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Das Buch

Das hat Jo gerade noch gefehlt: Ihr neuer Kollege Cameron MacCabe ist nicht nur der arroganteste und nervigste Mann, den dieser Planet je gesehen hat, sondern leider auch der unwiderstehlichste, was jeder halbwegs vernünftigen Frau Kopfzerbrechen bereiten muss. Und genau das ist Jo: vernünftig und verantwortungsvoll. Mit gutem Grund. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr kümmert sie sich liebevoll um ihren kleinen Bruder Cole, dem sie trotz ihres zerrütteten Elternhauses eine erfolgreiche Zukunft ermöglichen will. Stürmische Affären oder wilde Liebesnächte haben da keinen Platz. Beständigkeit und Sicherheit sind die Werte, auf die es Jo ankommt. Doch dann tritt plötzlich Cameron in ihr Leben, und alles steht kopf. Denn Cam ist nicht nur verdammt attraktiv, er ist auch der erste Mann, der sich nicht nur für ihre Schönheit interessiert. Wird Jo ihrer Liebe eine Chance geben?

Die Autorin

Samantha Young wurde 1986 in Sterlingshire, Schottland, geboren. Seit ihrem Abschluss an der University of Edinburgh arbeitet sie als freie Autorin und hat bereits eine Jugendbuchserie veröffentlicht. Dublin Street ist ihr erster Roman für Erwachsene und wurde kurz nach seinem Erscheinen zu einem internationalen Bestseller.

Homepage der Autorin: www.samanthayoungbooks.com

In unserem Hause sind bereits erschienen:

Dublin Street – Gefährliche Sehnsucht

Fountain Bridge – Verbotene Küsse (E-Book)

Samantha Young

London Road

Geheime Leidenschaft

Roman

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

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Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0475-5

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juni 2013
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
© Samantha Young 2013
Published by arrangement with NAL Signet,
a member of Penguin Group (USA) Inc.

Titel der Originalausgabe: Down London Road
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © Claudio Marinesco

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Robert

Kapitel 1

Edinburgh, Schottland

Ich starrte das Bild an und fragte mich, was in Dreiteufelsnamen es darstellen sollte. Alles, was ich sah, war ein Haufen bunter Linien und Quadrate mit ein paar Schattierungen. Das Motiv kam mir vage bekannt vor. Ich hätte wetten können, dass bei uns zu Hause irgendwo ein Bild herumlag, das Cole im Alter von drei Jahren für mich gemalt hatte und das verblüffende Ähnlichkeit mit diesem hier aufwies. Allerdings konnte ich mir kaum vorstellen, dass irgendjemand dreihundertfünfundsiebzigtausend Pfund für Coles Kunstwerk auf den Tisch gelegt hätte. Die Tatsache, dass es tatsächlich Leute gab, die diese Summe für ein Stück Leinwand ausgeben würden, auf dem jemand großzügig verschiedene Farbschichten übereinandergeklatscht hatte, ließ mich ernsthaft am Geisteszustand meiner Mitmenschen zweifeln.

Ein unauffälliger Blick in die Runde verriet mir jedoch, dass den übrigen Besuchern die Bilder durchaus zu gefallen schienen. Vielleicht war ich schlicht und ergreifend nicht intellektuell genug für diese Art von Kunst. Im Bemühen, meinem Freund zuliebe etwas kultivierter zu erscheinen, setzte ich eine kritische Miene auf und schlenderte weiter zum nächsten Bild.

»Hm. Also, mir sagt das rein gar nichts«, ertönte kurz darauf eine leise, rauchige Stimme in meiner Nähe. Ich hätte diese Stimme unter Tausenden wiedererkannt. Ihr amerikanisches Englisch hatte eine leicht singende Satzmelodie angenommen, und hin und wieder schlugen die scharf klingenden Konsonanten des Schottischen durch. Das lag daran, dass die Sprecherin seit nunmehr fast sechs Jahren in Schottland lebte.

Meine Erleichterung kannte keine Grenzen. Ich wandte mich von dem Bild ab, um meiner besten Freundin Joss in die Augen zu schauen – wozu ich meinen Kopf ein gutes Stück senken musste. Zum ersten Mal an diesem Abend war das Lächeln in meinem Gesicht echt. Jocelyn Butler war Amerikanerin. Sie hatte vor nichts Angst, nahm kein Blatt vor den Mund und arbeitete seit fünf Jahren mit mir zusammen in einer ziemlich angesagten Bar namens Club 39 hinter der Theke. Der Club 39 lag in der George Street, einer der belebtesten Straßen in ganz Edinburgh.

Meine Freundin war nur etwa eine Handbreit größer als eine Parkuhr, dafür trug sie ein schwarzes Designerkleid mit Louboutins und sah absolut scharf aus. Genau wie ihr Freund Braden Carmichael. Er stand hinter ihr, hatte besitzergreifend einen Arm um sie gelegt und strahlte eine ungeheure Selbstsicherheit aus. Er war optisch ein echter Leckerbissen und genau die Art von Mann, nach der ich schon seit Jahren Ausschau hielt. Wäre Joss nicht meine Freundin, und hätte Braden sie nicht über alle Vernunft vergöttert, hätte ich nicht lange gefackelt und ihn mir gekrallt. Braden maß annähernd einen Meter achtundneunzig und wäre damit der ideale Partner für eine Frau von meiner Statur gewesen. Ich selbst war stattliche eins achtundsiebzig groß – mit den richtigen Schuhen brachte ich es locker auf über eins dreiundachtzig. Außerdem war Braden sexy, reich und witzig. Und er liebte Joss wie ein Wahnsinniger. Sie waren seit knapp anderthalb Jahren zusammen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ein Heiratsantrag in der Luft lag.

