Sonst fressen dich die Raben!

 

 

 

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Band 34

 

Sonst fressen dich die Raben!

 

von Susanne Wilhelm und Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2013

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Reinhard Schmidt

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind …

 

 

 

 

Erstes Buch: Der Nekromant

 

 

Der Nekromant

 

von Susanne Wilhelm

nach einer Story von Uwe Voehl

 

1.

 

Café Zamis

Aus dem untersten Fach hinter dem Tresen des Café Zamis starrte mich ein pelziger Klumpen an. Es war gerade einmal zwei Wochen her, dass Karl und ich die Renovierungsarbeiten an dem Kaffeehaus abgeschlossen hatten. Dennoch hielt bereits wieder die Schmuddeligkeit Einzug, die in dem Laden geherrscht hatte, als er noch »Espresso Rosi« geheißen hatte. Aus zusammengekniffenen Augen musterte ich das undefinierbare Etwas in dem Fach. Bei genauerer Betrachtung glaubte ich, eine ungefähr dreieckige Form zu erkennen. Doch das meiste war unter flauschigem Schimmel verborgen.

Ich hatte ganz bestimmt keinen Putzfimmel, aber wenn unter dem Tresen neue Lebensformen entstanden, fand ich das nicht mehr lustig.

»Karl …«

Der Wirt sah von dem Glas auf, das er mehr schlecht als recht polierte. »Was gibt's, Pupperl?«

»Was ist das da?« Ich deutete auf den Klumpen. Hatte er sich gerade bewegt?

Karl kam zu mir herüber, ging in die Hocke und spähte in das Fach. »Oh. Das hatte ich vorletzte Woche ja noch aufessen wollen …«

»Das war mal ein Sandwich?« Ich schloss es aus seinem Kommentar und der dreieckigen Form.

Karl nickte. »Und ein leckeres dazu. Das kommt davon, wenn es hier plötzlich vor Kundschaft nur so wimmelt. Dabei vergisst man glatt sein Mittagessen. Und jetzt ist es ungenießbar.«

»Wenn du es nicht mehr willst, nehme ich es.« Ein scheußlicher Gestank kündigte Vindobenes Ankunft an. Eilig erhob ich mich und gewann einen Schritt Abstand von dem niederen Dämon. Normalerweise ernährte sich der ehemalige Gehilfe von Skarabäus Toth von den negativen Emotionen der Menschen. Doch nun hob er das verschimmelte Sandwich auf und schob es sich in den Mund. Demonstrativ genüsslich kaute er darauf herum. Kurz glaubte ich, zwischen seinen Lippen etwas krabbeln zu sehen. »Hmm…«, machte er. »Schimmelkäse mit Fleischbeilage.«

Ich wandte mich Karl zu. »Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass es deine Aufgabe ist, den Tresen sauber zu halten?« Ich kam mir schrecklich kleinbürgerlich vor. War ich etwa allen Zwängen meines bisherigen Lebens entkommen, um nun darüber zu streiten, wer wann was putzte? Das war bestimmt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.

Karl zuckte mit den Schultern. »Ich mach doch sauber, Pupperl. Man kann ja mal was übersehen. Reg dich nicht auf. Du tust so, als würden wir ein Nobelrestaurant führen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nur, dass die Kunden, die hier reinkommen, nicht gleich rückwärts wieder rausgehen. Wenn du alles verkommen lässt, was wir gerade erst renoviert haben, kannst du am Ende wieder nur Getränke an Leute wie Tschick ausschenken.«

»Coco hat recht«, sprang mir Lilian bei. Dorian Hunters Ehefrau kam gerade mit einem Wischmopp und einem Eimer in der Hand aus der Richtung der Billardtische. Immerhin, einer war auf meiner Seite. »Es ist doch alles so hübsch geworden. Nun muss man dafür sorgen, dass es auch so bleibt.«

Karl wandte sich halb ab und murmelte etwas vor sich hin. Es klang nach: »Früher hatte man hier zumindest noch seine Ruhe.«

Wie um seine Worte zu bestätigten, klopfte in diesem Moment jemand an die Glasscheibe der Tür. Ich spähte hinüber. Wir hatten noch nicht geöffnet, aber offensichtlich brauchte irgendjemand sehr dringend einen Kaffee.

