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Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VII/2 Sommer 2013

Neo-Realismus

Herausgegeben von Martin Bauer & Jens Hacke

 

ZUM THEMA

Martin Bauer, Jens Hacke: Zum Thema

NEO-REALISMUS

Burkhard Müller: Die Probleme des realistischen Romans

Gustav Falke: Neorealismus im italienischen Film

Jens Hacke: Wende zur Skepsis. Liberale
Ideenverteidigung in der Krise der Zwischenkriegszeit

Clemens Albrecht: «Soziale Wirklichkeit».
Helmut Schelsky und die Tragödie einer regulativen Idee

GESPRÄCH

Klaus Heinrich: Über unseren Ausstieg aus den Höhlen.
Ein Gespräch mit Manfred Bauschulte, Horst Bredekamp
und Luca Giuliani

ESSAY

Hermann Lübbe: «Verspätete Nation».
Überraschende Ergebnisse einer Pflichtlektüre

DENKBILD

Heinz Schlaffer: Laudatio auf Martin Warnke

Martin Warnke: Lebendige Kunstgeschichte

KONZEPT & KRITIK

Lutz Raphael: Ludwik Fleck
und der demokratische Denkstil

Florian Meinel: Anatomie eines Nationalisten.
Stefan Breuer versucht Carl Schmitt zu stellen

Roman Köster: Die Kunst des Ökonomen.
John Maynard Keynes lässt sich nicht ausrechnen

Die Autoren

   
 

Im nächsten Heft: Konservative Ästhetik. Mit Beiträgen von Karl Heinz Bohrer, Karl-Siegbert Rehberg, Henning Ritter und einem Gespräch mit Willibald Sauerländer.

 

 

Zum Thema

«Seien wir realistisch», war im Mai ’68 auf Pariser Hauswänden zu lesen, «fordern wir das Unmögliche!» An Paradoxien dieses Typs hat die Gegenwart allen Geschmack verloren. Auch wenn ihr die Zukunft am Herzen liegt, begegnet sie dem Unmöglichen mit kalter Schulter. Ihr großes Thema sind die Möglichkeiten, sind zukünftige Chancen und sich bietende Gelegenheiten, die jetzt zu ergreifen sind – politisch, ökonomisch und sozial. Wie aus Optionen kraft raffinierter Mathematik berechenbare Risiken werden, lautet die Grundfrage. Und an sie schließt unter Umständen ein nächstes Problem an: Was zu tun ist, wenn sich die Berechnungen als irrig erweisen. Dann kehren die kalkulierten Risiken nämlich in Gestalt unwägbarer Gefahren zurück, beispielsweise als radioaktive Strahlung oder ökonomische Krise, die ganze Volkswirtschaften mit bankrotten Banken, insolventen Versicherungen und ruinierten Pensionsfonds konfrontiert. Angesichts solcher Ereignisse investiert man nicht ins Unmögliche. Stattdessen interessiert die Unerbittlichkeit der Tatsachen. Das Reale macht sich als die Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung geltend, als der Widerstand, der alle Prognosen blamiert.

In diesen Situationen schlägt die Stunde des Neorealismus. Gefordert wird der ernüchterte Blick, die illusionslose Anerkennung des Faktischen. «Die Sachen selbst» werden auf die Bühne gebeten. Im Namen eines Absolutismus der Wirklichkeit soll das Gerede ein Ende haben und alles Moralisieren aufhören. Subjektivität und mit ihr das Seelische überhaupt gerät unter Verdacht. Die trockene Prosa von Protokollsätzen wird charmant: «Hier, jetzt, grün.» Kein Wunder, wenn «Alternativlosigkeit» zum Schlüsselwort avanciert, das Sachverstand anzeigt und Beschlüsse mit kollektiver Verbindlichkeit versorgt, die im Grunde doch keine Entscheidungen sein können, weil sie ihrem Anspruch nach nur exekutieren, was die eiserne Logik der jeweiligen Sache fordert. Wie sagt die Kanzlerin? «Eine gut geführte Akte ist ein Wert an sich selbst.»

