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KAI MEYER

DER SCHATTENESSER

PROLOG
Prag, im November 1620

Der Mann Josef blickte aus der Dachluke der Altneu-Synagoge über die Giebel der Judenstadt und wartete, dass der Vogel Koreh zu ihm sprach. Der Mann Josef lauschte oft auf seine Stimme. Es war die einzige, die er zu hören vermochte.

Der Mann Josef trauerte. Er wünschte sich, es wäre nicht an ihm, die Stimme des Vogels Koreh zu vernehmen. Kaum ein anderer besaß diese Gabe, erlitt diesen Fluch. Er versuchte, sich abzulenken, und gab den Zahlen Farben. Wenn er die Augen schloss und sich die Ziffer Eins vorstellte, dann sah er sie in grellem, makellosem Weiß. Die Zwei war gelb, die Drei orange. Die Vier dagegen schwieriger: Mal war sie grün, mal dunkelblau. Nicht so die Fünf, ein Kinderspiel: Er sah sie rot, ganz blutig rot. Die Sechs war blau, die Sieben grün. Die Acht war braun, die Neun pechschwarz, die Zehn mal weiß, mal neblig grau. Alle höheren Zahlen hatten keine Farben, sie waren nur fahle Schemen wie Morgendunst, ganz unbedeutend.

Der Vogel Koreh – da, jetzt kam er. Er hörte ihn.

Einst lebte der Vogel Koreh an den Ufern der fernen Judenländer, und er legte viele Eier. Doch bei aller Fruchtbarkeit war er ein ängstliches Tier, denn er fürchtete nichts mehr, als dass eines Tages jemand sein Nest und all seine Eier zerstören könnte. Deshalb erhob er sich hoch in die Luft und kreiste über den Bergen und Ebenen, bis er viele Nester anderer Vögel entdeckt hatte, in denen er seine eigenen Eier verstecken konnte – glaubte er doch, seine Kinder seien so sicher und geschützt, denn niemand würde alle Vogelnester der Welt zerschlagen. So wartete der Vogel Koreh eine günstige Gelegenheit ab, bis die Bewohner der anderen Nester für kurze Zeit unachtsam waren; dann schoss er geschwind heran und legte je eines seiner Eier unter die der fremden Vögel. So kam es, dass bald schon in jedem Nest der Welt ein Ei des Vogels Koreh reifte, ohne dass Tier oder Mensch es bemerkten. Schließlich schlüpften seine Kinder aus, wuchsen heran und wurden klug und kräftig wie er selbst. Des Nachts, wenn alle anderen schliefen, schwebte der Vogel Koreh über den weiten Ländern einher und rief seine Kinder herbei. Sie hörten ihn, spreizten ihre Schwingen und folgten ihm gen Himmel. Die anderen Vögel aber konnten seine Stimme nicht hören, sie schliefen ruhig und ungestört.

So war es bis zum heutigen Tag. Der Vogel Koreh schwebte über der Welt, und er sah und hörte vieles auf seinen Wegen, doch nur wenige konnten seine Botschaft verstehen.

Der Mann Josef aber wusste, wie er den Erzählungen des Vogels zu lauschen hatte, und so horchte er geduldig, und er erfuhr, was unter ihm in der Judenstadt vorging.

Was er hörte, machte ihm Angst.

Es war wieder geschehen. Der Schattenesser war unter den Menschen, und er hatte neue Opfer gefunden.

Der Mann Josef war hilflos. Dabei wäre es seine Aufgabe gewesen, zu helfen. Zum Helfen hatte man ihn gemacht.

Er schloss die Dachluke über seinem Kopf und stieg die Leiter hinab. Er spürte den Schattenesser in den Gassen, hörte das Trauerlied des Vogels Koreh und schlug die Hände vor die Ohren. Es brachte keine Linderung. Er hätte gerne geweint, aber das vermochte er nicht.

So fiel er auf die Knie, beklagte lautlos sein Schicksal und wand sich ob seiner Machtlosigkeit am Boden.

Die Schatten waren in Aufruhr, und sie hatten allen Grund dazu.

KAPITEL 1

Als die beiden Schatten der Gepfählten zu einem einzigen verschmolzen, beschleunigte Sarai noch einmal ihre Schritte. Die Männer steckten aufrecht auf hölzernen Spießen, aufgepflanzt wie ein Paar sonderbarer Bäume rechts und links der Karlsbrücke, kurz vor den westlichen Brückentürmen. Sarai musste schneller gehen, wenn sie die Stelle, an der sich die Schatten der Toten kreuzten, rechtzeitig erreichen wollte. Die Schwierigkeit dabei: Sobald sie schneller ging, würde sie sterben.

Sie hatte rund zwei Drittel der Brücke überquert, aber noch immer lagen zwischen ihr und den Gepfählten hundertfünfzig Schritte. Mindestens. Die vier Wachtposten der Liga standen am Fuß der Spieße und starrten ihr entgegen. Die Söldner trugen das übliche Geckenkostüm der Landsknechte: Federgeschmückte Barette über bärtigen Gesichtern, farbig gestreifte Pluderhosen und bunte Wämser mit geschlitzten Ärmeln. Jeder besaß einen Hosenlatz aus hartem Leder, eingenäht und ausgebeult, mit dem er sich den Anschein größerer Männlichkeit verleihen wollte.

Sarai wusste, dass der alberne Anblick der Ligasöldner trog. Die vier würden sie auf der Stelle töten, falls sie die Brücke zu schnell oder auch zu langsam überquerte. Laufschritt war auf der Karlsbrücke seit Beginn der Besatzung verboten, ebenso Stehenbleiben. Jeder, der von einer Seite der Moldau auf die andere wechseln wollte, musste dies unter zügigem Gehen tun – auf alles andere stand die Todesstrafe. Sarai wusste nicht, welchen Sinn diese Auflage haben sollte, außer jener, die geknechtete Bevölkerung Prags noch tiefer zu erniedrigen. Als sei das Plündern und Morden, das Brandschatzen und Vergewaltigen nicht schlimm genug.

Doch das neue Gesetz der Brücke, dem einzigen Flussübergang weit und breit, war nur eine von hunderten Schikanen. Die Machthaber der katholischen Liga und des Kaisers schienen sich einen Spaß daraus zu machen, täglich neue Strafen und Vergehen zu ersinnen. Daheim im jüdischen Viertel hatte Sarai flüstern hören, Ligasöldner hätten erst gestern, einen Tag nach der verlorenen Schlacht am Weißen Berg, zwei Dutzend Prager Würdenträger entsetzlich gefoltert: Erst mussten die Unglücklichen ihre Arme in kochendes Wasser tauchen, dann in die Eisfluten der Moldau; danach war ihnen das tote Fleisch von den Knochen geglitten wie Handschuhe, die ihnen plötzlich zu groß waren.

Der Novemberwind wehte kalt vom Fluss herauf, strich zischend über die Brüstung und schnitt durch Sarais Wams und Hose wie tausend winzige Glassplitter. Sie fror entsetzlich, trotz des Umhangs, den Cassius ihr mitgegeben hatte.

Noch achtzig Schritte.