Es klopfte erneut.

Ich ging zur Tür, um den Störenfried auf später zu vertrösten. Doch auf halbem Weg erkannte ich das Gesicht des Mannes durch das Glas. »Georg!«

Das einzige Mitglied meiner Familie, das mir noch etwas bedeutete. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, weil ich seit meinem Auszug aus der Villa Zamis nichts mehr von ihm gehört hatte. Nun, da ich fort war, nahm er meinen Platz als Sündenbock der Familie ein, wenn etwas schiefging. So viel hatte ich von Norbert Helnwein erfahren.

Als ich öffnete und ihn einließ, war seine Miene ernst.

»Wie geht es dir?«, fragte ich. »Wie geht es dem Rest der Familie?«

Auf die letzte Frage hin winkte er ab. »Vaters Laune ist noch schlechter als sonst. Der Rest befindet sich auf dem Weg der Besserung.«

Dorian Hunter hatte meiner Familie schwer zugesetzt. Adalmar war dem Tod nur knapp entkommen. Er war förmlich zerstückelt worden und noch immer damit beschäftigt, sich wieder zusammenzufügen. Mutter hatte ihre Beine verloren. Ob sie je wiederhergestellt werden konnten, stand bisher nicht fest. Lydia würde für immer eine hässliche Narbe im Gesicht zurückbehalten, die das Schwert der Hexe von Endor geschlagen hatte. Und Volkart … niemand wusste so recht, was mit Volkart war – oder genauer gesagt, wo er war.

Ich führte Georg zum Tresen und bot ihm etwas zu trinken an. Doch er schüttelte den Kopf. Irgendetwas bedrückte ihn, das war ihm anzusehen.

»Du bist nicht einfach hergekommen, um hallo zu sagen, nehme ich an.« Ich versuchte, damit das Eis zu brechen.

Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Volkart ist verschwunden.«

»Ich weiß. Vater hat es mir schon erzählt.«

»Vater weiß nicht, warum er verschwunden ist«, sagte Georg. Er ließ den Blick über das Spirituosenregal schweifen. »Vielleicht nehme ich doch einen Drink.«

»Aber du weißt, warum Volkart verschwunden ist?«, fragte ich, während ich ihm aus einer Flasche einschenkte, auf die er gedeutet hatte.

»Nicht genau«, schränkte Georg ein. »Allerdings habe ich kurz vor seinem Verschwinden noch mit ihm gesprochen. Er hat einige seltsame Andeutungen gemacht. Unter anderem hat er gesagt, dass er kurz davor stehe, Demian wiederzusehen.«

Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Demian war Volkarts Zwillingsbruder … gewesen und damals bei unserem Zwist mit den Winkler-Forcas gestorben.

»Ich fürchte, Volkart könnte etwas zugestoßen sein«, fuhr Georg fort.

Es klang tatsächlich danach. Ich nickte, während ich ihm seinen Drink hinstellte. Gleichzeitig war ich mir bewusst, dass Karl, Lilian und Vindobene neugierig die Ohren spitzten. »Und warum erzählst du das mir und nicht Vater?«

Georg schnaubte. »Du weißt doch, wie er Volkart nach Demians Tod in das Sanatorium abgeschoben hat. Sie haben ihn totgeschwiegen. Und seit seiner Rückkehr ist er noch seltsamer geworden. Er war schon immer das schwächste Glied unserer Familie. Die anderen würden ihn lieber tot als lebendig sehen. Getreu nach unserem Familienmotto …«

