Das Herz des Hexers

 

 

 

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Band 72

 

Das Herz des Hexers

 

von Catalina Corvo und Susanne Wilhelm

nach einer Story von Susanne Wilhelm

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Andrea Bottlinger

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Asmodi II. kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Während eines Kampfes gegen einen Zentrumsdämon, der unter den Isles of Scilly gefangen war, übernimmt der in ihr schlummernde Asmodi die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Zur selben Zeit kann Olivaro von den Scillies ein seltenes Artefakt mitnehmen: den Feuerschädel. Daraus erschafft er den Stab des Schlichters, ein Artefakt, mit dem eine Schlichterin noch vor der Zeit der Schwarzen Familie für Ordnung unter den Dämonen gesorgt hatte. Nun soll der neue Schiedsrichter der Schwarzen Familie derjenige sein, der diesen Stab berühren kann, ohne zu verbrennen.

In einem rumänischen Dorf fällt die Entscheidung – und ausgerechnet Coco Zamis wird zur neuen Schiedsrichterin. Dorian Hunter fühlt sich verraten und verlassen und setzt alles daran, sie zurückzuholen. Doch seine Feinde sind ihm einen Schritt voraus. Sie versprengen das Dämonenkiller-Team und töten Trevor Sullivan. Nur mit der Unterstützung der babylonischen Vampirin Salamanda Setis bricht Hunter auf, um Edwin Jong, Cocos größten Konkurrenten, für den Tod seines alten Freundes büßen zu lassen. Dabei findet er heraus, dass er dem Hexer nicht zum ersten Mal auf den Fersen ist. Bereits in einem früheren Leben als der Sklavenjunge Eno hat er versucht, Jong zu töten.

 

 

 

 

Erstes Buch: Das kalte Herz

 

 

Das kalte Herz

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Susanne Wilhelm

 

 

Kommt, ihr Geister,

Die ihr auf Mordgedanken lauscht, entweiht mich,

Füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh, randvoll,

Mit wilder Grausamkeit! Verdickt mein Blut,

Sperrt jeden Weg und Eingang dem Erbarmen,

Dass kein anklopfend Mahnen der Natur

Den grimmen Vorsatz lähmt, noch friedlich hemmt

Vom Mord die Hand. Kommt an die Weibesbrust,

Trinkt Galle statt der Milch, ihr Morddämonen,

Wo ihr auch harrt in unsichtbarem Wesen

Auf Unheil der Natur! Komm, schwarze Nacht,

Umwölk dich mit dem dicksten Dampf der Hölle,

Dass nicht mein scharfes Messer sieht die Wunde,

die es geschlagen, noch der Himmel,

Durchschauend aus des Dunkels Vorhang rufe:

Halt, halt!

Lady Macbeth (Macbeth, erster Akt, fünfte Szene)

 

 

Prolog

 

Demerara, dieser widerliche, insektenstarrende

Schlammhaufen, wir schreiben das Jahr 1776:

früh genug, endlich wegzukommen.

Es ist vollbracht. Das große Werk ist getan. Noch vermag ich kaum zu begreifen, welche Ehre mir zuteilgeworden ist. Menschen wie Dämonen sehnen sich danach. So alt wie das Leben ist der Traum der Unsterblichkeit.

Und so machtvoll ist die Gier nach dem Sieg über den ewigen Unerbittlichen.

Eine Theorie besagt, man müsse sich beim Anblick einer Sternschnuppe nur den eigenen Tod wünschen, diesen Wunsch einem anderen mitteilen, und da dem Aberglauben nach folglich das Gegenteil eintritt, besitzt man also, o Wunder, die absolute Unsterblichkeit.

Ich hingegen möchte mich nicht darauf verlassen. Stattdessen sitze ich hier in meinem Lehnsessel, noch ein wenig ermattet, aber reicher um so viel Erfahrung. Mit Wollust und Ehrfurcht spüre ich die Wärme in meiner Hand.

Dort auf meinem Handballen ruht es nun, lebendig, schwarz und roh und so kraftvoll. Noch immer kann ich seine Stärke spüren, mehr denn je.

Ich blicke auf die kreisrunde, verblassende Narbe auf meiner Brust und dann zurück auf mein wunderschönes, wildes Herz. Mit nur einem Druck meiner Finger könnte ich es zerquetschen und mein eigenes Leben auf einen Schlag beenden. Doch das wäre ein wenig wahnsinnig, nicht wahr?

Lieber schreibe ich mit zitternden Fingern und bebender Hand den Augenblick nieder. Das schwarze Blut, das von jenem pulsierenden Organ warm und zärtlich aufs Schreibpapier tropft, erscheint mir wie ein unbezwingbares Siegel, das nun über meiner Vergangenheit liegt, während mir die Zukunft offen steht.