Freilich hatte der Realismus in den Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften der jüngeren und jüngsten Vergangenheit einen schlechten Leumund. Zwar hatte seine Exzellenz, Herr Dr. Lacan, strikt und früh zwischen dem «Symbolischen», «Imaginären» und «Realen» unterschieden, zugleich aber wissen lassen, das Reale bezeichne in seinem triadischen Register das schlechthin Unrepräsentierbare. So konnte die Welt des Wirklichen im entgrenzten Kulturalismus der zurückliegenden vier Dekaden nicht sein, «was der Fall ist». Wer sich nicht der Naivität wollte bezichtigen lassen, hatte mit der Konstruiertheit der Wirklichkeit auch die Kontingenz ihrer Konstruktion zu betonen, womit sich der Sozialkonstruktivismus einen explizit historischen Sinn verschaffte. Normative Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie ließ sich so nicht mehr praktizieren. An ihre Stelle trat eine konstruktivistische Sozialgeschichte des Wissens, die viele Gesichter hatte und ebenso viele Wirklichkeiten entdeckte.

Einen schmerzhaften Stachel im Fleisch des sozialkonstruktivistischen Konsensus platzierte Ian Hacking, kanadischer Wissenschaftsphilosoph am Collège de France, mit einer ironischen Bemerkung. Er vermutete sinngemäß, dass die Bereitschaft, eine physikalische Größe wie die Erdanziehungskraft «g» bloß für eine soziale Konstruktion zu halten, proportional zur Flughöhe abnehme. Tatsächlich mehren sich seither die Anzeichen für eine Trendumkehr. Es mag lediglich modischer Überdruss, vielleicht aber auch eine ernster zu nehmende Skepsis sein, auf die der sozialkonstruktivistische mainstream mittlerweile in den Kulturwissenschaften stößt. So empfiehlt es sich, erste Probebohrungen an Ortschaften vorzunehmen, die in der Kunst wie in der politischen Theorie den Kontakt zum Realismus immer gehalten hatten. Es scheint heute nicht mehr unmöglich zu sein, neuen Realismus zu fordern.

 

Martin Bauer
Jens Hacke

Neo-Realismus

BURKHARD MÜLLER

Die Probleme des realistischen Romans

 

Rem tene, verba sequentur.

Die Sache halt fest, die Worte werden folgen.

Cato der Ältere (234-149 v. Chr.)

In Antike und Mittelalter spielte der Roman, sofern es ihn überhaupt gab, eine sehr untergeordnete Rolle. Das liegt daran, dass er an eine gewisse Masse und eine gewisse Rezeptions-Geschwindigkeit gebunden ist, für die damals die Voraussetzungen fehlten. Gelesen wurde laut, das senkte das Tempo; und geschrieben wurde jedes einzelne Buch von Hand, das begrenzte den Umfang. Bücher waren kostbar und selten, man musste also die paar, die man hatte, immer wieder hervorholen; und so viel wie möglich wurde der Aufbewahrungsform der Auswendigkeit anvertraut. Texte, die das aushalten sollten, mussten stark verdichteten Charakter haben und tendierten zur versischen Gestalt, der die erzählende Literatur bis an die Schwelle der Neuzeit im Wesentlichen treu blieb.

Dann kam der Buchdruck, und mit ihm der Lese-Exzess, jenes lasterhafte Vergnügen, allein ganz schnell, weil still, riesige Volumina an Schriftlichem in sich hineinzuschlingen. So begann der Roman als Junk Food; formlos und gigantisch wucherte er auf im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Darauf, im 19. Jahrhundert, fühlte er sich kräftig genug, sich vom Status des (wenn auch stark frequentierten) Schleichpfads zur offiziellen Hauptbahn der Literatur aufzuschwingen. Seiner Gier nach Welt tat dies keinen Abbruch, er sog in seine Hunderte oder gar Tausende von Seiten so viel hinein von dem, was es gab, wie er nur konnte, und leistete damit für die Literatur Ähnliches wie das Billy-Regal von Ikea: dank praktischen preiswerten Zuschnitts große Mengen an Material griffbereit zu verstauen. Ein realistischer Roman, das ist so etwas wie ein weißer Schimmel – gibt es einen anderen?

Flaubert und Camus: Realismus als Irrlicht

Der Roman beginnt also mit dem Vorrang der Sache, der Welt vor der Form. Die Form allerdings wird ihm darum nicht erlassen. Er hat es schwer damit. Seit er im 19. Jahrhundert zur literarischen Gattung aufgestiegen ist, träumt er von der Vollkommenheit. Große Lasten soll er transportieren und dies doch mit Anmut tun; gewissermaßen ein Frachtschiff sein und doch einen schnittigen Segler abgeben. Seinen Gegenständen will er sich bis in ihre tiefsten Banalitäten hinein anschmiegen, aber dabei doch Satz für Satz als durchgeglühte Kunst gestalten, gewissermaßen einen Marathon als Sprint absolvieren.

