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Ruth Gogoll

DIE LIEBE MEINER TRÄUME

Teil 2

Originalausgabe
© 2004
ebook
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-941598-76-8

Die nächsten Tage waren eine Wiederholung all dessen, was Anouk schon einmal durchlebt hatte, nur diesmal war es endgültig. Es ist nur eine Trennung, mal wieder eine . . ., versuchte Anouk sich einzureden, nichts Besonderes. Ich werde sie vergessen, und sie wird mich vergessen, dachte sie – und wusste doch, dass es nicht stimmte. Sie hatten sich nicht getrennt, weil sie sich hassten oder nicht mehr ertragen konnten, wie es so oft der Fall war, wenn das erste Hochgefühl der Leidenschaft nachließ, nein, so war es nicht. Anouk wusste, dass sie Vanessa liebte und immer lieben würde, und Vanessa – war sie ihr etwa hinterhergelaufen, weil sie froh war, Anouk los zu sein? Wohl kaum.

Anouk hatte das Glitzern in ihren Augen gesehen, selbst auf dem staubigen Bahnsteig. Vanessa hatte die Tränen nur mühsam unterdrückt, vielleicht kurz bevor sie Anouk nachgelaufen war, flüchtig abgewischt. Anouk kamen selbst erneut die Tränen, als sie nur daran dachte. Aber es hat keinen Sinn, versuchte sie sich zu überzeugen. Ich käme nie darüber hinweg, wenn sie mit einem Mann . . . und sie wird es tun, ganz sicher. Es war ihr Leben – immer. Immer, bis ich kam. Ich war nur eine Unterbrechung, aber niemand kann sein Leben so auf den Kopf stellen, so völlig über den Haufen werfen. Hat sie mir das nicht selbst gesagt? Ja, hat sie. Und sie hat es auch so gemeint. Es hat ihr leid getan, aber sie hat gewusst –

Anouk legte ihr Gesicht in die Hände, ohne recht zu wissen, was sie tat. Es war eine Geste der Verzweiflung, die doch nichts änderte. Und ich habe es auch gewusst. Ich habe es immer gewusst.

Ihr Körper fühlte sich taub an, ohne Seele, ohne jede Empfindung. Die innere Kraft war daraus geflohen. Was sollte sie tun? Ein neues Leben anfangen? Vanessa hatte es in gewisser Weise versucht und war gescheitert. Gescheitert an ihr, Anouk. Denn schließlich war sie weggelaufen, Vanessa hatte sie nicht fortgeschickt, hatte sogar versucht, sie zurückzuhalten. Aber sie hatte ihr gar nicht richtig zugehört, ihr gar nicht richtig zuhören können. Es war, als ob nicht nur die Tränen ihren Blick verschleierten, sondern etwas Vergleichbares ihre Ohren, obwohl es das ja gar nicht gab. Fünf Sinne gab es, aber Anouk erschien es, als hätten sie sich alle in Luft aufgelöst, bis auf ihre rudimentärsten Funktionen. Sie sah, aber sie nahm nicht wahr. Sie hörte, aber sie verstand nicht. Sie roch und schmeckte, aber es bereitete ihr keinen Genuss; weder essen noch trinken noch der Duft einer Blume hatten eine Bedeutung. Und der Tastsinn – ja, sie fühlte Wärme und Kälte, empfand Schmerz, als sie sich einmal in den Finger schnitt, aber es war vergessen, kaum dass es geschehen war. Es ging nicht tiefer. Denn tiefer – ja tiefer, da saßen die Gefühle, die sie verdrängen wollte, vergessen, endgültig ausrotten. Sie überlegte sogar einmal, Katja anzurufen, um zu testen, wie weit sie damit war, aber dann unterließ sie es.

»Du bist ein seltener Gast!« rief ihr Bruder ihr entgegen, als sie sich nach langer Zeit entschlossen hatte, einmal wieder zum sonntäglichen Mittagessen bei ihrer Mutter zu erscheinen.

Sie zwang sich ein Lächeln ab. »Viel Arbeit«, sagte sie.

»Na ja, du warst ja noch nie die Treueste«, meinte ihr Bruder lachend.

Anouk fühlte es wie einen Schlag zwischen die Augen. Sie blieb stehen und versuchte sich zu fassen. Ihr Bruder hatte es vollkommen harmlos gemeint, das wusste sie, aber das Wort Treue rief zu schmerzliche Erinnerungen in ihr wach. Genau das war ja ihr Problem: Sie war viel zu treu. Sie war Vanessa treu, ohne zu wissen, warum . . . und ob es umgekehrt genauso war. Aber das war auch nicht wichtig.

»Komm«, sagte ihr Bruder, scheinbar ohne ihren Zustand zu bemerken, »Mutter hat ein Schwalbenpärchen in der Scheune. Die Kleinen sind schon ausgeschlüpft. Die musst du dir unbedingt ansehen.«

Er zog sie fast in Richtung des Tores, neben dem ein aufgeklapptes Fenster die Einflugschneise für die Eltern bildete. Gerade kam eine Schwalbe in irrwitzigem Tempo herausgeschossen.

»Dass die sich nicht den Kopf einrennen beim Fliegen!« Ihr Bruder lachte erneut.

Anouk folgte ihm, als er das Tor öffnete, und folgte mit ihrem Blick seinem Arm, als er ihn ausstreckte. Fast unter der Decke hing das Nest, und vier oder vielleicht fünf kleine, dunkle Köpfchen ragten kaum über den Rand.

