Osman Engin

Deutschland
allein zu Haus

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2013

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

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eBook ISBN 978-3-423-41829-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21447-6

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1 »Mein Freund, komm bald wieder, Deutschland freut sich auf dich!«

Mein Kumpel Deutschland, du brauchst mich darum nicht extra zu bitten, in vier Wochen stehe ich ohnehin wieder hier am Bremer Flughafen auf der Matte, besser gesagt, auf den frisch gebohnerten, blitzsauberen Fliesen!

Aber es freut einen ungemein, dass man von Freunden mit Freude zurückerwartet wird. Selbst wenn dieses riesige, schicke Plakat in der Abflughalle vermutlich nicht ausschließlich für mich aufgestellt worden ist. Aber man könnte es glatt meinen, weil die bildhübsche blonde Dame auf dem Foto die ganze Zeit mit dem Finger unmissverständlich nur auf mich zeigt.

Auf meinen Lieblingsonkel Ömer sollten sich Deutschland und diese Blondine auf jeden Fall freuen. Diesmal konnte ich ihn nämlich nicht abwimmeln, er will sich die ›tolle zweite Heimat seines Neffen Osman‹ unbedingt mal ansehen, bevor er sich seine Möhren für immer von unten anguckt, wie er mitleidheischend sagte. Er denkt, dass es meine zweite Heimat ist, ich persönlich würde Deutschland einen ganzen Platz weiter oben einstufen. Ich hätte wohl all die Jahre in der Türkei mit ›meinem‹ ach so hübschen, zivilisierten, demokratischen und Was-weiß-ich-noch-Deutschland nicht zu viel prahlen sollen! Aber woher sollte ich denn wissen, dass mein uralter Onkel Ömer sich mit seinen fast 70 Jahren noch der Tortur einer so langen Reise aussetzen würde?

Okäy, für deutsche Verhältnisse ist 70 noch kein richtiges Alter!

Hier sind die ganzen Diskos voll mit glatzköpfigen und dickbäuchigen 60- bis 70-Jährigen, die bis frühmorgens 14bis 15-jährige Tiinis anbaggern. Aber in der Türkei ist man in dem Alter normalerweise bereits seit 20 Jahren mit einem Bein im Grab und seit 10 Jahren mit eineinhalb Beinen! Und mit nur halbem Bein kann man selbstverständlich in Diskos keinen 15-jährigen Tiinis mehr hinterherlaufen. Besser gesagt, man kann überhaupt nicht mehr laufen. Dafür kauft man die armen Mädels einfach ihren Eltern ab, heiratet sie und lässt sie für sich laufen! Okäy, das ist viel mehr eine afghanische und arabische Spezialität – aber in der Türkei gibt es auch immer mehr Nachahmer dieser Mode.

»Sie sollten unbedingt nach NewYork fliegen, um sich das World-Träit-Center-Denkmal aus der Nähe anzuschauen, damit Ihnen klar wird, was Ihre durchgedrehten Landsleute am 11. September dort Schlimmes angerichtet haben«, spricht mich in dem Moment irgendein Kerl unvermittelt von der Seite an, als ich gerade etwas verschämt durch den unangenehmen Nacktskenner will und dementsprechend kräftig meinen dicken Bauch einziehe, damit die beiden bildhübschen Polizistinnen, die auf der anderen Seite vor dem Computer hocken, meinen fetten Bauch nicht in vollem Umfang zu sehen bekommen.

»Vielen Dank für den guten Tipp«, antworte ich etwas kurzatmig und ziehe meinen Bauch noch doller ein. Glücklicherweise habe ich auf dem Gebiet jahrelange Erfahrung! Auf dem Gebiet des ›kräftig Baucheinziehens‹ meine ich. Jeden Sommer in der Türkei am Strand muss ich diesen genialen Trick wegen der vielen Bikini-Mädels alle fünf Minuten vorführen.

»Sie sollten trotzdem nach NewYork fliegen und sich das Werk Ihrer kranken Brüder mal aus nächster Nähe anschauen«, drängt mich mein neuer persönlicher Touristenführer weiter zu einer New-York-Reise.

»Osman, jetzt geh doch endlich durch die verdammte Schranke! Du hältst den ganzen Verkehr auf! Du brauchst auch nicht die ganze Zeit die Luft anzuhalten«, motzt mich plötzlich von der anderen Seite auch noch mein Eheweib Eminanim an.

»Das ist aber jetzt unfair! Zwei gegen einen«, stöhne ich. »Eminanim, lass mich doch erst mal diesem netten Mann antworten, der uns unbedingt in die USA einladen will!«

»Du hast jetzt erst mal Sendepause, dem netten Herrn antworte ich für dich«, zischt sie und knöpft sich meinen armen, etwas beleibten Möchtegern-Reiseführer vor: »Mein Herr, besuchen Sie doch erst mal die hiesigen katholischen Internate und schauen Sie, was Ihre Priester-Brüder dort angestellt haben! Und wenn Sie damit fertig sind, dann fahren Sie nach Ostdeutschland und gucken Sie, was die dortigen Perversen alles in den DDR-Kinderheimen angestellt haben!«, ruft sie wie aus der Pistole geschossen. Und ich bin heilfroh, dass sie, aufgewühlt wie sie ist, nicht mit der richtigen Pistole geschossen hat, die die Polizistin neben ihr so locker an der Hüfte trägt.

Warum sind eigentlich alle Polizistinnen in Deutschland blond? Hängen Blondsein und IQ etwa doch irgendwie zusammen, wie in zahlreichen kleinen Anekdoten immer wieder so amüsant behauptet wird?