»Besser ein toter Zamis als ein schwacher Zamis«, ergänzte ich. Gleichzeitig bemühte ich mich um einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck. Hinter dieser Fassade arbeitete es. War Georg tatsächlich von sich aus gekommen oder hatte Vater ihn geschickt? War dies ein Trick, um mich vom neutralen Boden, den das Café Zamis darstellte, herunterzulocken? Ich machte mir nichts vor. Georg mochte mir von allen Mitgliedern meiner Familie noch am ehesten wohlgesonnen sein, aber das änderte nichts daran, dass seine Loyalität zuallererst der Familie galt. Ich hatte Vater zutiefst verletzt und ihm mal wieder einen ganzen Haufen Schwierigkeiten bereitet. Das würde er nicht einfach so auf sich sitzen lassen.

»Und ausgerechnet du willst Volkart nun helfen?«, fragte ich vorsichtig.

Georg ignorierte die Frage. Stattdessen zog er eine Mappe unter seiner Jacke hervor. Sie war schlicht und schwarz. Er legte sie auf den Tresen. »Das hier habe ich in einem Versteck in seinem Zimmer gefunden«, sagte er. »Sieh es dir an.«

Mit diesen Worten kippte er seinen Drink in einem Zug runter, dann erhob er sich und verließ das Café. Ich blickte ihm nachdenklich hinterher.

Karl schob sich näher an mich heran und beäugte die Mappe neugierig. »Was ist das?«

Eilig zog ich die Kladde an mich heran und damit aus seiner Reichweite. »Eine Familienangelegenheit.«

Als ich mich umwandte, begegnete ich Lilians besorgtem Blick. »Sei vorsichtig, Coco. Es könnte eine Falle sein.«

Karl nickte heftig. »Sobald du das Café verlässt, bist du in Gefahr. Sowohl Asmodi als auch dein Vater haben dir Rache geschworen. Vielleicht ist diese Mappe nur ein Trick, um dich aus deinem sicheren Hafen zu locken.«

Das waren alles Überlegungen, die mir auch schon durch den Kopf gegangen waren. Doch es rührte mich, dass es tatsächlich Leute gab, die sich Sorgen um mein Wohlergehen machten. Das hatte ich in meinem bisherigen Leben viel zu selten erlebt. Ich lächelte. »Keine Sorge, ich passe schon auf. Aber jetzt entschuldigt mich.«

Ich zog mich zurück und stieg in den Keller des Cafés hinab. Dort erstreckte sich ein wahres Labyrinth aus Räumen und Gängen. Auch während der Renovierungsarbeiten hatte ich dort unten noch längst nicht alles erforscht. Allerdings hatte ich es Karl gleichgetan und mir in einem Teil des Kellers eine eigene Wohnung eingerichtet.

Während ich hinabstieg, dachte ich über meine Situation nach. Wenn ich in Sicherheit bleiben wollte, war ich tatsächlich fast genauso eine Gefangene im Café Zamis wie Karl. Aus irgendeinem Grund stellte das Café neutralen Boden dar. Magie war darin niemandem möglich – abgesehen von mir. Draußen allerdings lauerten Asmodi und mein Vater nur darauf, dass ich das Café verließ.

Und das war nicht mein einziges Problem. Ich strich mit der freien Hand über meinen Bauch. Die leidenschaftliche Liebesnacht mit Dorian Hunter hatte Konsequenzen gehabt. Noch hatte ich nicht entschieden, was mit dem Kind geschehen sollte. Wollte ich es überhaupt austragen? Ein Kind war eigentlich das Letzte, was ich im Moment gebrauchen konnte. Ich hatte genug andere Probleme. Es wäre ein Leichtes, das ungeborene Leben abzutreiben – oder aber nach Dämonenart einer menschlichen Frau unterzujubeln, die es dann für mich austrug.

Noch hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, doch allzu lange durfte ich die Entscheidung nicht vor mir herschieben.

