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Ruth Gogoll

GALAKTISCHE GEFÜHLE

Eine lesbische Science-Fiction

Originalausgabe:
© 2012
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-941598-91-1

Coverillustration:
© Geni55 – Fotolia.com

Prolog

Wir schreiben das Jahr 3094. Moderne Raumschiffe dringen immer weiter in das Weltall vor, um unbekannte Sterne und Planeten zu erforschen. Eines dieser Raumschiffe, das größte und fortschrittlichste im ausgehenden 31. Jahrhundert, ist die Ionavoy unter dem Kommando von Captain Alyson McGuire.

Die zum großen Teil weibliche (und davon überwiegend lesbische) Crew wurde auserwählt, um auf einer mehrere Jahre dauernden Mission nicht nur stellare Phänomene, sondern auch den Ursprung der gefährlichen Cy zu erforschen. Die halb mechanischen, halb organischen Wesen, von denen man bislang nur gehört hat, werden von der Erde als große Bedrohung betrachtet, weil deren Waffensysteme denen der Menschen weit überlegen und sie selbst unerbittlich sein sollen.

Während die heterosexuelle Minderheit (10% der Menschheit) durch Reproduktion für den Fortbestand der menschlichen Rasse sorgt, kümmert sich die homosexuelle Mehrheit (90% der Menschheit) um Wissenschaft und Forschung und treibt die Entwicklung der Menschheit voran. Nachdem der Dritte Weltkrieg im 23. Jahrhundert beinah das irdische Leben vollständig ausgelöscht hätte, übernahmen die Frauen sämtliche Machtpositionen und degradierten die aggressiven heterosexuellen Männer zu Arbeitern, um den weiblichen Wohlstand aufrecht zu erhalten.

Die freigewordenen Energien konnten gänzlich in das rasant voranschreitende Raumfahrtprogramm investiert werden, seit dem 25. Jahrhundert sind Raumschiffe unterwegs, die unser Sonnensystem verlassen und unsere Galaxie erforschen können. Doch dieser Vorstoß barg neue Gefahren: Die bislang als unterentwickelt und daher uninteressant geltende Erde rückte sich in das Interesse anderer raumfahrender Spezies, die nicht immer freundlich gesinnt waren. Und so begannen auch die gefürchteten Cy, immer weiter in Richtung des Sonnensystems vorzurücken.

Die Mission der Ionavoy ist das Aufspüren möglicher Schwachstellen im scheinbar perfekten Cy-Staat. Doch die Ionavoy stößt auf eine große Überraschung: Die Cy sind kein geballter und riesiger Verbund von unbesiegbaren Raumschiffen, wie es allgemein von außerirdischen Rassen behauptet wird, sondern ein versprengter Haufen demolierter und kaum handlungsfähiger Schiffe, die sich gerade so selbst erhalten können.

Um dieses Mysterium zu enträtseln, rettet die Ionavoy einen stark beschädigten Cy aus dem Wrack eines Schiffes. Nur durch hochwertige organische Teile, die der Chefarzt des Schiffes, ein schwuler Transvestit, extra zu diesem Zweck züchtet, und anorganische Teile, die die Ingenieurinnen des Schiffes herstellen, kann das Wesen am Leben erhalten werden. Aber aufgrund der Züchtungen des Doktors verwandelt sich das Wesen immer mehr in einen Menschen, und da der Doktor die Teile aus verschiedenen Zellen der überwiegend weiblichen Crew züchtet, zum Schluss in eine Frau. Sie wird im Laufe der Zeit zu einem Mitglied der Crew, weiß jedoch sehr wenig über das menschliche Leben, da sie ursprünglich kein Mensch ist und keine menschlichen Wurzeln besitzt.

Da der Doktor, wie viele Schwule, ein Anhänger übertriebener weiblicher Schönheit ist, hat er das Wesen, das er in einem Anfall von Hysterie Siren (von den griechischen Sirenen abgeleitet) genannt hat, mit etlichen hervorstechenden weiblichen Attributen ausgestattet, die sie zu einem äußerst begehrenswerten Geschöpf machen . . .

