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© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2013

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Cover und Bilder von Regina Kehn

E-Book-Umsetzung: 2013

ISBN 978-3-86274-110-6

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Ich kenne einen Jungen in Afrika

Ich kenne einen Jungen in Afrika.

In den Hügeln von Shiselweni lebt er, nicht weit hinter Hlatikulu, wo am Morgen die Sonne rot über die Gipfel steigt und die Ferne in einen blauen Dunst taucht; und wo es schöner ist als irgendwo sonst auf der Welt, das weiß Thulani genau. Thulani heißt der Junge, und wenn man von der Hochebene, auf der die Hirten mit lauten Gesängen ihre Ziegen treiben, abwärtssteigt über den schmalen Trampelpfad und am Bach entlang, in dem auch in der Trockenzeit fast immer noch ein Rinnsal bleibt, und dann über die Trittsteine auf die andere Seite, dann kommt man schließlich zu seiner Hütte.

Elf Jahre alt ist Thulani, und das ist ein gutes Alter für einen Jungen: Da wird er jeden Tag ein bisschen größer und jeden Tag ein bisschen stärker, und stark muss Thulani sein, auch wenn das längst nicht alles ist, was er sein muss.

In der Hütte lebt er mit seiner Gugu, die so alt ist, dass sie den Tag ihrer Geburt nicht weiß und nicht das Jahr; und auch nicht das, in dem sie Thulanis Mutter geboren hat, die jetzt in dem schmalen Grab hinter der Hütte liegt, auf der anderen Seite des Pfads. Das Grab hat Thulani mit Steinen bedeckt, großen, schweren Steinen, damit es schön aussieht für die Menschen, die zur Hütte kommen, und den Tieren den Zugang verwehrt. Es gibt keine Hyänen mehr in den Hügeln von Shiselweni, aber Geier könnte es geben, und niemand kann sagen, welche anderen Tiere noch, das hat die Gugu ihm eingeschärft.

Das Grab hat Thulani mit den Nachbarinnen gegraben, die sind gekommen, um zu helfen. Wie sollte ein Junge auch wohl allein ein Grab für seine Mutter ausheben, nur mit seiner kleinen Schwester als Hilfe, wenn der Boden von der Sonne hart und trocken ist und immerzu die Tränen kommen?

Ja, Thulanis kleine Schwester ist auch noch da, aber was kann ein Mädchen von acht Jahren schon tun? Sie ist ja sogar zu schwach, um das Wasser vom Bach zu holen, auch wenn es nur zehn Minuten Weg sind bis dahin; den vollen Kanister kann sie nicht tragen, das ist wahr, aber sie könnte doch zweimal gehen, das sagt Thulani ihr in strengem Ton, und den Kanister nur zur Hälfte füllen; deswegen gibt es immer Streit, und manchmal haben sie kein Wasser. Dann geht Thulani doch, ganz eilig, bevor die Sonne hinter den Hügeln versinkt und es dunkel wird; denn in der Dunkelheit lauern die Geister, und auch wenn man schon elf Jahre alt ist, muss man sich vor ihnen in Acht nehmen.

Nomphilo heißt seine Schwester, und Thulani liebt sie sehr; auch wenn er das niemals sagen würde und sie ihm manchmal viel Ärger macht. Er ist der große Bruder und der Mann im Haus, und er passt gut auf sie auf. Darum schickt er sie auch jeden Tag zur Schule, fast jeden Tag, und sagt ihr, dass sie ihre Uniform waschen soll, auch wenn die zu eng ist und zu kurz und eingerissen unter den Armen; denn ohne Uniform darf sie nicht in die Schule. Aber ohne zu zahlen, darf sie jetzt gehen, das hat der Chief ihm erklärt, als Thulani bei ihm war, um zu reden, was werden soll: Jetzt, wo nur er noch da ist und Nomphilo, und die Gugu, die nur noch die Arme rühren kann. Wie zwei Männer haben sie gesprochen, der Chief und Thulani, denn er ist jetzt der Mann im Haus.

»Du bestimmst, was die Frauen tun sollen!«, hat der Chief gesagt, aber da kennt er Nomphilo nicht, die hört ja nicht auf Thulani, und die Gugu brüllt, dass er Wasser holen soll und das Maismehl für den Brei, wenn welches da ist, und Holz für das Feuer. Das zünden sie an auf dem Boden der Hütte, da kocht die Gugu den Brei; denn ihre Arme sind noch stark, und sie rührt und rührt im dreibeinigen Topf.

»Du bestimmst, was die Frauen tun sollen«, das hat der Chief ihm gesagt, aber der Chief kennt Nomphilo nicht und auch nicht die Gugu, sonst würde er nicht so reden. Und dass Nomphilo kein Schulgeld zahlen muss, hat der Chief ihm erklärt, weil sie noch klein ist, und die ersten zwei Klassen sind frei. Aber Thulani muss zahlen, denn mit elf Jahren ist man groß, und warum sollte der König ihm da wohl etwas schenken. Darum geht Nomphilo den Weg zur Schule jetzt allein, es ist ja nicht weit durch das Tal und über den Hügel, kaum mehr als eine Stunde ist es; und seine Uniform passt Thulani sowieso nicht mehr.