Anouk wollte sich gleich wieder abwenden, als ihr Bruder flüsterte: »Warte, gleich kommt die Mutter. Das musst du sehen, wie sie gefüttert werden.«

Kaum einen Augenblick später schoss ein dunkler Schatten durch den Schlitz des Fensters, und im gleichen Moment erhob sich ein unsagbarer Lärm, und aus den dunklen Halbmonden oberhalb des Nestrandes wurden gierig hochgereckte, weit aufgerissene kleine Schnäbel. Anouk musste ungewollt lächeln, obwohl sie schon fast vergessen hatte, wie das ging.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann huschte der Schatten der Schwalbe wieder durch das Fenster hinaus, und Ruhe kehrte ein. Die Kleinen sanken in sich zusammen, die Schnäbel zugeklappt, und ihre Köpfe bildeten wieder winzige, schwarze, halbrunde Kreise oberhalb des Nestrandes. Bis zur nächsten großen Aufregung.

»Na, ist das nicht großartig?« strahlte ihr Bruder.

Sie zogen sich vorsichtig aus der Scheune zurück und schlossen das Tor.

»Ja, großartig«, murmelte Anouk pflichtschuldig. Schwalbenmutter, Schwalbenkinder – Mutter, Kind – Vanessa, Maiki . . . das war ein kurzer Weg. Sie hatte gehofft, heute an etwas anderes denken zu können. Deshalb war sie gekommen. Aber das war wohl nur ein frommer Wunsch gewesen.

»Mutter wird sich freuen, dass du wieder einmal da bist«, sagte ihr Bruder und nahm sie herzlich bei den Schultern. »Isa kommt heute nicht, also sind wir allein.«

»Was ist mit Isa?« fragte Anouk automatisch. Als ältere Geschwister waren sie und ihr Bruder immer um die jüngere Schwester besorgt gewesen. Das war auch heute noch so.

»Ach nichts«, winkte ihr Bruder ab. »Sie war jetzt eigentlich fast immer da, nur heute nicht. Sie hat was anderes vor. Ein neuer Lover wahrscheinlich.« Er lachte schon wieder auf seine herzliche, sympathische Art, die alle Sorgen mit einem Mal wegzuwischen schien. »Und was tut sich da bei dir?« Er sah sie fragend an, während sie beide nebeneinander über den Hof auf das Haus zugingen.

Anouk zog unbewusst die Schultern wie zu einer Verteidigungsstellung hoch. »Nichts«, sagte sie. »Nichts Neues.« Sie zwang sich, zum Gegenangriff überzugehen, denn ein kleines Fünkchen Verstand erinnerte sie an die alte Weisheit, dass Angriff die beste Verteidigung war. »Erzähl du lieber«, sagte sie, »ist interessanter. Und schließlich bist du der älteste.«

»Wie wahr, wie wahr«, seufzte ihr Bruder so übertrieben, dass es einfach nur lustig klang. »Das merke ich jeden Tag an meinem Knie.«

»Dein Knie hast du dir schon mit zwölf versaut«, erwiderte Anouk mit schwesterlichem Tadel in der Stimme. »Du musstest ja unbedingt mit dem Fahrrad diesen Hügel runtersausen wie ein Irrer.«

»Wie ein Zwölfjähriger«, korrigierte ihr Bruder milde. »Alle Zwölfjährigen sind irre. Jungs zumindest.« Er sah seine Schwester von der Seite an. »Manche Mädels auch.«

Anouk überhörte die Anspielung. Sie betraten das Haus. Zwei Hunde, die schon die ganze Zeit hinter der verschlossenen Halbglastür einen laut bellenden Tanz aufgeführt hatten, stürzten auf sie zu. Der kleinere sprang ihrem Bruder auf den Arm, der ihn lachend knuddelte, und der größere, ein Schäferhundmischling, versuchte dasselbe bei Anouk, die nun endgültig auch lachen musste.

»Rudi!« schimpfte sie. »Hast du immer noch nicht begriffen, dass du dafür mittlerweile zu groß bist?« Sie streichelte liebevoll den Kopf des Hundes, der sich auf ihren Befehl gehorsam gesetzt hatte, aber seine heftig wedelnde Rute verriet, dass er das nur widerwillig tat und um Anouk zu gefallen.

»Groß schon, aber wenn ein Gewitter kommt, rast er zu mir ins Bett, kringelt sich wie ein winziger Welpe auf dem Kopfkissen zusammen und hechelt mir vor lauter Angst die Ohren voll«, sagte eine freundliche Stimme aus dem Hintergrund.

Anouk hob lächelnd den Kopf. »Tut mir leid, Mutter, dass ich so lange nicht da war«, sagte sie etwas entschuldigend.

»Ach, wieso?« Ihre Mutter schaute sie an, mit diesem scharfen, beobachtenden Blick, den Anouk seit ihrer Kindheit kannte, und von dem sie nie wusste, was er sah. »Du wirst Besseres zu tun gehabt haben«, fuhr ihre Mutter fort, »aber ich habe mich gefreut, als Maurice mir sagte, dass du heute kommst.« Sie lächelte leicht. »Zu Tisch, Kinder, es wird kalt.«

Sie begaben sich weiter ins Haus hinein, wo der kleine Eingangsraum, den die Hunde ganz für sich in Anspruch zu nehmen schienen, sich erst in eine Diele und dann in ein größeres, gemütliches Zimmer hinein öffnete. Der Tisch war gedeckt.

»Ich hätte dir helfen sollen«, sagte Anouk, angeflogen von ihrem schlechten Gewissen.