Ob der perfekte Gedichtvers existiert, darüber mag man streiten. Den perfekten Satz im Roman kann es schon deshalb nicht geben, weil dessen offene Form unzählige Varianten zulässt und folglich, was zum Schluss auf dem Papier steht, stets auch ein wenig anders hätte lauten können. Für solch widerspruchs- und mühevolles Bestreben steht vor allem der Name Gustave Flauberts. Da auch die Qual das Werk nicht garantiert, stellt er schließlich das Werk als Qual aus. Berühmt sind seine Selbstschilderungen als Nilpferd auf dem Sofa, das Zeile für Zeile ächzend durchleidet.

Mit diesem Habitus hat er, wenn vielleicht auch kein Beispiel gegeben, so doch einen Standard gesetzt, dem sich nachfolgende Autoren nicht ohne Weiteres entziehen konnten. Noch fast ein Jahrhundert später taucht der von Flaubert in die Welt gesetzte Typus des Romanciers als einfühlsame Parodie in der Pest von Albert Camus auf. Während ringsherum die Seuche wütet, zermartert sich der Lehrer Grand den Kopf darüber, wie er den allerersten Satz seines großen Romans formulieren soll. Über diesen Satz gelangt er nicht hinaus und ist gewissenhaft genug, dann nicht einfach pfuschend voranzustolpern, sondern der Aporie des Anfangs treu zu bleiben. Zögernd liest er seinen Freunden vor:

 

«‹An einem schönen Morgen des Monats Mai durchritt eine elegante Amazone auf einer wunderbaren Fuchsstute die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.›

Die Stille kam zurück und mit ihr der undeutliche Lärm der leidenden Stadt. Grand hatte das Blatt niedergelegt und fuhr fort, es zu betrachten. Nach einer Weile hob er die Augen.

‹Was halten Sie davon?›»

Die versammelten Freunde, obwohl mit der Seuche beschäftigt und von ihr bedroht, achten die Frage keineswegs gering. Sie sagen ihm nicht, er solle in diesem Augenblick keine Ausflüchte bei Amazonen und blühenden Alleen suchen, sondern diskutieren mit ihm. Immer wieder tun sie es, und immer hat Grand seinen Satz ein bisschen verändert.

 

«Dann zeigte er [Grand] sich sehr besorgt wegen des Beiworts ‹wunderbar [superbe]›. Er fand es nicht sprechend genug und suchte den Ausdruck, der das Bild der prunkvollen Stute, das ihm vorschwebte, treffend festhielt [photographierait]. ‹Kräftig [grasse]› ging nicht; es war anschaulich, aber ein bisschen herabsetzend. ‹Glänzend [reluisante]› hatte ihn einen Augenblick gereizt, aber das passte im Klang nicht. Eines Abends verkündete er frohlockend, er habe es gefunden: ‹eine schwarze Fuchsstute [une noire jument alezane]›. Das ‹schwarz› deute unaufdringlich die Eleganz an, meinte er.

‹Das ist nicht möglich›, sagte Rieux.

‹Und warum nicht?›

‹Fuchs geht nicht auf die Rasse, sondern auf die Farbe.›

‹Welche Farbe?›

‹Nun, jedenfalls eine Farbe, die nicht schwarz ist.›

Grand schien sehr niedergeschlagen.

‹Danke›, sagte er vor sich hin sinnend. ‹Ein Glück, dass Sie da sind.

Aber da sehen Sie, wie schwierig es ist.›»

Es ist in der Tat schwierig. Grand will zwei Herren zugleich dienen, der Schönheit und der Sache, und verausgabt sich völlig dabei. Doch es erweist sich, dass er immer nur das eine auf Kosten des anderen durchsetzen kann. Das endlich gefundene rechte Wort, das ‹mot juste›, wie er sagt, ist eins, das gerade sachlich danebenliegt – wie er eben noch rechtzeitig erfährt. Einem Deutschen wäre das nicht passiert, denn bei uns ist im Fuchs die rötlichbraune Farbe schon mitgegeben. Das französische «alezane» hingegen hat sich offenbar mysteriös von seinem Gegenstand verselbständigt und blamiert so den Ästheten, der sich vom bloßen Klang bezaubern lässt. Unnachgiebig ist die Welt; weich und von Zufällen bestimmt jedoch die Einzelsprache, die mit ihr ringt. Sollte das den Romancier nicht zur Demut zwingen?