Ich wurde neu geboren und bin stärker als je zuvor. Ich spüre meine eigene Kraft wie einen nicht endenden Rausch.

Doch bald schon muss ich mich von meinem Liebling, meinem edlen Kleinod trennen und es wohl verwahren. Niemand darf je Hand an dich legen, mein Schätzchen, mein Kind, mein Herz. Der magische Ort, an dem größte Stärke und schrecklichste Schwäche sich zu einem Wein aus Blut und Kraft verquicken.

Mein dämonisches Herz.

PS: Das Pulsieren sieht abartig albern aus, und ich frage mich, ob meine übergroße Belustigung eine Nebenwirkung des Rituals sein könnte.

PPS: Ich werde endlich diese stumpfsinnigen Rindviecher von Brüdern los. Kann es kaum abwarten, die Drecksplantage hinter mir zu lassen.

PPPS: Ich habe gewonnen! Schade, dass du tot bist, Daniek, du verhurte unfähige Schlampe! Sonst würde ich dich dein Versagen spüren lassen und mich an meinem Sieg besaufen wie ein Seemann, der die Heuer durchbringt.

PPPPS: Diese Notiz unbedingt vernichten, bevor ich packe.

Gez. Edwin, der Herzlose, der Einzige, der in dieser Familie noch etwas taugt. Geh doch vor die Hunde, Demerara!

 

 

1. Kapitel

 

Amsterdam (Gegenwart)

Der alte Beichtstuhl gab ein perfektes Versteck ab. Der Vorhang war nicht ganz zugezogen und gab einen schmalen Spalt frei, der es dem Insassen ermöglichte, durch das Seitenschiff und zum Eingang hin zu spähen. Auf der anderen Seite des Beichtstuhls herrschte Stille. Keine Menschenseele besuchte den Ort.

Klein und schäbig lockte sie höchstens sonntags die hartgesottenen Gläubigen der Nachbarschaft an. Die Gräber auf dem nahen Friedhof waren alt und ungepflegt, die Grabsteine verwittert. Niemand kam, um sie zu pflegen. Auch die alten, wurmstichigen Kirchenstühle blieben verwaist, und lediglich zwei langsam herunterbrennende Kerzen am Altar kündeten davon, dass sich überhaupt gelegentlich ein Priester hierher verirrte.

Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass die Luft rein war, hob Dorian vorsichtig den Deckel der Holzkiste.

Der abgetrennte Kopf des Schamanen ähnelte haargenau dem Babatunde seiner Erinnerungen, jenem Mentor des jungen Eno, der in den Träumen des Dämonenjägers wieder zum Leben erwachte.

Aber noch immer spürte Dorian bei dem Anblick einen Stich der Enttäuschung. Statt eines Herzens hatte er eine Kuriosität erkämpft. Edwin Jongs wahre Schwachstelle jedoch, das lebende schlagende Herz des verfluchten Hexers, befand sich nach wie vor an einem unbekannten Ort. Im Grunde standen sie wieder am Anfang der Suche, ohne eine sinnvolle Spur zu haben.

Grüblerisch ließ Dorian die Fingerspitzen erst über die trockene Stirn des Schamanen gleiten, dann griff er vorsichtig nach dem Säckchen, dessen geheimnisvoller Inhalt dem Kopf ein paar orakelhafte Worte entlockt hatte.

Die Vampirin hatte dazu eine Anrufung gemurmelt. Sein langer, harter Kampf gegen die Ausgeburten der Schwarzen Familie hatte ihm eine gute Detailwahrnehmung beschert, und so erinnerte er sich noch gut an Salamandas Worte. Ob der Kopf auch ihm antwortete?

Viel Pulver enthielt das Säckchen nicht mehr, also ging Dorian sparsam damit um. Die Gesten der Vampirin kopierend, streute er den Staub über dem Kopf aus, dabei murmelte er die Beschwörung.

Die Gesichtsmuskeln zuckten, und jäh starrte ihn ein Paar leerer Augen an. Das seltsame Gefühl, ertappt worden zu sein, beschlich den Dämonenjäger. Plötzlich trieb ihn eine Hast, deren Quelle er nicht zu benennen wusste.

»Wo hat Edwin Jong sein Herz versteckt?«

Höhnisch langsam brach das steife Grinsen des Schamanen auseinander. Die Kiefer des Schädels ruckten. »Die Krähe fliegt weit übers Land, doch kehrt sie stets zu ihrem Nest zurück«, antwortete eine heisere, kraftlose Stimme. »So handelt ein jeder nach seiner Gewohnheit.«

Dann lag der Kopf wieder still. Auch die Stimme war verstummt. Das Hauptportal knarrte und Schritte erklangen. Hastig schloss Dorian die Kiste. Er spähte hinaus.