In meiner Wohnung angekommen ließ ich mich auf ein schickes, neues Sofa fallen und legte die Füße hoch. Dann endlich studierte ich die Mappe genauer.

Auf den ersten Blick war der Einband schlicht schwarz und ohne Verzierungen. Erst auf den zweiten erkannte ich einige eingeprägte Zeichen. Bei ihrem Anblick musste ich schmunzeln. Es handelte sich um ein magisches Siegel. Deshalb war Georg mit der Mappe also zu mir gekommen. Er hatte sie nicht öffnen können!

Ich fuhr mit den Fingern über das Siegel und prüfte, wie es beschaffen war. Mir kam es nicht sonderlich kompliziert vor. Ich legte den Zeigefinger an eine bestimmte Stelle und murmelte einen Spruch.

Plötzlich kam Bewegung in das eingeprägte Zeichen. Es wand sich über den Deckel der Mappe, als wäre es ein lebendes Wesen, das Schmerzen litt. Es versuchte, meiner Berührung zu entkommen. Ohne mich beirren zu lassen, hielt ich weiterhin den Finger auf die Prägung gepresst. Ich sprach ein letztes Wort, das den Spruch vollendete. Mit dem trockenen Knistern von Papier löste sich das Zeichen auf. Kurz stieg mir ein verbrannter Geruch in die Nase.

Jetzt konnte ich die Mappe öffnen. Darin fand ich einen ganzen Stapel loser Blätter. Es war nicht schwer zu erkennen, worum es sich dabei handelte. Schon das Überfliegen der ersten Seite genügte.

Ich hatte hier ein Tagebuch vor mir – Volkarts Schwarzes Tagebuch, um genau zu sein. Der erste Eintrag schien kurz nach Demians Tod geschrieben worden zu sein, also kurz nachdem Volkart in das Sanatorium eingeliefert worden war. Neugierig begann ich zu lesen.

 

 

2.

 

Volkarts Schwarzes Tagebuch

Tag 1 der Verbannung

Meine Familie hat mich abgeschoben. Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, seit Demian tot ist, das waren Vaters Worte. Ich bin eine Schande für die Familie Zamis. Ein Schwächling.

Vielleicht haben sie ja recht. Manchmal habe ich das Gefühl, als wäre mit Demian ein Teil von mir gestorben. Wir haben schon immer alles zusammen gemacht. Seit unserer Geburt waren wir kaum getrennt gewesen. Die meisten Leute konnten uns nicht auseinanderhalten.

Dann kam der Tag, an dem ich den Schmerz spürte, der mir sagte, dass ein Familienmitglied in Gefahr war – Demian. Er war bereits tot, als ich ankam. Was danach geschah, weiß ich kaum mehr. Ich tat, was man mir sagte, doch die Welt um mich herum wirkte weniger real. Ich spielte nur noch eine Rolle in einem schlechten Stück. Mit der Zeit waren das Einzige, was mir noch echt erschien, Blut und Schmerz. Das Blut und der Schmerz der Menschen, die ich quälen durfte, wenn es einen Sabbat gab oder ähnliche Gelegenheiten. Wenn ich in ihrer Angst und in ihrem Leid bade, wenn ihre Schreie in meinen Ohren gellen und jeden anderen Gedanken verdrängen, kann ich fast vergessen, dass ich nur noch eine halbe Person bin. Aber diese Momente sind immer zu kurz. Danach geht es wieder auf die graue Bühne und in die Ereignisse des Schmierentheaters, das mein Leben geworden ist.

Und nun scheint es, als hätte ich meine Rolle nicht gut genug gespielt. Nun bin ich hier, in diesem Sanatorium, zusammen mit den Verzweifelten und den Verlorenen, weil Vater am liebsten vergessen würde, dass er einst zwei Söhne mehr hatte.