Thomas Mann:
Realismus als lebensgemäße Verlängerung

Als der große Meister des realistischen Roman-Erzählens gilt bei uns Thomas Mann. Doch sein Realismus hat einen Widerhaken: die Ironie. Sie signalisiert, dass die getreue Wiedergabe dessen, was der Autor sieht und gestalten will, an eine Haltung der Distanz gebunden ist, derer er bedarf, damit er sich seines Stoffs bemeistert, statt dass er in ihm ertrinkt. Ironie bedeutet für Thomas Mann daher so viel wie Stil überhaupt; einen anderen könnte er sich wahrscheinlich nicht einmal denken.

Sein umfangreichstes Werk ist die Tetralogie Joseph und seine Brüder. Diesen Stoff, in der Bibel kaum mehr als fünfzehn Seiten, baut er auf rund das Hundertfache aus; kein anderer hat ihn so beflügelt. Was die Bibel ihm liefert, findet er «unlebensgemäß abkürzend». Damit hat er implizit die Voraussetzung gemacht, dass Leben sich nur im Medium des Realismus erwecken lasse und alles andere bloß als dessen Konserve in Betracht kommt, ein harter Keks, der der weidlichen Einspeichelung harrt, ehe man ihn kauen und schlucken kann. Und er will «den Mythos ins Humane umfunktionieren», als wäre alles andere inhuman.

Eine Schlüsselszene, die sich zu allen Zeiten großer Beliebtheit erfreut hat, ist die Geschichte der missglückten Verführung Josefs durch Potiphars Weib, 1 Mose 39, 7–19, also gerade einmal 13 Verse lang, in Luthers Übersetzung:

 

«Und es begab sich danach, dass seines Herrn Frau ihre Augen auf Josef warf und sprach: Lege dich zu mir!

Er weigerte sich aber und sprach zu ihr: Siehe, mein Herr kümmert sich, da er mich hat, um nichts, was im Hause ist, und alles, was er hat, das hat er unter meine Hände getan:

Er ist in diesem Hause nicht größer als ich, und er hat mir nichts vorenthalten außer dir, weil du seine Frau bist. Wie sollte ich denn nun ein solch großes Übel tun und gegen Gott sündigen?

Und sie bedrängte Josef mit solchen Worten täglich. Aber er gehorchte ihr nicht, dass er sich zu ihr legte und bei ihr wäre.

Es begab sich eines Tages, dass Josef in das Haus ging, seine Arbeit zu tun, und kein Mensch vom Gesinde des Hauses war dabei.

Und sie erwischte ihn bei seinem Kleid und sprach: Lege dich zu mir! Aber er ließ das Kleid in ihrer Hand und floh und lief zum Hause hinaus.»

Ist das unlebensgemäß abkürzend? Abkürzend ist es gewiss. Aber diese Abkürzung enthält für den Leser oder Hörer die unmissverständliche Anweisung, wie er sich das Fehlende vorzustellen habe. Dass die Verführung einen gewissen Vorlauf hat, wird klar an den verschiedenen Tempi des zweimal ansetzenden «es begab sich». Zwar sagt die Frau nichts anderes als «Lege dich zu mir!», doch man ahnt, dass ihr diese Worte nicht leicht fielen. Auch ist der Kontrast zwischen der Leidenschaft der Frau und der Rechtschaffenheit, um nicht zu sagen Selbstgerechtigkeit Josefs ein sehr markanter. Und der jähe Umschwung im Verhalten von Potiphars Weib macht den Grad ihrer Verzweiflung fühlbar, die, nachdem sie schon die Sittsamkeit verabschiedet hat, nun auch den menschlichen Anstand über Bord wirft. Dieses Stück mit seinen präzisen Auslassungen gibt jedenfalls reichlich Anlass, nachzudenken und zu diskutieren.

Thomas Mann hat diese Passage als besonders nachbesserungsbedürftig empfunden. Er nimmt zunächst daran Anstoß, dass Potiphars Weib keinen Namen bekommen hat; also denkt er sich einen aus: Mut-Em-Enet soll sie heißen, im vertrauten Umgang auch Eni genannt. Vor allem aber wünscht er sie zu rehabilitieren, indem er den knapp angedeuteten Vorlauf der Szene ins Endlose auseinanderzieht: Denn keine ehrbare Dame würde so ohne Weiteres einem Domestiken sagen: Lege dich zu mir!, sie muss vorher ein wahres Martyrium durchlitten haben. Um die fatalen Worte über die Lippen bringen zu können, hat sie sich die ganze voraufgegangene Nacht die Zunge zerbissen, sodass die Lautung ihrer Rede sich verschiebt.