»Du siehst toll aus«, sagte ich und betrachtete neidisch ihre Kurven. Im Gegensatz zu mir hatte Joss einen großen Busen, runde Hüften und einen phantastischen Hintern. »Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.«

»Ich hab was gut bei dir«, brummte Joss, bevor sie ihren skeptischen Blick über die Bilder schweifen ließ. »Wenn die Künstlerin mich fragt, was ich von dem Zeug halte, muss ich mir ein paar dicke, fette Lügen einfallen lassen.«

Braden drückte sie noch enger an sich und sah lächelnd auf sie herab. »Wenn die Künstlerin genauso prätentiös ist wie ihre Kunst, würde ich sagen: Warum lügen, wenn man genauso gut schonungslos ehrlich sein kann?«

Joss feixte. »Stimmt auch wieder.«

»Nein«, schaltete ich mich ein, weil ich wusste, dass sie genau das tun würde, wenn ich sie nicht ausbremste. »Becca ist Malcolms Ex, und sie sind immer noch gut befreundet. Wenn du hier einen auf Robert Hughes machst, hab ich hinterher den Ärger am Hals.«

Joss runzelte die Stirn. »Robert Hughes?«

Ich seufzte. »Das war ein berühmter Kunstkritiker.«

»Mir gefällt die Idee.« Joss hatte ein teuflisches Grinsen im Gesicht. »Wie sagt man so schön? Ehrlichkeit kommt gleich nach Gottesfurcht.«

»Ich glaube, das war Reinlichkeit, Babe.«

»Natürlich ist es Reinlichkeit – aber Ehrlichkeit kommt doch bestimmt direkt danach

Als ich das trotzige Funkeln in Joss’ Augen sah, wurde mir ganz mulmig zumute. Joss war eine Naturgewalt, und wenn sie unbedingt ihre Meinung loswerden wollte, konnte sie keine Macht der Welt davon abhalten. Als ich sie kennengelernt hatte, war sie sehr verschlossen gewesen, und es wäre ihr nicht im Traum eingefallen, sich in die privaten Angelegenheiten ihrer Freunde einzumischen. Doch die Beziehung zu Braden hatte sie von Grund auf verändert. Unsere Freundschaft war viel enger geworden, und mittlerweile kannte Joss – als Einzige – sogar die Wahrheit über mein Leben. Ich empfand es als großes Geschenk, sie zur Freundin zu haben, aber in Momenten wie diesem wünschte ich mir manchmal, sie wäre noch die alte Joss, die ihre Gedanken und Gefühle eisern unter Verschluss hielt.

Ich war seit nicht ganz drei Monaten mit Malcolm Hendry zusammen. Er war in jeder Hinsicht der perfekte Mann für mich: zuvorkommend, entspannt, groß und wohlhabend. Malcolm war der bislang älteste meiner »Sugardaddys«, wie Joss sie scherzhaft getauft hatte – obwohl man neununddreißig Jahre wohl kaum als alt bezeichnen konnte. Allerdings war er damit fünfzehn Jahre älter als ich. Mich kümmerte das nicht weiter. Ich war überzeugt davon, dass er der Mann meines Lebens werden könnte, und deswegen wollte ich auf keinen Fall, dass Joss unsere noch frische Beziehung gefährdete, indem sie eine gute Freundin von ihm beleidigte.

»Jocelyn.« Bradens Stimme klang diesmal ernst. Ihm war meine aufsteigende Panik nicht entgangen. »Ich halte es doch für besser, wenn du dich heute Abend in der Kunst der Verstellung übst.«

Endlich hatte auch Joss meinen Gesichtsausdruck bemerkt. Sie legte mir beruhigend die Hand auf den Arm. »Jo. War doch nur Spaß. Ich werde mich tadellos benehmen, Ehrenwort.«

Ich nickte. »Im Moment läuft es einfach so gut zwischen uns, verstehst du?«

»Malcolm scheint ein prima Kerl zu sein«, pflichtete Braden mir bei.

Aus Joss’ Kehle drang ein undefinierbares Geräusch, dem wir aber keine große Beachtung schenkten. Meine Freundin hatte mehr als einmal deutlich gemacht, was sie von meiner Beziehung hielt. Sie war der Ansicht, dass ich Malcolm bloß ausnutzte – und er mich. In gewisser Weise mochte sie recht haben: Er war großzügig, und ich war auf diese Großzügigkeit angewiesen. Viel wichtiger allerdings war, dass ich ihn aufrichtig schätzte. Seit meiner »ersten großen Liebe« John, den ich mit sechzehn kennengelernt hatte, verfiel ich immer wieder charmanten Versorgern und der damit einhergehenden Aussicht auf finanzielle Sicherheit für Cole und mich. Leider hatte John irgendwann die Nase voll davon gehabt, immer nur die zweite Geige zu spielen, und mich nach einem halben Jahr Beziehung abserviert.

Das war eine lehrreiche Lektion gewesen.