Es gibt sogar einen Arzt hier, der mich heilen soll. Sein Name ist Dr. Bartholomäus Breitenstein. Er redet zu viel. Er sagt, ich schweige zu viel.

 

Tag 2 der Verbannung

»Wollen Sie über Ihren Bruder reden?«, fragte Dr. Breitenstein heute.

»Über welchen?«, fragte ich zurück, obwohl ich natürlich genau wusste, welchen er meinte.

»Demian«, erwiderte Breitenstein geduldig. Ich glaube langsam, dass es nichts gibt, womit man ihn aus der Ruhe bringen kann. »Ihr Zwillingsbruder.«

»Er ist tot.« Ich versuchte es wie eine nüchterne Feststellung klingen zu lassen.

Breitenstein rückte seine Brille zurecht, die seine Augen so groß wirken lässt wie die eines Insekts. »Was empfinden Sie dabei, dass er tot ist?«

Ich schwieg. Immer diese Fragen. Was empfinden Sie hierbei? Wie fühlen Sie sich damit? Was nützt es mir, diesem Arzt zu sagen, wie ich mich fühle? Er kann die Leere nicht füllen, kann mir meine fehlende Hälfte nicht zurückgeben.

Der Rest der Therapiestunde verging damit, dass er redete und ich schwieg. Als er mich schließlich zum Abendessen schickte, fragte ich mich, wie lange es wohl dauern wird, bis er aufgibt. Hoffentlich nicht allzu lange.

Das Essen wird in zwei unterschiedlichen Sälen eingenommen. Ich sah einige der menschlichen Patienten in einen Raum trotten, während ich in einen anderen geführt wurde. Der Speisesaal sieht aus, wie man es von einer solchen Klinik erwartet. Ein Tresen an einer Seite, an der das Essen ausgegeben wird. Reihen von Tischen im Rest des Raumes. Ich stellte mich mit meinem Teller an und wurde von der Frau gemustert, die hinter dem Tresen stand. Sie war derart fett, als würde sie den Großteil des Essens selbst herunterschlingen. Ihre Taille, die ich nicht mit beiden Armen hätte umfassen können, wurde von einer gewaltigen Schürze eingeschnürt. Sie kniff die tief liegenden Augen zusammen, während sie mich betrachtete. »Normales Essen«, stellte sie schließlich fest.

Ich ließ den Blick über die Auswahl schweifen. Ein ganzes, halb verrottetes Menschenbein lag auf Eis. Offensichtlich nimmt dieses Sanatorium sogar Ghoule auf. Daneben schwappte Blut in einem großen Gefäß, außerdem lagen Knochen mit einigen Fleischfetzen daran aus – Letztere vielleicht als besonders knuspriger Snack für die Werwölfe. Aber in direkter Nachbarschaft fand sich auch eine Sammlung erlesener Speisen, die vermuten ließen, wie viel mein Aufenthalt hier Vater kostete.

Ich nickte. »Normales Essen.«

Dann schaute ich mich halb um, wollte einen Blick zu Demian werfen, ihn auf eine Made in dem eisgekühlten Bein aufmerksam machen … und erst nach einem Moment fiel mir wieder ein, dass er nicht mehr da war. Verfluchte Gewohnheit.

Mit dem vollen Teller ging ich schließlich zwischen den Tischreihen hindurch. Neben einer Frau mit langem, schwarzem Haar und blassem Teint fand ich einen freien Stuhl, auf den ich mich setzte.

Sie sah von dem großen Becher auf, den sie in den Händen hielt, und lächelte, wobei spitze Eckzähne enthüllt wurden. Ich konnte mir denken, was in dem Becher war.

»Der Neue«, stellte sie fest.

Ich hob eine Augenbraue.

»Zumindest habe ich dich noch nie hier gesehen, und Breitenstein hat gesagt, dass jemand Neues hier ist.«

Ich nickte.

»Ich bin Claudia«, stellte sie sich vor.