 

«(…) So die Frau, völlig hingerissen; und wir haben nicht nachgeahmt, wie ihr Gebet sich in Wirklichkeit ausnahm durch das Gelispel ihrer gespaltenen Zunge, wobei jede Silbe ihr schneidend wehe tat, und doch lispelte sie dies alles in einem Zuge auf seinem Arm, denn Frauen ertragen viel Schmerzen. Das aber soll man wissen, sich einbilden und fortan für immer festhalten, dass sie das Wort der Verkennung, das Lapidarwort der Überlieferung nicht heilen Mundes und wie ein Erwachsener sprach, sondern unter Schmerzensschnitten und in der Sprache der kleinen Kinder, so dass sie lallte: ‹Slafe bei mir!› Denn darum hatte sie ihre Zunge so zugerichtet, dass es so sei.» (Joseph, verwirrt und aufgewühlt, behält dennoch Vernunft für sie beide, stößt sie nicht direkt zurück, aber darf folgende Rede an sie richten:)

«‹Herrin, um Gott, was tut dein Angesicht da, und was sprichst du im Wundfieber, – komm zu dir selbst, du vergissest ja dich und mich! Vor allem – deine Stube ist offen, bedenke das, man könnte uns sehen, sei es ein Zwerg oder Vollwüchsiger, und ausspähen, wo du dein Haupt hast, – verzeih, ich darf das nicht dulden, ich muss dir jetzt, wenn du erlaubst, meinen Arm entziehen und zusehen, dass nicht von draußen…›»

Im Grunde ist, was Mut-Em-Enet Josef mitzuteilen hat, gänzlich zitierunfähig; keine Niederschrift gibt eine Vorstellung davon, wie diese Worte gesprochen und gehört wurden. Die Bibel weiß das immerhin, bei ihr sind sie in der hieratischen Knappheit der Erzählweise aufgehoben und umschlossen; so ähnlich drückt auch die Malerei Ägyptens (wo die Episode ja spielt) menschliche Beziehungen aus. Thomas Mann dagegen entschließt sich, das Ungeheuerliche seinem Wesen nach erscheinen zu lassen, und setzt dies durch die groteske Verfremdung ins Werk. Den Wortlaut selbst umrankt er mit bombastischer Feierlichkeit: wissen, sich einbilden, und für immer festhalten soll man es. Der Autor leidet mit seiner Heldin; der Leser aber leidet an der Vorstellung, die Frau in ihrer höchsten Not ans Lächerliche der stursten wörtlichsten Wiedergabe preisgegeben zu sehen. Dabei stößt der Erzähler, der sich aufs Breiteste mit seinem «Wir» spreizt, aber auf das Problem, dass Mut-Em-Enet diese Worte doch unmöglich so ausgesprochen haben kann, wie sie dastehen, denn sie sprach Altägyptisch und nicht Deutsch; der lustige Lispellaut des «slafe» kann also gar nicht so herausgekommen sein, wie es hier behauptet wird.

Der historische Abstand dieses Stoffs ist gewaltig; über drei Jahrtausende muss die Geschichte zurückliegen, vor deutlich mehr als zwei Jahrtausenden hat sie ihre Form gefunden. Thomas Mann bemüht sich, wenigstens einen Teil der Strecke durch seine Diktion einzuholen. Dass er, in immerhin lebhaft erregter Rede seines Joseph, davon spricht, die Frau besitze statt eines Gesichts ein Angesicht und ein Haupt statt eines Kopfes, mag noch angehen, denn es gibt bis zum heutigen Tag Gelegenheiten, wo ein Haupt mehr am Platz ist als ein Kopf. Aber «du vergissest»: das ist ein Stück willkürlich herbeigeholtes Sprachaltertum – und bringt von den besagten drei Jahrtausenden dennoch höchstens drei Jahrhunderte ein. Der Erzähler will den Leser auf das festlegen, was er sich «einzubilden» habe. Er will dessen Phantasie einschnüren und gängeln, Spielraum lässt er ihm nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich Josefs Verführung einmal in lateinischer Fassung (sodass noch die Mühe der Übersetzung hinzukam) in einem Kurs mit Studenten gelesen habe. Das kurze Stück bot uns Gelegenheit für ausgedehnte Erörterungen. Kontrastweise las ich dann auch das entsprechende Stück bei Thomas Mann vor. Niemand hatte das mindeste Bedürfnis, sich dazu zu äußern. Wie eine Bekannte es formuliert hat: Thomas Mann macht die Tür zu. Der Realismus verlangt viel Zeit; aber er nutzt sie nicht, um zur geistigen Tätigkeit anzuspornen. Vielmehr ermutigt er, hierin dem Fernsehen gleich, die passive Haltung des Konsumenten.