Außerdem hatte es mir vor Augen geführt, welche Kriterien mein zukünftiger Partner in jedem Fall erfüllen sollte: Er musste einen anständigen Beruf haben, ehrgeizig sein und über ein solides Einkommen verfügen. Ganz egal, wie viel ich schuftete, ohne Qualifikationen oder echte Begabungen würde ich niemals genug Geld verdienen, um die Zukunft meiner Familie sichern zu können. Allerdings war ich hübsch genug, mir einen Mann zu angeln, der diese Aufgabe übernehmen konnte.

Etwa ein Jahr nachdem ich mich vom Herzschmerz meiner gescheiterten Beziehung zu John erholt hatte, war Callum in mein Leben getreten. Dreißig Jahre alt, Anwalt, solvent, überaus attraktiv, kultiviert, intelligent. Wild entschlossen, meinen Mann diesmal zu halten, wurde ich zu dem, was ich für die perfekte Freundin hielt. Ich hatte das Talent dazu, mich in jemand anderen zu verwandeln, und es schien zu funktionieren. Callum dachte tatsächlich eine Zeitlang, ich wäre die ideale Frau für ihn. Unsere Beziehung hielt fast zwei Jahre, bis die Heimlichtuerei, was meine Familie betraf, und meine Unfähigkeit, mich ihm emotional zu öffnen, einen tiefen Keil zwischen uns trieben und er sich von mir trennte.

Ich brauchte Monate, um über Callum hinwegzukommen, und als ich es endlich geschafft hatte, flüchtete ich mich schnurstracks in die Arme von Tim. Fatale Fehlentscheidung. Tim arbeitete bei einer Investment-Firma. Er war so unfassbar selbstbezogen, dass ich ihm den Laufpass gab. Nach Tim kam Steven. Steven war Verkaufsleiter bei einer dieser grauenhaften Firmen, die ihr Geld mit Haustürgeschäften verdienen. Er hatte lange Arbeitszeiten, und anfangs dachte ich, dass dies für unsere Beziehung nur von Vorteil sein konnte, doch das erwies sich rasch als Irrtum. Joss glaubte nach wie vor, Steven hätte sich von mir getrennt, weil ich aufgrund meiner familiären Verpflichtungen nicht flexibel genug war. In Wahrheit hatte ich Steven an die Luft gesetzt. Er war noch unausstehlicher gewesen als Tim. In seinen Augen war ich vollkommen wertlos. Seine ständigen Kommentare über meine Nutzlosigkeit weckten zu viele schmerzhafte Erinnerungen in mir, und obwohl ich selbst der Überzeugung war, dass ich – abgesehen von meinem Äußeren – nicht viel zu bieten hatte, war ich doch klug genug zu erkennen, dass es Zeit ist, einen Schlussstrich zu ziehen, wenn der eigene Freund mit einem spricht, als sei man ein bezahltes Callgirl.

Ich ließ mir einiges gefallen, doch selbst ich hatte meine Grenzen, und je älter ich wurde, desto enger zog ich sie.

Aber Malcolm war anders. Er war mir gegenüber nie herablassend, und bis jetzt lief unsere Beziehung wirklich ausgezeichnet.

»Wo steckt der Glückspilz denn eigentlich?«

Ich schaute mich suchend um. Den Sarkasmus in Joss’ Tonfall ignorierte ich. »Keine Ahnung.«

Mit Malcolm hatte ich buchstäblich das große Los gezogen. Er war eigentlich Anwalt, hatte aber vor drei Jahren den Jackpot beim Lotto geknackt und seinen Job – oder vielmehr: seine Karriere – an den Nagel gehängt, um sein neues Leben als Millionär zu genießen. Da er es nicht gewohnt war, untätig herumzusitzen, hatte er beschlossen, ins Immobiliengeschäft einzusteigen; mittlerweile besaß er eine beträchtliche Anzahl von Mietshäusern.

Wir befanden uns in einem alten Backsteingebäude, das von außen mit seinen aus unzähligen schmutzigen Rechteckscheiben bestehenden Fenstern eher an eine Lagerhalle als an eine Kunstgalerie erinnerte. Drinnen jedoch herrschte eine gänzlich andere Atmosphäre. Glänzende Holzböden, spektakuläre Beleuchtung und mobile Trennwände bildeten die ideale Kulisse für eine Kunstgalerie. Malcolm hatte sich ein Jahr vor seinem Lottogewinn scheiden lassen, aber ein attraktiver, wohlhabender Mann wie er zog natürlich scharenweise Frauen an. So hatte er auch Becca kennengelernt, eine geschäftstüchtige sechsundzwanzigjährige Künstlerin aus Irland. Sie waren nur ein paar Monate zusammen gewesen und nach ihrer Trennung gute Freunde geblieben. Malcolm hatte in ihre Karriere investiert, indem er ein paar Blocks entfernt von meiner alten Wohnung in Leith Galerieräume für sie angemietet hatte.

Das Ambiente und die Präsentation der Bilder waren wirklich beeindruckend – selbst wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, was die Künstlerin mit ihren Werken sagen wollte.