»Maurice hat mir geholfen – und die Hunde«, sagte ihre Mutter. »Rudi hat den Tisch mindestens dreimal abgeräumt, bevor ich ihn rausgeschmissen habe. Ich glaube, er hat gespürt, dass du kommst. Er war ganz außer Rand und Band vor Freude.« Sie lachte ein wenig. »Nelly«, das war der kleinere Hund, eine Hündin, »hat immer so getan, als interessierte sie das gar nicht. Sie ist halt eine richtige Frau. Aber aus dem Augenwinkel hat sie auch ständig aufs Hoftor geschielt.«

»Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Mutter«, sagte Maurice, während sie sich setzten. »Du musst mir das Rezept geben, bevor ich heute gehe.«

»Für Sybille?« fragte seine Mutter.

»Für mich!« Maurice lachte über ihren Gesichtsausdruck. »Du weißt doch, dass Sybille nicht gern kocht. Dafür bin bei uns ich zuständig.«

»Ich weiß«, sagte seine Mutter. »Das hast du ja schon als Kind gern getan.«

»Ein Wunder, dass du nicht schwul geworden bist«, bemerkte Anouk. Sie zog die Schüssel mit den Kartoffeln zu sich heran.

»Das hast ja schon du besorgt. Ich finde, einer in der Familie reicht«, erwiderte ihr Bruder gutmütig.

»Was macht Sybille eigentlich?« fragte Anouk. »Warum ist sie nicht hier? Ich dachte, es wäre großes Familientreffen, und nun sind wir nur zu dritt. Wie kommt’s?«

»Sybille ist beruflich unterwegs. Dienstreise. Sie kommt erst am Mittwoch wieder zurück.« Ihr Bruder gab bereitwillig Auskunft.

»Sie macht richtig Karriere, oder?« fragte Anouk, während sie ein paar Kartoffeln aus der Schüssel auf ihren Teller lud.

»Du hast sie angesteckt«, sagte ihr Bruder. »Bevor sie dich kennengelernt hat, war sie eigentlich ganz normal.«

Anouk stellte die Schüssel hart auf den Tisch. »Was soll das heißen: normal?« fragte sie scharf.

Ihr Bruder hob beschwichtigend die Hände. »Nun reg dich nicht gleich auf. So habe ich es doch gar nicht gemeint. Es sollte ein Witz sein.«

Anouk starrte ihn noch einen Moment an, dann entspannte sich ihr Gesichtsausdruck. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht so anfahren. Meine Nerven sind zur Zeit nicht die besten.«

Was konnte sie schon dagegen tun, wenn bei der Erwähnung des Wortes normal sofort wieder Vanessas Bild vor ihren Augen auftauchte und die Vorstellung, dass sie, Anouk, Vanessa aus ihrer Normalität gerissen hatte? Und dass es ihr wehtat, daran zu denken, wie peinlich es Vanessa gewesen war, dazu zu stehen, selbst für kurze Zeit? Es war ihr schlagartig bewusst geworden, dass jemand über Vanessa etwas Ähnliches sagen könnte wie ihr Bruder gerade über Sybille. ›Bevor sie diese Frau kennengelernt hat, war sie eigentlich ganz normal.‹ Und noch schlimmer war die Vorstellung, dass Vanessa sagen könnte: ›Ja, ich war eine Weile nicht ich selbst, aber nun bin ich ja wieder normal‹, und dabei lachend ihren Arm in den eines Mannes legte, um sich an ihn zu kuscheln.

»So großartig Karriere gemacht habe ich ja nun wahrlich nicht«, versuchte Anouk an die Bemerkung ihres Bruders anzuknüpfen.

»Wie man’s nimmt«, sagte ihr Bruder. »Ich bin jedenfalls wahnsinnig stolz auf meine jüngere Schwester.« Er grinste.

»Sei lieber stolz auf Sybille«, sagte Anouk ein wenig lachend.

»Bin ich auch.« Ihr Bruder blinzelte schelmisch mit den Augen. »Siehst du nicht, wie meine Brust fast platzt, so stolzgeschwellt ist sie?« Er griff nach der Kartoffelschüssel, die immer noch vor Anouk stand. »Ihr Frauen seid einfach härter«, sagte er. »Wenn ihr euch einmal etwas in den Kopf gesetzt habt, dann zieht ihr es auch durch. Wir Männer sitzen erst einmal eine Weile am Feuer, nachdem wir das Mammut erlegt haben, und sind viel zu faul, gleich etwas Neues in Angriff zu nehmen, solange wir noch satt sind. Das ist der Grund, warum die Frauen eines Tages die Weltherrschaft übernehmen werden. Das heißt«, er lachte und stellte die Schüssel neben seine Mutter auf den Tisch, »das habt ihr ja eigentlich schon. Man sieht es nur von außen nicht so.«

»Wenn du meinst«, sagte Anouk schmunzelnd.

»Was für Themen beim Essen . . .«, bemerkte ihrer beider Mutter mit einem Augenzwinkern, das sehr stark an das ihres Sohnes erinnerte. »Wie gut, dass ich mich nicht entscheiden muss. Ich bin auf alle meine Kinder stolz.« Sie blickte lächelnd in die Runde. »Außer wenn sie mein Mittagessen kalt werden lassen«, fügte sie etwas tadelnd hinzu.

»Deine Werkstatt läuft doch auch gut, oder?« fragte Anouk ihren Bruder, bevor sie sich auf das Essen konzentrierte.