Eine gebeugte ältere Dame trippelte in Begleitung eines nicht weniger klapprigen Herrn mit Gehstock zum Marienaltar, um dort eine Kerze anzuzünden. Eilig stahl sich der Dämonenjäger aus dem Beichtstuhl und suchte sich ein neues Versteck in einem winzigen Kräutergarten. Die einzige halbwegs gepflegte Ecke auf dem Kirchengrund. Verborgen hinter einer unscheinbaren Ligusterhecke. Eine kleine Bank neben dem bedeutungslosen verwitterten Denkmal irgendeines Honoratioren bot dem Dämonenjäger einen guten Platz, um den kryptischen Worten nachzugrübeln. Das Gleichnis mit der Krähe sagte ihm gar nichts. Außer, dass Edwin Jong in seiner Verschlagenheit wohl durchaus mit einem Rabenvogel zu vergleichen war. Widerlicher Aasfresser. Der Nachsatz ergab schon eher Sinn. Jeder handelte nach seiner Gewohnheit. So auch Edwin Jong? Das war allerdings auch nicht gerade die spektakulärste Information unter der Sonne. Warum konnte sich dieser verfluchte Schädel nicht einmal klar ausdrücken? Kaum zu glauben, dass Jong wegen solchem Budenzauber eigens einen Aufpasser wie die Ratten-Jenny angeheuert hatte. Wusste dieser Orakelkopf überhaupt etwas? Besser als ein Orakelball aus dem Spielzeugladen war er bisher nicht.

»Natürlich bewegt sich selbst ein Hexer gern in gewohnten Bahnen«, brummte er die Kiste an. »Aber dazu müsste man sie überhaupt erst mal kennen! Du hast leicht reden, Alter.«

Unwillkürlich war er in Enos Art zu sprechen zurückgefallen. Der Junge hatte sich so manches Mal mit dem Schamanen gestritten. »Was willst du mir sagen, verrückter alter Mann?«

Die Gewohnheiten des Hexers kannte er nicht. Zwar hatte Eno beobachtet, wie Jongs Herz vor langer Zeit seinen angestammten Platz verlassen hatte. Doch darüber hinaus gab es keine Erinnerung, die ihm weiterhalf. Nichts in Bezug auf den Aufenthaltsort. Womöglich hatte Eno noch mehr gesehen.

Wie auf ein unsichtbares Zauberwort rauschte eine neuerliche Welle der Erinnerung heran, schlug über dem Dämonenjäger zusammen und zog ihn mit sich in die Tiefe.

 

Niederländisch Guayana 1776

Obwohl Eno die Flucht gelungen war, schmeckte der Sieg bitter. Die Plantage der Jongs war zu abgelegen, um ein schnelles Entkommen in bewohnte Gegenden zu ermöglichen. Selten verirrte sich ein Bote auf einem Muli in den Landstrich, Schiffe legten kaum in der Nähe an. Und wenn, gehörten sie den Jongs.

Die einzigen Möglichkeiten eines entlaufenen Sklaven bedeuteten entweder Dschungel oder ein Leben als Dieb und Plünderer.

Schon seit Tagen versteckte sich der Junge noch auf der Farm. Er lebte inzwischen wie ein halbwilder Hund. Nachts streunte er über die Plantage, tagsüber, wenn das Dorf verwaist lag, weil die Bewohner auf den Feldern schufteten, stahl er sich zwischen die Hütten und raubte, was er ergattern konnte. Ein paar Happen Dörrfisch, ein paar Talismane und Kräuter. Darüber hinaus ernährte ihn Mutter Natur mit ihren saftigen Früchten. Alles in allem speiste er nicht schlechter als zuvor. Die kläglichen Rationen, die die Jongs ihren Sklaven zugestanden hatten, fehlten ihm nicht besonders. Ebenso wenig wie die Plackerei auf dem Feld. Dennoch verging kein Tag, an dem er sich sein altes Leben nicht zurückwünschte.

Das Dorf hatte sich verändert. Die Sklaven hatten sich verändert. Die Hexerei der Jongs hatte ihnen jeglichen Willen genommen. Mit stierem Blick schufteten sie auf den Feldern bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Nachts lagen sie wie tot in ihren Hütten. Sie aßen mechanisch und verloren alles, was sie menschlich machte. Es fiel kein Wort zwischen ihnen, sie verständigten sich kaum. Das mussten sie auch nicht, denn alle schufteten im gleichen tranceartigen Einklang, trotteten wie eine Herde aufs Feld und zurück.

Selbst die wenigen Kühe und Ziegen der Plantage lebten mit größerer Freude. Die Sklaven waren von Vieh kaum noch zu unterscheiden.

Da es im Dorf nichts auszurichten gab, hatte sich Eno darauf verlegt, die Weißen zu beschatten. Sein Herz dürstete danach, die ganze verfluchte Hexenbrut auszurotten, um das Dorf zu befreien und Rache zu nehmen. Alle Jongs mussten sterben und büßen für den Frevel am Leben, den sie tagein, tagaus verübten.

