo­ge­gen Bäu­me so­und­so­viel Fest­me­ter be­stimm­ter Qua­li­tät be­deu­ten. Oder viel­leicht sagt man es an­ders bes­ser, und der Mann mit ge­wöhn­li­chem Wirk­lich­keits­sinn gleicht ei­nem Fisch, der nach der An­gel schnappt und die Schnur nicht sieht, wäh­rend der Mann mit je­nem Wirk­lich­keits­sinn, den man auch Mög­lich­keits­sinn nen­nen kann, eine Schnur durchs Was­ser zieht und kei­ne Ah­nung hat, ob ein Kö­der dar­an sitzt. Ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Gleich­gül­tig­keit für das auf den Kö­der bei­ßen­de Le­ben steht bei ihm die Ge­fahr ge­gen­über, völ­lig splee­ni­ge Din­ge zu trei­ben. Ein un­prak­ti­scher Mann – und so er­scheint er nicht nur, son­dern ist er auch – bleibt un­zu­ver­läs­sig und un­be­re­chen­bar im Ver­kehr mit Men­schen. Er wird Hand­lun­gen be­ge­hen, die ihm et­was an­de­res be­deu­ten als an­de­ren, aber be­ru­higt sich über al­les, so­bald es sich in ei­ner au­ßer­or­dent­li­chen Idee zu­sam­men­fas­sen läßt. Und zu­dem ist er heu­te von Fol­ge­rich­tig­keit noch weit ent­fernt. Es ist etwa sehr leicht mög­lich, daß ihm ein Ver­bre­chen, bei dem ein an­de­rer zu Scha­den kommt, bloß als eine so­zia­le Fehl­leis­tung er­scheint, an der nicht der Ver­bre­cher die Schuld trägt, son­dern die Ein­rich­tung der Ge­sell­schaft. Frag­lich ist es da­ge­gen, ob ihm eine Ohr­fei­ge, die er selbst emp­fängt, als eine Schmach der Ge­sell­schaft oder we­nigs­tens so un­per­sön­lich wie der Biß ei­nes Hun­des vor­kom­men wer­de; wahr­schein­lich wird er da zu­erst die Ohr­fei­ge er­wi­dern und da­nach die Auf­fas­sung ha­ben, daß er das nicht hät­te tun sol­len. Und vollends, wenn man ihm eine Ge­lieb­te fort­nimmt, wird er heu­te noch nicht ganz von der Wirk­lich­keit die­ses Vor­gan­ges ab­se­hen und sich mit ei­nem über­ra­schen­den, neu­en Ge­fühl ent­schä­di­gen kön­nen. Die­se Ent­wick­lung ist zur­zeit noch im Fluß und be­deu­tet für den ein­zel­nen Men­schen so­wohl eine Schwä­che wie eine Kraft.

Und da der Be­sitz von Ei­gen­schaf­ten eine ge­wis­se Freu­de an ih­rer Wirk­lich­keit vor­aus­setzt, er­laubt das den Aus­blick dar­auf, wie es je­mand, der auch sich selbst ge­gen­über kei­nen Wirk­lich­keits­sinn auf­bringt, un­ver­se­hens wi­der­fah­ren kann, daß er sich ei­nes Ta­ges als ein Mann ohne Ei­gen­schaf­ten vor­kommt.