So fällt es dem historischen Roman sehr schwer, Vergangenes wieder zu jener Präsenz zu erwecken, die er unbedingt benötigt, wenn er seinem realistischen Begriff treu bleiben will. Am ausgeprägtesten zeigt sich das Problem immer an den Dialogen; denn während die erzählenden Passagen sich immerhin im Schutz des Präteritums bewegen dürfen, mit dem Ton des «Es war einmal», den schon die Kinder an den Märchen mit Wonneschauern erleben, führt das wörtliche, mit Gänsefüßchen markierte Gespräch die Leute so vor, wie sie damals für sich selbst gewesen sein sollen. Da lässt der Autor sie denn entweder (weil auch sie zu ihrer Zeit dasselbe waren wie wir, Zeitgenossen nämlich) in ein plattes heutiges Deutsch verfallen, das allen historischen Abstand vernichtet; oder er ziert ihre Rede mit lächerlichen betagten Schnörkeln, sodass sie, wenn sie das Wort aneinander richten, gern anheben mit: «Gevatter, so sagt, was ist Euer Begehr!», oder Ähnlichem.

Was kann der Romanautor da tun? Ersichtlich nur Falsches. Denn realistisch ist beides nicht; den Intentionen des Realismus sperrt die Tiefe der Zeit den Weg, nicht nur in den Stoffen, die sich in immer dichteren Nebel hüllen, sondern auch in der Form. Dass die Atriden noch keinen Roman kannten, ist durchaus ein Einwand dagegen, sie in einem solchen agieren zu lassen. Sie würden sich nicht wiedererkennen und wären es darum nicht. Der historische Roman schwebt immer in Gefahr, mit seinen bei Tageslicht beschworenen Toten leichtfertigen Unfug zu treiben.

Rainald Goetz: Realismus als Abstraktion

Doch wäre es ein Irrtum zu glauben, dass der Roman der Gegenwart sich schon darum leichter schreiben ließe. Die Abstraktion der modernen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse entzieht sich den sinnlich-sprachlichen Mitteln des Realismus zunehmend. Nach den zwei klassischen Beispielen, um die es gerade ging, möchte ich drei jüngere Fälle der deutschen Literatur betrachten.

Und zwar als erstes Johann Holtrop (2012) von Rainald Goetz. In der Anstrengung, mit der der Autor seine Wirtschaftssubjekte noch einmal als Romanfiguren beglaubigen will (oder umgekehrt, mit der er untersucht, was mit Romanfiguren geschieht, wenn sie sich selbst ausschließlich als Wirtschaftssubjekte definieren), findet das Problem seinen starken Ausdruck.

Goetz, stets um die Kraft des Zeitgenössischen ringend, hat in den vergangenen drei Jahrzehnten die Form seines Schreibens mehrfach radikal geändert; Autoren tun das selten. Er begann mit dem halbdokumentarischen Bericht aus der psychiatrischen Klinik, wandte sich dem Theater zu, erfand dann eine äußerst locker gewirkte Prosagattung, die er «Abfall für Alle» nannte, versuchte sich am Blog. Umso bemerkenswerter ist es, dass er mit seinem jüngsten Buch wieder zum Roman zurückgekehrt ist, dem er noch dazu, wie im tiefsten 19. Jahrhundert, als Titel den Namen seines Helden gegeben hat. Johann Holtrop ist ein äußerst smarter und aggressiver Geschäftsmann, der wiederholt aufsteigt und fällt, wobei er sich in verschiedenen Branchen herumtreibt; sein Weg wird über ein rundes Jahrzehnt verfolgt. Es wirkt, als hätte Goetz, um das gänzlich undurchschaubare Gewimmel eines Ameisenhaufens aufzulichten, einer einzelnen Ameise einen roten Punkt auf den Rücken gemalt, so dass er ihr auf der Spur bleiben kann. Außer dass er diesen Marker der Aufmerksamkeit trägt, erfährt man über Holtrop relativ wenig, nicht einmal über die Familie, die er doch hat. Der Erzähler betätigt an ihm, auch wenn er ihn einmal sozusagen privat durchdrehen lässt, ein entomologisches Interesse, das stellvertretend der Spezies gilt. Ähnlich steht es mit den Nebenfiguren.