»Drehen Sie und steuern Sie das hinter uns liegende Sonnensystem an!«, befahl Captain McGuire energisch, und der weibliche Fähnrich am Steuerpult der Ionavoy tippte die entsprechenden Befehle in die blinkende Steuerkonsole ein. Die Sterne auf dem großen Brückenbildschirm, der das Weltall zeigte, begannen sich zu verändern. Langsam zogen sie dahin, und diese Bewegung ließ nicht im entferntesten erahnen, wie schnell das Raumschiff wendete. Innerhalb von Sekunden war die Kursänderung vollzogen, und die Pilotin beschleunigte auf eine mittlere Geschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung.

Yetos’ha, die Sicherheitsoffizierin, runzelte missbilligend die Stirn. »Ich melde meine Bedenken an, Captain. Dieses System ist von meinem Standpunkt aus nicht sicher.«

»Zur Kenntnis genommen«, antwortete McGuire knapp. »Wir nehmen es ins Protokoll auf.«

Yetos’ha nickte. Sie wusste, dass sie nicht mehr tun konnte, als ihre Bedenken anzumelden. Die Entscheidung, was zu tun war, traf der Captain. Und sie musste sich dem beugen. Darauf beruhte das System. Und ohne dieses System funktionierte gar nichts mehr. Deshalb hielt sie sich daran. Nicht, weil sie davon überzeugt war, dass alle Entscheidungen des Captains richtig waren. Sie, die Chefin der Sicherheit, hätte oft andere getroffen, aber zum Schluss waren die Entscheidungen des Captains dann doch immer richtig gewesen, zumindest hatten sie das Schiff erhalten und alle, die darauf lebten.

»Annäherung erfolgt. Noch ein paar Stunden bei dieser Geschwindigkeit«, meldete die zweite Offizierin des Schiffes, die die hintere Sensorenkonsole bediente.

McGuire schnappte: »Können Sie das auch in korrekten Entfernungsmaßen ausdrücken?«

Die dritthöchste Offizierin des Schiffes zuckte unmerklich zusammen und wiederholte ihre Angaben in korrekter Form, die die Entfernung statt der Zeit definierte. Die Chefin war nicht gut gelaunt heute, wenn sie auf solchen Formalien bestand. Da gehorchte man besser . . .

Die Tür zum Speed Lift öffnete sich. »Wieso wenden wir?«, fragte Barbara Mallen, die erste Offizierin der Ionavoy, als sie aus dem Lift kam und die Brücke betrat. Da der Captain auf der Brücke war, hatte sie eigentlich dienstfrei. »Ich war in der Beobachtungslounge und habe gesehen, dass wir zurückfliegen. Warum?«

»Weil ich es befohlen habe«, knurrte McGuire ohne erkenntlichen Grund wütend.

»Das dachte ich mir«, sagte die Erste lächelnd. »Ich habe nicht geglaubt, dass das Schiff seine Entscheidungen allein trifft.«

»In meinen Raum, Mallen!«, kommandierte McGuire und marschierte schon los. Commander Mallen folgte ihr schweigend. Drinnen angekommen polterte McGuire los: »Was fällt Ihnen ein, sich über mich lustig zu machen und meine Entscheidungen in Frage zu stellen?«

»Das habe ich nicht getan, Alyson«, erwiderte Mallen sanft und unbeeindruckt. »Ich würde nur gern wissen, weshalb Sie diese Kursänderung befohlen haben. Oder ist das geheim? So geheim, dass Sie es nicht einmal mir anvertrauen wollen, Ihrer Stellvertreterin?«

»Nein, natürlich nicht«, seufzte McGuire und ließ sich in ihren Stuhl hinter dem Tisch fallen. »Sie haben ja recht. Ich hätte nicht so unbeherrscht sein sollen. Ich habe wohl schlecht geschlafen in letzter Zeit.«

»Kein Wunder, wenn Sie immer den Nachtdienst übernehmen und mich nichts mehr tun lassen«, versetzte Mallen gelassen. »Irgendwann sind selbst Ihre Batterien ausgebrannt.«

»Ja«, seufzte McGuire wieder, nun leiser als zuvor, »so fühle ich mich: ausgebrannt. Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Selbst, wenn ich krank war und der Doktor mich in mein Quartier schickte, habe ich mich besser gefühlt als jetzt.«

»Und? Warum sind wir nun umgekehrt?«, fragte Mallen wieder, während sie ihre Vorgesetzte besorgt musterte.