»Ganz prima«, erwiderte Maurice. »Ich kann mich vor Kunden kaum noch retten.« Er hob eine Hand und zeigte seine Finger. »Das Schwarze geht gar nicht mehr ab«, und wie ein kleiner Junge fügte er hinzu: »Es tut mir leid, Mutter, aber ich habe mir wirklich die Hände gewaschen.«

»Ich weiß«, sagte seine Mutter. »Du bist wie dein Vater. Dessen Hände sahen auch immer so aus.« Sie lächelte verständnisvoll. Dann blickte sie auf einmal ernst auf ihre beiden Kinder. »Es ist schade, dass euer Vater das nicht mehr erleben konnte. Er wäre so stolz auf euch gewesen. Ihr seid ihm beide sehr ähnlich.« Liebevoll tastete ihr Blick die Gesichter ihrer beiden Sprösslinge ab. »Die einzige, die aus der Art schlägt, ist Isabelle. Die kommt auf mich.« Ihre Mundwinkel verzogen sich weit nach oben.

»Ja, genau«, bestätigte Maurice lachend und drückte die Hand seiner Mutter innig. »Sie ist eine wunderhübsche Frau, genau wie du.«

»Jetzt weiß ich, warum keine Frau deinem Charme widerstehen kann«, entgegnete seine Mutter lachend und tippte ihm mit einem Finger auf die Nase. »Du hast sie schon als kleiner Junge alle um den Finger gewickelt.«

»Nur deshalb richtet er alte Autos so sorgsam wieder her«, ergänzte Anouk, nun auch fröhlich. »Um die Frauen zu beeindrucken.«

»Genau«, gab ihr Bruder grinsend zu. »Sie wollen alle mitfahren, und dann sind sie geliefert.«

»Ts, ts, ts«, machte seine Mutter kopfschüttelnd. »Was habe ich da nur für einen Casanova herangezogen?«

»Einen Casanova mit schwarzen Händen!« versetzte Anouk launig und stieß ihren Bruder freundschaftlich in die Seite.

Nach dem Essen halfen sie ihrer Mutter beim Abwaschen und Aufräumen. Danach spielten sie im Hof mit den Hunden. »Man könnte meinen, ich habe vier junge Hunde und nicht nur zwei!« rief ihre Mutter lachend und ging nach einer Weile ins Haus zurück, um den Kaffee vorzubereiten.

Sie balgten mit den Hunden auf dem Boden, als Anouks Bruder plötzlich fragte: »Was ist los? Was ist passiert?«

Anouk hielt sich Rudi nur knapp vom Leib, der über ihr stand und ihr Gesicht ablecken wollte. »Was meinst du?« fragte sie bemüht unschuldig zurück. »Was soll los sein?«

»Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du aussahst, als du hier angekommen bist?« meinte ihr Bruder.

In der Tat hatte Anouk das angenommen. »Wie sah ich denn aus?« fragte sie, in der Hoffnung, dass er sich auf etwas anderes bezog. Sie versuchte, weiter mit Rudi herumzubalgen, um einen uninteressierten Eindruck zu machen, aber der suchte plötzlich gemeinsam mit Nelly das Weite, weil sie am anderen Ende des Hofes etwas gesehen hatten, das sie näher untersuchen wollten.

»Als ob du gerade aus einem Hochhaus gefallen wärst«, sagte ihr Bruder. »Dein Job läuft doch gut, oder?«

»Mein Job?« Anouk war für einen Moment verwirrt. »Oh, ja«, sagte sie dann. »Mein Job läuft gut. Es könnte nicht besser gehen.«

»Dann ist es eine Frau«, stellte ihr Bruder in einem so endgültigen Tonfall fest, dass die Erwiderung, die Anouk bereits auf den Lippen lag, verpuffte, ohne ausgesprochen worden zu sein.

Ohne zu antworten, klopfte Anouk sich die Hose ab, um den Staub und die Hundehaare zu entfernen.

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, bemerkte ihr Bruder nachsichtig, »aber wenn du willst, ich bin da. Ich oder Mutter. Sie hat es auch bemerkt.«

»Sie hat nichts gesagt«, protestierte Anouk.

»Du weißt genau, dass sie nie etwas sagt«, erinnerte sie ihr Bruder. »Ein Blick genügt. Dann haben wir selbst als Kinder gespurt.«

»Ja, stimmt«, bestätigte Anouk.

»Und? Willst du reden?« fragte ihr Bruder noch einmal. »Wenn du willst – ich höre zu.«

»Ich – ich kann nicht«, sagte Anouk leise. Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Aber danke für das Angebot. Ich weiß das sehr zu schätzen.«

»Na, wenigstens etwas«, sagte ihr Bruder. Er lachte leicht. »Du weißt doch, ich kann es nicht ertragen, wenn eine meiner vier Frauen unglücklich ist. Sybille, Mutter, du oder Isa.«

Anouk sah ihn schräg von der Seite an. »Du bist wirklich der Hahn im Korb«, sagte sie. »Das ist mir noch nie so aufgefallen.«

Ihr Bruder zuckte die Schultern. »Was kann ich dafür, wenn ich der einzige Mann auf weiter Flur bin in unserer Familie? Seit Vater tot ist. Aber vielleicht schleppt Isa ja mal wieder jemand an, der die männliche Position stärkt.« Er lachte. »Obwohl – die Männer, die sie anschleppt, sind auch nicht gerade das Gelbe vom Ei!«

»Sie ist ja noch jung«, meinte Anouk verständnisvoll. »Sie hat bisher halt immer Pech gehabt.«

»Hast du auch Pech gehabt?« fragte ihr Bruder unschuldig, während er zu einem großen Baum hinüberschlenderte und die Rinde untersuchte. Seine Stimme klang, als würde ihn die Antwort gar nicht interessieren.