»Volkart«, sagte ich. Beide nannten wir keine Familiennamen. Ich mag abgeschoben worden sein, aber ich weiß, wie wütend Vater würde, wenn der Name Zamis in diesem Sanatorium fiel. Es wäre ein Makel, ein Zeichen der Schwäche. Je weniger Leute an diesem Ort wissen, welcher Familie ich angehöre, desto besser.

»Das da ist Lucius.« Claudia deutete auf den Mann, der ihr gegenübersaß. Er war groß und seine breiten Schultern sprengten beinahe sein Hemd. Unter dem Kragen lugte der Beginn eines Tattoos hervor. Ich glaubte, magische Zeichen zu erkennen. Ein breites Kinn und ein Dreitagebart rundeten das Bild des grobschlächtigen Schlägers ab. Auch vor ihm stand ein Teller mit dem »normalen« Essen. Lucius nickte mir kurz zu, bevor er seine Mahlzeit weiter in sich hineinschaufelte. Ich bemerkte, dass er es vermied, in Claudias Richtung zu sehen.

»Warum bist du hier?«, fragte Claudia an mich gewandt.

Ich zuckte mit den Schultern. Mit einer fremden Vampirin würde ich sicher nicht über Demian reden.

»Bist wohl nicht sehr gesprächig, was? Aber hier ist es nicht schlimm, eine Schwäche einzugestehen. Jeder hier hat eine. Ich zum Beispiel bin kleptomanisch veranlagt.«

Zwischen zwei Bissen rückte ich vorsichtshalber ein Stück von Claudia weg und ging in Gedanken durch, was ich in den Taschen hatte. Nichts Wichtiges, soweit ich mich erinnern konnte.

»Habe bei einem Sabbat einige wichtige Besitztümer des Gastgebers mitgehen lassen«, fuhr die Vampirin fort. »Hätte meine Mutter beinahe den Kopf gekostet, weil natürlich alle dachten, das wäre Teil eines Plans. Seitdem bin ich hier.«

Ich hob wieder eine Augenbraue und fühlte gleichzeitig ein Schmunzeln an meinen Mundwinkeln zupfen. Die Geschichte heiterte mich tatsächlich ein wenig auf. Selbst Coco hat es bisher noch nicht geschafft, uns aus so unsinnigen Gründen in Schwierigkeiten zu bringen. Kein Wunder, dass ihre Familie Claudia schleunigst hatte loswerden wollen.

»Lucius hier hat Angst vor Blut.« Die Vampirin deutete auf den Schlägertypen ihr gegenüber.

Lucius warf ihr einen düsteren Blick zu. »Halt die Klappe.«

»Ach? Was tust du, wenn ich nicht die Klappe halte?«, feixte Claudia. »Schlägst du mir die Nase blutig?«

Sie tunkte den Zeigefinger in ihren Becher. Wie zu erwarten kam er mit roter Flüssigkeit benetzt wieder zum Vorschein. Als sie Lucius den Finger entgegenstreckte, wurde der große Kerl blass. Er schob sein Essen von sich und stand so abrupt auf, dass sein Stuhl hinter ihm umfiel. Fluchtartig verließ er den Speisesaal.

Claudia hielt sich den Bauch vor Lachen. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es war gut zu wissen, dass es Leute gab, die schlechter dran waren als ich. Als Dämon kein Blut sehen zu können, kommt einem sozialen Todesurteil gleich.

Genüsslich leckte die Vampirin ihren Finger ab. »Immerhin kann man hier ab und zu ein wenig Spaß haben.«

 

Tag 3 der Verbannung

Am folgenden Tag traf ich Claudia beim Frühstück wieder. Aus irgendeinem Grund saß Lucius erneut ihr gegenüber. Er wirkte nicht glücklich.

Claudia fing meinen Blick auf, der von Lucius zu ihr und wieder zurück glitt. Sie grinste und zeigte dabei ihre Zähne. »Er wird dazu verdonnert, bei mir am Tisch zu sitzen. Konfrontationstherapie.«

Lucius knurrte unwillig und starrte auf seinen Teller.