5 – Ulrich

Der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten, von dem hier er­zählt wird, hieß Ul­rich, und Ul­rich – es ist nicht an­ge­nehm, je­mand im­mer­zu beim Tauf­na­men zu nen­nen, den man erst so flüch­tig kennt! aber sein Fa­mi­li­enna­me soll aus Rück­sicht auf sei­nen Va­ter ver­schwie­gen wer­den – hat­te die ers­te Pro­be sei­ner Sin­nes­art schon an der Gren­ze des Kna­ben- und Jüng­lings­al­ters in ei­nem Schulauf­satz ab­ge­legt, der einen pa­trio­ti­schen Ge­dan­ken zur Auf­ga­be hat­te. Pa­trio­tis­mus war in Ös­ter­reich ein ganz be­son­de­rer Ge­gen­stand. Denn deut­sche Kin­der lern­ten ein­fach die Krie­ge der ös­ter­rei­chi­schen Kin­der ver­ach­ten, und man brach­te ih­nen bei, daß die fran­zö­si­schen Kin­der die En­kel von ent­nerv­ten Wüst­lin­gen sei­en, die zu Tau­sen­den da­von­lau­fen, wenn ein deut­scher Land­wehr­mann auf sie zu­geht, der einen großen Voll­bart hat. Und mit ver­tausch­ten Rol­len so­wie wün­schens­wer­ten Än­de­run­gen lern­ten ganz das glei­che die auch oft sieg­reich ge­we­se­nen fran­zö­si­schen, rus­si­schen und eng­li­schen Kin­der. Nun sind Kin­der Auf­schnei­der, lie­ben das Spiel Räu­ber und Gen­darm und sind je­der­zeit be­reit, die Fa­mi­lie Y aus der Gro­ßen X-gas­se, wenn sie ihr zu­fäl­lig an­ge­hö­ren, für die größ­te Fa­mi­lie der Welt zu hal­ten. Sie sind also leicht für den Pa­trio­tis­mus zu ge­win­nen. In Ös­ter­reich aber war das ein we­nig ver­wi­ckel­ter. Denn die Ös­ter­rei­cher hat­ten in al­len Krie­gen ih­rer Ge­schich­te zwar auch ge­siegt, aber nach den meis­ten die­ser Krie­ge hat­ten sie ir­gend et­was ab­tre­ten müs­sen. Das weckt das Den­ken, und Ul­rich schrieb in sei­nem Auf­sat­ze über die Va­ter­lands­lie­be, daß ein erns­ter Va­ter­lands­freund sein Va­ter­land nie­mals das bes­te fin­den dür­fe; ja mit ei­nem Blitz, der ihn be­son­ders schön dünk­te, ob­gleich er mehr von sei­nem Glanz ge­blen­det wur­de, als daß er sah, was dar­in vor­ging, hat­te er die­sem ver­däch­ti­gen Satz noch den zwei­ten hin­zu­ge­fügt, daß wahr­schein­lich auch Gott von sei­ner Welt am liebs­ten im Con­junc­ti­vus po­ten­tia­lis spre­che (hic di­xe­rit qui­spiam = hier könn­te ei­ner ein­wen­den …), denn Gott macht die Welt und denkt da­bei, es könn­te eben­so­gut an­ders sein. – Er war sehr stolz auf die­sen Satz ge­we­sen, aber er hat­te sich viel­leicht nicht ver­ständ­lich ge­nug aus­ge­drückt, denn es ent­stand große Auf­re­gung dar­über, und man hät­te ihn bei­na­he aus der Schu­le ent­fernt, wenn­gleich man zu kei­nem Ent­schluß kam, weil man sich nicht ent­schei­den konn­te, ob sei­ne ver­mes­se­ne Be­mer­kung als Läs­te­rung des Va­ter­lands oder als Got­tes­läs­te­rung auf­zu­fas­sen sei. Er wur­de da­mals in dem vor­neh­men Gym­na­si­um der The­re­sia­ni­schen Rit­ter­aka­de­mie er­zo­gen, das die edels­ten Stüt­zen des Staa­tes lie­fer­te, und sein Va­ter, er­bost über die Be­schä­mung, die ihm sein weit vom Stam­me ge­fal­le­ner Ap­fel be­rei­te­te, schick­te Ul­rich in die Frem­de fort, in ein klei­nes bel­gi­sches Er­zie­hungs­in­sti­tut, das in ei­ner un­be­kann­ten Stadt lag und, mit klu­ger kauf­män­ni­scher Be­trieb­sam­keit ver­wal­tet, bei bil­li­gen Prei­sen einen großen Um­satz an ent­gleis­ten Schü­lern hat­te. Dort lern­te Ul­rich, sei­ne Miß­ach­tung der Idea­le an­de­rer in­ter­na­tio­nal zu er­wei­tern.

Seit­her wa­ren sech­zehn oder sieb­zehn Jah­re ver­gan­gen, wie die Wol­ken am Him­mel trei­ben. Ul­rich be­reu­te sie we­der, noch war er auf sie stolz, er sah ih­nen in sei­nem zwei­und­drei­ßigs­ten Le­bens­jahr ein­fach er­staunt nach. Er war in­zwi­schen da und dort ge­we­sen, manch­mal auch kur­ze Zeit in der Hei­mat, und hat­te über­all Wert­vol­les und Nutz­lo­ses ge­trie­ben. Es ist schon an­ge­deu­tet wor­den, daß er Ma­the­ma­ti­ker war, und mehr braucht da­von noch nicht ge­sagt zu wer­den, denn in je­dem Be­ruf, wenn man ihn nicht für Geld, son­dern um der Lie­be wil­len aus­übt, kommt ein Au­gen­blick, wo die an­stei­gen­den Jah­re ins Nichts zu füh­ren schei­nen. Nach­dem die­ser Au­gen­blick län­ge­re Zeit an­ge­dau­ert hat­te, er­in­ner­te sich Ul­rich, daß man der Hei­mat die ge­heim­nis­vol­le Fä­hig­keit zu­schrei­be, das Sin­nen wur­zel­stän­dig und bo­den­echt zu ma­chen, und er ließ sich in ihr mit dem Ge­fühl ei­nes Wan­de­rers nie­der, der sich für die Ewig­keit auf eine Bank setzt, ob­gleich er ahnt, daß er so­fort wie­der auf­ste­hen wird.