»Na, hören Sie mal, ich … ich … – was fällt Ihnen ein?«, stammelt der Mann völlig verwirrt. Und ihm tut es mittlerweile sicherlich leid, dass er uns blöderweise ziemlich voreilig nach New York eingeladen hat und nicht nach Mölln, Solingen oder Hoyerswerda.

»Toll«, denke ich und bin sehr froh darüber, dass Eminanims Zorn diesmal nicht mich erwischt hat. Aber bevor ich mich so richtig freuen kann, bin ich schon wieder fällig.

»Osman, du erstickst ja gleich, du bist knallrot im Gesicht«, schimpft sie. »Atme endlich wieder normal und lass deinen bescheuerten Bauch los! Hier am Bremer Flughafen gibt es doch keinen Nacktskenner, verdammt! So teure Geräte kann sich das arme Bremen gar nicht leisten!«

»Wie bitte? Warum sagt mir denn niemand, dass wir diese idiotischen Dinger hier gar nicht haben?«, röchele ich und schnappe hastig nach Luft.

»Sag ich doch die ganze Zeit! In Bremen können wir uns zwar keine idiotischen Nacktskenner leisten, aber dafür rudelweise andere Idioten …«

2 Nun ist es so, dass ich mir bei Flugreisen um alles Sorgen mache, was uns zum Absturz bringen kann: Vogelschlag, Benzinmangel, besoffene Piloten, Turbulenzen, Triebwerkschaden … und seit dem 11. September 2001 … um Terroristen! Früher hatte ich nur die bösen Wolken und die hinterhältigen Triebwerke im Auge, jetzt die bösen und hinterhältigen Terroristen. Ich muss zugeben, für mich sind aus Prinzip alle Schwarzhaarigen erst mal Terroristen  – mindestens so lange, bis wir wieder landen. (Das ist eine der Negativfolgen der zu guten Integration!) Schon im Aufenthaltsraum beobachte ich mit meinen Radaraugen die Passagiere und filtere alle südländisch aussehenden heraus. Und fange sofort gemeinsam mit allen anderen deutschen Passagieren an zu beten, dass diese Terroristen nicht in unser Flugzeug einsteigen und falls doch: es nicht in die Luft jagen!

Was aber in seltensten Fällen geholfen hat. Durch Beten habe ich bisher ganz wenige Menschen in andere Flugzeuge dirigieren können.

Danach im Flugzeug lasse ich die Verdächtigen keine einzige Sekunde mehr aus den Augen!

Wenn sie aufs Klo gehen, stehe ich davor sofort Wache! Und bei der erstbesten Gelegenheit setze ich mich zu ihnen – nicht aufs Klo natürlich, sondern an ihrem Platz. So habe ich einen besseren Überblick, wann und wie sie unser Flugzeug entführen wollen, und kann effektiver dagegen vorgehen.

Nach ein paar Minuten werden wir aber jedes Mal dicke Freunde. Dann erzählen mir meine terroristischen Freunde mit Tränen in den Augen, dass sie ihr kleines Heimatdorf sehr vermissen, aber nach 29 Jahren in Deutschland nicht mehr zurückkehren können, weil die ganzen Enkelkinder hier zur Schule gehen oder längst verheiratet sind. Ich lasse aber trotzdem nicht locker und frage mindestens dreimal ganz schön hartnäckig nach, ob sie das Flugzeug unter Umständen vielleicht doch in die Luft jagen wollen. Die schwören, dass sie das nicht vorhaben, und bei heftigen Turbulenzen halten sie liebevoll und fürsorglich meine stark schwitzende Hand.

Nach der Landung tauschen wir dann Adressen aus und versprechen uns, den anderen auf jeden Fall zu besuchen.

In all den Jahren bin ich nur ein einziges Mal einem echten Terroristen begegnet und hab zum Glück trotzdem überlebt. Er antwortete auf meine Frage, ob er denn gedenke, das Flugzeug in die Luft zu jagen, mit finsterer Miene:

»Schaun mer mal!« Genau wie Franz Beckenbauer.

Aber ehrlich gesagt, von bio-deutschen Terroristen werde ich im Urlaub ungleich mehr schikaniert! Zum Beispiel von meinem Arbeitskollegen Hans, dem Staplerfahrer von Halle 4. Der macht sich andauernd über mich lustig, dass ich ja mein Leben lang wie ein Pawlow’scher Hund immer nur in Richtung Türkei fahren würde.

»Osman, gibt’s da etwa was umsonst?«, lachte er mich vorgestern wie jedes Jahr um die gleiche Zeit aus.

»Genau! In der Türkei gibt es für mich bei meinen Verwandten freie Unterkunft und Verpflegung!«, bestätigte ich.

»Osman, du wirst sterben, ohne was von der Welt gesehen zu haben! Fahr doch mal nach Rom, nach Paris, nach London, nach New York oder nach Japan«, tat er fachmännisch, als würde er mit seinem Gabelstapler jedes Jahr eine Weltreise starten.

»Hans, du fährst ja Jahr für Jahr auch nur nach Mallorca oder nach Delmenhorst zu deinen Eltern.«

Doch dann hatte ich eine tolle Idee und rief:

»Aber danke für den tollen Tipp, mein Freund. Ich werde in diesem Sommer doch eine Weltreise machen. Wir fangen in London an, dann Paris, Madrid, Barcelona, Rom, und wenn wir noch ein paar Tage Zeit haben, dann nach Japan oder Amerika. Kommt drauf an, wo in der Woche vorher weniger Atomkraftwerke explodiert sind.«

Aber anstatt über meine Weltreise voller Bewunderung große Augen zu machen, meinte der Hundesohn locker und listig wie immer:

»Osman, bring mir doch bitte von überall ein kleines Andenken mit!«

»Was für ein Andenken denn? Denkst du, bei so einer anstrengenden Reise werde ich Zeit haben, an dein Andenken zu denken?«

»Nur eine Kleinigkeit eben!«

»Ja gut, wenn du unbedingt willst, bekommst du«, rief ich gönnerhaft und wusste schon in dem Moment, dass uns nach dem Urlaub eine Tasche am Flughafen geklaut wird. Und wie der Zufall so will, gerade die mit den 20 Kleinigkeiten aus allen Hauptstädten der Welt, die ich ganz speziell für Hans gekauft hatte …

»Die Bordkarten bitte!«, reißt mich die uniformierte Dame aus meinen tiefschürfenden Gedanken.