Ohne innezuhalten schaute Sarai sich um. Die Morgensonne erhob sich im Osten knapp über dem Altstädter Brückenturm und spiegelte sich vielfach auf dem Gold der Dächer. Um jene Zeit des Tages und bei klarem Himmel sah es aus, als sei ganz Prag zu Bernstein erstarrt. Das goldene Funkeln und Glitzern der Giebel machte selbst die Rauchfahnen der gebrandschatzten Häuser für einen Augenblick unsichtbar. Kein Schrecken, der diesen Zauber zu zerstören vermochte.

Einer Spiegelung auf einem der goldenen Turmdächer war es zu verdanken, dass sich die Schatten der Gepfählten berührten. Das Sonnenlicht und die Goldspiegelung – Sarai hatte noch immer nicht ausmachen können, von welchem Dach sie kam – schenkten jedem der Toten zwei Schatten, deren innere sich überschnitten. Dort, wo sie sich kreuzten, so hatte Cassius ihr aufgetragen, sollte Sarai sich bücken und eine Hand voll Staub aufheben. Unauffällig, damit die Wächter es nicht bemerkten. Denn der Staub aus dem Schatten eines Toten besaß, laut Cassius, magische Kräfte.

Nun, dachte Sarai verbittert, der Alchimist hatte gut reden. Er saß oben im Mihulka-Turm auf dem Hradschin und erwartete ihre Ankunft. Cassius lebte seit Jahrzehnten auf der Prager Burg, schon zu Regierungszeiten des alten Kaisers Rudolf. Nicht einmal die Truppen der katholischen Liga hatten daran etwas ändern können. Vielleicht hatten sie schlichtweg anderes zu tun, als einen greisen Mystiker aus einem abgelegenen Turm des Hradschin zu vertreiben. Sie waren vollauf damit beschäftigt, die Judenstadt und die anderen Viertel Prags zu plündern und alle Aufrührer dingfest zu machen.

Die Herren der Liga hatten alle äußeren Tore Prags verriegeln lassen, hatten sich und ihre Söldnerhorden mit in der siechenden Stadt eingeschlossen. Ohne Passierschein kam niemand herein und heraus. Ausnahmen gab es nicht. Mindestens eine Woche lang, so die düsteren Vorhersagen jener, die es wissen mochten, würden die Tore verschlossen bleiben. So lange war man den Ligasöldnern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Noch fünfzig Schritte.

Sarai kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, ob sich die Schatten der Gepfählten noch berührten. Ja, es sah ganz so aus. Fraglich war, wie lange noch.

Sollte der Versuch fehlschlagen, würde Cassius auf seinen Staub verzichten müssen. Nur am Sabbat entfalten die Toten ihre volle Macht, hatte der Alte gesagt. Sabbat war heute, und wer konnte wissen, ob die Gepfählten in einer Woche noch an diesem Platz stehen würden.

Die beiden Hingerichteten waren Heerführer des gestürzten Gegenkönigs Friedrich gewesen. Ligasöldner hatten sie gleich nach der Schlacht vor zwei Tagen lebendig auf Holzspieße gesteckt und auf der Karlsbrücke aufgepflanzt. Die ganze Nacht hindurch hatten ihre gequälten Schreie die Bewohner der Kleineren Stadt um den Schlaf gebracht. Erst am Morgen waren sie endlich verstummt.

Noch zwanzig Schritte.

Der Drang, schneller zu gehen, war unerbittlich. Sarai hatte alle Mühe, ihre Beine ruhig zu halten. Sie durfte nicht laufen.

Die meisten Einwohner Prags mieden es in diesen Tagen, den Fluss zu überqueren. Auf der Brücke gab es keine Möglichkeit zur Flucht, beide Seiten wurden bewacht. Sollten es die Söldner auf ihr Vergnügen abgesehen haben, war es ohnehin um Sarai geschehen: Sie war sechzehn, und selbst der Schmutz auf ihren Zügen konnte nicht verbergen, wie hübsch sie war. Hübsch genug, dass die Männer es als Einladung verstehen mochten, trotz der alten Lumpen, die sie trug.

Zehn Schritte.

Die beiden westlichen Brückentürme, gotische Monumente aus grauem Stein, nahmen jetzt ihr gesamtes Blickfeld ein. Dahinter verschwand selbst der Hradschin, die Prager Burg auf ihrem alles überschauenden Bergrücken.

Die Soldaten starrten sie eingehend an, musterten sie von oben bis unten. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern stand in finsterem Widerspruch zu der fröhlichen Farbenpracht ihrer Kleidung. Alle vier waren mit schmalen Schwertern bewaffnet, zwei von ihnen hatten blankgezogen. Die anderen legten ihre Hände drohend auf armlange Hakenbüchsen. Beide Schusswaffen waren wegen ihres Gewichts und des starken Rückstoßes auf hölzernen Böcken verankert.

Sarai spürte, wie der Schweiß über ihre Stirn lief, trotz der Kälte. Er brannte in ihren Augen, aber sie wagte nicht, die Hand zu heben, um ihn fortzuwischen, aus Angst, die Männer könnten die Bewegung missverstehen. Sie spürte ihre Füße kaum noch. Irgendwann war ihr, als schwebe sie, als sei der Boden gänzlich unter ihr verschwunden. Mühsam hielt sie ihren Blick auf die gekreuzten Schatten gerichtet.

Einer der Männer flüsterte einem anderen etwas zu, doch sie verstand keines seiner Worte. Sie konnte jetzt die beiden Toten riechen, einen schweren, fauligen Odem, der wie Nebel durch die klare Herbstluft trieb.

Sarai hatte das Abzeichen der böhmischen Juden, ein gelber aufgenähter Kreis, wohlweislich von ihrem Wams entfernt. Unter anderen Umständen hätte dieses Vergehen eine schwere Strafe nach sich gezogen, doch sie glaubte nicht, dass es in diesen Tagen irgendwem auffallen würde.

Nur noch zwei Schritte, dann hatte sie die gekreuzten Schatten erreicht. Sarai schloss die Augen und taumelte. Sie gab vor zu stolpern, ihr rechtes Bein knickte ein, dann das linke. Mit einem Keuchen schlug sie auf den Boden, stützte sich auf, krallte ihre Hand in den Schmutz und sprang noch in derselben Bewegung wieder auf. Dann ging sie benommen weiter, ganz so, als sei nichts geschehen. In ihrer rechten Faust hielt sie den Staub aus dem Schatten der Toten.

Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie die beiden Schwertträger vortraten, dann war sie an ihnen vorüber. Sarai ging einfach weiter und verlor die Söldner aus ihrem Blick. Die Männer waren jetzt hinter ihr, und doch wagte sie nicht, sich umzuschauen. Sie konnte nicht mehr sehen, was sie taten, und doch spürte sie ihre Gegenwart in ihrem Rücken wie etwas, das von hinten gegen ihre Schultern drückte und sie vorwärts trieb. Das Schlimmste war, dass sie laufen wollte, rennen, so schnell sie nur konnte, doch das war unmöglich. Noch war sie nicht am Ende der Brücke. Erst musste sie durch das Tor zwischen den Türmen hindurch, dann erst verlor das Verbot seine Geltung. Sie spürte förmlich, wie die Söldner darauf warteten, dass sie losrannte. Das Stolpern mochte als Missgeschick gelten, nicht als vorsätzliches Stehenbleiben. Würde sie aber laufen, war es um sie geschehen.