 

«‹Das Gutachten der Berag hat drei Teile›, erklärte der Sprecher der beiden Beragberater, Mathias Salger, 35, schmal und hochgewachsen, kurzrasierte Haare, Charakterkopf, und zeigte dabei auf sein erstes Powerpointbild rechts an der Wand, wo drei verschiedenfarbige Rechtecke zu sehen waren und ebendies zu lesen war, was er sagte. ‹Erstens: das System Securo, zweitens: das System Mereo Dienste, drittens: Interpenetration und Kommunikation, Interaktion und wechselseitige Leistungen zwischen Securo und Mereo.› Mit dieser Überschrift war eigentlich schon alles gesagt. In ein schülerhaft ordentliches Schema wird die Pseudopräzision einer möglichst angeberhaft abstrakten Begrifflichkeit, hier billig der Systemtheorie entlehnt, quasi automatisch hineingefüllt. Die so erzeugte Wissenschaftlichkeitsanmutung war dazu da, das Gutachten möglichst weit weg von der Realität der begutachteten Wirklichkeit zu positionieren, um seiner Funktion zu entsprechen, Realwissen über Realität zu zerstören. Der Boom der Beraterindustrie seit den eben vergangenen 90er Jahren des XX. Jahrhunderts hatte auch darin seine Ursache, dass den Leuten in Entscheiderpositionen das Urteilszutrauen verloren gegangen war, es fehlte die Freude daran und der Mut, das Wirre der Realität mit eigener Urteilsintuition erfassen zu wollen. Lieber wurden vier Gutachten eingeholt, je teurer, umso besser, als dass man sich in der irrational witternden Weise, so wie die Vernunft der Urteilskraft es vorgab, selbst ein Bild vom zu beurteilenden Gegenstand, hier etwa den insgesamt klandestinen Strukturen am Asspergstandort Krölpa, gemacht hätte. Außerdem lieferte schon der Prozess der Begutachtung von außen erwünschte Nebeneffekte mit, die jede Innenanalyse als falsch ausgewiesen hätte, die vom Auftraggeber des Gutachtens aber genau gewollt waren: das Gutachten sollte auch Unruhe stiften, Angst erzeugen, Instabilität schaffen.»

Die Szene fängt an, wie man es vom realistischen Roman gewohnt ist, ein Stück Dialog eingebettet in eine erzählende Passage mit Beschreibung der handelnden Person. Dabei bleibt es aber nur kurze Zeit. Der Präsentator besitzt einen «Charakterkopf», damit ist sein Charakter auch schon erschöpft. Seine Rede beschränkt sich darauf, die Firmennamen vorzulesen. Die Firmen haben nun freilich sehr sprechende Namen, es ist dieser lateingestützte, leichtfüßig, aber undurchsichtig daherkommende Markenslang, Mereo, Securo, der z.B. auch bei der Benennung von Automobilen und Pharmaprodukten den Konsumenten darüber hinwegtäuschen soll, dass er über Mechanik und Inhaltsstoffe unterhalb der silberglänzenden Verpackung nichts erfährt, was ihm nützen könnte; der beschwingte Ton des Manipulierens. Und Goetz macht auch durchaus eine Anmerkung zum Wesen des Powerpoint, von dem mehr als von jedem älteren Medium gelten dürfte, dass es selbst die Message ist, bewirkt er doch in der Regel nichts als die informativ mehrwertfreie Spaltung der Aufmerksamkeit in eine optische und eine akustische Hälfte. Aber mit der Darstellung solcher Verhältnisse hat der Erzähler keine Geduld. Schon nach wenigen Zeilen winkt er ab, es sei mit der Überschrift «eigentlich schon alles gesagt». Das trifft auch zweifellos zu, so weit es den Inhalt der Präsentation bezeichnet. Aber gerade dass es so steht, dass ein so offensichtlich leerer kommunikativer Akt von allen mit der Achtung aufgenommen wird, wie sie einer tiefgründigen Weisheit gebührte – dies wäre jetzt erst genauer zu beleuchten. Stattdessen ergießt sich eine Schimpfkaskade über «Pseudopräzision» und «Wissenschaftlichkeitsanmutung», die den Leser jäh aus einem Roman in eine Streitschrift versetzt.