Zufrieden schritten sie zwischen ihrem menschlichen Schlachtvieh einher und genossen die neue Schnelligkeit, mit der ihre Sklaven das Zuckerrohr schnitten und verarbeiteten. Doch sie waren die Einzigen, die sich an den neuen Verhältnissen freuen konnten. Selbst die Aufseher spürten längst, dass diese Sklaven ganz und gar anders waren.

Viele waren geflohen und hatten sich anderswo Arbeit gesucht. Die neuen Männer, die die Jongs an ihrer statt angeheuert hatten, waren noch schlimmer als die alten. Grausam und stumpf beaufsichtigten sie die Sklaven, doch kam die Peitsche viel seltener zum Einsatz als früher.

Die Geprügelten zuckten nicht einmal, wenn das harte Leder ihre Rücken zerschlitzte. Sie schienen die Aufseher nicht mehr wahrzunehmen.

Zu Enos Glück konnten die neuen Aufseher die Sklaven nicht auseinanderhalten. Sie machten sich auch nicht die Mühe, es zu lernen, ebenso wenig, wie man sich bemühte, Ziegen oder Schafe zu unterscheiden.

So gelang es Eno einige Male, sich tagsüber unter die Sklaven zu mischen. Solange er wie sie stur vor sich hinstarrte und kein Wort äußerte, während er mit fester Hand und starrem Blick Zuckerrohr schnitt, fiel er unter ihnen nicht auf. Der Blick der Aufseher glitt gelangweilt über ihn hinweg.

Doch all seine Bemühungen halfen ihm nicht weiter. An einen der Jongs kam er nicht so leicht heran. Die Holländer verschanzten sich in ihrem Herrenhaus und besuchten die Plantage selbst nur noch höchst selten.

Wann immer es ihm möglich war, schlich sich Eno an die Villa heran. Stück für Stück erkundete er jeden Pfad, prägte sich jeden Strauch und Stein ein, der ihm Deckung bot, und jeden Mauervorsprung, lernte die toten Winkel und abgeschiedenen Ecken kennen, bis er schließlich wie ein Gecko auf das Dach kriechen konnte. Dort lag er stundenlang in der Sonne, bis ihm der Schädel brannte und die Augen von der Hitze tränten, und starrte in den Innenhof, in der Hoffnung, etwas über die Pläne der Jongs zu erfahren.

Er mied das Dach nur um die Mittagsstunde, da war die Sonne kaum auszuhalten. Dafür liebte er den kühlen Morgen und den Nachmittagsregen. Zum Glück vertrugen die Weißen das Klima weit weniger gut als er, und so wagten auch sie sich überhaupt nur in den Abendstunden heraus. Dann hockten Edwin Jong und seine Brüder schwitzend im Innenhof oder auf einer Veranda, tranken Tee oder gesüßte Limonade und stöhnten über die Unerträglichkeit des guayanischen Sommers.

Obwohl Eno beim Anblick der roten, verschwitzten Schweinegesichter jedes Mal der Wunsch beseelte, aus seinem Versteck zu springen und die verfluchte Dämonenbrut mit einer gestohlenen Machete oder bloßen Händen anzugreifen, übte er sich wohl oder übel in Geduld. Der missglückte Aufstand war ihm eine bittere Lektion.

»Du hast es gut«, brummte Lucas, bei einer der Jongschen Teestunden an seinen Bruder Edwin gewandt. »Du kommst endlich raus aus diesem Loch.«

Edwin zuckte die Achseln. »Ich bin lediglich die Vorhut«, sagte er bescheiden. Doch hinter seiner Gelassenheit schlummerte Überheblichkeit. Er konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, als er nach seinem Limonadenglas griff.

Auch seinem Bruder Lucas fiel die Regung auf.

»Bald wirst du uns nicht mehr kennen«, sagte er bitter. »Stehst ja jetzt schon in Gunst und Würden.«

»Ja, herzlos wirst du sein«, fiel Arjen ein.

Aus einem Grund, den Eno nicht verstand, lachten die Brüder grimmig. Edwin setzte geräuschvoll sein Glas ab. »Schweigt«, brummte er herrisch. »Darüber spricht man nicht.«

Doch die Zurechtweisung reizte seine Brüder nur weiter. »Ach, hast du etwa Angst, dass wir das große Familiengeheimnis ausplaudern?«, ärgerte ihn Lucas.

»Ja, wer soll uns denn hören? Die ruhiggestellten Sklaven-Automaten? Weißt du, was unheimlich ist? Kaum hast du das große Ritual durchlaufen und bist dein Herz losgeworden, schon verwandelst du dich in Daniek«, gab Arjen seinen Senf dazu.