Als er da­bei sein Haus be­stell­te, wie es die Bi­bel nennt, mach­te er eine Er­fah­rung, auf die er ei­gent­lich nur ge­war­tet hat­te. Er hat­te sich in die an­ge­neh­me Lage ver­setzt, sein ver­wahr­los­tes klei­nes Be­sitz­tum nach Be­lie­ben vom Ei an neu her­rich­ten zu müs­sen. Von der stil­rei­nen Re­kon­struk­ti­on bis zur voll­kom­me­nen Rück­sichts­lo­sig­keit stan­den ihm da­für alle Grund­sät­ze zur Ver­fü­gung, und eben­so bo­ten sich sei­nem Geist alle Sti­le, von den As­sy­rern bis zum Ku­bis­mus an. Was soll­te er wäh­len? Der mo­der­ne Mensch wird in der Kli­nik ge­bo­ren und stirbt in der Kli­nik: also soll er auch wie in ei­ner Kli­nik woh­nen! – Die­se For­de­rung hat­te so­eben ein füh­ren­der Bau­künst­ler auf­ge­stellt, und ein an­de­rer Re­for­mer der In­nen­ein­rich­tung ver­lang­te ver­schieb­ba­re Wän­de der Woh­nun­gen, mit der Be­grün­dung, daß der Mensch dem Men­schen zu­sam­men­le­bend ver­trau­en ler­nen müs­se und nicht sich se­pa­ra­tis­tisch ab­schlie­ßen dür­fe. Es hat­te da­mals ge­ra­de eine neue Zeit be­gon­nen (denn das tut sie in je­dem Au­gen­blick), und eine neue Zeit braucht einen neu­en Stil. Zu Ul­richs Glück be­saß das Schloß­häus­chen, so wie er es vor­fand, be­reits drei Sti­le über­ein­an­der, so daß man wirk­lich nicht al­les da­mit vor­neh­men konn­te, was ver­langt wur­de; den­noch fühl­te er sich von der Verant­wor­tung, sich ein Haus ein­rich­ten zu dür­fen, ge­wal­tig auf­ge­rüt­telt, und die Dro­hung »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist«, die er wie­der­holt in Kunst­zeit­schrif­ten ge­le­sen hat­te, schweb­te über sei­nem Haupt. Nach ein­ge­hen­der Be­schäf­ti­gung mit die­sen Zeit­schrif­ten kam er zu der Ent­schei­dung, daß er den Aus­bau sei­ner Per­sön­lich­keit doch lie­ber selbst in die Hand neh­men wol­le, und be­gann sei­ne zu­künf­ti­gen Mö­bel ei­gen­hän­dig zu ent­wer­fen. Aber wenn er sich so­eben eine wuch­ti­ge Ein­drucks­form aus­ge­dacht hat­te, fiel ihm ein, daß man an ihre Stel­le doch eben­so­gut eine tech­nisch-schmal­kräf­ti­ge Zweck­form set­zen könn­te, und wenn er eine von Kraft aus­ge­zehr­te Ei­sen­be­ton­form ent­warf, er­in­ner­te er sich an die märz­haft ma­ge­ren For­men ei­nes drei­zehn­jäh­ri­gen Mäd­chens und be­gann zu träu­men, statt sich zu ent­schlie­ßen.

Es war das – in ei­ner An­ge­le­gen­heit, die ihm im Ernst nicht be­son­ders nahe ging – die be­kann­te Zu­sam­men­hang­lo­sig­keit der Ein­fäl­le und ihre Aus­brei­tung ohne Mit­tel­punkt, die für die Ge­gen­wart kenn­zeich­nend ist und de­ren merk­wür­di­ge Arith­me­tik aus­macht, die vom Hun­derts­ten ins Tau­sends­te kommt, ohne eine Ein­heit zu ha­ben. Schließ­lich dach­te er sich über­haupt nur noch un­aus­führ­ba­re Zim­mer aus, Dreh­zim­mer, ka­lei­do­sko­pi­sche Ein­rich­tun­gen, Um­stell­vor­rich­tun­gen für die See­le, und sei­ne Ein­fäl­le wur­den im­mer in­halts­lo­ser. Da war er end­lich auf dem Punkt, zu dem es ihn hin­zog. Sein Va­ter wür­de es un­ge­fähr so aus­ge­drückt ha­ben: Wen man tun lie­ße, was er wol­le, der könn­te sich bald vor Ver­wir­rung den Kopf ein­ren­nen. Oder auch so: Wer sich er­fül­len kann, was er mag, weiß bald nicht mehr, was er wün­schen soll. Ul­rich wie­der­hol­te sich das mit großem Ge­nuß. Die­se Alt­vor­dern­weis­heit kam ihm als ein au­ßer­or­dent­lich neu­er Ge­dan­ke vor. Es muß der Mensch in sei­nen Mög­lich­kei­ten, Plä­nen und Ge­füh­len zu­erst durch Vor­ur­tei­le, Über­lie­fe­run­gen, Schwie­rig­kei­ten und Be­schrän­kun­gen je­der Art ein­ge­engt wer­den wie ein Narr in sei­ner Zwangs­ja­cke, und erst dann hat, was er her­vor­zu­brin­gen ver­mag, viel­leicht Wert, Ge­wach­sen­heit und Be­stand; – es ist in der Tat kaum ab­zu­se­hen, was die­ser Ge­dan­ke be­deu­tet! Nun, der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten, der in sei­ne Hei­mat zu­rück­ge­kehrt war, tat auch den zwei­ten Schritt, um sich von au­ßen, durch die Le­ben­sum­stän­de bil­den zu las­sen, er über­ließ an die­sem Punkt sei­ner Über­le­gun­gen die Ein­rich­tung sei­nes Hau­ses ein­fach dem Ge­nie sei­ner Lie­fe­ran­ten, in der si­che­ren Über­zeu­gung, daß sie für Über­lie­fe­rung, Vor­ur­tei­le und Be­schränkt­heit schon sor­gen wür­den. Er selbst frisch­te nur die al­ten Li­ni­en auf, die von frü­her da wa­ren, die dunklen Hirsch­ge­wei­he un­ter den wei­ßen Wöl­bun­gen der klei­nen Hal­le oder die stei­fe De­cke des Sa­lons, und tat im üb­ri­gen al­les hin­zu, was ihm zweck­haft und be­quem vor­kam.