Malcolm war es gelungen, mehrere private Sammler auf die Vernissage zu locken, und zum Glück wussten die mit Beccas Arbeiten mehr anzufangen als ich. Malcolm und ich hatten kaum die Galerie betreten, da stand ich auch schon ohne Begleiter da. Becca war in Metallic-Leggings und Oversized-Pulli auf uns zugestürzt, dass ihre nackten Füße auf dem eiskalten Holzboden nur so klatschten. Sie hatte mir ein gestresstes Lächeln zugeworfen, sich dann sofort Malcolm geschnappt und ihm befohlen, sie den Gästen vorzustellen. Also war ich auf eigene Faust durch die Räume gestreift und hatte versucht zu entscheiden, ob ich tatsächlich keine Ahnung von Kunst hatte oder diese hier ganz einfach scheußlich war.

»Ich dachte, wir könnten vielleicht eins für die Wohnung kaufen, aber …« Braden stieß einen leisen Pfiff aus, als er das Preisschild neben dem Bild sah, vor dem wir gerade standen. »Ich habe da so eine Regel: Wenn ich Mist kaufe, zahle ich grundsätzlich nicht mehr, als er wert ist.«

Joss verkniff sich ein Lachen und drückte ihre Zustimmung durch heftiges Nicken aus. Da ich es für besser hielt, das Thema zu wechseln, bevor sich die beiden gegenseitig zu noch größeren Unhöflichkeiten anstachelten, fragte ich: »Wo sind denn Ellie und Adam?«

Ellie war ein absolutes Goldstück und besaß die Gabe, allem etwas Positives abzugewinnen. Außerdem hatte sie einen mäßigenden Einfluss auf die spitzen Zungen ihrer besten Freundin und ihres Bruders, was auch der Grund war, weshalb ich sie ausdrücklich mit eingeladen hatte.

»Die wollten heute Abend lieber zu Hause bleiben«, antwortete Joss so ernst, dass ich mir sofort Sorgen machte. »Sie hat heute die Ergebnisse von der Kernspintomographie bekommen. Natürlich waren sie ohne Befund, aber durch die Untersuchung ist bei ihr die ganze Geschichte wieder hochgekommen.«

Vor etwas mehr als einem Jahr waren Ellie mehrere gutartige Tumore aus dem Gehirn entfernt worden, die bei ihr Kopfschmerzen und Schwindelanfälle ausgelöst hatten. Damals hatte ich Ellie noch nicht besonders gut gekannt, aber Joss hatte während dieser Zeit vorübergehend bei mir gewohnt, und von ihr wusste ich, dass es für alle Beteiligten eine sehr schwere Zeit gewesen war.

»Ich werde sie bald mal wieder besuchen«, versprach ich, während ich mich gleichzeitig fragte, woher ich die Zeit dafür nehmen sollte. Ich hatte zwei Jobs, musste mich um meine Mutter und um Cole kümmern und Malcolm zu diversen Veranstaltungen begleiten. Mein Leben war ziemlich hektisch.

Joss nickte. Auf ihrer Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Sie machte sich mehr Sorgen um Ellie als irgendjemand sonst. Okay, mit einer Ausnahme vielleicht, dachte ich und schielte zu Braden, der besorgt die Brauen zusammenkniff.

Braden war der überfürsorglichste Bruder, den man sich vorstellen konnte, aber da ich mich mit dem Thema Überfürsorglichkeit gegenüber jüngeren Geschwistern ziemlich gut auskannte, hatte ich nicht das Recht, über ihn zu urteilen.

Ich versuchte die beiden von ihren düsteren Gedanken abzulenken und erzählte ein paar Anekdoten über meinen durch und durch beschissenen Tag im Büro. Dienstags, donnerstags und freitags stand ich abends im Club 39 hinter der Theke. Montags, dienstags und mittwochs arbeitete ich darüber hinaus noch als persönliche Assistentin für Thomas Meikle, einen Steuerberater in der Firma Meikle & Young’s Finanzdienstleistungen. Eigentlich war »persönliche Assistentin« bloß ein hochgestochener Ausdruck für »Mädchen für alles«. Mr Meikle war ein richtiges Arschloch von einem Chef, dessen völlig unvorhersehbare Launen bei mir ein emotionales Schleudertrauma hervorriefen. An manchen Tagen hatte ich Glück, und wir kamen einigermaßen miteinander aus. An anderen, so wie heute, warf er mir vor, ich sei »dumm wie Brot« und zu nichts zu gebrauchen. Wie es aussah, hatte ich in Sachen Nutzlosigkeit heute einen neuen Rekord aufgestellt: In Mr Meikles Kaffee war nicht genug Zucker gewesen, die Frau aus der Bäckerei hatte meine Bitte ignoriert und die Tomaten nicht von seinem Sandwich entfernt, und ich hatte es versäumt, einen Brief einzuwerfen, den Mr Meikle mir gar nicht gegeben hatte. Gott sei Dank war morgen mein freier Tag, und ich hatte Ruhe vor meinem Chef und seinen verbalen Attacken.

Braden versuchte zum wiederholten Mal, mich zu überreden, bei Meikle zu kündigen und stattdessen halbtags in seiner Immobilienagentur anzufangen. Ich weigerte mich jedoch strikt, mir von ihm helfen zu lassen, genau wie ich in der Vergangenheit Dutzende Hilfsangebote von Joss ausgeschlagen hatte. Ich wusste ihre Großzügigkeit zu schätzen, war jedoch fest entschlossen, es alleine zu schaffen. Wenn man sich bei so etwas auf Freunde verließ, war die Enttäuschung vorprogrammiert. Und ich wollte nicht von Joss und Braden enttäuscht werden.