»Bordkarten? Wofür?«, stammele ich verwirrt.

»Weil wir jetzt in ein Flugzeug einsteigen, Osman! Du hattest doch die Bordkarten«, wird meine Frau sofort hysterisch.

»Meinst du? Hier habe ich eine deutsche Zeitung, hier eine türkische Zeitung, hier ist die große Packung Tabletten, die du mir wegen meiner Flugangst gekauft hast …«

»Und Bordkarten?«

»Wie sehen die denn aus?«

Meine Frau macht auf der Stelle wütend kehrt und geht die Karten suchen.

»Können wir denn nicht ohne Bordkarte fliegen?«, frage ich die Dame in Uniform.

»Nein, Sie dürfen ja ohne Führerschein auch kein Auto fahren«, zischt sie vorwurfsvoll.

»Ich will das Flugzeug doch nicht fahren, geschweige denn fliegen«, sage ich leicht ironisch.

»Das mit dem Führerschein war kein guter Vergleich«, wird sie auch noch von ihrer Kollegin getadelt.

»So schlecht war der Vergleich auch wieder nicht«, stehe ich ihr bei, damit sie mich doch ins Flugzeug lässt, »obwohl ›ohne Ticket ins Kino‹ wäre wohl etwas passender gewesen«, füge ich hinzu.

»Woher soll ich denn wissen, dass Sie kein Terrorist sind«, kommt ganz schön gereizt als Antwort.

»Sehe ich etwa wie ein Terrorist aus?«

»Ja, genau so sehen Sie aus! Ich habe doch tagtäglich mit denen zu tun!«

Kurz bevor sie mich festnehmen lässt, kommt zum Glück meine Frau mit den Bordkarten in der Hand eilig zurück.

»Im Zeitungsladen hat mein Mann sie liegen lassen«, verkündet sie genervt, »irgendwann wird er sich noch selber irgendwo vergessen!«

Weil ich ein Mensch bin, der in jeder noch so misslichen Situation grundsätzlich das Positive sehen will (außer es geht um schreckliche Krankheiten), freue ich mich darauf, dass dieser Vorfall sich beim Hinflug ereignet hat und nicht beim Rückflug, wo mein Onkel Ömer dabei sein wird. Das strahlende Bild seines allseits beliebten Neffen, der von allen Deutschen geradezu angehimmelt wird, würde wohl klitzekleine, unschöne Kratzer bekommen.

Seit Jahren schwindle – ich meine – schwärme ich ihm vor, wie lieb mich doch die Deutschen haben. Ja, dass ich sogar wie alle türkischen Arbeiter in Deutschland regelrecht verehrt werde wie ein Popstar.

»Osman, wegen deiner bescheuerten Flugangst hetzt du wie ein kopfloses Huhn durch die Gänge. Entspann dich doch ein bisschen«, versucht meine Frau mich zu beruhigen.

»Ich glaube, ich muss noch ein paar Valium-Tabletten einwerfen«, stimme ich ihr zu.

»Schau, was ich gerade für dich gekauft habe, damit du etwas zum Lachen hast«, kichert sie und reicht mir ein dickes Buch mit dem Titel ›Sorry, wir haben die Landebahn verfehlt‹. »Das sind lustige Geschichten übers Fliegen!«

»Wieso hast du mir nicht ein Buch über die lustigsten Flugzeugabstürze der letzten 2000 Jahre gekauft?«, frage ich leicht angefressen.

»Oh, mein Gott, das ist aber witzig«, lacht sie kurze Zeit später, während ich mit zitternden Händen vergeblich versuche mich anzuschnallen. »Osman, hör dir das mal an: Vor dem Abflug sagte die Stjuardess: ›Da wir heute über Wasser fliegen, müsste ich Ihnen normalerweise noch Hinweise zur Wasserlandung geben. Laut Statistik beträgt die Chance, eine solche Landung zu überleben, weniger als ein Prozent. Daher spare ich mir heute die Gymnastik.‹ Hahaha …«

»Wirklich sehr witzig, die Frau verschwendet als Stjuardess ihr Talent, sie sollte auftreten, am besten da, wo ich sie nie sehen kann!«, knurre ich.

Aber was kurz darauf unsere Stjuardess über die Lautsprecher sagt, verschlägt sogar meiner tapferen Frau die Sprache:

»Meine Damen und Herren, unser Abflug wird sich etwas verspäten. Wir erwarten neue Piloten. Unser Kapitän hat unerwartet starke Magenprobleme bekommen, und der Kopilot hat gestern auch etwas zu lange gefeiert!«

»Eminanim, ich wette, so was Witziges gibt es nicht mal in deinem Buch«, stottere ich mit flatterndem Herzen.

Aber mir ist es trotzdem viel lieber, dass die Piloten sich vor dem Flug besaufen und nicht währenddessen …

Wie gesagt, ich versuche immer das Positive zu sehen … auf der Rollbahn können wir ja noch nicht so tief abstürzen.

3 Wir stürzen auch während des Fluges nicht ab und kommen heil bei meinem Onkel Ömer im Dorf an.

Am nächsten Tag fährt meine Frau Eminanim mit meiner Tante Ülkü und meiner Tochter Zeynep in die Kreisstadt, um ein ›so hübsches Brautkleid, wie es Deutschland noch nie gesehen hat‹ zu kaufen, wie Zeynep schwärmt.