Auf der langen Reise waren sie vielleicht keine Freundinnen geworden, aber doch enge Vertraute, und Alysons Zustand, den sie schon seit einiger Zeit beobachtete, gefiel ihr gar nicht. Aber solange der Captain die richtigen Entscheidungen traf und im Dienst fehlerlos agierte, hatte kein Grund zum Eingreifen bestanden. Ob das allerdings weiterhin so bleiben würde, daran hatte Commander Mallen in diesem Augenblick ihre Zweifel.

»Ich weiß es nicht«, sagte McGuire, und ihre Stimme klang ziemlich unglücklich. »Ich habe schon in den letzten Tagen bemerkt, dass ich meine Entscheidungen im Nachhinein nicht mehr verstehen konnte, aber es waren unbedeutende Entscheidungen, die weder unseren Kurs noch die Mannschaft beeinflussten. Heute aber – ich weiß auch nicht, was los ist . . . heute habe ich das Gefühl, ich befehle etwas, und es hat eine Bedeutung, aber ich weiß nicht, welche.«

»Sollen wir den alten Kurs wieder aufnehmen?«, fragte Mallen, weil ihr das als das Naheliegendste erschien.

»Nein!«, widersprach McGuire sofort vehement. Dann jedoch zuckte sie und fügte hinzu: »Ich wusste sofort, dass ich nein sagen musste. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich fühle nur, dass es wichtig ist, dass wir zu diesem Sonnensystem fliegen. Aber fragen Sie mich nicht, warum.«

»Das muss ich aber«, entgegnete Mallen. »Sie wissen, dass ich das tun muss, Alyson. Und – bei allem Respekt – das ist das erste Mal, dass ich erlebe, dass Sie einen Befehl mit Gefühlen begründen.«

»Ja. – Ja, ich auch«, murmelte McGuire. Dann kicherte sie nervös. »Natürlich: ich auch. Es sind ja meine Befehle. Und Befehl und Gefühl, das gehört einfach nicht zusammen.«

Mallen musterte McGuire nun erneut und weitaus beunruhigter als vor wenigen Minuten noch. Sie hatte den Captain noch nie in ihrer ganzen Laufbahn kichern gesehen. »Ich fürchte, ich muss Sie auffordern, den Doktor aufzusuchen, Alyson«, sagte sie dann. »Sie wissen, was die Konsequenzen sind, wenn Sie es nicht tun.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte McGuire und blickte ihr klar und gefasst ins Gesicht. »Dann sind Sie gezwungen, mich abzusetzen. – Jedenfalls könnten Sie bald dazu gezwungen sein. Das möchte ich natürlich vermeiden. Allein schon deshalb, weil ich weiß, wie unangenehm Ihnen das wäre.« Sie lachte, aber es klang recht freudlos. »Und mir erst!« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich weiß nicht, was los ist, Barbara. Seit ein paar Wochen . . . seit genau fünf Wochen und drei Tagen – wir wollen doch exakt sein – komme ich mir vor, als ob ich nicht mehr ich selbst wäre.« Sie sah Mallen wieder ins Gesicht, und fast lag so etwas wie ein ängstlicher Ausdruck in ihrem Blick, etwas, das Mallen noch nie an ihr wahrgenommen hatte. »Meine Identität, mein Selbstbewusstsein, alles, was mich ausmacht und zum Captain dieses Schiffes prädestiniert . . . das alles scheint langsam zu verschwinden, scheint sich einfach in Luft aufzulösen. Manchmal habe ich schon das Gefühl, ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Aber gerade dann, wenn ich denke, jetzt wird es Zeit, das Kommando abzugeben – an Sie zum Beispiel – kommt einer dieser Befehle, und der dringendste Befehl von allen ist: Du bist der Captain! Du kommandierst das Schiff! Daran darf sich nichts ändern! – Verstehen Sie das?« Hilfesuchend blickte sie Mallen an.

Die schüttelte den Kopf. »Nein. Ich verstehe es genauso wenig wie Sie vermutlich. Aber eins ist ganz klar: In diesem Zustand sind Sie nicht geeignet, das Schiff zu befehligen.«

»Nein!«, schrie McGuire wieder auf und fasste sich an die Schläfen. »Nein«, flüsterte sie dann. »Das darf nicht sein, das fühle ich.«

»Gehen Sie zum Doktor«, empfahl Mallen erneut. »Ich werde zwischenzeitlich das Kommando übernehmen, aber nur, solange Sie nicht da sind.« Egal, was McGuires Geist im Moment beherrschte, es musste beruhigt werden. Es durfte nicht den Eindruck erhalten, dass man dem Captain das Kommando entzog. Dann reagierte es offensichtlich heftig. Und wer wusste, wie sehr das dem Captain schadete? Mallen hoffte, dass der Doktor ihr darüber Auskunft erteilen würde, sobald er McGuire untersucht hatte.