Sarai hörte Schritte hinter sich. Die beiden Söldner folgten ihr. Die harten Sohlen ihrer Stulpenstiefel dröhnten über das schmutzige Pflaster. Sie konnten nicht mehr weit von ihr sein, höchstens eine Mannslänge. Aber noch riefen die Kerle sie nicht an, noch verlangten sie nicht, dass sie stehen blieb.

Sarai trat durch das Brückentor. Es war breit, fast ein Tunnel. Ihre Schritte und die ihrer Verfolger hallten hohl unter der Gewölbedecke wider. Am anderen Ende führte die Straße seicht bergab zum Mittelpunkt der Kleineren Stadt – so nannten die Bewohner diesen Teil Prags. Im Schatten einer düsteren Kirche erhob sich dort eine Hand voll Herrschaftshäuser, umgeben von einem Gewirr aus Gassen, drei- und vierstöckigen Wohnhäusern und einem Labyrinth miteinander verbundener Hinterhöfe. Vom Platz an der Kirche aus musste Sarai den Weg zur Neuen Schlossstiege einschlagen, einer schier endlosen, steilen Treppe, die hinauf zum Hradschin führte. Sie ahnte, dass sie so weit nicht mehr kommen würde.

Mit bebenden Fingern zog sie ein kleines Ledersäckchen aus ihrem Hosenbund. Zitternd und ohne anzuhalten füllte sie den Staub hinein, den ihre feuchte Hand zu Klumpen gepresst hatte. Fast die Hälfte ging dabei verloren. Gleichgültig. Cassius sollte zufrieden sein, wenn sie überhaupt lebend zurückkehrte, mit viel oder wenig oder gar keinem Staub.

Sie verschloss das Säckchen und stopfte es zurück in ihre Hose. Noch immer wagte sie nicht, sich umzuschauen. Sie wünschte sich, dass ihre Verfolger sie ansprechen oder miteinander flüstern würden, doch stattdessen schwiegen sie nur. Die stumme Bedrohung verunsicherte Sarai viel stärker als jeder Zuruf, jede Zote.

Aus dem Schatten des Torbogens trat sie ans Licht. Damit hatte sie die Brücke verlassen.

Sarai stürmte los. Die Anspannung fiel keineswegs von ihr ab, und doch verspürte sie eine gewisse Befreiung, als sie endlich wieder laufen konnte, so schnell sie wollte. Und so schnell sie konnte – denn die Söldner waren direkt hinter ihr.

Sie rannte die Mostecká hinab, die Straße zum Ring. Eine Hand voll Männer und Frauen, die sich trotz der plündernden Söldnerhorden hinaus auf die Straße gewagt hatten, sprangen ängstlich auseinander. Von ihnen konnte Sarai keine Hilfe erwarten. In einer geschlagenen Stadt wie Prag rettete ein jeder nur die eigene Haut. Sarai dankte dem Herrn, dass er ihr eingegeben hatte, wenigstens das Judenzeichen abzunehmen. Hätten die Menschen sie als Jüdin erkannt, wer weiß, der eine oder andere hätte sie vielleicht sogar aufgehalten und den Söldnern ausgeliefert.

So aber erreichte sie ungehindert den Platz, in dessen Mitte sich der spitze Turm einer Kirche erhob. Rundherum standen eng gedrängt ein paar schmuckvolle Häuser, manche älter, andere erst vor wenigen Jahren errichtet. Sie hielten keinem Vergleich mit den Prachtbauten am anderen Ufer stand, doch auch in der Kleineren Stadt gab es eine Reihe reicher Kaufleute, die sich aufwändige Quartiere leisten konnten.

Sarai war klar, dass sie die beiden Söldner abhängen musste, ehe sie hinauf zum Hradschin stieg. Um zum Mihulka-Turm und zu Cassius zu gelangen, musste sie sich unauffällig durch die Schlossgärten schlagen, denn eigentlich war ihr der Eintritt zur Burg verwehrt. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, als sie sich bereit erklärte, Cassius hin und wieder einen Dienst zu erweisen, im Austausch gegen Nahrung für sie und ihren Vater. Zuletzt aber hatte Cassius selbst kaum noch etwas gehabt, denn die Alchimie war seit der Abdankung Kaiser Rudolfs auf der Burg in Verruf geraten. Alle anderen Mystiker und Alchimisten hatten den Turm und die Stadt verlassen, nur Cassius blieb allein zurück. Statt mit Essen musste Sarai sich nun immer öfter mit Wissen zufrieden geben, denn der alte Alchimist hatte sie zu seiner Schülerin erkoren, auch wenn er dergleichen nie aussprach. Sarai war das recht, sie hatte ohnehin nichts Besseres zu tun und war froh, tagsüber von ihrem Vater loszukommen. Seit ihre Mutter getötet worden war, hatte er sich verändert.

Sarai wandte im Laufen den Kopf und schaute nach hinten. Die beiden Söldner waren dicht hinter ihr, schienen aber nicht schneller laufen zu können als sie selbst. Gut, dann gab es vielleicht doch noch eine Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Zumal sie sich besser in der Kleineren Stadt auskannte als die fremden Soldaten, die aus Bayern oder von noch weiter her nach Böhmen gekommen waren.

Rund um die Kirche hatten einige Händler gewagt, ihre Stände aufzuschlagen. Der Anblick der Kaufleute inmitten einer Stadt, die an zahllosen Stellen in Flammen stand und bis aufs Letzte ausgeraubt wurde, schien Sarai so unwirklich, dass sie beinahe stehen geblieben wäre.

Natürlich tat sie es nicht. Atemlos bog sie in einen schmalen Einschnitt zwischen zwei Häusern, übersät mit Schmutz und Unrat. Erst nach einigen Schritten sah sie, dass die rechte Hauswand mit zahlreichen Balken abgestützt war, die schräg stehend ihren Weg versperrten. So viel zu ihrer Vertrautheit mit der Kleineren Stadt! Sarai wollte fluchen, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Sie wusste nicht, ob es Furcht oder Erschöpfung war, die ihr die Stimme nahm.

Gehetzt blieb sie stehen und sah sich um. Sie erkannte sogleich, dass es keinen Sinn hatte, zurückzulaufen. Die beiden Söldner hatten die schmale Gasse längst betreten. Die Kluft zwischen den Häuserwänden war so eng, dass die Männer nicht nebeneinander gehen konnten. Die beiden hatten bemerkt, dass die Balken Sarai am Fortlaufen hinderten.

Der Abstand zwischen ihr und dem vorderen der Söldner mochte noch vier Mannslängen betragen, kaum mehr. Die beiden rannten jetzt nicht mehr, sondern kamen gemäßigten Schrittes auf sie zu. Der erste machte sich bereits an seinem Hosenlatz zu schaffen.