»Pech?« Anouk musste ungewollt lächeln und schüttelte den Kopf. Nein, so konnte man das wahrlich nicht nennen, Pech. Sie hatte es als großes Glück empfunden, Vanessa kennengelernt zu haben.

Ihr Bruder drehte sich um. »Nicht? Was dann?«

»Du gibst nie auf, oder?« Obwohl Anouk ihren Bruder nun schon seit ihrer Geburt kannte, war seine Hartnäckigkeit immer wieder überraschend für sie.

»Da tun wir uns nicht viel«, versetzte ihr Bruder freundlich. »Ich dachte, du wärst genauso.«

»Ja.« Anouk zögerte. »Ja, eigentlich schon«, bekräftigte sie dann. Und obwohl es stimmte, was sie sagte, hatte sie bei Vanessa aufgegeben, ohne dazu gezwungen zu sein. Das wurde ihr plötzlich bewusst. »Manchmal – manchmal hat es einfach keinen Sinn«, sagte sie zu ihrem Bruder.

»Bei Frauen? Ja, da hast du recht«, stimmte Maurice zu. »Wenn sie nicht wollen, dann wollen sie nicht.« Er schaute seine Schwester mit schiefgelegtem Kopf an. »Will sie nicht?«

Anouk seufzte. »Wenn es nur das wäre . . .«

»Du sprichst in Rätseln, Schwesterherz«, bemerkte ihr Bruder. »Sie will – aber irgendwie doch nicht?« Er lachte. »Nicht dass mich das bei einer Frau überraschen würde!«

»So pauschal kann man das nun wirklich nicht sagen«, protestierte Anouk. Schließlich war sie selbst auch eine Frau. »Manchmal kann man einfach nicht so, wie man will.«

»Nun ja, das ist nicht unbedingt frauenspezifisch, so geht es uns allen mal«, sagte ihr Bruder, »das gebe ich zu. Selbst mir!« Er lachte wieder.

»Siehst du?« sagte Anouk. »Man kann ihr keinen Vorwurf machen.«

»›Man‹ vielleicht nicht, aber du vielleicht schon?« fragte ihr Bruder.

Anouk starrte ihn einen Augenblick trotzig an – Geschwister sind halt Geschwister – und setzte sich dann auf eine einfache Bank, die unter einem Fenster direkt am Haus stand. »Ich kann ihr keinen Vorwurf machen, und ich mache ihr auch keinen«, beharrte sie. Sie blickte vor sich auf den Boden und fuhr mit einem Fuß an einer imaginären Linie entlang. »Höchstens mir«, setzte sie leise hinzu.

Ihr Bruder hatte sich zwischenzeitlich von dem Baum verabschiedet und war zu ihr herübergekommen. Sonst hätte er ihre leisen Worte gar nicht verstehen können. »Weil sie nicht das ist, was du willst, und weil du dich trotzdem in sie verguckt hast?« fragte er verständnisvoll.

Anouk antwortete nicht gleich. Sie sah ihren Bruder kurz an und starrte dann weiter vor sich auf den Boden. »Sie ist alles, was ich will«, flüsterte sie dann.

»Oje!« Ihr Bruder schüttelte leicht den Kopf und setzte sich neben Anouk auf die Bank. Er beugte sich nach vorn, legte die Hände locker vor seinen Knien zusammen und warf von der Seite einen besorgten Blick auf seine Schwester. »Nun sag schon«, fuhr er fort, »zier dich nicht so. Ist doch sonst nicht deine Art. Ich komme mir ja vor, als würde ich mit Isa reden!« Er lachte ein wenig. Es schien, als wolle er der Situation damit den Stachel nehmen.

Anouk saß unbeweglich da. Erst nach einer Weile rührte sie sich. »Was würdest du sagen, wenn Sybille schon einmal verheiratet gewesen wäre, wenn sie ein Kind hätte, wenn der Mann, mit dem sie verheiratet war, dieses Kind regelmäßig bei ihr abholt und einen intensiven Kontakt mit ihr pflegt und du nicht genau wüsstest, was sie für ihn empfindet – für ihn oder andere Männer? Und wenn du das alles beobachten müsstest, als ob du nur ein Gast wärest, obwohl sie dir ständig versichert, dass du wichtig für sie bist? Und dann erfährst du, dass sie nicht zu dir steht, dass sie vor anderen verheimlicht, dass sie mit dir zusammen ist, besonders vor ihrem Ex-Mann. Würdest du dann bei ihr bleiben?«

Ihr Bruder richtete sich auf. »Uijuijuijuijui!« stieß er hervor. »Das ist heftig.«

»Ich bin beruhigt, dass du das auch findest«, sagte Anouk mit einem leicht ironischen, aber dennoch traurigen Lächeln.

»Sie hat einen Mann und ein Kind und hat trotzdem mit dir –?« Ihr Bruder blickte sie ziemlich ungläubig an.