Offenbar wollte sich Braden heute Abend nicht so einfach von mir abwimmeln lassen und zählte mir sämtliche Vorteile auf, die ein Job in seiner Firma mit sich brächte. Während er noch sprach, stellten sich mir urplötzlich die Nackenhaare auf, und mein Körper versteifte sich. Bradens Stimme wurde leiser, als ich den Kopf abwandte, um herauszufinden, was dieses seltsame Gefühl ausgelöst haben könnte. Ich sah mich suchend im Raum um, und dann stockte mir kurz der Atem, als mein Blick auf einen Typen fiel, der mich unverwandt anstarrte. Unsere Blicke trafen sich, und aus irgendeinem bizarren Grund spürte ich seine Gegenwart fast körperlich, als wäre ich allein dadurch, dass wir uns gegenseitig wahrgenommen hatten, an meinem Platz festgenagelt. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen.

Er stand relativ weit entfernt, deshalb konnte ich nicht sehen, welche Farbe seine Augen hatten, aber sie blickten nachdenklich und forschend. Er hatte die Stirn gerunzelt, als würde ihn diese seltsame Energie zwischen uns genauso sehr verwirren wie mich. Warum war er mir aufgefallen? Er war nicht der Typ Mann, zu dem ich mich normalerweise hingezogen fühlte. Okay, er sah ziemlich gut aus. Strubbelige dunkelblonde Haare und ein sexy Stoppelbart. Groß, wenn auch nicht ganz so groß wie Malcolm. Wahrscheinlich so um die eins dreiundachtzig. In hochhackigen Schuhen würde ich ihn bestimmt um ein paar Zentimeter überragen. Ich konnte seinen Bizeps sehen und die dicken Venen in seinen Unterarmen, weil dieser Wahnsinnige doch allen Ernstes im Winter ein T-Shirt trug! Er war nicht so muskulös wie die Männer, mit denen ich normalerweise ausging – nicht breit und kräftig, sondern schlank und sehnig. Mmm, »sehnig« war ein gutes Wort. Und hatte ich die Tattoos schon erwähnt? Die Details waren aus der Ferne nicht zu erkennen, aber man sah die bunten Motive deutlich auf seinen Armen.

Tattoos waren absolut nicht mein Ding.

Als sein Blick unter gesenkten Wimpern an meinem Körper hinab- und dann wieder hinaufwanderte, durchzuckte mich ein elektrischer Schlag, und ich schnappte unwillkürlich nach Luft. Die schamlose Art, mit der er mich musterte, war mir unangenehm und viel zu intensiv, und das obwohl ich in der Regel mit einem einladenden Lächeln reagierte, wann immer ein Typ mich unter die Lupe nahm. Nachdem der Unbekannte wieder bei meinem Gesicht angekommen war, warf er mir noch einen letzten eindringlichen Blick zu – einen Blick, der sich anfühlte wie das Streicheln einer rauen Hand auf meinem Körper – und wandte sich dann ab. Benommen und gleichzeitig total erregt, sah ich ihm nach, wie er hinter einer der Stellwände verschwand, die die Kunstgalerie in mehrere Bereiche aufteilten.

»Wer ist das denn?«, durchdrang Joss’ Stimme den Nebel in meinem Hirn.

Ich blinzelte ein paarmal, bevor ich mich mit einem vermutlich recht belämmerten Gesichtsausdruck zu ihr umdrehte. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

Joss grinste. »Der sieht aber heiß aus.«

Hinter ihr war ein Räuspern zu hören. »Wie bitte?«

In ihren Augen konnte man ganz kurz ein diebisches Blitzen sehen, doch als sie sich gleich darauf zu Braden umdrehte, setzte sie ihre Unschuldsmiene auf. »Ich meinte natürlich, von einem rein ästhetischen Standpunkt aus gesehen.«

Braden brummte zwar ungläubig, drückte sie aber noch enger an sich. Joss zwinkerte mir zu, und ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Braden Carmichael war ein knallharter, respekteinflößender Geschäftsmann, und trotzdem hatte Jocelyn Butler es irgendwie geschafft, ihn um den kleinen Finger zu wickeln.

Wir standen noch etwa eine Stunde zusammen, genossen den kostenlosen Champagner und unterhielten uns. Manchmal fühlte ich mich in Gegenwart der beiden ein bisschen gehemmt, weil sie so klug und gebildet waren. Ich hatte nur selten das Gefühl, irgendetwas Sinnvolles oder gar Interessantes zu ihrer Unterhaltung beitragen zu können, also lachte ich bloß und sah ihnen dabei zu, wie sie sich gegenseitig aufzogen. Wenn ich mit Joss allein war, war es anders. Ich kannte sie besser als Braden und musste mich in ihrer Gegenwart niemals verstellen – eine sehr angenehme Abwechslung zu meinem sonstigen Leben.