Als al­les fer­tig war, durf­te er den Kopf schüt­teln und sich fra­gen: dies ist also das Le­ben, das mei­nes wer­den soll? – Es war ein ent­zücken­des klei­nes Palais, was er da be­saß; fast muß­te man es so nen­nen, denn es war ganz so, wie man sich sei­nes­glei­chen denkt, eine ge­schmack­vol­le Re­si­denz für einen Re­si­den­ten, wie ihn sich Mö­bel-, Tep­pich- und In­stal­la­ti­ons­fir­men vor­ge­stellt hat­ten, die auf ih­rem Ge­bie­te füh­ren. Es fehl­te nur, daß die­ses rei­zen­de Uhr­werk nicht auf­ge­zo­gen war; denn dann wä­ren Equi­pa­gen mit ho­hen Wür­den­trä­gern und vor­neh­men Da­men die Auf­fahrt em­por­ge­rollt, La­kai­en wä­ren von den Tritt­bret­tern ge­sprun­gen und hät­ten Ul­rich miß­trau­isch ge­fragt: »Gu­ter Mann, wo ist Euer Herr?«

Er war vom Mond zu­rück­ge­kehrt und hat­te sich so­fort wie­der wie am Mond ein­ge­rich­tet.

6 – Leona oder eine perspektivische Verschiebung

Wenn man sein Haus be­stellt hat, soll man auch ein Weib frei­en. Ul­richs Freun­din in je­nen Ta­gen hieß Leon­ti­ne und war Lie­der­sän­ge­rin in ei­nem klei­nen Va­rieté; sie war groß, schlank und voll, auf­rei­zend leb­los, und er nann­te sie Leo­na.

Sie war ihm auf­ge­fal­len durch das feuch­te Dun­kel ih­rer Au­gen, durch einen schmerz­lich lei­den­schaft­li­chen Aus­druck ih­res re­gel­mä­ßi­gen, schö­nen, lan­gen Ge­sichts und durch die ge­fühl­vol­len Lie­der, die sie an Stel­le von un­züch­ti­gen sang. Alle die­se alt­mo­di­schen klei­nen Ge­sän­ge hat­ten Lie­be, Leid, Treue, Ver­las­sen­heit, Wal­des­rau­schen und Fo­rel­len­blin­ken zum In­halt. Leo­na stand groß und bis in die Kno­chen ver­las­sen auf der klei­nen Büh­ne und sang sie mit der Stim­me ei­ner Haus­frau ge­dul­dig ins Pub­li­kum, und wenn da­zwi­schen doch klei­ne sitt­li­che Ge­wagt­hei­ten un­ter­lie­fen, so wirk­ten sie um so ge­spens­ti­scher, als die­ses Mäd­chen die tra­gi­schen wie die necki­schen Ge­füh­le des Her­zens mit den glei­chen müh­sam buch­sta­bier­ten Ge­bär­den un­ter­stütz­te. Ul­rich fühl­te sich so­fort an alte Pho­to­gra­phien oder an schö­ne Frau­en in ver­schol­le­nen Jahr­gän­gen deut­scher Fa­mi­li­en­blät­ter er­in­nert, und wäh­rend er sich in das Ge­sicht die­ser Frau hin­ein­dach­te, be­merk­te er dar­in eine gan­ze Men­ge klei­ner Züge, die gar nicht wirk­lich sein konn­ten und doch die­ses Ge­sicht aus­mach­ten. Es gibt na­tür­lich zu al­len Zei­ten alle Ar­ten von Ant­lit­zen; aber je eine wird vom Zeit­ge­schmack em­por­ge­ho­ben und zu Glück und Schön­heit ge­macht, wäh­rend alle an­de­ren Ge­sich­ter sich dann die­sem an­zu­glei­chen su­chen; und selbst häß­li­chen ge­lingt das un­ge­fähr, mit Hil­fe von Fri­sur und Mode, und nur je­nen zu selt­sa­men Er­fol­gen ge­bo­re­nen Ge­sich­tern ge­lingt es nie­mals, in de­nen sich das kö­nig­li­che und ver­trie­be­ne Schön­heits­ide­al ei­ner frü­he­ren Zeit ohne Zu­ge­ständ­nis­se aus­spricht. Sol­che Ge­sich­ter wan­dern wie Lei­chen frü­he­rer Ge­lüs­te in der großen We­sen­lo­sig­keit des Lie­bes­be­triebs, und den Män­nern, die in die wei­te Lang­wei­le von Leon­ti­nens Ge­sang gaff­ten und nicht wuß­ten, was ih­nen ge­sch­ah, be­weg­ten ganz and­re Ge­füh­le die Na­sen­flü­gel als vor den klei­nen fre­chen Chan­teu­sen mit den Tango­fri­su­ren. Da be­schloß Ul­rich, sie Leo­na zu nen­nen, und ihr Be­sitz er­schi­en ihm be­geh­rens­wert wie der ei­nes vom Kür­sch­ner aus­ge­stopf­ten großen Lö­wen­fells.