»Scheint so«, erwiderte Anouk trocken. Dann schüttelte sie den Kopf, als könne sie selbst nicht glauben, was sie da gerade gesagt hatte. »Ich bin ungerecht«, fuhr sie fort. »Sie hat mir von Anfang an die Wahrheit gesagt. Der erste Satz, den sie mir entgegenschleuderte, war: ›Ich stehe nicht auf Frauen!« Sie lachte wehmütig. »Damals dachte ich, es wäre nur eine Schutzbehauptung.«

Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Ich muss dir ehrlich sagen, wenn mir eine Frau als erstes sagen würde: ›Ich stehe nicht auf Männer‹, würde ich das ernst nehmen.«

»Ich habe es auch ernst genommen!« Anouk fuhr etwas ärgerlich auf. »Ich habe sie in Ruhe gelassen. Ich meine –«, Anouk dachte an den Kuss, den sie Vanessa in gewisser Weise aufgedrängt hatte bei ihrer allerersten Begegnung, »ich meine, ich . . . sie hat –«

Ihr Bruder hob die Hand. »Du musst das nicht weiter ausführen. Ich kann’s mir vorstellen«, sagte er. »Es ist schwer, wenn man einer attraktiven Frau gegenübersitzt und sie nicht haben kann. Wenn es noch nicht einmal Sinn hat, darauf zu hoffen.«

Anouk blickte ihn erstaunt an. »Sprichst du aus Erfahrung? Ich hatte immer das Gefühl, du hättest es sehr leicht gehabt bei den Mädchen.«

»Bei denen, die wollten, ja«, erwiderte ihr Bruder. Er schmunzelte ein wenig. »Genau wie du.«

Anouk senkte erneut den Kopf, weil sie zugeben musste, dass ihr Bruder recht hatte.

»Die sind ja auch nicht das Problem, die, die wollen«, fuhr ihr Bruder fort. »Das Problem sind die, die nicht wollen. Es zerreißt einen, und trotzdem ist und bleibt es aussichtslos.« Er sah seine Schwester wieder ernst an. »Das musst du einfach einsehen, ob du willst oder nicht. Sonst gehst du kaputt.«

»Ich sehe es ja ein, ich sehe es ja ein!« stieß Anouk unglücklich hervor. »Deshalb, weil ich das einsehe, bin ich ja gegangen. Aber es – es –«

»Es tut furchtbar weh, ich weiß«, sagte ihr Bruder mitfühlend. Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran.

»Sie hat nicht gesagt, dass sie nicht will«, flüsterte Anouk an seiner Schulter. »Sie hat sogar versucht mich zurückzuhalten. Aber ich habe gespürt –«

Ihr Bruder wartete ohne ein Wort auf die Fortsetzung des Satzes.

»Ich habe gespürt«, wiederholte Anouk leise, »dass sie keine Entscheidung fällen kann – nicht für mich.«

»Vielleicht jetzt noch nicht«, bemerkte ihr Bruder tröstend. »So lange kann das Ganze ja noch nicht her sein. Sonst hättest du mir schon bei unserem letzten Treffen davon erzählt. Oder ich hätte gemerkt –«, er wandte den Kopf zu ihr und sah sie freundlich-verschmitzt an, »ich hätte garantiert gemerkt, wenn du verliebt gewesen wärst. So verliebt.«

Anouk atmete tief durch und richtete sich auf. »Nein, letztes Mal wusste ich davon noch nichts«, bestätigte sie seufzend. »Es war kurz danach.«

»Ist das die ganze Geschichte?« fragte ihr Bruder. »Sonst war nichts?«

Anouk blickte ihn entgeistert an. »Reicht das nicht?«

Ihr Bruder verzog die Mundwinkel. »Es ging tief, aber es dauerte nicht lange«, fasste er zusammen. »Ich würde das eine Affäre nennen. Und die Sache abschließen. So weh es auch tut – die Zeit heilt alle Wunden.«

Anouk sprang ärgerlich auf. »Vielleicht bei Männern!« stieß sie hervor.

»Oh, das jetzt wieder«, sagte ihr Bruder und stand ebenfalls auf. »Wir Männer sind gefühllose Monster, und ihr Frauen habt die Seelentiefe gepachtet. Du weißt, dass du damit bei mir auf Granit beißt, Schwesterchen.«

»Nenn mich nicht Schwesterchen!« fauchte Anouk ihn an. Dann beruhigte sie sich wieder. »Entschuldige«, sagte sie reumütig. »Ich weiß, dass es nicht so ist.«

Er ging auf sie zu und nahm sie erneut in den Arm. »Und ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast«, sagte er gutmütig. »Mir ist klar, dass das mit der Zeit ein banaler Spruch ist. Ich hätte mir das an deiner Stelle auch nicht gern von jemand sagen lassen. Aber nichtsdestotrotz: in den meisten Fällen stimmt es.«

»In den meisten Fällen«, wiederholte Anouk hoffnungslos.

»Im Moment denkst du, dass du die einzige Ausnahme bist«, sagte ihr Bruder, »aber irgendwann –«

»Irgendwann.« Anouk löste sich von ihm und sah ihn an. »Irgendwann ist eine lange Zeit. Vielleicht erlebe ich das nicht einmal mehr«, meinte sie sarkastisch.

»Wenigstens ein angedeutetes Lächeln – das ist wieder meine kleine Schwester«, bemerkte ihr Bruder aufmunternd. »Ich wusste doch, dass du noch nicht ganz verloren bist.«

Anouks Augen verschleierten sich. »Ich habe mich in ihren Augen verloren«, sagte sie schluckend.

»Ach, du lieber Himmel!« Ihr Bruder setzte sich wieder auf die Bank. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«

»Das wusste ich auch nicht«, sagte Anouk. »Ich erlebe das zum ersten Mal in meinem Leben – so richtig. Man denkt immer, man ist verliebt, glaubt es wirklich, und dann – war es das doch nicht.«

»Aber diesmal bist du sicher?« Ihr Bruder blickte sie fragend an.

»Diesmal bin ich sicher.« Anouk seufzte. »So sicher, wie man nur sein kann. Und trotzdem – gerade diesmal . . .«

». . . ist es aussichtslos«, vollendete ihr Bruder.