»Nun hat der König bestimmt, dass auch große Kinder zur Schule dürfen, ohne zu zahlen!«, hat die Nachbarin gesagt, als sie über den Hügel gekommen ist, um der Gugu zu helfen. Oft kommt sie nicht mehr vorbei, denn ihr Mann ist gestorben, und auch sie selbst wird dünner von Tag zu Tag. Und jeder in den Hügeln von Shiselweni weiß, was das heißt. Immer sind es zuerst die Väter, die dünner werden und schwächer und schließlich begraben werden von den Müttern; aber für die Gräber der Mütter bleiben zum Glück noch die Kinder.

Immer dünner wird jetzt auch die Nachbarin und hat sechs Söhne und Töchter: Da ist es Mühe genug, das Feld zu bestellen. Trotzdem kommt sie noch manchmal zur Gugu.

»Geh du auch wieder zur Schule, Thulani«, hat sie gesagt, und ihr Kleinster hat sich an ihr Bein geklammert. »Auch Große wie du müssen jetzt nicht mehr zahlen. Die Schule ist frei, wenn die Eltern gestorben sind, das hat unser König bestimmt!« Denn darüber, was der König bestimmt hat für Kinder, wenn die Eltern gestorben sind, denkt die Nachbarin jetzt nach.

Aber der Lehrer hat Thulani erklärt, dass man für die Schule einen Totenschein braucht, auch das hat der König bestimmt: Sonst könnten ja womöglich noch alle Kinder kommen im ganzen Land und kein Schulgeld mehr zahlen wollen und noch eine freie Uniform dazu, einen Beweis für den Tod muss es schon geben.

»Das verstehst du doch, Thulani«, hat der Lehrer gesagt, und Thulani hat genickt; denn dem Lehrer widerspricht man nicht. Auch wenn Thulani gedacht hat, dass die Nachbarinnen doch wohl so gut sind wie ein Totenschein: Sie alle können bezeugen, dass sein Vater und seine Mutter jetzt im Himmel sind beim Herrn Jesus, der alle Menschen liebt, auch wenn er vielleicht nicht für alle sorgt, jedenfalls nicht für alle gleich. Aber einen Totenschein muss es geben, sagt der Lehrer; und deshalb soll Thulani nach Nhlangano gehen zur Bezirksregierung, die dort den König vertritt, und der Chief muss ihn begleiten, um zu bezeugen, was er erzählt.

Aber hat ein Chief dafür Zeit? Da wäre er ja nur noch in Nhlangano, wenn er jedes Mal einen Totenschein holen wollte, wenn ein Mensch stirbt, es sterben ja viel zu viele im Dorf und in den Hügeln von Shiselweni und im ganzen Land. »In den Hügeln sind wir früher ohne Totenschein gestorben«, sagt der Chief, »und wir können auch heute ohne Totenschein sterben. Was ändert ein Papier?«

Darum geht Thulani jetzt nicht mehr zur Schule, was soll er auch da; zählen kann er sowieso und schreiben besser als Nomphilo und lesen beinah auch; und was sollte er außerdem lesen, es gibt keine Zeitung in der Hütte und kein Buch, die braucht Thulani auch nicht. Und wenn er zum Laden geht, eine Stunde an der großen Sandstraße entlang, dann genügt es, wenn er mit dem Finger auf die Ware zeigt und sagt, was er will. Aber er geht ja nicht zum Laden, sowieso nicht.

Manchmal, wenn er das Wasser geholt und der Gugu das Maismehl gebracht und Nomphilo in die Schule geschickt hat, spielt Thulani mit den anderen Jungen Fußball; mit denen, die zu Hause bleiben wie er. Oben auf dem Plateau spielen sie, wo es so eben ist, dass der Ball nur noch ganz langsam von selbst nach unten ins Tor rollt: Der Ball, den sie aus einer Tüte geknotet haben und mit Gras gefüllt, und die Tore haben sie aus Zweigen gesteckt. Und sie rennen so schnell, und sie brüllen so laut und schlagen sich gegenseitig auf die Schultern, wenn sie ein Tor geschossen haben; und sie lachen, dass Thulani das Glück im ganzen Körper spürt. Und während die Sonne langsam höher steigt, denkt er, dass es für manches doch gut ist, dass sie alle nun nicht mehr zur Schule gehen.

Aber an manchen Tagen bleibt Thulani plötzlich stehen, mitten im Spiel, und sieht über das Plateau: Weil niemand wissen kann, ob nicht eines Tages die Weißen kommen und sich an den Spielfeldrand stellen, dann sehen sie dem Spiel zu, lange. Und schließlich zeigt einer der Weißen, der blank geputzte Schuhe trägt und einen schwarzen Anzug und vielleicht eine Brille mit dunklen Gläsern, mit dem Finger auf Thulani: Dann nimmt er ihn mit in die Länder der Weißen, wo sie mit Lederbällen Fußball spielen in Schuhen. Da kriegt Thulani ein Steinhaus und ein Auto und Schuhe für jeden Tag noch dazu. Denn manchmal kommen die Weißen in Flugzeugen von weither und sehen den Jungen zu beim Fußball, das weiß jeder; und davon träumt Thulani am Abend auf seiner Matte. Aber vielleicht, das sagen die anderen, kommen sie nur zu den Jungen an den großen Straßen; und was sollte wohl auch aus der Gugu werden und aus Nomphilo, wenn Thulani sein Glück machen würde und sie wären ganz allein.