Wir kamen noch mit einigen anderen Gästen ins Gespräch und versuchten uns von ihrer Begeisterung für die ausgestellten Kunstwerke nicht irritieren zu lassen. Irgendwann jedoch wandte Joss sich entschuldigend zu mir und sagte: »Wir müssen jetzt los, Jo. Tut mir leid, aber Braden hat morgen früh ein Meeting.« Die Enttäuschung stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben, denn gleich darauf schüttelte sie den Kopf. »Ach, weißt du was? Ich bleibe. Braden kann gehen, ich leiste dir noch ein bisschen Gesellschaft.«

Nein. Auf keinen Fall. Ich hatte solche Situationen schon früher durchgestanden. »Joss, geh ruhig mit Braden nach Hause. Ich werd’s schon überleben. Mich zu Tode langweilen, aber überleben.«

»Sicher?«

»Hundertprozentig.«

Sie drückte liebevoll meinen Arm, bevor sie Braden bei der Hand nahm. Er nickte mir zum Abschied zu, und ich erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und einem »Gute Nacht«. Dann sah ich ihnen nach, wie sie durch die Galerie in Richtung Garderobenständer gingen. Wie ein echter Gentleman hielt Braden Joss den Mantel und half ihr hinein. Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar, ehe er seinen eigenen Mantel anzog. Den Arm um ihre Schultern gelegt, trat er mit ihr hinaus in den kalten Februarabend. Ich blieb mit einem seltsamen Ziehen in der Brust zurück.

Ich sah auf meine goldene Omega-Uhr, die Malcolm mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Jedes Mal, wenn ich einen Blick darauf warf, bedauerte ich, dass ich die Uhr noch nicht verkaufen konnte. Sie war das teuerste Geschenk, das ich je bekommen hatte, und hätte unsere Finanzen erheblich aufgebessert. Andererseits bestand nach wie vor die Möglichkeit, dass unsere Beziehung sich zu etwas Dauerhaftem entwickelte, und dann hätte sich der Verkauf der Uhr sowieso erledigt. Allerdings achtete ich strikt darauf, mir nicht zu viele Hoffnungen zu machen.

Es war Viertel nach neun. Mein Puls beschleunigte sich ein bisschen, und ich kramte in meiner winzigen Gucci-Clutch-Kopie nach meinem Handy. Keine Textnachrichten. Verdammt, Cole.

Ich hatte gerade eine SMS getippt, um ihn daran zu erinnern, mich anzurufen, sobald er nach Hause kam, und auf »Senden« gedrückt, als sich ein Arm um meine Taille schlang und mir der holzig-ledrige Duft von Malcolms Aftershave in die Nase stieg. Ohne den Kopf in den Nacken legen zu müssen – ich trug meine Zwölf-Zentimeter-Absätze –, drehte ich mich um und sah ihm lächelnd ins Gesicht. Meine Sorge um Cole schob ich fürs Erste beiseite. Ich hatte auf niveauvolle Eleganz gesetzt und das rote Bleistiftkleid von Dolce & Gabbana angezogen, das Malcolm mir bei unserer letzten Shoppingtour gekauft hatte. Es betonte perfekt meine schlanke Figur. Ich war ganz vernarrt in dieses Kleid. Es auf eBay zu versteigern, würde mir in der Seele weh tun.

»Da bist du ja.« Malcolm begrüßte mich mit einem Lächeln. Seine braunen Augen strahlten, und in seinen Augenwinkeln erschienen lauter attraktive Lachfältchen. Er hatte glänzende dunkle Haare mit einem Hauch von Grau an den Schläfen, das ich sehr sexy fand. Er trug immer Anzüge, und auch heute hatte er keine Ausnahme gemacht. Der Schnitt seines Savile-Row-Zweiteilers war exquisit. »Ich dachte, deine Freunde wollten heute Abend auch kommen, sonst hätte ich dich doch nicht so lange allein gelassen.«

Ich legte ihm zur Beruhigung eine Hand auf die Brust. »Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Sie waren hier, mussten aber leider schon wieder gehen.« Ich schaute kurz auf mein Handy, das ich immer noch in der Hand hielt. Was war mit Cole? Allmählich wurde ich unruhig.

»Ich möchte eins von Beccas Bildern kaufen. Komm mit, dann können wir gemeinsam so tun, als wäre es ein Meisterwerk.«

Ich lachte schadenfroh, kam mir aber gleich darauf gemein vor und biss mir auf die Lippe. »Ich bin so froh, dass ich nicht die Einzige bin, die nichts mit den Bildern anfangen kann.«

Sein Blick glitt durch den Raum, und sein Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. »Nun, zum Glück haben die anderen Leute hier mehr Ahnung von Kunst als wir, finanziell hat sich meine Investition also immerhin gelohnt.«

Er legte mir einen Arm um die Schultern und lotste mich quer durch die Galerie zu Becca, die unter einer gigantischen Leinwand voller Kleckse stand. Ich wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert, als ich sah, mit wem sie sich unterhielt.

Mit dem Tattoo-Typen.

Mist.

»Alles in Ordnung?« Malcolm runzelte fragend die Stirn, als er meine Anspannung spürte.

Ich strahlte ihn an. Regel Nummer eins: Zeige dich ihm gegenüber stets von deiner positivsten, charmantesten Seite. »Alles prima.«

Der Tattoo-Typ legte Becca grinsend die Hand um die Hüfte und versuchte sie an sich zu ziehen. Es sah aus, als wollte er sie beschwichtigen. Mein Herz machte einen Sprung, als er lächelte und dabei seine weißen Zähne entblößte. Becca sah nach wie vor ein bisschen eingeschnappt aus, ließ sich aber trotzdem von ihm in die Arme nehmen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Einem Mann mit so einem Lächeln würde eine Frau alles verzeihen.