Denn meine Tochter will schon bald ihren Verlobten Luigi heiraten.

Ich bleibe mit meinem Onkel Ömer zusammen im Dorf und spiele Bäckgämmen. Ich habe von so was überhaupt keine Ahnung. Vom Brautkleid, meine ich. Ich weiß gerade noch, dass so ein Kleid weiß sein muss!

»Und das stimmt nicht mal«, sagt meine Frau spöttisch, »in manchen Fällen darf das Brautkleid durchaus auch eine andere Farbe haben. Wenn die Braut nicht mehr ganz so frisch ist und bereits zum zehnten Mal heiratet zum Beispiel.«

»Von Bäckgämmen hast du doch genauso wenig Ahnung«, lacht mein Onkel, obwohl ich ihn fünfmal hintereinander geschlagen habe.

»Ich habe dich nur gewinnen lassen, weil du Gast in unserem Dorf bist. Dafür werde ich dich in Deutschland fertigmachen«, ruft er weiter, und alle seine zahnlosen Freunde in dem einzigen Dorf-Café schütteln sich vor Lachen und verschütten dabei ihren Mokka auf ihre dicken Bäuche. Jetzt weiß ich, warum deren Hemden noch verdreckter sind als die Tischdecken hier im Männer-Café.

Außerdem freuen sie sich wie kleine Kinder, dass unser Dorf bald einen italienischen Schwiegersohn bekommt. Die anstehende Hochzeit Zeyneps mit Luigi hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Alle sind so aus dem Häuschen, als hätte ihre Lieblingsmannschaft Galatasaray für Hunderte von Millionen den Torjäger der italienischen Nationalmannschaft gekauft. Erschwerend kommt hinzu, dass kein Mensch hier jemals einen leibhaftigen Italiener gesehen hat, besser gesagt, einen leibhaftigen Ausländer!

Keiner der Rucksacktouristen, die zu Tausenden ständig durch ganz Anatolien traben, hat sich jemals in unser Dorf verirrt. Ich bin sozusagen der einzige Deutsche, den sie kennen. Außer Franz Beckenbauer, Adolf Hitler und Mesut Özil vielleicht. Aber richtige Bio-Deutsche sind die ja alle nicht. Beckenbauer ist Bayer, Hitler Österreicher und Özil Türke.

Ich habe allen hoch und heilig versprochen, im nächsten Sommer unseren Schwiegersohn, den grandiosen italienischen Superstürmer Luigi, unbedingt mitzubringen. Er wurde in Abwesenheit fast einstimmig zum Spielführer unserer Dorf-Fußballmannschaft gewählt. Nur unser linker Verteidiger, der Schienbeinbrecher Kemal, wehrt sich noch dagegen, die Kapitänsbinde abzugeben.

»Dabei weiß mein Luigi gerade mal, dass der Ball rund ist, wenn überhaupt, Gott sei Dank«, lacht Zeynep und ist überaus glücklich darüber, dass ihr zukünftiger Mann vom Fußball keine Ahnung hat. …

»Das reicht doch«, sage ich. »Allein diese Weisheit zu kennen, die der kluge Sepp Herberger vor 70 Jahren verkündet hat, macht meinen Schwiegersohn schon zu einem großen Fußballexperten! Die anderen fußballverrückten Männer wissen auch nicht viel mehr, außer dass der Ball rund sein soll!«

Nach langem Zögern erklärt sich unser linker Verteidiger ›Schienbeinbrecher Kemal‹ zur Zufriedenheit aller doch noch bereit, die Kapitänsbinde unverzüglich an meinen italienischen Schwiegersohn abzutreten, falls er im nächsten Sommer seine Fußballstiefel für unsere Dorf-Mannschaft schnüren sollte. Ich befürchte aber, dass er außer seinen gelben Gummistiefeln zum Angeln nichts in der Richtung hat.

Die ganzen Besucher des Dorf-Cafés klopfen dem Schienbeinbrecher Kemal für diese große Opferbereitschaft auf die Schultern, in dem Moment klingelt mein Händy:

»Na, Osman, ich bin so was von gespannt, wo seid ihr denn jetzt?«, fragt mein Kumpel Hans listig, als hätte er meinen Trick bereits durchschaut.

»Hans, du hast uns in London erwischt, gerade habe ich den Beckhäm mit seiner Frau Speisgörl gesehen«, rufe ich geistesgegenwärtig und schnappe mir den Sohn von Bilal, der als Einziger in unserem Dorf Englisch kann.

»Junge, labere ihn mit so viel Englisch voll, wie du kannst. Dafür kriegst du von mir eine Cola«, flüstere ich ihm zu.

Als ich ihm nach einer Viertelstunde mein Händy aus der Hand reiße, hat Hans bereits aufgelegt …

4 Eine Woche später fahre ich mit meiner Frau ans Ägäische Meer in ein Ollinklusiv-Hotel, um in der prallen Sonne unsere Bäuche von innen vollzuschlagen und von außen knackig braun zu grillen.

»Also für meinen Geschmack sind in diesem Jahr eindeutig zu viele Türken in der Türkei«, ruft meine Frau ziemlich genervt, während sie sich eincremt.

»Wie bitte? Du meinst wirklich, dass es in der Türkei zu viele Türken gibt?«, frage ich ganz schön überrascht und denke, dass sie mit dieser Bemerkung wohl die wichtigsten Voraussetzungen für einen deutschen Pass erfüllt hat.

»Ja, diese Menschenmassen am Strand machen mich wahnsinnig! Wie soll man sich denn so erholen können?«, meckert sie völlig verschwitzt mit hochrotem Kopf.