»Die übrigens ein blödes Miststück war, und wir haben sie gehasst, vergiss das nicht.«

Edwin erhob sich. »Vor allem war sie eifersüchtig, weil sie zweitklassig war. Ihr werdet doch nicht den gleichen Fehler begehen?«

Nun sprangen auch die beiden Brüder auf.

»Pass bloß auf, dass du nicht zu selbstverliebt wirst.«

»Passt bloß auf, dass ihr nicht auf dieser Plantage versauert.«

»Ach, troll dich doch endlich, Ed. Und such dir lieber ein gutes Versteck für dein Herz. Sonst ...«

Arjen zog eine übertriebene Grimasse, die wahrscheinlich einen Todeskrampf darstellen sollte.

»Das lasst nur meine Sorge sein«, erwiderte Edwin unbeeindruckt.

Sein Bruder Lucas murmelte ein paar dunkle Worte, aber Edwin ließ ihn mit einem Fingerschnippen verstummen. Lucas griff sich an die Kehle. Seine Lippen bewegten sich, aber er war stumm wie ein Fisch. Auch Arjen erging es nicht besser. Er brachte kein Wort mehr heraus.

»Spart euch das«, knurrte Edwin. »Wenn ich abreise, lasse ich den Zauber vielleicht fallen. Falls ihr bis dahin nicht artig seid, wird es eine sehr schweigsame Zeit für euch. Aber Schweigegelübde haben ja bekanntlich so manchem beim Lernen genutzt.« Edwin trat ins Haus. Seine Brüder sahen ihm mit hasserfülltem Blick nach.

Eno hatte genug gesehen, auch er zog sich zurück, bevor die Aufmerksamkeit der gelackmeierten Brüder umschwenken konnte.

Einer aus dieser Hexenbrut war also bald schon allein unterwegs. Und er trug sein Herz bei sich. Die Bemerkungen seiner eifersüchtigen Verwandtschaft hatten darauf abgezielt, dass dieses Herz eine Schwachstelle bedeutete. Zumindest, wenn es ein anderer in die Finger bekam. Enos eigenes Herz pochte schneller in seiner Brust. Was, wenn der Dämon auf diese Weise zu töten war?

Eno beschloss, dem Hexer zu folgen. Wohin auch immer er reiste, von nun an würde er einen Schatten haben, der ihm nachsetzte. Und irgendwann würde Edwin Jong einen Fehler machen, ganz sicher. Ein Fehler, der sein letzter sein würde. Jeder machte Fehler. Edwin Jong würde sein Herz nicht zu jeder Sekunde bewachen können.

Eno zweifelte keinen Augenblick daran, dass es den Hexer auch weiterhin begleiten würde. Er hatte die Verachtung und das Misstrauen in Edwins Blick erkannt. Der Dämon traute seiner Sippschaft nicht. Kein Wunder, es schien unter ihnen keine Freundschaft oder Zuneigung zu geben.

Als Edwin Jong im Morgengrauen des neuen Tages abreiste, folgte ihm der Junge, schnell wie ein Affe.

Edwin leitete einen der seltenen Zuckertransporte. Zwei Aufseher begleiteten ihn. Einer lenkte den Planwagen, der die Zuckerkisten enthielt. Edwin und der andere flankierten den Wagen zu Pferd. Sie trugen sogar Schießeisen bei sich. Jong hatte überdies gut sichtbar seine Jagdflinte geschultert.

Obwohl die Männer auf ihren Pferden schneller waren als der Junge, gelang es Eno mühelos, sich an ihre Fährte zu heften. Schließlich führte lediglich eine einzige Straße von der Plantage weg.

Er hatte stets davon geträumt, auf diesem Pfad einmal von der Plantage fortzukommen und das elende Zuckerrohr hinter sich zu lassen. Dennoch schien ihm die Wanderung nun nicht mehr wie der Aufbruch in ein neues Leben. Während er im Laufschritt den Karrenspuren folgte, spürte er noch immer die Bindung an das Grauen der Plantage, an die dunkle Magie der Jongs und ihre Grausamkeit.

Der böse Zauber würde ihn niemals loslassen, egal wie weit er auch ging. Dieses Wissen aber machte ihn weder mutlos noch niedergeschlagen. Weit gefehlt, es gab ihm eine neue, bisher ungeahnte Stärke. Sein Leben gehörte der Rache. Und in dem Augenblick, da er sich darauf einließ, spürte Eno, dass ihn nichts aufhalten konnte. Keine Macht der Welt würde sich zwischen ihn und sein Ziel stellen.

Die Straße führte hinunter ans Ufer des Demerara-Flusses und dort zu einer Ansammlung einfach gebauter Blockhütten. Eine Herberge und zwei Gehöfte drängten sich um eine Anlegestelle.