Ich riss mich vom Anblick des Tattoo-Typen los und blieb bei Malcolm stehen, gerade als die beiden sich zu uns umdrehten. Beccas Wangen waren leicht erhitzt, und ihre Augen funkelten. »Beachtet Cam und mich gar nicht. Wir streiten uns nur, weil er ein Idiot ist.«

Ich sah ihn nicht an, hörte aber sein Lachen. »Nein, wir streiten uns, weil wir nicht den gleichen Kunstgeschmack haben.«

»Cam hasst meine Bilder«, verkündete Becca in gespielter Entrüstung. »Er ist nicht in der Lage, sich wie ein anständiger Freund zu benehmen und zu lügen. Nein, es muss die ungeschminkte Wahrheit sein. Wenigstens Malcolm schätzt meine Arbeiten. Jo, hat Malcolm dir schon gesagt, dass er eins meiner Bilder kaufen will?«

Vielleicht hätte ich eifersüchtig sein müssen, weil Becca und Malcolm sich so nahestanden. Es mag gehässig klingen, aber bevor ich ihre Kunstwerke gesehen hatte, war ich auch ein klein wenig eifersüchtig gewesen. Ich war nicht übermäßig intelligent, konnte nicht zeichnen, nicht tanzen, nicht singen, lediglich einigermaßen gut kochen … Ein Glück für mich, dass ich wenigstens hübsch war. Ich war groß, mit endlos langen Beinen ausgestattet, und mir war schon oft gesagt worden, dass ich eine tolle Figur und makellose Haut hatte. Dazu noch große grüne Augen, langes rotblondes Haar, feingeschnittene Gesichtszüge, und fertig war das attraktive Gesamtpaket – ein Gesamtpaket, mit dem ich schon als Teenager die Blicke der Männer auf mich gezogen hatte. Ja, ich besaß nicht viel Kapital, aber das wenige, das ich hatte, verstand ich zum Wohl meiner Familie gewinnbringend einzusetzen.

Dass Becca so hübsch und begabt war, hatte mir anfangs Magenschmerzen bereitet. Vielleicht würde Malcolm sich irgendwann mit mir langweilen und zu ihr zurückkehren? Aber nach Malcolms verhaltener Reaktion auf ihre Bilder machte ich mir keine allzu großen Sorgen mehr. Nicht dass dies in irgendeiner Weise logisch gewesen wäre.

»Ja, ich weiß. Eine gute Entscheidung.« Ich lächelte ihn an und sah, dass er sich sehr zusammenreißen musste, um nicht loszuprusten. Seine Hand glitt von meiner Taille abwärts bis zur Hüfte, und ich schmiegte mich an ihn, während ich gleichzeitig einen verstohlenen Blick auf mein Handy warf. Immer noch keine SMS von Cole.

»Jo, das ist Beccas Freund Cameron«, sagte Malcolm plötzlich, und ich hob hastig den Kopf, um endlich den Mann anzusehen, an dem ich die letzten paar Sekunden krampfhaft vorbeigeschaut hatte. Unsere Blicke kreuzten sich, und wieder spürte ich dieses erregende Kribbeln.

Seine Augen waren kobaltblau und schienen mich förmlich auszuziehen. Ich merkte, wie sie über mich hinwegglitten und schließlich Malcolms Hand an meiner Hüfte registrierten. Ich versteifte mich unwillkürlich, als Cameron uns musterte, seine Schlüsse über die Art unserer Beziehung zog und schließlich mit einem harten Aufeinanderpressen der Lippen sein Missfallen zum Ausdruck brachte.

»Hi«, quetschte ich hervor. Er antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Das Feuer, das vorhin noch in seinem Blick gelodert hatte, war erloschen.

Becca begann Malcolm irgendetwas über das Bild zu erzählen, und ich nutzte die Gelegenheit, erneut auf mein Handy zu schielen. Als ich ein verächtliches Schnauben hörte, fuhr mein Kopf wieder in die Höhe. Cameron. Ich verstand weder den Abscheu in seiner Miene noch, warum ich plötzlich das unstillbare Bedürfnis verspürte, ihm zu sagen, er solle mich gefälligst am Arsch lecken. Normalerweise bekam ich, wenn ich mit Feindseligkeit oder Aggression konfrontiert wurde, kein Wort heraus und zog mich sofort zurück, aber als ich die angewiderte Miene dieses tätowierten Idioten sah, hätte ich ihm am liebsten mit meiner Faust seine ohnehin schon leicht schiefe Nase gebrochen. (Sie hatte einen kleinen Höcker kurz unterhalb der Nasenwurzel, und eigentlich hätte dieser Makel seiner Attraktivität Abbruch tun müssen; stattdessen verstärkte er seinen herben Charme nur noch.)

Ich biss mir auf die Zunge, bevor ich etwas tat, das ich später bereuen würde, und lenkte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf seine Tattoos. Auf seinem rechten Unterarm prangte ein wunderschöner schwarzer Schriftzug. Es waren zwei Wörter, die ich allerdings nicht entziffern konnte, ohne ihn dabei auffällig anzustarren. Auf dem linken Arm hatte er ein mehrfarbiges, sehr detailreiches Bildmotiv. Es schien sich um einen Drachen zu handeln, aber dann schob sich Becca zwischen uns, so dass mir die Sicht versperrt war.