Sarai wirbelte herum und besah sich die Balken genauer. Unten am Boden standen sie schräg und verwinkelt. Da aber die gesamte Hauswand vom Einsturz bedroht war, hatte man auch weiter oben Balken angebracht, diese jedoch waagerecht, sodass sich zwischen den beiden Mauern ein enges Netz aus hölzernen Bohlen entspann. Sarai wusste jetzt, was sie zu tun hatte. Sie hatte keine andere Wahl.

Sie packte mit beiden Händen einen der Querbalken auf Höhe ihres Gesichts und zog sich strampelnd daran empor. Es fiel ihr schwerer, als sie erwartet hatte. Sie war nie gerne geklettert, auch nicht als Kind. Zudem verabscheute sie große Höhen. Cassius war einmal mit ihr hinauf aufs Dach des Mihulka-Turmes gestiegen. Danach war ihr zwei Tage lang sterbenselend und schwindelig gewesen.

Hinter ihr fluchten die Söldner und trampelten vorwärts, doch ihre ausgestreckten Arme griffen ins Leere. Sarai zog sich bereits am nächsten Balken nach oben, kletterte von dort aus tiefer ins Gewirr der Stützbohlen. Die Abstände zwischen den einzelnen Hölzern waren nicht groß, doch manche ächzten gefährlich unter der plötzlichen Belastung. Splitter bohrten sich in Sarais Handflächen und Knie, und nach vier, fünf weiteren Balken schmerzten ihre Hände so sehr, dass sie nur noch halb so schnell klettern konnte. Sie befand sich jetzt gute drei Mannslängen über dem Boden und etwa ebenso tief im Inneren des Balkengitters.

Einen Augenblick lang verharrte sie und blickte angstvoll zurück. Einer der beiden Männer folgte ihr. Und, so stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, er war weit wendiger, als sein ungeschlachtes Äußeres vermuten ließ.

Trotz der Schmerzen in ihren Händen kletterte sie weiter. Der Söldner trug Handschuhe, was ihm einen Vorteil verschaffte. Sarai allerdings war schmaler und geschmeidiger, und trotz seines Geschicks war sie die Flinkere von beiden. So hangelte sie sich eilig von Balken zu Balken und behauptete unter Mühen und einem empfindlichen Brennen in den Fingern ihren Vorsprung – bis die Gasse plötzlich ein Ende hatte. Sarai bemerkte die Wand erst, als sie direkt davor hockte. Eine grünschwarze Mauer, an der glitzerndes Wasser herabrann.

Verzweifelt schaute sie nach hinten. Der Söldner kam näher, und auch er erkannte jetzt, dass Sarai in der Falle saß. Keuchend kletterte er auf sie zu.

Sarai blieb nur die Flucht nach oben, weiter in die schwindelnde Höhe des Balkengitters. Die beiden angrenzenden Gebäude mochten vier Stockwerke hoch sein. Die Stützbohlen reichten hinauf bis zum Dach. Es gab keine Fenster und Türen, die hinaus in den schmalen Spalt führten, nur glattes, feuchtes Mauerwerk.

Einen Moment lang überlegte Sarai, ob es ihr gelingen mochte, den Verfolger im Wirrwarr der Balken zu umklettern und zum Anfang der Gasse zurückzukehren. Dort aber wartete gewiss noch immer der zweite Söldner. Nein, sie musste nach oben, mochte sie die Höhe noch so sehr fürchten.

Das angestrengte Stöhnen des Soldaten kam näher, während sie sich selbst unter Aufbietung aller Kräfte weiter hochzog und aufwärts stemmte. Zwischen den Balken sah sie jetzt immer größere Splitter des stahlblauen Morgenhimmels. Sarai wagte nicht mehr, nach unten zu blicken.

Schließlich erreichte sie die obere Ebene und bemerkte sogleich, dass sie sich erneut getäuscht hatte: Die Balken reichten nicht hinauf bis zum Dach. Tatsächlich endete das Gitterwerk fast zwei Mannslängen unterhalb der Schindelkante. Sie mochte sich noch so sehr strecken, sie würde nicht danach greifen können. Erschüttert und beinahe ungläubig erkannte sie, dass sie den Wettlauf verloren hatte. Sie konnte von hier aus nirgendwohin als wieder nach unten. Dorthin, wo die beiden Schänder sie erwarteten.

Sarai klammerte sich verzweifelt an eine der Querstreben, als ihr Blick zum ersten Mal zurück in die Richtung des Gassenausgangs fiel.

Dort saß, auf dem äußersten Balken am Abgrund zur Straße hin, ein menschliches Huhn.

Oder besser: Eine Frau, die sich größte Mühe gab, wie ein Huhn zu erscheinen. Sie hockte mit angezogenen Knien auf dem Balken, starr und steif wie ausgestopft, und berührte das Holz nur mit den Zehenspitzen. Beide Hände hatte sie hinter dem vorgebeugten Rücken verschränkt. Sie trug einen Mantel oder Umhang, der lückenlos mit hellbraunen Hühnerfedern besetzt war. Ihr Haar war kurz geschoren bis auf einen rot gefärbten Kamm, der von der Stirn bis hinab in den Nacken reichte. Die Frau hatte ein hageres, ausgezehrtes Gesicht und dunkle Augen, die tief in den Höhlen lagen. Ihr Blick war starr auf Sarai gerichtet. Sie sagte kein Wort. Nur ihre Federn sträubten sich raschelnd im Wind.

Sarai hörte unter sich wieder das Keuchen des Söldners, doch sie hatte nur Augen für das groteske Hühnerweib. Nie zuvor hatte sie dergleichen gesehen. Sie vermochte den Gesichtsausdruck der unheimlichen Frau nicht zu deuten. Blickte sie bedrohlich oder teilnahmslos? Gleichgültig oder verärgert?

Sarai fürchtete, dass sie es bald erfahren würde, denn jetzt machte die Gestalt einen Schritt in ihre Richtung. Sie streckte eines der angewinkelten Beine nach vorne, bis es den nächstliegenden Balken berührte, schien sich mit den nackten Zehen daran zu verkrallen und zog sich allein kraft ihres Fußes hinüber. Dabei blieb sie in ihrer hockenden Haltung. So fremdartig die Bewegung auch wirkte, die Frau behielt dabei mühelos ihr Gleichgewicht.

Als sie zu einem zweiten bizarren Schritt ansetzte, schob sich vor Sarai der Kopf des Söldners aus dem Balkengewirr. Zwischen den Zähnen hielt er einen Dolch. Sarai schrak zurück.

Der Soldat hatte die fremde Frau noch nicht entdeckt. Sie befand sich in einigem Abstand hinter ihm, während er Sarai siegessicher entgegenstarrte. Er war am Ziel seiner Jagd.

Einen Augenblick lang glaubte Sarai, die Hühnerfrau käme ihr zu Hilfe. Etwas an ihr ließ sie weniger seltsam als bedrohlich erscheinen. Vielleicht war es die Weise, in der sie sich bewegte; die Frau musste lange geübt haben, bis sie derart leichtfüßig über die Balken schreiten konnte.

Doch Sarais Hoffnung auf Hilfe wurde enttäuscht.

Gleich nachdem der Söldner aus dem Bohlengitter auftauchte, zog die Frau ihren ausgestreckten Fuß zurück – und ließ sich hinterrücks in die Tiefe fallen!