»Eminanim, du hast recht, hier sind ja viel mehr Türken als in Deutschland.«

»Ich mache nie wieder Urlaub hier!«

»Aber ich warne dich, bevor du womöglich aus purer Verzweiflung deinen Urlaub in Griechenland verbringen willst: In Griechenland soll es angeblich viele Griechen geben! Obwohl die Hälfte von denen nach der Pleite des Staates ausgewandert ist.«

»Osman, mach du dich nur lustig über mich. Siehst du nicht selber, wie voll dieser Strand plötzlich ist? Früher hatten wir diese Bucht ganz für uns alleine. Jetzt liegen wir hier wie die Ölsardinen. Ich kann mich auf meinem Badetuch nicht mal umdrehen, obwohl ich am Bauch bereits Verbrennungen dritten Grades habe!«

»Mir geht’s doch genauso. Seit zwei Stunden traue ich mich auch nicht, mich umzudrehen, weil ich befürchte, den alten Opa neben mir plattzumachen.«

Wir hatten uns vor 12 Jahren diesen winzigen Strand in Akçay ausgesucht, weil wir wenigstens im Urlaub keine Deutschen, keine Russen, keine Türken, besser gesagt, überhaupt keine Menschen mehr sehen wollten. Die ganzen Jahre war es herrlich – nur ein paar sturzbesoffene, knallrote Engländer und wir!

»Und noch dazu tragen hier alle Männer so eine hässliche Wampe spazieren wie du«, motzt sie weiter. Wenn meine Frau erst mal in Fahrt kommt, ist sie schwer zu stoppen.

»Eminanim, ein Mann ohne einen anständigen Bauch ist doch wie ein Haus ohne Balkon. Und wer will schon bei der Hitze ein Haus ohne Balkon haben?«

»Du hast wohl einen Sonnenstich! Wenn ich die ganzen schwitzenden Kerle mit ihren dicken Bäuchen hier unbedingt mit irgendwas vergleichen müsste, dann käme ich wohl als Allerletztes auf ein Haus mit Balkon.«

»Worauf kämst du als Erstes?«

»Auf Hängebauchschweine!«

Bei Allah, so unrecht hat Eminanim leider nicht!

Seit einigen Minuten habe ich auch diesen schrecklichen Verdacht mit dem Sonnenstich. Habe aber tapfer die Zähne zusammengebissen und wollte es verdrängen.

Bevor wir in die Türkei fuhren, hatte ich mich logischerweise über diese heimtückische Urlaubskrankheit Ictus solis und noch ein paar Dutzend andere landestypische Krankheiten ausführlich informiert und mehrere Tuben Creme mit Lichtschutzfaktor 50 gekauft.

Der Volksmund nennt diese gemeingefährliche, extrem tödliche Krankheit salopp: Sonnenstich!

Schuld daran sind nur die sich harmlos anhörenden Anzeichen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindelgefühle usw.

Aber das sind nur die Vorboten! Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine oder mehrere der von der höllischen Hitze aufgequollenen Adern im Gehirn qualvoll platzen und das ganze aufgestaute Blut danach aus mir herausströmt.

Mein Herz rast – mir ist so was von schwindelig! Ich glaube, jetzt ist es so weit! Ich sehe meinen kostbaren Lebenssaft an meinem Gesicht förmlich herunterfließen!

»Osman, bei dir fließt der Schweiß ja in Strömen, geh duschen«, ruft meine Frau gefühllos.

»Duschen hilft nichts, das ist doch nicht die Krätze! Leb wohl«, röchele ich.

»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dieses billige rote Käppy nicht kaufen. Die Farbe läuft bereits aus und du siehst wie ein außerirdisches Älien aus!«

Zum Glück lenkt ein Anruf von Hans mich ab und ich komme auf andere Gedanken.

»Osman, wo bist du denn jetzt?«

»Auf dem roten Handtuch! Ich meine, auf dem Roten Platz! Wir sind gerade in Moskau angekommen.«

»In Moskau? In Russland?«, fragt er verdattert.

»Ja, wo denn sonst? Kennst du noch andere rote Plätze, von denen ich nichts weiß? Willst du vielleicht paar Takte auf Russisch hören?«, rufe ich und hopse zu den beiden russischen Touristen rüber, die sich gerade eifrig gegenseitig eincremen.

»Du sprechen Russisch? Wladimir Putin, Wladiwostok, Nasdrowje.«

Der ahnungslose Tourist quatscht Hans 5 Minuten mit seinem Maschinengewehr-Russisch voll, ehe er merkt, dass der überhaupt nicht seine Sprache spricht.

»Na, Hans, jetzt hast du wohl sicher auch Fernweh bekommen, nicht wahr?«

Er ist nicht mal mehr in der Lage, auf Deutsch zu antworten.

Aber ein Hans gibt natürlich nicht auf. Er wird es ganz bestimmt bald noch mal versuchen!

5 Am nächsten Tag kommen wir mit einem Sonnenschirm bewaffnet zum Strand zurück.

Wir hätten aber lieber mit einer kleinen Neutronenbombe kommen sollen: Es gibt nämlich keinen Zentimeter freien Strand, um das Ding aufzustellen!

Nur neben der Dusche ganz hinten bei den Klos finde ich noch eine freie Stelle. Aber dort muss ich mir ständig die Nase zuhalten und werde alle paar Sekunden nass gespritzt.

»Osman, schau nicht die ganze Zeit aufs Wasser!«, knurrt meine Frau.