Edwin Jong verweilte einen Tag in der Herberge, dann bestieg er eines der großen hellen Segelschiffe, die den Demerara hinauf und hinab zogen, um wie riesige Wasservögel auf den Wellen zu gleiten und die Weißen herbei- oder fortzubringen.

Ein schwarzer, abgerissener Sklavenjunge hatte keine Chance, sich den vornehmen Herren und Damen anzuschließen.

Dennoch trieb er sich bettelnd am Flusshafen herum, in der Hoffnung auf eine Gelegenheit, sich an Bord zu schleichen.

Zweimal schaffte er es bis in den Laderaum, und zweimal setzten ihn die Matrosen wieder an die Luft. Beim zweiten Mal steckte er ein paar kräftige Tritte und die Drohung ein, den Hals herumgedreht zu bekommen, wenn er sich noch einmal blicken ließ.

Kurz darauf legte der Segler ab, wurde kleiner und verschwand schließlich hinter einer Flussbiegung.

Eno ballte die Fäuste. Das konnte es nicht gewesen sein. Eine dürre, junge Katze schlich um seine Beine und mauzte hungrig. Ohne nachzudenken, wollte er sie forttreten, doch plötzlich dauerte ihn das Tier.

Einem Impuls folgend, hockte er sich nieder und streichelte das stumpfe, gänzlich schwarze Fell des kleinen Streuners. Weich und zärtlich schmiegte die Katze ihren Kopf gegen seine Handfläche. Sie war dürr, ausgehungert und heimatlos. Aber zäh. Er setzte sich an den Pier und teilte seinen letzten Trockenfisch mit ihr.

Dann lehnte er sich zurück und lauschte den Gesprächen der Hafenarbeiter und der wenigen Passagiere, die mit dem Segler gekommen waren. Schnell erfuhr er, dass beinahe jedes Schiff, das den Fluss hinunter fuhr, die Insel Borselen zum Ziel hatte. Den Namen hatte er schon hin und wieder auf der Plantage gehört. Die Aufseher hatten gesagt, dass dort ein Fort stand. Ihren Bemerkungen zufolge musste es sich dabei um eine sehr große Villa handeln.

Und dort war auch die Hauptstadt von Demerara. Eno war sich nicht sicher, was genau eine Hauptstadt war. Die einzige Stadt, die er jemals erlebt hatte, war Cartagena de Indias gewesen. Und auch dort hatte er nur den riesigen Hafen gesehen und auf einem stinkenden Strohlager in einer Holzbarracke geschlafen, bevor man ihn und andere Sklaven von einem Schiff aufs nächste verladen hatte.

Jedenfalls fuhren alle Schiffe zu dieser Hauptstadt auf der Insel Borselen, kurz vor der Küste.

Nur wenige Stunden später legte ein breites Frachtschiff am Hafen an, um neue Waren aufzunehmen und einige andere auszuladen. Dort schufteten schwarze Arbeiter an Deck. Flink wie eine Strandkrabbe war Eno auf den Füßen und stromerte zur Anlegestelle.

Die Matrosen scheuchten ihn weg, aber er bettelte um Arbeit. Schuften wollte er wie zwei Männer, wenn sie ihn nur ließen und ihn nach Borselen brachten. Aber die Männer blieben hartherzig. »Wir brauchen keine weiteren Fresser.«

Eno lungerte dennoch weiter in der Nähe des Lastenkahns herum.

Schließlich gewann er die Aufmerksamkeit eines älteren Seemanns, dessen Haut zu hell für einen Sklaven und zu dunkel für einen Weißen war. Ein Mischling, der scheinbar das Sagen an Bord hatte. Der Mann hockte an Deck, ließ die Beine über die Reling baumeln und paffte ein Pfeifchen. Er sprach Eno im unter den Sklaven gebräuchlichen Mischmasch aus ihren Heimatsprachen und ein paar Brocken Holländisch und Spanisch an.

»Junge, ist das deine Katze?«

Verwundert blickte Eno an seinen Beinen herab. Die kleine schwarze Mieze war weiterhin bei ihm geblieben. Wie zur Bestätigung rieb sie ihre Nase an seinem Bein.

Der Seemann senkte die Mundwinkel. »Also, was ist denn nun?«

Eno legte den Kopf schief und starrte spitzbübisch zu dem Matrosen hinauf. Unauffällig sah er sich bereits nach Fluchtrouten um, falls es Ärger gab. »Und wenn das meine ist, was dann?«, versetzte er.