Sarai wartete auf einen Aufschlag auf den Balken, auf das Splittern und Bersten des Holzes. Stattdessen aber war da nur ein leises Trippeln und Rauschen, dann Stille.

Das Hühnerweib war verschwunden.

Der Söldner hatte nichts von alldem bemerkt. Wohl aber sah er das Grauen auf Sarais Zügen und bezog es auf sich selbst. Dabei war sie vor Schrecken wie gelähmt – vor Schrecken über den geisterhaften Abgang der Frau.

Der Soldat grinste und zog sich am Balken nach oben. Schließlich war er auf einer Höhe mit Sarai. Sie schüttelte ihr Entsetzen über das Hühnerweib ab, widmete ihre Furcht nun gänzlich dem Söldner. Der Mann nahm sein Messer in die Hand und richtete es langsam auf Sarai.

Sie tat das einzig Richtige und trat zu. Wegen des Balkens, auf den er sich stützte, bemerkte er die Bewegung zu spät. Sarais Fuß traf ihn mit voller Wucht am Knie. Sein Stiefel rutschte von der Bohle ab. Erstaunen über die unerwartete Gegenwehr erschien auf seinen Zügen, dann sauste sein Gesicht plötzlich nach unten weg. Mit einer Hand hielt er sich am oberen Balken fest, die andere tastete panisch nach einer zweiten Stütze.

Sarai hämmerte ihre Faust mit aller Kraft auf seine Finger. Seine Hand schnappte auf, er stürzte. Allerdings nicht tief, dann verhakte er sich mit den Achseln an einem weiteren Rundholz. Fluchend versuchte er sich hochzurappeln, fand Widerstand unter seinen Füßen und war sogleich wieder Herr über sein Gleichgewicht.

Er befand sich nun unter Sarai. Mit hastigen, zitternden Bewegungen riss sie Cassius’ Lederbeutel aus dem Hosenbund und öffnete ihn mit fliegenden Fingern. Dann kippte sie den Staub aus dem Schatten der Gepfählten direkt in das Gesicht des Söldners.

Es gab keinen magischen Blitz, nicht einmal ein fernes Donnern. Stattdessen stach der Schmutz schmerzhaft in den Augen des Mannes und behinderte seine Sicht.

Cassius hätte diese fade Wirkung vielleicht enttäuscht, doch für Sarais Zwecke reichte sie aus. Das Mädchen löste beide Füße vom Balken, hielt sich zugleich mit den Händen an einem anderen fest und ließ sich in die Tiefe gleiten. Ihre Fersen trafen die blinden Augen des Soldaten. Er schrie auf und stürzte. Stürzte tiefer, immer tiefer und schlug dabei unzählige Male auf den Holzstreben auf. Sein Rückgrat knirschte, als es auf einen Balken knallte und zerbrach. Sarai sah dem leblosen Mann nach, als er im Dunkel zwischen den Bohlen entschwand. Sie baumelte mit den Händen an einer der oberen Streben und strampelte mit beiden Beinen, bis ihre Füße Halt fanden. Dann ließ sie sich rittlings auf einem Balken nieder und lehnte sich gegen die Hauswand. Ihr Atem raste. Vor Erschöpfung kreisten bunte Feuerräder vor ihren Augen, und sie fühlte plötzlich den heftigen Drang, einfach einzuschlafen. Immer wieder blickte sie nach unten, um zu sehen, ob sich am Grund des Schachtes etwas rührte, doch da war nichts. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glaubte sie gar, den reglosen Körper des Söldners zu erkennen. Ja, dachte sie, da lag er. Ohnmächtig oder, besser noch, tot. Es erschreckte sie nicht, dass sie diesen Gedanken fasste – der Kerl hatte sich jeden gebrochenen Knochen redlich verdient. Auch ein gebrochenes Genick.

Nach einer ganzen Weile, in der Sarai kein Lebenszeichen des zweiten Soldaten bemerkte, machte sie sich an den Abstieg. Sie kletterte langsam, fast behäbig. Ihre Hände brannten noch immer von zahllosen Splittern, und in ihrem Kopf drehten sich die Gedanken vor Aufregung. Sie hangelte sich in einem weiten Bogen über den Toten hinweg und ließ sich schließlich zum Boden hinab.

Der zweite Söldner war fort. Das wunderte sie. Irgendetwas musste ihn derart erschreckt haben, dass er die Flucht ergriffen und seinen Kameraden zurückgelassen hatte. Sicher hatte er sich nicht vor Sarai gefürchtet, ganz gleich, was mit dem anderen Mann geschehen war. Am Boden wäre sie ihm unterlegen gewesen. Sie hatte Glück gehabt.

Das Mädchen trat aus der Gasse ins Freie. Dabei entdeckte sie etwas im Schmutz und machte einen Schritt zurück ins Zwielicht des engen Schachtes, um ihren Fund genauer zu betrachten. Sie bückte sich und streckte vorsichtig die Finger danach aus.

Auf einem winzigen Bett aus Federn lag ein Ei.

Sarai hob es auf und wog es nachdenklich in der Hand. Größe und Gewicht waren fraglos die eines gewöhnlichen Hühnereis. Die Schale war weiß und spröde.

Einen Augenblick lang erwog sie, es aufzuschlagen, um zu sehen, was darin war. Dann aber stand sie auf, schützte das Ei mit beiden Händen und ging.

Der Mihulka-Turm erhob sich aus der schnurgeraden Burgmauer im Norden des Hradschin und überschaute die Haine und Gewächshäuser des Královská Zahrada, des großen Königsgartens. Der runde, nur mit wenigen Fensterschächten versehene Bau war unter Wladislaw II. als Geschützturm errichtet worden. Nach dem Burgbrand im Jahre 1541 hatte der Glockengießer Tomás Jaros dort Werkstatt und Quartier bezogen. Als Kaiser Rudolf II., Herrscher des Heiligen Römischen Reiches, Prag zu seiner Hauptstadt erkor und sich in den Sälen und Kammern des Hradschin niederließ, hielt mit ihm auch seine Vorliebe für okkulte Studien Einzug in die Burg. Eine Hand voll Alchimisten richtete sich in des Kaisers Auftrag im Mihulka-Turm ein und betrieb dort geheime Forschungen. 1611 wurde Rudolf von seinem Bruder Matthias zur Abdankung gezwungen und der Kaisersitz nach Wien verlegt; damit verließen auch die Alchimisten die Burg – alle bis auf einen.

Seither lebte Cassius allein im Turm, geduldet von den böhmischen Statthaltern des Kaisers, vor allem wohl, weil er sich niemals außerhalb des entlegenen Bauwerks sehen ließ. Über die Jahre hinweg vergaß man ihn, und Cassius genoss im Inneren seines steinernen Zuhauses Narrenfreiheit. Niemand, nicht einmal Sarai, wusste, was er wirklich dort tat, welches Ziel er verfolgte. Er brodelte und brutzelte in seinen Schalen und Tiegeln, wie es wohl Art der Alchimisten war, doch das Warum blieb Sarai ein Rätsel.