Einen Moment lang fragte ich mich, wie Becca von jemandem wie dem Maßanzüge tragenden, knapp vierzigjährigen Malcolm zu einem jungen Mann wie Cameron mit seiner Siebziger-Jahre-Pilotensonnenbrille, den Lederarmbändern, einem viel zu oft gewaschenen Def-Leppard-T-Shirt und gammeligen Levi’s hatte wechseln können.

»Mal, hast du Jo schon wegen des Jobs gefragt?«

Verdutzt schaute ich meinen Freund an. »Job?«

»Lass gut sein, Becca«, sagte Cameron, und seine tiefe Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. Was genau das für ein Schauer war, darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. Wie ferngesteuert wandte ich den Kopf in seine Richtung. Prompt trafen sich erneut unsere Blicke, aber seiner war leer und ausdruckslos.

»Unsinn«, widersprach Malcolm gutmütig, bevor er sich an mich wandte. »Ihr sucht doch immer noch nach einem Barkeeper für den Club, richtig?«

Allerdings. Craig, mein Freund und Kollege (und One-Night-Stand – nach Callum war ich am Boden zerstört gewesen), war nach Australien geflogen. Am Dienstag war sein letzter Abend gewesen, und Su, die Managerin des Clubs, führte schon seit einer Woche Vorstellungsgespräche mit potentiellen Nachfolgern. Ich würde Craig vermissen. Manchmal war mir sein Geflirte etwas zu aufdringlich gewesen, und ich hatte nie den Mumm gehabt, ihm zu sagen, er solle die Klappe halten (ganz im Gegensatz zu Joss), aber wenigstens hatte er immer gute Laune verbreitet. »Ja, wieso?«

Becca berührte mich am Arm und sah mich mit flehendem Blick an. Erst jetzt merkte ich, dass sie, obwohl sie ein paar Jahre älter war als ich, mit ihren blauen Kulleraugen, der weichen Haut und der hohen Stimme wie ein kleines Mädchen wirkte. Wir zwei hätten wirklich nicht unterschiedlicher sein können. »Cam ist Graphikdesigner. Er hat für eine Agentur gearbeitet, die Kampagnen für viele bekannte Unternehmen entwickelt hat, aber dann mussten sie Personal kürzen. Den Letzten beißen die Hunde, man kennt das ja. Cam war erst seit einem Jahr in der Firma, also hat’s ihn erwischt.«

Ich warf Cam einen zaghaft mitfühlenden Blick zu. Arbeitslos zu sein war echt scheiße.

Allerdings leuchtete mir nicht ganz ein, was das mit mir oder dem Barkeeper-Job im Club 39 zu tun haben sollte.

»Becca.« Inzwischen klang Cam regelrecht genervt. »Ich hab dir doch gesagt, ich regle das selber.«

Sie errötete unter seinem vorwurfsvollen Blick, und auf einmal empfand ich eine Art Verbindung zu ihr. Ich war nicht die Einzige, die sich von ihm eingeschüchtert fühlte. Immerhin.

»Ich will dir doch nur helfen, Cam.« Ihre nächsten Worte waren wieder an mich gerichtet. »Er hat Probleme …«

»Ich habe Probleme, eine Stelle als Grafiker zu finden«, fiel Cam ihr schroff ins Wort. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass seine schlechte Laune womöglich gar nichts mit mir zu tun hatte, sondern lediglich mit seiner Job-Misere. »Malcolm hat erwähnt, dass im Club 39 eine Vollzeitkraft gesucht wird, und ich habe Erfahrung als Barkeeper. Ich brauche was zur Überbrückung, bis ich wieder eine richtige Stelle gefunden habe. Wenn du mir einen Bewerbungsbogen besorgen könntest, wäre das nett.«

Warum ich mich dazu entschloss, ihm zu helfen, obwohl ich weder ihn noch seine Art sonderlich gut leiden konnte, würde mir auf ewig ein Rätsel bleiben, jedenfalls antwortete ich: »Ich mache sogar noch was Besseres: Ich rede mit unserer Managerin und gebe ihr deine Nummer.«

Er starrte mich kurz an. Es war unmöglich zu sagen, was in ihm vorging. Schließlich nickte er zögerlich. »Okay, danke. Meine Nummer ist …«

Genau in dem Moment vibrierte mein Handy, und ich riss es hoch, um aufs Display zu schauen.

War bei Jamie, bin jetzt wieder zu Hause. Hör auf zu stressen. Cole.

Schlagartig fiel die Anspannung von mir ab. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und tippte rasch eine Antwort.

»Jo?«

Ich sah auf. Malcolm sah mich fragend an.

Verdammt. Cams Nummer. Ich wurde rot. Über Coles Nachricht hatte ich ihn total vergessen. Ich schenkte ihm ein schuldbewusstes Lächeln, das allerdings an seiner versteinerten Miene abprallte. »Sorry. Wie war deine Nummer?«

Sichtlich gereizt ratterte er sie herunter, und ich tippte sie in mein Handy ein.

»Ich gebe sie gleich morgen weiter.«

»Alles klar«, antwortete er gelangweilt, als glaube er nicht daran, dass ich über ausreichend Hirnschmalz verfügte, um mich am nächsten Tag noch daran zu erinnern.

Sein abweisendes Verhalten tat weh, aber ich beschloss, mich davon nicht runterziehen zu lassen. Stattdessen schmiegte ich mich an Malcolms Seite, erleichtert darüber, dass Cole wohlbehalten in unserer Wohnung in der London Road angekommen war.