Nach­dem aber ihre Be­kannt­schaft be­gon­nen hat­te, ent­wi­ckel­te Leo­na noch eine un­zeit­ge­mä­ße Ei­gen­schaft, sie war in un­ge­heu­rem Maße ge­frä­ßig, und das ist ein Las­ter, des­sen große Aus­bil­dung längst aus der Mode ge­kom­men ist. Es war sei­nem Ent­ste­hen nach die end­lich be­frei­te Sehn­sucht, die sie als ar­mes Kind nach kost­ba­ren Lecker­bis­sen ge­lit­ten hat­te; nun be­saß es die Kraft ei­nes Ideals, das end­lich sei­nen Kä­fig zer­bro­chen und die Herr­schaft an sich ge­ris­sen hat. Ihr Va­ter schi­en ein ehr­ba­rer klei­ner Bür­ger ge­we­sen zu sein, der sie je­des­mal schlug, wenn sie mit Ver­eh­rern ging; sie aber tat es aus kei­nem an­de­ren Grund, als weil sie für ihr Le­ben gern in dem Vor­gar­ten ei­ner klei­nen Kon­di­to­rei saß und vor­nehm auf die Vor­über­ge­hen­den bli­ckend in ih­rem Eis löf­fel­te. Denn daß sie un­sinn­lich ge­we­sen sei, hät­te man zwar nicht be­haup­ten kön­nen, aber so­fern es er­laubt ist, wäre zu sa­gen, daß sie wie in al­lem so auch dar­in ge­ra­de­zu faul und ar­beits­scheu war. In ih­rem aus­ge­dehn­ten Kör­per brauch­te je­der Reiz wun­der­bar lan­ge, bis er das Ge­hirn er­reich­te, und es ge­sch­ah, daß mit­ten am Tag ihre Au­gen ohne Grund zu zer­ge­hen be­gan­nen, wäh­rend sie in der Nacht un­be­weg­lich auf einen Punkt der Zim­mer­de­cke ge­rich­tet wa­ren, als ob sie dort eine Flie­ge be­ob­ach­te­ten. Eben­so konn­te sie manch­mal mit­ten in vol­ler Stil­le über einen Scherz zu la­chen be­gin­nen, der ihr da erst auf­ging, wäh­rend sie ihn ei­ni­ge Tage zu­vor ru­hig an­ge­hört hat­te, ohne ihn zu ver­ste­hen. Wenn sie kei­nen be­son­de­ren Grund zum Ge­gen­teil hat­te, war sie dar­um auch durch­aus an­stän­dig. Auf wel­che Wei­se sie über­haupt zu ih­rem Be­ruf ge­kom­men war, war nie­mals aus ihr her­aus­zu­brin­gen. An­schei­nend wuß­te sie es selbst nicht mehr ge­nau. Es zeig­te sich bloß, daß sie die Tä­tig­keit ei­ner Lie­der­sän­ge­rin für einen not­wen­di­gen Teil des Le­bens hielt und al­les Gro­ße, was sie von Kunst und Künst­lern je ge­hört hat­te, da­mit ver­band, so daß es ihr durch­aus rich­tig, er­zie­he­risch und vor­nehm vor­kam, all­abend­lich auf eine klei­ne, von Zi­gar­ren­dunst um­wölk­te Büh­ne hin­aus­zu­tre­ten und Lie­der vor­zu­tra­gen, de­ren er­grei­fen­de Gel­tung eine fest­ste­hen­de Sa­che war. Na­tür­lich scheu­te sie da­bei, wie es sein muß, um das An­stän­di­ge zu be­le­ben, auch kei­nes­wegs vor ei­ner ge­le­gent­lich ein­ge­streu­ten Un­an­stän­dig­keit zu­rück, aber sie war fest über­zeugt, daß die ers­te Sän­ge­rin der kai­ser­li­chen Oper ge­nau das glei­che tue wie sie.