Sicher wäre es mit der stillen Duldung des alten Kauzes vorbei gewesen, hätte man bemerkt, dass er schon vor Jahren ein Loch in den Stein am Fuß des Turmes geschlagen hatte, einen schmalen, unauffälligen Aus- und Einstieg, durch den er regelmäßig die Burg verließ, um durch die Gärten zu streifen und dabei seinen düsteren Gedanken nachzuhängen.

Durch diese geheime Öffnung, verborgen hinter dichtem Buschwerk, betrat Sarai den Mihulka-Turm. Die Gärten des Hradschin lagen in der Form eines Hufeisens um die Burganlage. Die Mauer, die sie umfasste, war hoch und ungemein schwer zu erklimmen, und sie war so lang, dass es beinahe unmöglich schien, sie gänzlich gegen Eindringlinge abzuschirmen. Daher beschränkten sich die Wachen darauf, jeden unwillkommenen Besucher an den Toren der Burg abzufangen. Daran hatte sich auch nach der Besatzung durch die Liga nichts geändert. Freilich ahnten die neuen Machthaber nichts vom versteckten Zugang des Alchimisten, und das kam Sarai nun zugute. Im Garten war sie mehr Wachen als üblich begegnet, doch die Söldner gaben sich keine Mühe, ihre Unlust zu verbergen. Sie zogen es vor, sich in kleinen Gruppen unter Bäumen zu treffen und dem Würfelspiel zu frönen. Viel lieber wären sie mit ihren Kameraden plündernd durch die Stadt gezogen, als hier oben die Tulpen in ihren Gewächshäusern zu bewachen.

Für Sarai waren die Soldaten kein Hindernis gewesen, obgleich ihr Herz noch immer schneller schlug als üblich, und die Aufregung sie zu Leichtsinn verleiten wollte. Schwierig war es vor allem, das Ei unbeschädigt über die Mauer und durch die Gärten zu tragen, doch selbst das gelang ihr unter Mühen.

So betrat sie schließlich den Turm durch den verborgenen Einstieg und eilte die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk. Als sie die letzten Stufen erklomm, schallte ihr das Krächzen von Cassius’ altem Papagei entgegen: »Cassius! Cassius! Der Teufel kommt, dich zu holen!«

Diese Worte kreischte der Vogel bei jedem der seltenen Besucher, egal, um wen es sich handelte. Sein Name war Saxonius, benannt nach einem Vorfahren oder auch Vorbild des Alchimisten – Sarai wusste es nicht so genau.

»Ah ja«, sagte Cassius lächelnd, als er das Mädchen erkannte, »ein prächtiger Teufel, in der Tat. Mit einem wahrlich bezaubernden Näschen.«

Cassius sagte oft solche Dinge, und sie nahm sie nicht ernst.

»Sieh her, was ich habe!«, rief sie und stürmte auf ihn zu. »Ist es dir gelungen?«, fragte er aufgeregt. Dann sah er das Ei in Sarais Händen. »Wo hast du ihn? Sag mir, wo ist er?«

Sie blieb dicht vor ihm stehen. »Der Staub? Nun …«, stammelte sie verlegen, »… ich hatte ihn, wirklich, aber er ging mir verloren.«

Die Enttäuschung des Alten war nicht zu übersehen. Die Falten in seinem Gesicht sahen aus wie mit scharfer Klinge gezogen, das Werk eines Schnitzers, der die raue Rinde seines Holzes zum Wesen seines Kunstwerks machte, ihr grobes Muster gar vertiefte. Wenn Cassius lächelte, wanderten die Klüfte in seinen Zügen bis hinauf zur Stirn, ein stetiger Akt der Veränderung, dem allein seine grauen Augen widerstanden. Sie bildeten die ruhenden Pole in seinem aufgewühlten Antlitz und blitzten wach, beinahe jugendlich, zwischen den Falten und dem schlohweißen Haarwust hervor. Die dünnen Strähnen fielen ihm oft ins Gesicht, als schämten sie sich dafür, ein wallender Vorhang aus Spinnengarn.

Cassius trug ein weites, vielfarbiges Gewand, wie es einem wahren Mystiker anstand. Sarai machte oft die eine oder andere spitze Bemerkung über seine Art, sich zu kleiden, doch Cassius bestand darauf, dass es nur aus Bequemlichkeit geschah, nicht weil er den Traditionen bunter Jahrmarktsträume nachhing. Sie war trotzdem nicht sicher, ob er ganz frei war von solcherlei Eitelkeiten. Gewiss jedoch war es an der Zeit, das Gewand zu erneuern; die Farben verblassten allmählich unter der Last der Jahre.

Die Enttäuschung des Alchimisten wandelte sich schlagartig in ungläubiges Staunen. »Du hattest den Staub und hast ihn verloren? Das ist nicht dein Ernst, mein liebes Kind.«

Oh, oh, dachte sie. Liebes Kind nannte er sie nur, wenn er unzufrieden mit ihr war. Tatsächlich hatte er ja allen Grund dazu.

Sie setzte zu einer Entschuldigung an – hatte sie das überhaupt nötig? –, doch Cassius kam ihr zuvor:

»Du verlierst den Totenstaub und bringst mir stattdessen ein … Ei?« Er schlug beide Hände vors Gesicht und ging jammervoll in der Turmkammer auf und ab.

Saxonius kreischte vergnügt: »Der Teufel kommt, dich zu holen. Er kommt, er kommt! Der Teufel kommt!«

»Schweig still!«, rief Cassius erregt, und der Vogel verstummte tatsächlich. Im Allgemeinen war es ein behäbiges Tier, das nur den eigenen Lärm genoss. Jeder andere Laut brachte Saxonius augenblicklich zur Ruhe. Er war ebenso alt wie Cassius, wenn nicht gar älter, und er hatte sie alle kommen und gehen sehen: die mächtigen Alchimisten und Magier, die Scharlatane und wahren Weisen, sie alle, die Kaiser Rudolf einst im Mihulka-Turm versammelt hatte.

Cassius hielt schließlich inne und stützte sich müde auf einen Tisch voll mit Büchern und Glaskolben. Viele der Gefäße waren leer, andere mit bunten Mixturen gefüllt. Auf einem zweiten Tisch – es gab mehr als ein halbes Dutzend davon, kreisförmig an den Wänden aufgestellt –, loderte eine Flamme und erhitzte ein köchelndes Gebräu. Eine Vielzahl tropfender Kerzen spendete sanftgelbes Licht.

»Erzähle mir, was geschehen ist«, bat er seufzend.

Sarai ließ sich im Schneidersitz auf einem riesigen Stuhl nieder, dessen hohe Lehne mit aufwändiger Schnitzerei verziert war. Cassius hatte einmal behauptet, er selbst hätte dieses Kunstwerk vollbracht, doch Sarai zweifelte daran. Trotzdem gefiel ihr der Stuhl, er war schwer und beinah schwarz vom Alter, und er stand gleich neben einem der winzigen Fenster. Sie hatte lieber Tageslicht um sich, ganz gleich wie spärlich; das zitternde Flackern der Kerzen beunruhigte sie. Die Flammen erinnerten sie an den Tag, als ihre Mutter auf dem Jüdischen Friedhof beerdigt worden war. Ihr Vater hatte daheim dutzende Kerzen entzündet und drei Tage ohne Unterbrechung gebetet. Sie hatte damals große Angst um seine Gesundheit gehabt. Sie hatte es heute noch.