»Eminanim, herzlichen Glückwunsch, heute übertriffst du dich selbst. Ich bin gerade mal zwei Meter vom Wasser entfernt, aber darf mir das schöne Meer nicht anschauen! Auf so eine gemeine Folter sind sicherlich nicht mal die brutalsten Diktatoren gekommen! Klasse! Hieß dein Vater Idi Amin, Adolf oder Mugabe?«

»Du sollst nicht ständig die ganzen nackten Weiber anstarren, du Gaffer! Ist ja wirklich peinlich mit dir!«

»Dir dürfte doch wohl nicht entgangen sein, dass wir hier ganz schön zusammengepfercht sind. Ich bin doch gezwungen, das Meer vor mir anzustarren. Und diese 17 Damen hüpfen nun mal da rum. Kann ich was dafür? Wenn ich die nicht sehen soll, dann versteck sie doch im Wasser.«

»Siehst du? Du weißt sogar deren genaue Anzahl. Weißt du mittlerweile auch, welche Körbchengröße diese 17 Frauen jeweils haben?«

»Kann ich nicht genau sagen. Seitdem es diese Mogelpackung namens Pusch-ab gibt, liege ich mit meinen Vermutungen oft daneben! Auuuaaa, warum trittst du mir denn in die Weichteile?«

»Das war ich doch gar nicht, das war der Mais-Verkäufer Rıdvan, der über deinen dicken Bauch springen musste.«

»Es ist echt gefährlich hier. Vor ein paar Minuten hat mir dieser Börek-Verkäufer Yunus mein linkes Knie zertrümmert und jetzt tritt mich der Mais-Verkäufer Rıdvan in die Kronjuwelen! Ich befürchte, du wirst nie wieder Mutter!«

»Ist ja auch ganz schön schwierig mit so viel Gepäck über deinen Bauch zu kommen.«

Um weder von meiner Frau noch von den rücksichtslosen Verkäufern weiterhin traktiert zu werden, hüpfe ich schnell ins Wasser …

Es ist lauwarm!

Um mich in etwas tieferem Wasser ein klein bisschen zu erfrischen, springe ich als Letzter wie ein Kauboy auf den Rücken einer großen Plastikbanane. Diese Fahrt dauert in der Regel nicht lange und der Abschleppdienst lässt die Passagiere nach ein paar Minuten erbarmungslos ins Meer plumpsen. Die nächsten Bekloppten stehen nämlich bereits Schlange, um sich für viel Geld ins Wasser schmeißen zu lassen, obwohl sie vom Steg aus umsonst reinspringen dürfen.

Aber drei mutige und tapfere türkische Kauboys werden eine wilde zickige Banane ja schon zähmen können! Ich jedenfalls werde der Banane zeigen, was eine Harke ist. Mich wird sie nicht so leicht abschütteln können – ich habe genug John-Wayne-Filme gesehen. Zugegeben, er ritt nie auf Plastikbananen und sein Gaul war auch nie quietschgelb, sondern immer pechschwarz. Und er trug riesige schicke Pistolen um die Hüften und keine albernen Rettungsringe mit Micky-Maus-Bildern wie wir. Aber abgesehen davon sind kaum Unterschiede zwischen John Wayne und mir auszumachen.

Meine beiden Mitreiter haben in so einem bewegenden Moment nichts anderes zu tun, als über dämliche Politik zu quatschen. Und zwar über die langweiligen Wahlen in Deutschland!

»Mann, sind die Wahlergebnisse in Alamanya diesmal ein Hammer«, ruft der Kauboy Nummer 1.

»Klar, Alta, Megahammer«, brüllt der Kauboy Nummer 2 zurück.

»Das Einzige, was an den Wahlen in Deutschland wirklich ein Hammer ist: dass eine Sekunde nach Schließung der Wahllokale schon die Ergebnisse feststehen«, mische ich mich ein, damit sie mit dem Schwachsinn aufhören und sich auf unseren Ritt konzentrieren. »Ich weiß nicht, wie die das schaffen? Ob das Ergebnis vielleicht vor der Wahl feststeht wie früher in der DDR? Aber sonst ist die ganze Veranstaltung so spannend wie eine tote Mücke, die an der Hotelwand klebt …«

Aber die tote Mücke kriegt Nummer 2 nicht mehr mit, weil er schon brutal aufs Wasser geklatscht ist. Vor etwa zehn Sekunden hatte sich unsere Banane in Bewegung gesetzt und schon küsst er eine leere, weggeworfene Zigarettenschachtel im Meer. Das Letzte, was er von sich geben konnte, bevor er in hohem Bogen ins Wasser flog, war:

»Alta, wenn du wüsstest, wie die Nazis ab…«

Was wollte er mir denn mit Nazis sagen?

»Alta, wenn du wüsstest, wie die Nazis ab… serviert worden sind?«

»… ab… solut chancenlos waren?«

»… ab… in die Wüste geschickt wurden?«

»… ab… sackten?«

Und schon landet auch der andere Möchtegern-Kauboy ziemlich unsanft im Wasser. Unser geldgieriger Abschleppdienst gibt sich alle Mühe und denkt sich sehr gemeine Tricks aus, um uns von seiner Plastikbanane wie lästige Parasiten abzuschütteln, damit er sich neue Deutschlinge aufladen kann. Denen sitzen die Euros nämlich viel lockerer in der winzigen Badehosentasche als den Einheimischen die türkischen Liras. Viele können sich nicht mal eine richtige Badehose leisten und springen mit schlabberigen Baumwollunterhosen ins Wasser.

Aber ich wehre mich sehr tapfer gegen meinen drohenden Untergang und versuche, ihm das Geschäft so lange wie möglich zu vermiesen. Dabei kommt mir mein dicker Bauch sehr zu Hilfe, weil er die Banane nahezu manövrierunfähig macht.

In diesem Moment sehe ich, wie die beiden Muttersöhnchen, die sich nur wenige Sekunden halten konnten, schon wieder auf eine andere Banane klettern.