Frei­lich, wenn man es durch­aus Pro­sti­tu­ti­on nen­nen will, wenn ein Mensch nicht, wie es üb­lich ist, sei­ne gan­ze Per­son für Geld her­gibt, son­dern nur sei­nen Kör­per, so be­trieb Leo­na ge­le­gent­lich Pro­sti­tu­ti­on. Aber wenn man durch neun Jah­re, wie sie seit ih­rem sech­zehn­ten Jahr, die Klein­heit der Tag­gel­der kennt, die in den un­ters­ten Sing­höl­len ge­zahlt wer­den, die Prei­se der Toi­let­ten und der Wä­sche im Kopf hat, die Ab­zü­ge, den Geiz und die Will­kür der Be­sit­zer, die Per­zen­te von Speis und Trank auf­ge­mun­ter­ter Gäs­te und von der Zim­mer­rech­nung des be­nach­bar­ten Ho­tels, täg­lich da­mit zu tun hat, Zank dar­über hat und kauf­män­nisch ab­rech­net, so wird das, was den Lai­en als Aus­schwei­fung er­freut, zu ei­nem Be­ruf, der voll Lo­gik, Sach­lich­keit und Stan­des­ge­set­zen ist. Gera­de Pro­sti­tu­ti­on ist ja eine An­ge­le­gen­heit, bei der es einen großen Un­ter­schied macht, ob man sie von oben sieht oder von un­ten be­trach­tet.

Aber wenn Leo­na auch eine voll­kom­men sach­li­che Auf­fas­sung der se­xu­el­len Fra­ge be­saß, so hat­te sie doch auch ihre Ro­man­tik. Nur hat­te sich bei ihr al­les Über­schweng­li­che, Eit­le, Ver­schwen­de­ri­sche, hat­ten sich die Ge­füh­le des Stol­zes, des Nei­des, der Wol­lust, des Ehr­gei­zes, der Hin­ga­be, kurz die Trieb­kräf­te der Per­sön­lich­keit und des ge­sell­schaft­li­chen Auf­stiegs durch ein Na­tur­spiel nicht mit dem so­ge­nann­ten Her­zen ver­bun­den, son­dern mit dem trac­tus ab­do­mi­na­lis, den Eß­vor­gän­gen, mit de­nen sie üb­ri­gens in frü­he­ren Zei­ten re­gel­mä­ßig in Ver­bin­dung ge­stan­den sind, was man noch heu­te an Pri­mi­ti­ven oder an breit pras­sen­den Bau­ern be­ob­ach­ten kann, die Vor­nehm­heit und al­ler­hand an­de­res, was den Men­schen aus­zeich­net, durch ein Fest­mahl aus­zu­drücken ver­mö­gen, bei dem man sich fei­er­lich und mit al­len Begleiter­schei­nun­gen über­ißt. An den Ti­schen ih­res Tin­gel­tan­gels tat Leo­na ihre Pf­licht; aber wo­von sie träum­te, war ein Ka­va­lier, der sie durch ein Ver­hält­nis auf En­ga­ge­ments­dau­er des­sen ent­hob und ihr ge­stat­te­te, in vor­neh­mer Hal­tung vor ei­ner vor­neh­men Spei­se­kar­te in ei­nem vor­neh­men Re­stau­rant zu sit­zen. Sie hät­te dann am liebs­ten von al­len vor­han­de­nen Spei­sen auf ein­mal ge­ges­sen, und es be­rei­te­te ihr eine schmerz­haft wi­der­spruchs­vol­le Ge­nug­tu­ung, gleich­zei­tig zei­gen zu dür­fen, daß sie wis­se, wie man aus­wäh­len müs­se und ein aus­er­le­se­nes Menü zu­sam­men­stellt. Erst bei den klei­nen Nach­ge­rich­ten konn­te sie ihre Phan­ta­sie ge­hen las­sen, und ge­wöhn­lich wur­de in um­ge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge ein aus­ge­brei­te­tes zwei­tes Abend­brot dar­aus. Leo­na stell­te durch schwar­zen Kaf­fee und an­re­gen­de Men­gen von Ge­trän­ken ihre Auf­nah­me­fä­hig­keit wie­der her und reiz­te sich durch Über­ra­schun­gen, bis ihre Lei­den­schaft ge­stillt war. Dann war ihr Leib so voll vor­neh­mer Sa­chen, daß er kaum noch zu­sam­men­hielt. Sie blick­te träg strah­lend um sich, und ob­gleich sie nie­mals sehr ge­sprä­chig war, schloß sie in die­sem Zu­stand ger­ne rück­schau­en­de Be­trach­tun­gen an die Kost­bar­kei­ten an, die sie ver­speist hat­te. Wenn sie Pol­mo­ne à la Tor­lo­gna oder Äp­fel à la Mel­ville sag­te, streu­te sie es hin, wie ein an­de­rer ge­sucht bei­läu­fig er­wähnt, daß er mit dem Fürs­ten oder dem Lord glei­chen Na­mens ge­spro­chen habe.