»Ich kauf sie dir ab.«

»Wieso? Habt ihr Ratten?«

»Geht dich nichts an, Balg, ich geb dir'n paar Kröten für die Katze.«

»Die ist nicht verkäuflich«, behauptete Eno schnell und reckte die Schultern. »Aber wenn ich an Bord komm, dann kommt sie mit.«

»Aber hier gibt's keine Arbeit für dich.«

»Arbeit gibt's immer«, behauptete Eno. »Ich bin ein guter Rattenjäger. Genau wie meine Katze.«

»Ach, sei doch still, du. Ein weggelaufener Sklave bist du. Das ist alles.«

»Klug genug zum Weglaufen, klug genug zum Rattenfangen.«

»So, meinst du?« Der Seemann starrte Eno lange an. Schließlich klopfte er seine Pfeife aus und nickte dem Jungen zu. »Sieh zu, dass du an Bord keinen Ärger machst. Sonst bist du ganz schnell Futter für den Fluss.«

Eno ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine Katze auf dem Arm hüpfte er die Reling hinauf. Sein neuer schwarzfelliger Freund protestierte mauzend gegen die ungewohnte Behandlung, ließ den Transport jedoch über sich ergehen, ohne die Krallen auszufahren.

Der Frachtkahn, ein Plattboot namens Albatros, bot Arbeit für ein halbes Dutzend Leute. Es gab nur zwei Weiße an Bord, den Kapitän und den Steuermann. Sie kommandierten die Matrosen mit harter Hand, wer zu langsam war oder sich beim Dösen erwischen ließ, spürte schnell die Peitsche. Die Herren des Schiffs erinnerten Eno auf unangenehme Weise an die Aufseher.

Sein Freund, der Mulatte, nannte sich Poppa und arbeitete zu Enos Überraschung in der Kombüse. Er schien eine bevorzugte Stellung zu besitzen, immerhin fragte niemand, warum Eno an Bord war, nachdem der Smutje ihn demonstrativ als seinen Gehilfen vorgestellt hatte.

Von da an musste der Junge Kartoffeln und Apfelsinen schälen oder den Boden wischen. Gab es in der Küche nichts zu helfen, verbannte ihn Poppa in die Frachträume, wo er wie versprochen Ratten jagen musste. Zwischen duftenden Tabakkisten, gewebten Teppichen und Säcken voller Zucker legte Eno Schlingen aus und lauerte auf Beute. Genau wie seine Katze, die er Schatten getauft hatte.

Sie waren ein gutes Duo. Jeden Abend schleppten sie eine Handvoll Ratten an Deck, die unter anerkennendem Gejohle in den Fluss geworfen wurden. Selbst der Kapitän nickte huldvoll.

»Du stellst dich gar nicht mal dumm an, Kleiner«, lobte Poppa am dritten Abend. »Hast anscheinend einen natürlichen Jagdinstinkt.«

Eno erwiderte nichts, doch Poppa runzelte die Stirn. »Das Leuchten in deinen Augen gefällt mir gar nicht, Kurzer. Du bist noch zu jung zum Hassen.«

Eno presste die Lippen aufeinander, zerkleinerte Hochbananen und senkte den Kopf. Was wusste schon ein alter Seemann von Hass und Hexen?

In dieser Nacht lagerten sie im selben Hafen wie das Flussschiff der Weißen. Längst war Enos Entschluss gefasst.

Heimlich stahl er sich von Bord und glitt in die dunklen Wellen des Flusses. Leise wie ein junger Alligator schwamm er hinüber zum anderen Schiff.

Im Schutz der Dunkelheit gelang es ihm, am Heck hinaufzuklettern und sich über die Reling zu ziehen.

Das Segelschiff war größer und schöner als der Lastenkahn. Auf dem Oberdeck boten helle Tücher, aufgespannt wie Baldachine, den Gästen tagsüber Schatten. Die Kajüten waren dennoch winzig, und so zogen es viele Reisende vor, an Land zu übernachten. Die wenigen, die an Bord geblieben waren, nahmen noch einen Schlummertrunk auf dem Oberdeck zu sich. Kein Wunder, drückte doch im beengten Inneren an Bord eines Schiffes die feuchte, warme Luft des Tages doppelt auf den Körper.

Das hatte Eno im Frachtraum der Albatros schwitzend und mit brummendem Schädel gelernt.

Eno musste nicht lange spähen. Unter dem Baldachin hockte der verhasste Hexer neben einer jungen weißen Frau. Sie trug im Gegensatz zu der getöteten Daniek Jong keine Hosen, sondern ein langes, helles Kleid und weiße Handschuhe. Ihr sonnenhelles Haar hatte sie hochgesteckt unter einem Strohhut.

Eno stellte sich unwillkürlich vor, wie sie in diesem Aufzug über eine Plantage lief. Es erschien ihm kaum möglich. Doch hier, an Bord dieses fremden Schiffes wirkte sie wie ein Traum aus einer fernen Welt. Sie sprach angeregt mit dem Dämon. Beide lachten oft und verstanden sich anscheinend ausgezeichnet.

Das ließ hoffen, dass der Hexer wohl noch eine Weile an Deck bleiben würde, um den Abend und die Gesellschaft zu genießen. Das bedeutete, dass es kaum eine bessere Gelegenheit gab, sich seine Kajüte näher anzusehen.