Sobald ich in deren Nähe bin, lasse ich mich gekonnt abwerfen und steige sofort bei den beiden auf, um den Satz mit den Nazis zu Ende zu hören.

Aber bevor ich sie befragen kann, hat der Erste nach sieben Sekunden einen erneuten Bananenwechsel hinter sich. Von unserer Plastikbanane hebt er hochkant ab und klatscht mit dem Gesicht zielsicher auf eine vergammelte Bananenschale im Wasser.

Damit meine zweite Fahrt kein rausgeschmissenes Geld ist, brülle ich zu seinem Kumpel:

»Junge, was wolltet ihr denn eben damit sagen, ›Alta, wenn du wüsstest, wie die Nazis ab…‹?«

»Alta, lebst du auf dem Mond, oder was? Die ganze Welt redet doch seit zwei Tagen nur noch darüber, wie die Nazis abge…«

Paaaatschh!! Na toll!!!

Und schon vollzieht auch er den fliegenden Bananenwechsel. Wobei er mehr Geschmack beweist und sich als Landeplatz anstatt einer vergammelten Bananenschale lieber eine relativ hübsche Frau ausgesucht hat – und von der sofort eine gescheuert kriegt.

Er hat Glück im Unglück und kann froh sein, dass ihre 7 Brüder wohl gerade selber damit beschäftigt sind, andere Frauen zu belästigen.

Dieser Idiot hat doch tatsächlich nur eine einzige Silbe mehr rausbekommen als sein Kumpel. Meine ganze Investition hat sich ja überhaupt nicht gelohnt für zwei mickrige Buchstaben!

Was wollte er denn sagen?

»… wie die Nazis abge… straft worden sind?«

»… abge… stürzt sind?«

»… abge… kackt haben?«

Ich hoffe, alles auf einmal!

6 Ich torkele wie ein Hürdenläufer zu meinem winzigen Handtuchplatz zurück, um mich zu den anderen schwitzenden Ölsardinen zu legen, und sehe schon von Weitem, dass mein Handtuch leider schon besetzt ist. Hier bekommt der Satz ›Schwimmen auf eigene Gefahr‹ eine ganz neue Bedeutung.

Aber was ist denn das?

Obwohl es an diesem Strand nicht mal für die lebendigen Zweibeiner ein bisschen Platz zum Sonnen gibt, haben sie für eine alberne, komische Statue mit dickem Hintern schon einen Platz gefunden – meinen nämlich!

Eine dämliche Kunstfigur in gebückter Haltung, die Hände verkrampft nach oben gerichtet, was wohl demonstrativ signalisieren soll: ›Hallo, ich springe gleich ins Wasser!‹  – um auch dem letzten Dorftrottel klarzumachen, dass er sich hier an einem Badestrand befindet.

Wie einfallsreich!

Als würden das viele schmutzige Wasser, die schwitzenden Sardinen, die kreischenden Blagen, die halb nackten Weiber, die sabbernden Kerle und die brutalen Börek-Verkäufer nicht genügend Hinweise liefern.

Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Frauenstatue mit dem dicken Hintern leider als meine Frau Eminanim!

»Osman, die Bandscheibe … es ist wieder meine Bandscheibe … so hilf mir doch«, stöhnt sie.

Zusammen mit dem Börek-Verkäufer Yunus schleppe ich sie in unser Hotelzimmer.

Zum Dank muss ich ihm zwei mit Käse gefüllte Teigtaschen abkaufen.

Als er wieder draußen ist, werfe ich das Zeug umgehend in den Mülleimer. Ich finde seine Böreks nämlich ein bisschen zu … zu salzig. Er klemmt das Papier, womit er die Böreks einpackt, immer unter seine Achseln, weil er beide Hände braucht, um die schwere Börekkiste durch die Gegend zu bugsieren.

Unter die Achseln!

Bei der Hitze!

Auf diese Art bekommen seine Teigtaschen mit Käsefüllung eine extra Portion Salz und schmecken besonders würzig. Aber wegen meines hohen Blutdrucks darf ich halt nicht so salzig essen und wegen des Zuckers nichts mit weißem Mehl.

Der Hotelarzt, den ich eilig herbeirufe, sagt nach längerer Untersuchung mit bedeutungsschwerer Stimme:

»Ich glaube, es ist die Bandscheibe!«

»Was Sie nicht sagen! Ich hatte schon befürchtet, es wäre der Blinddarm«, sage ich leicht genervt.

»Nein, nein, der hat andere Symptome! Es ist die Bandscheibe! Da kenne ich mich aus.«

Toll, was Hotelärzte heutzutage so alles wissen!

Er schmeißt die bequeme Matratze auf den Boden und rollt die völlig überrumpelte Eminanim auf den nackten Lattenrost.

»Gnädige Frau, Sie müssen hier blieben und auf hartem Untergrund liegen, das hilft am besten gegen Rückenschmerzen«, sagt er.

»Eminanim, sieh es doch positiv. Es ist ein bisschen hart, aber hier hast du wenigstens einen richtigen Platz zum Liegen und es springen dir nicht ständig irgendwelche Halbstarken auf dem Bauch rum«, tröste ich sie wegen der etwas ungemütlichen Unterlage.

»Was ist das denn für ein Urlaub, wenn ich wie ein indischer Fakir auf gammligen Holzbrettern mit rostigen Nägeln schlafen muss? Morgen reisen wir ab!«, jammert sie. »Außerdem habe ich riesengroßen Hunger.«

»Mein Engel, ich habe schon, vorsorglich wie ich bin, zwei leckere Böreks mit Käsefüllung für dich gekauft. Die sind schön würzig. Warte, ich hol sie dir.«

Wie sagt man so schön: Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß, aber satt!