Weil das öf­fent­li­che Auf­tre­ten mit Leo­na nicht ge­ra­de nach Ul­richs Ge­schmack war, ver­leg­te er ihre Füt­te­rung ge­wöhn­lich in sein Haus, wo sie den Hirsch­ge­wei­hen und Stil­mö­beln zu­spei­sen moch­te. Sie aber sah sich da­durch um die ge­sell­schaft­li­che Ge­nug­tu­ung ge­bracht, und wenn der Mann ohne Ei­gen­schaf­ten durch die un­er­hör­tes­ten Ge­rich­te, die ein Gar­koch lie­fern kann, sie zu ein­sa­mer Un­mä­ßig­keit reiz­te, emp­fand sie sich ge­nau so miß­braucht wie eine Frau, die be­merkt, daß sie nicht um ih­rer See­le wil­len ge­liebt wird. Sie war schön und eine Sän­ge­rin, sie brauch­te sich nicht zu ver­ste­cken, und je­den Abend hin­gen an ihr die Be­gier­den ei­ni­ger Dut­zend Män­ner, die ihr recht ge­ge­ben hät­ten. Die­ser Mensch aber, ob­gleich er mit ihr al­lein sein woll­te, brach­te es nicht ein­mal fer­tig, ihr zu sa­gen: Je­sus Ma­ria, Leo­na, dein A… macht mich se­lig! und sich den Schnurr­bart vor Ap­pe­tit zu le­cken, wenn er sie bloß an­sah, wie sie es von ih­ren Ka­va­lie­ren ge­wohnt war. Leo­na ver­ach­te­te ihn ein biß­chen, ob­gleich sie na­tür­lich treu an ihm fest­hielt, und Ul­rich wuß­te das. Er wuß­te üb­ri­gens wohl, was sich in Leo­nas Ge­sell­schaft ge­hör­te, aber die Zeit, wo er so et­was noch über die Lip­pen ge­bracht hät­te und sei­ne Lip­pen noch einen Schnurr­bart tru­gen, lag zu weit zu­rück. Und wenn man et­was nicht mehr zu­we­ge bringt, das man frü­her ge­konnt hat, es mag noch so dumm ge­we­sen sein, so ist das doch ge­nau so, wie wenn der Schlag­fluß in die Hand und in das Bein ge­fah­ren ist. Die Au­gäp­fel schlot­ter­ten ihm, wenn er sei­ne Freun­din an­sah, der Spei­se und Trank zu Kopf ge­stie­gen wa­ren. Man konn­te ihre Schön­heit vor­sich­tig von ihr ab­he­ben. Es war die Schön­heit der Her­zo­gin, die Schef­fels Ek­ke­hard über die Schwel­le des Klos­ters ge­tra­gen hat, die Schön­heit der Rit­te­rin mit dem Fal­ken am Hand­schuh, die Schön­heit der sa­gen­um­wo­be­nen Kai­se­rin Eli­sa­beth mit dem schwe­ren Kranz von Haar, ein Ent­zücken für Leu­te, die alle schon tot wa­ren. Und um es ge­nau zu sa­gen, sie er­in­ner­te auch an die gött­li­che Juno, aber nicht an die ewi­ge und un­ver­gäng­li­che, son­dern an das, was eine ver­gan­ge­ne oder ver­ge­hen­de Zeit ju­no­nisch nann­te. So war der Traum des Seins nur lose über die Ma­te­rie ge­stülpt. Leo­na aber wuß­te, daß man für eine vor­neh­me Ein­la­dung auch dann et­was schul­dig ist, wenn sich der Gast­ge­ber nichts wünscht, und daß man sich nicht bloß anglot­zen las­sen dür­fe; so stand sie denn, so­bald sie des­sen wie­der fä­hig war, auf und be­gann ge­las­sen, aber mit lau­tem Vor­trag zu sin­gen. Ihrem Freund ka­men sol­che Aben­de vor wie ein her­aus­ge­ris­se­nes Blatt, be­lebt von al­ler­hand Ein­fäl­len und Ge­dan­ken, aber mu­mi­fi­ziert, wie es al­les aus dem Zu­sam­men­hang Ge­ris­se­ne wird, und voll von je­ner Ty­ran­nis des nun ewig so Ste­hen­blei­ben­den, die den un­heim­li­chen Reiz le­ben­der Bil­der aus­macht, als hät­te das Le­ben plötz­lich ein Schlaf­mit­tel er­hal­ten, und nun steht es da, steif, voll Ver­bin­dung in sich, scharf be­grenzt und doch un­ge­heu­er sinn­los im Gan­zen.

7 – In einem Zustand von Schwäche zieht sich Ulrich eine neue Geliebte zu

Ei­nes Mor­gens kam Ul­rich nach­haus und war übel zu­ge­rich­tet. Sei­ne Klei­der hin­gen zer­ris­sen von ihm, er muß­te feuch­te Bau­schen auf den zer­schun­de­nen Kopf le­gen, sei­ne Uhr und sei­ne Brief­ta­sche fehl­ten. Er wuß­te nicht, ob die drei Män­ner, mit de­nen er in Streit ge­ra­ten war, sie ge­raubt hat­ten oder ob sie ihm wäh­rend der kur­z­en Zeit, wo er be­wußt­los auf dem Pflas­ter lag, von ei­nem stil­len Men­schen­freund ge­stoh­len wor­den wa­ren. Er leg­te sich zu Bett, und in­des die mat­ten Glie­der sich wie­der be­hut­sam ge­tra­gen und um­hüllt fühl­ten, über­leg­te er noch ein­mal die­ses Aben­teu­er.