»So ist es.« Anouk trat auch wieder zur Bank und setzte sich neben ihn. »Ich will es einfach nicht wahrhaben, das ist das Problem.«

»Das verstehe ich sehr gut«, nickte ihr Bruder. »Mir ginge es wahrscheinlich ebenso. Wenn ich mir vorstelle, dass Sybille – puh!« Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Nein, lieber nicht.«

»Ein Kind verschlimmert die Sache noch«, erklärte Anouk, nun wieder gefasst. »Mütter sind eine ganz spezielle Spezies«, sie lachte resigniert auf, »mir der ich bislang noch keine großen Erfahrungen hatte, außer mit unserer eigenen Mutter.«

»Das ist etwas anderes«, sagte ihr Bruder.

»Allerdings.« Anouk nickte heftig. »Das ist es.«

Ihre Mutter trat aus der Tür. »Der Kaffee ist fertig, kommt!«

Anouk und Maurice standen auf und gingen zu ihr.

»Worüber habt ihr euch so ernsthaft unterhalten?« fragte ihre Mutter.

»Über Mütter«, sagte Maurice sofort. Er neigte sich zu seiner Mutter hinunter und küßte sie auf die Wange. »Wir sind wie immer zu dem Schluss gekommen, dass du die beste aller Mütter bist!« verkündete er strahlend.

Seine Mutter lächelte. »Und du bist der beste aller Lügner«, erwiderte sie.

»Ich lüge doch nicht!« protestierte ihr Sohn verschmitzt. »Wenn es darauf ankommt, sage ich immer die Wahrheit.«

»Wenn es darauf ankommt«, wiederholte seine Mutter. »Ich frage mich wirklich, wo meine Erziehung geblieben ist.«

»Ganz tief da drin«, entgegnete ihr Sohn voller Überzeugung und legte eine Hand auf sein Herz. »Da ist alles gespeichert.«

Seine Mutter sah ihn zweifelnd an. »Na, will ich dir das mal glauben«, bemerkte sie.

Sie gingen hinein und setzten sich an den Kaffeetisch.

»Du hast das Blumenbeet im Hof umgestaltet«, sagte Anouk, um harmlos zu klingen und das Thema zu vergessen, über das sie eben noch mit Maurice gesprochen hatte. »Sieht gut aus.«

»Ja, manchmal braucht man etwas Abwechslung«, erwiderte ihre Mutter und blickte sie auf eine Art an, die Anouk gar nicht gefiel. »Seit ihr alle aus dem Haus seid, habe ich Zeit für so was.« Sie verteilte Kuchen auf alle drei Teller. »Isa war ziemlich viel hier in letzter Zeit und hat mir geholfen.« Wieder blickte sie auf Anouk.

»Ich hatte keine Zeit; ich musste arbeiten«, verteidigte sich Anouk sofort schuldbewusst.

»Das sollte kein Vorwurf sein«, besänftigte ihre Mutter sie. »Isa ist ehrlich gesagt keine große Hilfe. Sie hatte noch nie ein Händchen für Blumen. Das ist anscheinend etwas, was sie nicht von mir geerbt hat.« Sie hob ihre Tasse, trank aber nicht. »Isa wollte sich nur über ihre neue Liebe auslassen, das war der Grund, nicht, dass sie mir helfen wollte. Das war nur ein Nebeneffekt.«

Maurice lächelte. »Dann hat sie dir mehr erzählt als uns. Wir wissen noch nichts darüber. Erzähl, was hat die Kleine an Land gezogen?«

Ihre Mutter seufzte. »Etwas ganz Großartiges: einen verheirateten Mann mit Kindern.«

Anouks Tasse machte ein lautes Geräusch, als sie sie hart auf dem Unterteller aufsetzte.

Ihre Mutter blickte kurz zu ihr hinüber und fuhr dann fort: »Ihr wisst, dass ich nicht prüde bin. Wir haben ’68 noch ganz andere Sachen gemacht. Aber wenn man es dann aus der Perspektive einer Mutter betrachtet –«

Maurice und Anouk schwiegen beide gleichermaßen betreten. Maurice fing sich als erster und räusperte sich. »Wie lange geht das schon?« fragte er und stopfte sich ein Stück Kuchen in den Mund, als wollte er sich vor weiteren Aussagen bewahren.

»Nicht lange«, erwiderte seine Mutter. Ihre grauen Augen lagen abwechselnd auf den Gesichtern ihrer Kinder. »Aber sie hält es natürlich für die große Liebe ihres Lebens. Wie jedesmal.«

Anouk schluckte und versuchte sich aufs Essen zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht. »Sie ist noch sehr jung«, bemerkte sie entschuldigend.

»Sie ist alt genug, um zu wissen, was sie tut«, entgegnete ihre Mutter trocken. »Deshalb gebe ich auch keine Ratschläge . . . euch allen nicht. Ihr seid erwachsen.«

Es schien Anouk, als wolle ihre Mutter ihr damit etwas sagen, aber sie vermied es, in ihre durchdringenden grauen Augen zu blicken, um sich zu vergewissern. Sie wollte es lieber gar nicht erst wissen.

Ihre Mutter lachte. »Und in meinen Augen seid ihr alle noch sehr jung!«

»Frauen sind der personifizierte Widerspruch – selbst meine eigene Mutter!« versetzte Maurice kopfschüttelnd.