Als McGuire gegangen war, beorderte Mallen schnell die anderen Brücken- und höheren Offizierinnen – unabhängig davon, ob sie im Dienst waren oder nicht – zu sich. »Es ist ein Notfall eingetreten«, begann sie ohne Begrüßung, als alle im Besprechungsraum saßen. »Ein Notfall, den sich keine von uns je gewünscht hat: Der Captain leidet unter Wahnvorstellungen, ist möglicherweise von einer fremden Macht besessen und kann das Schiff nicht mehr führen, da sie nur noch die Befehle dieser Macht ausführt. Aber es scheint so, dass es gefährlich für sie sein könnte, wenn wir sie absetzen – wenn ich sie absetze. Ich warte zwar noch auf den Bericht des Doktors, aber ich hatte den Eindruck, dass etwas in ihrem Innern sehr heftig reagiert, sobald ich die Befehle, die der Captain gegeben hat, widerrufe oder sie ganz der Befehlsgewalt enthebe.«

Alle anderen starrten Mallen verständnislos an. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein, Commander«, reagierte dann zuerst die Chefingenieurin.

Mallen lachte etwas gezwungen auf. »Glauben Sie ja nicht, dass ich hier eine Meuterei veranstalten will, Zulmyra. Sie haben nicht erlebt, was ich eben erlebt habe. Dann wären Sie sicher auch beunruhigt.«

»Sie wissen, dass wir Ihnen ebenso vertrauen wie dem Captain, Commander«, bemerkte Yetos’ha mit einem Stirnrunzeln, »aber es ist nicht so einfach, das zu schlucken, was Sie da sagen. Haben Sie Beweise für Ihre Anschuldigungen? Beweise dafür, dass der Captain nicht mehr zurechnungsfähig ist?«

»Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr, dass sie abgesetzt ist, und dann beobachten Sie mal, wie sie reagiert«, schlug Mallen vor. Dann winkte sie mit der Hand ab. »Nein, ich glaube, jede von Ihnen könnte das mit Leichtigkeit überprüfen, und deshalb habe ich da auch keinerlei Bedenken. Aber ich habe Angst, dass der Captain durch diese Besessenheit – wenn man es so nennen kann – Schaden nimmt. Schaden an Leib und Leben, aber vielleicht auch nur an ihrer Psyche. Nichts davon wäre wünschenswert, und wir müssen uns überlegen, was wir jetzt tun. Und zwar müssen wir das schnell überlegen, denn bald haben wir dieses Sonnensystem erreicht. Einen Moment mal . . .« Sie hob die Hand, um den anderen Abwarten zu signalisieren, und betätigte ihren Kommunikator. »Mallen an Fähnrich Hings.«

»Hings hier«, kam die Antwort der Pilotin aus dem Gerät.

»Stoppen Sie sofort das Schiff und schalten Sie den Brückenmonitor ab. Nur noch Sensorerfassung über die Konsolen. Verstanden?«

»Verstanden«, kam die Bestätigung.

Vom Stoppen des Schiffes merkte man natürlich nichts, aber Mallen und alle anderen waren sich sicher, dass der Befehl ausgeführt worden war. »Das verschafft uns vielleicht ein paar Minuten«, sagte Mallen hoffnungsvoll.

In diesem Moment piepte der Monitor in der Mitte des Besprechungstisches, und die Stimme des Doktors war zu vernehmen. »Was haben Sie gemacht, Commander?«, fragte er bestürzt. »Captain McGuire windet sich hier vor Schmerzen und schreit nur: Wir müssen weiterfliegen, wir müssen unbedingt weiterfliegen! Haben Sie das Schiff gestoppt?« Im Hintergrund war das verzerrte Gesicht des Captains zu sehen, die ihre Schläfen fast in den Kopf zu drücken versuchte und stöhnte.

Mallen wandte sich mit einem resignierten Blick an alle Anwesenden: »Glauben Sie mir jetzt?«