Schmal und flink wie er war, gelang es Eno schnell, zu den Kajüten der Passagiere vorzudringen. Dort war alles ruhig, fast alle Gäste genossen die kühlende Abendluft auf dem Oberdeck.

Eno zögerte. Es gab viele Türen, und er wusste nicht, welche er zuerst versuchen sollte. Einmal mehr begriff er, dass dieser Segler weit größer war als die Albatros mit ihrem vollgestopften Frachtraum, der Kapitänskajüte und dem Mannschaftsquartier.

Da fiel ihm ein, dass er bei seinen vorherigen Versuchen, an Bord zu kommen, einen schwarzen Jungen in der weißen Uniform eines Bediensteten gesehen hatte. Dieser Knabe konnte ihm vielleicht weiterhelfen, wenn man ihm nur die richtige Geschichte auftischte.

Anstatt weiter durch das Schiff zu schleichen und eine Entdeckung zu riskieren, suchte Eno ein Versteck. Eine breite Bretterkiste mit Werkzeug und Segeltuch bot seinem schmalen Knabenkörper gerade genug Platz. Er spähte zwischen den Ritzen hindurch und wartete mit klopfendem Herzen auf seine Gelegenheit. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Der Schiffsjunge huschte den Gang entlang, dabei balancierte er ein silbernes Tablett mit zwei Tonkrügen auf der rechten Hand.

Eno hob den Deckel der Kiste an. »He!«, flüsterte er so laut wie möglich. »He du.«

Der Schiffsjunge kam abrupt zu stehen und fuhr herum, als habe er es mit einem Geist zu tun. Das Tablett schwankte gefährlich.

»Was machst du hier?« Neugierig starrte der Junge zur Kiste, während Eno vorsichtig den Deckel anhob. »Bist du nicht der Bursche, der sich neulich an Bord schleichen wollte? Verschwinde bloß ganz schnell oder die prügeln dich windelweich.«

Eno schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich will gar nicht hierbleiben, aber ich muss etwas erledigen.«

Der Junge kratzte sich verwirrt im Nacken. Er schien nicht der Schlaueste zu sein. Eno betrachtete das als einen Vorteil.

»Da ist ein weißer Mann an Bord«, begann er.

»Hier sind viele weiße Männer.«

»Aber dieser eine«, log Eno. »Er hat meine Schwester geschändet. Und jetzt will er sie verkaufen.«

Der Junge schlug die freie Hand vor den Mund. »Du bist ein weggelaufener Sklave?«

»Ich bin ein Mann, der seine Schwester retten will«, warf sich Eno in die Brust. »Hör zu, du musst mir helfen.«

»Ich kann nicht.«

»Wenn du eine Schwester hättest, würdest du zulassen, dass sie irgendwohin verschachert wird?« Eno übte sich in einer Mischung aus Flehen und bedrohlicher Entschlossenheit. »Du musst mir helfen.«

»Wenn sie mich erwischen ...«

»Niemand erwischt dich! Sag mir bloß, wo das Zimmer ist.« Die Worte mündeten in ein wütendes Fauchen. Der Schiffsjunge schrak zurück. Furcht stahl sich in seine Augen. »Wen suchst du?«

»Sein Name ist Edwin Jong. Er sitzt oben an Deck und macht sich eine schöne Zeit mit einem weißen Weib. Wo ist seine Kabine?«

Die Gefahr, entdeckt zu werden, saß Eno im Nacken wie ein Alp, der ihn zwang, den völlig verstörten Schiffsjungen an der Kehle zu packen und langsam zuzudrücken.

»Wo ist seine Kabine?« Eno war sicher, dass seine Augen seine wahren Empfindungen preisgaben. Wut und Rache.

Das Tablett entglitt den angstfeuchten Knabenhänden und rutschte klirrend nebst Inhalt auf die Planken. Endlich kam Leben in den Schiffsjungen. Panisch deutete er den Flur hinab.

»Dieser Jong, der ist der reichste von all den Händlern hier.« Auf einmal sprudelten die Worte aus ihm heraus wie ein Wasserfall. »Er hat die größte Kabine, im Heck, gleich unter der Kapitänskajüte. Die letzte Tür, du kannst es nicht verfehlen.

»Gut.« Enos Griff lockerte sich. »Und jetzt holst du ein Tuch und machst du den Dreck weg. Wenn du mich verpfeifst, komme ich wieder und stech dich ab, verstanden?«

Der Schiffsjunge nickte vollkommen eingeschüchtert. Eno wandte sich ab und betete zu allen Göttern, die ihm gewogen waren, dass seine Drohung wirkte und der Junge sich wenigstens noch ein paar Minuten beherrschen würde, bevor er das Schiff zusammenschrie.