Die Passage kämpft verbissen um das, was sie als Wirklichkeit retten will. In einen einzigen Satz packt sie einmal «wirklich» und dreimal «real», darunter die Formulierung «Realität der begutachteten Wirklichkeit», ein wahrhaft erstaunlicher Genitiv. Wirklichkeit wird, wie der Fisch vom Angler, vorausgesetzt: nicht ohne Weiteres zu erwischen, aber da. Leicht ist es, sie zu verfehlen, noch leichter, sie zu verschleiern, und umso schwerer, zu ihr durchzudringen; daraus erwächst der Zorn des Erzählers. Dieser fällt sich ergrimmt sozusagen selbst ins Wort. Er vergisst, dass er eigentlich die Dienstberatung einer Firma darstellen wollte, und wird der wiederzugebenden Realität nun seinerseits untreu, indem er von den konkreten Vorgängen ins Räsonnement abbiegt, also genau das tut, was er den Akteuren vorwirft. Aufs Abstrakteste wird stattdessen eine «witternd» verfahrende «Urteilsintuition» eingeklagt, die ihrerseits ja wiederum im vorbegrifflich Singulären operiert, dem hier erhobenen Ruf ins Allgemeine hinein also gar nicht folgen kann.

Objekt des Romans sind die Kernbereiche kapitalistischen Wirtschaftens. Das ist mutig von Goetz; aber er hat sich mehr aufgehalst, als er tragen kann. Denn die Gegenwart des Kapitals liegt in seiner Zukunft. Es hat zu tun mit Investitionen und Renditen, die, weil sie bang auf morgen zielen, ihre Wirksamkeit schon heute entfalten. Auf diesem Weg wächst dem Phantasmagorischen (und Zukunft bleibt immer phantasmagorisch, da helfen alle Prognosen nichts) die Qualität des Realen zu, während das vorgeblich Reale sich in Rauch auflöst. Dies mag der Erzähler nicht wahrhaben und verliert sich im Unmut über Angeberei und Manipulation. Nicht als ob er mit seinem Befund Unrecht hätte. Aber er sieht nicht, welche Funktion jene wenig erquicklichen Verhaltensweisen haben, die er beobachtet, außer teilweise ganz zum Schluss des zitierten Abschnitts: Es soll nicht zuletzt den Beschäftigten Angst einjagen.

Wie hätte Goetz es sonst machen sollen? Kann es einen Realismus des Kapitals geben, also einen Realismus des Phantasmas? Man darf die Vermutung hegen, dass etwas mehr vom Geist der geschmähten Systemtheorie Goetz gut getan hätte. Die Systemtheorie glaubt von sich selbst zwar, sie sei kühl bis ans Herz hinan; tatsächlich aber lebt sie im Fluidum eines naiven Zynismus, das heißt sie enthält bei all ihrem Bescheidwissen einen Kern des Unbewussten. Der ließe sich bewusst machen und erzählerisch aktivieren, um den Kapitalismus als Fata Morgana emporsteigen zu lassen, sinnlich und nichtig zugleich, ein Traum, den alle teilen müssen. Schwer zu sagen, was dabei aus den menschlichen Figuren würde, in denen sich das System trotz allem doch verkörpert. Goetz’ unbestimmt ins Allgemeine um- und zuschlagende Wut, die sich allein an die Figuren halten will und von ihnen doch abkommen muss, erweist sich jedenfalls als eine stumpfe Waffe und seine Realismusforderung als ein ganz unrealistisches Postulat.

Bernhard Schlink: Realismus als Hinterhalt

Goetz scheitert immerhin ehrlich. Das ist mehr, als sich von Bernhard Schlink behaupten ließe. Schlink ist Spezialist für deutsche Vergangenheitsbewältigung. Die betreibt er in der Weise, dass er sich einen Romanplot ausdenkt, in dem Leute wie du und ich sich jäh vom rauen Wind der Politik und Geschichte erfasst finden und das Beste draus zu machen suchen. War natürlich dann verkehrt, was sie draus gemacht haben, aber so ist das Leben: Es muss improvisierend bestanden werden, und der Blick aufs große Ganze bleibt dem verwehrt, der grade drinsteckt; wer sich was andres zu sagen traut, der werfe den ersten Stein. In seinem Weltbestseller Der Vorleser