Sie begann ihren Bericht mit dem Gang über die Brücke, erzählte von der Verfolgung durch die Söldner und ihrer Flucht in die Balkengasse. Als sie zur Schilderung des Hühnerweibes kam, weiteten sich die Augen des Alchimisten vor Erstaunen.

»Du hast eine von ihnen gesehen?«, fragte er aufgeregt und kam eilig auf Sarai zu, als wollte er ihre Erinnerung festhalten, sollte sie sich unerwartet verflüchtigen.

Sarai nickte – obgleich sie die Worte »eine von ihnen« verwirrten. Gab es denn mehrere davon?

Sie beschrieb dem Alten die seltsame Erscheinung bis ins Kleinste. Dabei stellte sie fest, dass sie vieles in ihrer Aufregung gar nicht beachtet hatte, etwa, ob die Frau jung oder alt gewesen war. Sosehr sie auch in ihrem Gedächtnis danach suchte, sie konnte sich nicht erinnern. Wohl aber standen ihr Kleidung und Haartracht deutlich vor Augen, und beides schien Cassius aufs Höchste zu erregen. Ruhelos ging er von neuem auf und ab.

Zuletzt schilderte Sarai ihm, wie sie den Staub in die Augen des Söldners geschüttet und ihn so überwunden hatte. Doch dafür brachte der Alte kaum noch Geduld auf. Sarai war ein wenig beleidigt, dass er keine Sorge um ihr Wohlergehen zeigte. Aber so war er: Sobald ihn etwas beschäftigte, verlor alles andere an Bedeutung.

»Und dieses Ei«, vergewisserte er sich schließlich, »lag erst am Boden, nachdem die Frau verschwunden war?« Sarai hob die Schultern und erwiderte schnippisch: »Verzeih, dass ich vorher um mein Leben lief und keine Zeit hatte, nach Eiern zu suchen.«

Er winkte mit einer fahrigen Handbewegung ab. »Das lässt sich kaum mehr ändern.«

Empört wollte sie auffahren, ließ es dann aber bleiben. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Cassius meinte es nicht böse.

Der Alte nahm vorsichtig das Ei zur Hand, das Sarai auf einem der Tische abgelegt hatte. Er betrachtete es von allen Seiten, trat sogar vors Fenster, um es gegen das Licht zu halten.

»Ein gewöhnliches Hühnerei«, erkannte er schließlich.

Sarai zog eine Grimasse. »Sieh an, sieh an.«

»Zumindest von außen.«

»Was glaubst du denn, was darin ist? Ein Basilisk? Ein Kind vielleicht?«

»Wir sollten versuchen, es herauszufinden.«

»Willst du dich draufsetzen und brüten?«

Erstmals schien er Sarais Spott zu bemerken, denn er schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick. »Du könntest es essen, und wir warten ab, was geschieht«, schlug er vor, halb ernst, halb im Scherz.

»Du hast mir lange kein Essen mehr mitgegeben, nicht einmal Brot«, beklagte sie sich.

»Weil ich selbst kaum etwas habe – und das wenige habe ich stets mit dir geteilt, mein Kind.«

Das stimmte wohl, und nun, da die Stadt in Feindeshand war, mochte sich die Lage noch verschlimmern. Ihr selbst reichte das aus, was Cassius ihr gab. Ihr Vater aber musste bei Nachbarn um Brot und Milch betteln. Seit dem Tod ihrer Mutter ging er nicht mehr zur Arbeit in die Ställe.

»Was also hast du vor?«, fragte sie und deutete auf das Ei.

Er atmete tief durch. »Ich bin nicht sicher.«

»Was hat es denn mit dieser Hühnerfrau auf sich? Du weißt doch etwas, oder?«

Cassius schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Ich hörte, dass sie vor einigen Wochen zum ersten Mal in der Stadt gesehen wurden. Eine soll sogar hier oben auf dem Hradschin gewesen sein, auf den Dächern des Doms. Doch das mag Gerede sein. Ich hörte, wie die Diener darüber sprachen. Fest steht aber offenbar, dass die Weiber in einigen Winkeln der Stadt aufgetaucht sind, auch mehrere zur gleichen Zeit. Niemand weiß, wer sie sind, was sie tun und was sie wollen.«

»Aber du hast doch eine Ahnung.«

Er hielt ihrem fordernden Blick nicht stand und sah zu Boden. »Nein«, erwiderte er knapp, »auch ich weiß nichts über sie.«

Sie glaubte ihm kein Wort, sah aber ein, dass es wenig Sinn hatte, weiter in ihn zu dringen. Er würde ihr die Wahrheit sagen, wenn er die rechte Zeit für gekommen sah. Vielleicht.

»Du machst es einem schwer«, sagte sie leise.

Ein kurzes Lächeln flackerte über sein Gesicht. »Ein schlauer Mann hat einmal gesagt, es gäbe keinen wirklichen Unterschied zwischen einem Mystiker und einem Wahnsinnigen. Beide begeben sich auf Reisen in ihr Inneres, verlassen dabei die Grenzen des Ich und tauchen ein in die Erfahrungswelt jenseits der menschlichen Sinne. Während der Wahnsinnige allerdings darin verhaftet bleibt und den Weg zurück nicht mehr finden kann, hat der Mystiker die Möglichkeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren.« Cassius schmunzelte. »Ehrlich gesagt, ich habe nie allzu viel von dieser These gehalten. In all den Jahren habe ich nicht einen erlebt, den die Begegnung mit der anderen Welt nicht gewandelt hätte. Unsere Reisen verändern uns. Es ist wie mit den Krankheiten, welche die Seefahrer von jenseits der Meere mit in die Heimat bringen. Uns Mystikern ergeht es ebenso. Unser Fieber ist ein Fieber des Geistes. Und, gib Acht, Sarai, es kann ansteckend sein.«

Sie dachte an ihren Vater, dachte daran, was die Begegnung mit dem Tod ihm angetan hatte. Er hatte Zuflucht im Gebet gesucht, im Gespräch mit dem Herrn. Erst heute war er wieder außer sich gewesen, dass sie ihn am Sabbat verlassen wollte. Aber er war oft außer sich. Manchmal hoffte sie, der Zorn auf andere möge ihn vor sich selber schützen.

Cassius, der alles über ihren Vater wusste, schien zu erraten, was in ihr vorging. »Mystik ist nicht gleich Religion«, sagte er. »Und auch was dein Vater tut, hat nichts mit Religion zu tun. Er wird keine göttliche und keine mystische Erfahrung machen, denn Religion ist eine Sache vieler, während die Mystik zwar dem Einzelnen vorbehalten ist, aber keinen Trost in der Trauer bringt.«

Eigentlich war ihr nicht nach derlei Gesprächen zumute, und doch war sie dankbar für die Ablenkung. »Was aber ist dann die Mystik für dich?«

Es war seltsam, aber in all den Monaten, da sie ihn kannte, hatte sie diese Frage nicht ein einziges Mal gestellt. Sie war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Er war eben Mystiker; bislang war das Erklärung genug gewesen.