Seine Mutter schmunzelte. Sie sah auf einmal selbst sehr jung aus. »Du solltest in deinem Alter eigentlich schon wissen, dass Frauen und Männer so unterschiedlich sind wie Sonne und Mond.«

»Oder Venus und Mars.« Maurice kaute und sprach gleichzeitig. Den tadelnden Blick seiner Mutter ignorierte er. »Ich habe gerade so ein Buch gelesen; Sybille hat’s mir empfohlen. ›Frauen sind von der Venus und Männer vom Mars‹ – oder so ähnlich.«

»Davon wiederum bin ich jetzt wieder nicht überzeugt«, entgegnete seine Mutter zweifelnd, »das ist mir zu einseitig. Aber wahrscheinlich hat auch das seine Berechtigung.« Sie sah ihren Sohn an. »Kommst du dir so martialisch vor?«

Maurice schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich nicht. Das habe ich Sybille auch schon gesagt, aber sie behauptet, ich irre mich.«

Seine Mutter schmunzelte noch heftiger. »Sie muss es ja wissen«, sagte sie.

»Es ist schrecklich, Mutter, wie neutral du immer bist. Könntest du nicht einmal Partei für deinen Sohn gegen deine Schwiegertochter in spe ergreifen?« beklagte Maurice sich theatralisch.

»Warum sollte ich?« erwiderte seine Mutter gelassen. »Das geht mich nichts an. Es ist deine Sache, deine und Sybilles, nicht meine. Das müsst ihr selbst regeln.«

»Immer haltet ihr Frauen zusammen«, schmollte Maurice noch ein wenig weiter. »Wir Männer haben da keine Chance.«

»Wenn es so wäre«, folgerte seine Mutter bestechend logisch, »würde die Welt von den Frauen beherrscht und nicht von den Männern. Leider können die meisten Frauen das Wort Solidarität noch nicht einmal buchstabieren.«

»Mutter!« Anouk blickte sie entgeistert an.

»Was? Bist du anderer Meinung?« fragte ihre Mutter wohlwollend interessiert.

»Ähm . . . ja . . . nein . . . ich weiß auch nicht. Ich kenne durchaus Frauen, die sich solidarisieren und sich gemeinsam für eine Sache einsetzen«, stotterte Anouk.

»In deinen Kreisen vielleicht. Ich habe das seit ’68 kaum mehr erlebt.« Sie machte eine kleine Pause. »Und ehrlich gesagt auch damals nicht wirklich«, fügte sie sinnend hinzu. »Es sah zwar manchmal so aus, aber wenn es dann wirklich ans Eingemachte ging . . . wenn es um einen Mann ging, dann führten sie sich doch wieder auf wie die Furien, als die sie ihre Großmütter bezeichnet hatten. Als ob sich nichts geändert hätte. Und hat es auch nicht.«

Anouk wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.

»Du bist ja richtig frauenfeindlich, Mutter«, bemerkte Maurice erstaunt.

»Nur realistisch«, korrigierte seine Mutter. »Frauen kämpfen um Männer und sie kämpfen für ihre Kinder, für ihre eigenen Interessen – aber sie kämpfen nicht für andere Frauen, höchstens gegen sie.«

Anouk spürte, wie ihr heiße Tränen in die Augen stiegen. Sie stand auf und ging zum Bad. Ihre Mutter hatte in ihrer trockenen Art genau das bestätigt, was sie die ganze Zeit nicht wahrhaben wollte: Heterofrauen interessierten sich nicht für andere Frauen, außer wenn es sich mit ihren momentanen Interessen beispielsweise als Mütter traf. Und Vanessa war sowohl Heterofrau als auch Mutter. Ihr Interesse, es einmal mit einer Frau zu versuchen, war ein Interesse auf Zeit, nichts Beständiges. Beständig waren für sie nur ihr Sohn und möglicherweise andere Männer.

Das war die Wahrheit, die Realität. Alles andere war nur Wunschdenken. Diese Erkenntnis ließ sie auf dem Toilettensitz zusammensinken und ihr Gesicht in die Hände legen. Nie, nie, nie. Es gab keine Chance für sie und Vanessa.

Sie brauchte eine Weile, bis ihre brennenden Augen sich wieder beruhigt hatten. Keine Träne war geflossen, und doch fühlte sie sich, als ob sie ausgetrocknet wäre – innerlich ausgetrocknet, ausgezehrt bis in die letzte Zelle hinein. Sie beugte sich über das Handwaschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dadurch wurde ihr Gesicht kühler, doch ihr Inneres nicht weniger trocken. Es blieb alles, wie es war: öde und leer. Dennoch war sie nicht hier, um sich selbst zu bemitleiden. Das hatte ihre Familie nicht verdient: dass sie nur nach Hause kam, um zu jammern. Und sie wollte es auch nicht. Wenn Maurice nicht angefangen hätte sie auszufragen, hätte sie den Besuch vielleicht unbeschadet überstanden.

Ach, verdammt, ihr älterer Bruder . . . er kannte sie einfach zu gut. Schon von Kindheit an fühlten sie sich eng miteinander verbunden, immer hatte er sie beschützt, und als sie anfing sich dagegen zu wehren, hatten sie miteinander gekämpft und sich doch immer wieder zusammengerauft. Ihre Mutter hatte manchmal geschimpft: »Ihr seid wie Hund und Katze!«, und dann hatten sie beide gelacht und waren gemeinsam weggelaufen, auf einmal wieder untrennbar vereint. Wie lange war das schon her?

»Die Leute denken, ich habe einen Jungen und zwei Mädchen«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus der Vergangenheit, »aber sie wissen nicht, dass ich ein Mädchen und zwei Jungen habe.«