Die drei Köp­fe wa­ren plötz­lich vor ihm ge­stan­den; er moch­te in der spät-ein­sa­men Stra­ße einen der Män­ner ge­streift ha­ben, denn sei­ne Ge­dan­ken wa­ren zer­streut und mit et­was an­de­rem be­schäf­tigt ge­we­sen, aber die­se Ge­sich­ter wa­ren schon vor­be­rei­tet auf Zorn und tra­ten ver­zerrt in den Kreis der La­ter­ne. Da hat­te er einen Feh­ler be­gan­gen. Er hät­te so­fort zu­rück­pral­len müs­sen, als fürch­te er sich, und da­bei fest mit dem Rücken ge­gen den Kerl sto­ßen, der hin­ter ihn ge­tre­ten war, oder mit dem El­len­bo­gen ge­gen sei­nen Ma­gen, und noch im sel­ben Au­gen­blick trach­ten müs­sen, zu ent­wi­schen, denn ge­gen drei star­ke Män­ner gibt es kein Kämp­fen. Statt des­sen hat­te er einen Au­gen­blick ge­zö­gert. Das mach­te das Al­ter; sei­ne zwei­und­drei­ßig Jah­re; Feind­se­lig­keit und Lie­be brau­chen da schon et­was mehr Zeit. Er woll­te nicht glau­ben, daß die drei Ant­lit­ze, die ihn mit ei­nem­mal in der Nacht mit Zorn und Ver­ach­tung an­blick­ten, es nur auf sein Geld ab­ge­se­hen hat­ten, son­dern gab sich dem Ge­fühl hin, daß da Haß ge­gen ihn zu­sam­men­ge­strömt und zu Ge­stal­ten ge­wor­den war; und wäh­rend die Strol­che ihn schon mit ge­mei­nen Wor­ten be­schimpf­ten, freu­te ihn der Ge­dan­ke, daß es viel­leicht gar kei­ne Strol­che sei­en, son­dern Bür­ger wie er, bloß et­was an­ge­trun­ken und von Hem­mun­gen be­freit, die an sei­ner vor­über­glei­ten­den Er­schei­nung hän­gen­ge­blie­ben wa­ren und einen Haß auf ihn ent­lu­den, der für ihn und für je­den frem­den Men­schen stets vor­be­rei­tet ist wie das Ge­wit­ter in der At­mo­sphä­re. Denn et­was Ähn­li­ches fühl­te auch er mit­un­ter. Un­ge­mein vie­le Men­schen füh­len sich heu­te in be­dau­er­li­chem Ge­gen­satz ste­hen zu un­ge­mein viel an­de­ren Men­schen. Es ist ein Grund­zug der Kul­tur, daß der Mensch dem au­ßer­halb sei­nes ei­ge­nen Krei­ses le­ben­den Men­schen aufs tiefs­te miß­traut, also daß nicht nur ein Ger­ma­ne einen Ju­den, son­dern auch ein Fuß­ball­spie­ler einen Kla­vier­spie­ler für ein un­be­greif­li­ches und min­der­wer­ti­ges We­sen hält. Schließ­lich be­steht ja das Ding nur durch sei­ne Gren­zen und da­mit durch einen ge­wis­ser­ma­ßen feind­se­li­gen Akt ge­gen sei­ne Um­ge­bung; ohne den Papst hät­te es kei­nen Luther ge­ge­ben und ohne die Hei­den kei­nen Papst, dar­um ist es nicht von der Hand zu wei­sen, daß die tiefs­te An­leh­nung des Men­schen an sei­nen Mit­menschen in des­sen Ab­leh­nung be­steht. Das dach­te er na­tür­lich nicht so aus­führ­lich; aber er kann­te die­sen Zu­stand ei­ner un­ge­wis­sen, at­mo­sphä­ri­schen Feind­se­lig­keit, von dem in un­se­rem Men­schen­al­ter die Luft voll ist, und wenn sich das ein­mal plötz­lich in drei un­be­kann­ten, nach­her wie­der auf ewig ver­schwin­den­den Män­nern zu­sam­men­zieht, um wie Don­ner und Blitz aus­zu­schla­gen, so ist das fast eine Er­leich­te­rung.

Im­mer­hin schi­en er doch an­ge­sichts drei­er Strol­che et­was zu viel ge­dacht zu ha­ben. Denn als ihn nun der ers­te an­sprang, flog er zwar zu­rück, da ihm Ul­rich mit ei­nem Schlag aufs Kinn zu­vor­ge­kom­men war, aber der zwei­te, der blitz­schnell da­nach hät­te er­le­digt wer­den müs­sen, wur­de von der Faust nur noch ge­streift, denn in­zwi­schen hat­te ein Hieb von hin­ten mit ei­nem schwe­ren Ge­gen­stand Ul­richs Kopf bei­na­he zer­sprengt. Er brach ins Knie, wur­de an­ge­faßt, kam mit je­nem fast un­na­tür­li­chen Klar­wer­den des Kör­pers, das ge­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­