Ab heute aber würde das anders sein. Von nun an wollte Sarai Fragen stellen. Sie war sich nicht im Klaren darüber, was die Veränderung hervorgerufen hatte – vielleicht die Todesangst vor den Söldnern, vielleicht der Anblick der unheimlichen Frau –, aber ihr war plötzlich, als würde das Wissen vor ihr davonlaufen, wenn sie nicht schnell die Hand danach ausstreckte.

Cassius ließ sich schwer auf einen gepolsterten Stuhl fallen. »Mystik ist eine Sache des Sehens, Sarai. Der Mystiker weiß nicht nur, er sieht, was er weiß.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Und wer könnte dir deshalb einen Vorwurf machen? Der Mystiker sammelt Erfahrungen. Ich will nicht sagen, er leidet darunter – er sammelt sie einfach. In bestimmten Zuständen sehen wir Dinge, wir schauen Bilder, die anderen verborgen bleiben. Wir wenden uns von den äußeren Sinneseindrücken ab und tauchen in unser eigenes Bewusstsein. Manchmal sehen wir uns dort selbst, manchmal andere. Dabei erfahren wir neues Wissen, oder auch die neue Sicht auf ein altes Wissen. Stell dir zwei Lehrer vor: Der eine vermittelt seine Lehre durch bloße Worte, der andere aber illustriert sie durch Bilder, die er auf eine Tafel malt. Der Mystiker ist der Schüler dieses zweiten Lehrers: Er erfährt all sein Wissen allein durch seine Augen, die er nach innen richtet, während der Schüler des ersten Lehrers, der gemeine Mensch also, dieses Wissen nur durch Worte erfährt, die ihn das Gehörte schnell vergessen lassen.«

»Demnach kann jeder ein Mystiker sein, er braucht nur den richtigen Lehrer«, stellte Sarai nachdenklich fest.

»Und die richtigen Augen«, fügte Cassius hinzu. »Ohne die Bereitschaft und das Talent, diese Erfahrungen im eigenen Inneren nicht nur zu suchen, sondern auch zu finden, wird aus keinem ein wahrer Mystiker.«

»Habe ich die richtigen Augen, Meister Cassius?«, fragte sie scheu.

»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf, »ich glaube, du hast sie nicht.«

Sie blieb den Tag über bei Cassius und dachte über den Sinn seiner Worte nach. Der Alte entfernte die Splitter aus ihren Händen und verzichtete ihr zuliebe auf die Lektüre seiner dickleibigen Bücher, die er sich für diesen Tag vorgenommen hatte. Stattdessen bat er sie, ihm bei einigen Versuchen behilflich zu sein. Versuche – das bedeutete meist, dass er allerlei Tinkturen und Flüssigkeiten miteinander vermischte, das Ganze über heißer Flamme erhitzte und abwartete, was geschah. Die Ergebnisse waren in der Vergangenheit vielgestaltig gewesen. Es hatte brodelnde Feuerbälle gegeben, die ihnen die Brauen versengten; manchmal waren Cassius Mischungen in alle Richtungen gespritzt und hatten sie mit stinkendem Sud überzogen, dessen Geruch tagelang haften blieb; und gelegentlich war schlichtweg überhaupt nichts geschehen, was den Alchimisten zu grollendem Zorn oder brütendem Schweigen veranlasst hatte.

Die Versuche, die er an diesem Sabbat vollführte, ähnelten jenen an früheren Tagen, wenngleich er und Sarai von üblem Gestank und feurigen Eruptionen verschont blieben. Zwischendurch erklärte Cassius ihr immer wieder das eine oder andere über seine Mixturen, Versuchsanordnungen und erhofften Ergebnisse, und sie gab sich Mühe, jede Einzelheit im Kopf zu behalten. Mochte der Himmel wissen, welchen Nutzen es einmal haben mochte.

Das Ei des Hühnerweibs blieb während des Tages achtlos auf einem der Tische liegen, und schließlich vergaß Sarai völlig, dass es überhaupt da war.

Am frühen Abend verließ sie den Turm durch die geheime Öffnung, schlich durch die Gärten zur Südseite der Burg und kletterte über die Mauer hinweg. Sie lief die Neue Schlossstiege hinunter, rannte quer durch die Kleinere Stadt und erschrak vor jedem Schatten und jedem Soldaten, den sie aus der Ferne sah. Sarai wusste, dass auf der Karlsbrücke andere Männer als am Morgen stehen würden, die Gefahr war also nicht größer als sonst. Sie fragte sich, ob man den toten Söldner schon entdeckt hatte.

Als sie sich den Brückentürmen näherte, spürte sie schon, wie sich ihr Körper verkrampfte. Obgleich sie sich einredete, keine Angst vor den Wachtposten haben zu müssen, spürte sie doch, wie ihre Furcht immer größer wurde.

Doch die Ligasöldner ließen sie anstandslos passieren. Kurz nachdem Sarai das östliche Ufer erreicht hatte, ging die Sonne hinter den Dächern des Hradschin unter, und die Wächter kreuzten ihre Spieße. Nach Anbruch der Dunkelheit wurde der Übergang über die Moldau gesperrt. Sarai war eine der Letzten, die es noch rechtzeitig schafften.

Sie eilte durch das enge, verwinkelte Labyrinth der alten Straßenzüge und schlich in den frühen Abendschatten am Rathaus vorbei über den Altstädter Ring. Überall waren Söldner, die meisten betrunken und randalierend. Immer wieder wich sie in Hauseingänge und Durchfahrten zurück, um Patrouillen und einzelnen Soldaten aus dem Wege zu gehen. Ihr war klar, dass sich die Ereignisse vom Morgen jederzeit wiederholen konnten, und diesmal würde sie fraglos weniger Glück haben. Tatsächlich war es in der Dämmerung weit gefährlicher, wenn die meisten Söldner reichlich Bier und Wein zugesprochen hatten. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie Cassius nicht früher verlassen hatte. Es war einfach zu gewagt, um in dieser Zeit durch die Straßen zu laufen.

Am Eingang zur Judenstadt, einem düsteren, eng bebauten Viertel im Herzen Prags, blieb sie einen Augenblick stehen. Es gab mehrere Tore, die hineinführten, und zu Friedenszeiten hatte man sie zeitweise bewacht. Seit der Besatzung aber standen die Tore offen, und die freiwilligen Wächter waren bei ihren Familien. Die Vorstellung, wie einfach es für die Christen der umliegenden Viertel wäre, in die Judenstadt einzufallen, erschreckte Sarai. Aber natürlich hatten auch sie andere Sorgen, als ausgerechnet in diesen Tagen ein neuerliches Pogrom anzuzetteln. Jeder Einwohner Prags lebte nur noch in stetiger Furcht vor den neuen Machthabern der Liga, ganz gleich ob Jude oder Christ. Die alte Fehde und der Blutzoll, den sie über die Jahrhunderte gefordert hatte, waren vorerst – nein, nicht vergessen, aber verdrängt.