Nachdem meine Frau die leckeren Böreks gierig runtergeschlungen und sich auf dem harten Boden schlafen gelegt hat, schleiche ich mich raus und gehe auch zum Arzt. Aber natürlich nicht zu diesem Hotelarzt, der nicht mal zum Kellner taugt, sondern zu einem richtigen Doktor mit Schild an der Tür!

Mein Zustand macht mir immer noch große Sorgen. Gut, ich habe womöglich zum Teil auch wegen der Hitze übermäßig geschwitzt, aber mir war gleichzeitig unglaublich schwindelig und am helllichten Tag schwarz vor Augen! Da wir keine Sonnenfinsternis hatten, stimmt mit mir offensichtlich etwas nicht …

»Fassen Sie doch mal an die Nase«, befiehlt mir der Neurologe, den ich nach langem Suchen ausfindig gemacht und aus einem Strandcafé herausgezerrt habe. Seine Frau hat mir netterweise am Telefon verraten, wo man ihn findet, wenn es zu heiß ist und er keine Lust zum Arbeiten hat.

»Mensch, doch nicht meine Nase!«, braust er auf. »Sie müssen Ihre eigene Nase anfassen!«

»Warum soll ich denn meine eigene Nase anfassen?«, frage ich verdutzt.

»Ich will nur mal sehen, ob Sie mit dem Finger Ihre Nasenspitze finden!«

»Bei Allah, warum sollte ich denn meine Nase nicht finden können? Schließlich lebe ich seit 50 Jahren Tag und Nacht mit ihr!«

»Nun machen Sie es doch endlich!«

»Lassen Sie bitte diese Spielchen, ich bin nicht besoffen! Ich komme mit einem sehr großen Verdacht auf Schlaganfall zu Ihnen!«

»Schlaganfall? Dass ich nicht lache! Mit einem Schlaganfall könnten Sie nicht vor mir rumstehen und albernes Zeug reden!«

»Wie redet man denn, wenn man einen Schlaganfall hatte?«

»In der Regel gar nicht. Und das sehr, sehr lange! Sie hatten keinen Schlaganfall!«

»Wie können Sie denn ohne eine ordentliche Computertomografie so sicher sein? In Deutschland stecken mich die pflichtbewussten Ärzte in so einem Fall jedes Mal sofort in so ein Ding und machen die notwendigen Aufnahmen!«

»Wirklich? Sie pflanzen sich also kerzengerade vor einen Arzt und geben irgendwelche Hirngespinste von sich und die machen daraufhin tatsächlich eine Computertomografie von Ihnen? Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was so eine aufwendige Untersuchung kostet?«

»Eine Computertomografie ist mit Sicherheit präziser und aussagekräftiger, als die eigene Nase anzufassen!«

»Ich kann auch so sehen, dass Sie gar nichts haben! Das Einzige, was Sie haben, ist zu viel Fantasie und zu viel Zeit!«

»Sie können das also einfach so ohne Geräte feststellen? Manche Ärzte übersehen sogar ihren Kittel im Bauch des Patienten und nähen ihn da mit ein!«

»Bitte bezahlen Sie jetzt erst mal 100 Lira Behandlungsgebühr und gehen Sie in Ihr Hotel oder wohin Sie auch wollen! Aber nerven Sie mich bitte nicht mehr! Und für so einen Schwachsinn musste ich mein Bäckgämmen-Spiel unterbrechen, wodurch ich einen Batzen Geld verloren habe.«

»100 Lira?? Wofür denn? Für einmal Nase putzen? Soll ich etwa Ihre Spielschulden bezahlen?«

»Nein, Sie sollen nur für diese Untersuchung bezahlen!«

»Wissen Sie, wie man Leute wie Sie nennt?«

»Wissen Sie, wie man Leute wie Sie nennt?«

»Ich hab zwar vorher gefragt, aber Sie dürfen trotzdem zuerst sagen, wie man Leute wie mich nennt!«

»Ein lupenreiner Hypochonder sind Sie! Dazu ein nerviger Geizkragen – so wie alle Deutschlinge!«

»Und Sie sind bestenfalls ein erbärmlicher Tierarzt!«

»Passt doch!«

7 Gegen Abend kann sich Eminanim etwas aufrichten, hat aber immer noch große Rückenschmerzen.

Meine Frau hakt sich bei mir ein und wir laufen entlang der romantischen Strandpromenade in Richtung Restaurant. Weniger Romantik und mehr Restaurants wären mir viel lieber gewesen. Mit leerem Bauch habe ich überhaupt keinen Sinn für so was.

Genauso wie dieses junge deutsche Touristenpaar, das uns direkt entgegenkommt.

Beide schleppen riesige Rucksäcke durch die Gegend, offenbar haben sie vor der Reise ihre Wohnung gekündigt und alles mitgenommen.

Der blonde Mann, der ganz schön fertig aussieht, sagt zu seiner Partnerin:

»Das reicht mir jetzt! Ich werde die beiden Eingeborenen dort fragen.«

»Eminanim, ich bin sehr gespannt, was wir als Eingeborene gleich gefragt werden! Ob wir in Anatolien das Feuer und das Rad schon erfunden haben vielleicht?«

Dann setzt der Rucksacktourist einen höchst sympathischen Gesichtsausdruck, oder was er dafür hält, auf, hebt beide Hände hoch, was wohl ein ›Dach über dem Kopf‹ bedeuten soll und ruft auf Türkisch – oder was er dafür hält:

Akşam iyi, Arkadaş, sen ucuz Hotel?«, was man simultan als ›Abend gut, Freund, du billig Hotel?‹ übersetzen kann.

Höflich, wie ich bin, antworte ich in meinem besten Tarzan-Türkisch:

»Abend gut, Freund, ich nix billig Hotel.«