Während ich mich setzte, nahm Claudia einen Schluck aus ihrem Becher. Alle Fröhlichkeit verschwand aus ihrer Miene. Missmutig starrte sie in ihr Frühstück. »Das ist von irgendeinem alten Sack!«, beschwerte sie sich.

Wie bei einer Wippe stieg Lucius' Laune, kaum dass Claudias sank. »Sollen alte Jahrgänge nicht besonders gut sein?«

»Das gilt für Wein«, knurrte die Vampirin, »nicht für Blut. Ich wünschte, sie würden uns unser Frühstück einfach selbst aussuchen lassen.«

Ich nickte in Richtung des Inhalts ihres Bechers. »Woher?«

Bei meiner Frage hellte sich Claudias Miene auf. »Eine Frage! Ich bin beeindruckt, Volkart. Gestern dachte ich, du kannst vielleicht nur deinen Namen sagen.«

Auf meinen düsteren Blick hin winkte sie ab. Dann hob sie ihren Becher. »Das Blut stammt von einem der menschlichen Patienten. Die sind in der gleichen Lage wie wir. Niemand will sie haben, niemand vermisst sie. Keiner ist wirklich verrückt, das würde den Aufenthalt hier für uns immerhin ziemlich unangenehm machen. Aber sie haben alle Probleme. Drogensucht, cholerische Anfälle, Zwangshandlungen … was auch immer einem so einfällt. Breitenstein studiert sie und lässt sie über die Klinge springen, wie es ihm gerade gefällt.«

Ich nickte. Wenn man Vampire und Ghoule zu versorgen hatte, war es sicher praktisch, immer Menschen zur Hand zu haben, die niemand vermisste.

In diesem Moment zog eine Bewegung am anderen Ende des Speisesaals meine Aufmerksamkeit auf sich. Jemand ging zwischen den Tischen hindurch. Aber nicht einfach nur irgendjemand … Ich erstarrte. Je näher die Gestalt kam, desto sicherer war ich mir. Das Gesicht, das mir entgegenblickte, war dasselbe, das ich jeden Tag im Spiegel sah: bronzefarbenes Haar und ein gewaltiger Schnurrbart. Es gab außer mir nur eine Person, die dieses Gesicht trug: Demian.

Der dazugehörige Körper sah schrecklich aus. Die Kleidung war blutig und zerrissen. Tiefe Löcher klafften in seinem Fleisch. Durch einige davon konnte man das Licht der Fenster hinter ihm erkennen.

Diese Gestalt war nicht nur mein Bruder. Sie war mein Bruder, wie er zum Zeitpunkt seines Todes ausgesehen hatte. Unzählige Metallstangen hatten ihn damals durchbohrt.

»Demian!« Ich sprang auf und rannte auf meinen Zwillingsbruder zu. Hinter mir hörte ich etwas klappern, verstand erst verspätet, dass mein Stuhl umgefallen war wie der von Lucius gestern Abend. Ich hetzte zwischen den Tischen hindurch. Eine Person mit einem Tablett in der Hand schreckte vor mir zurück. Klirrend fiel Geschirr zu Boden. Rufe drangen an meine Ohren, die mich aufforderten, stehen zu bleiben. Aber mein Blick klebte nur an Demian.

Beinahe hatte ich ihn erreicht. Da packte mich plötzlich eine starke Hand von hinten. Ich wirbelte herum, rammte meinem Angreifer die Faust ins Gesicht. Niemand würde mich davon abhalten, zu meinem Bruder zu gelangen!

Mit einem schmerzerfüllten Aufschrei taumelte der Mann zurück, der mich gepackt hatte. Er trug die weiße Uniform eines Pflegers. Aber das spielte keine Rolle. Sofort warf ich mich wieder herum und rannte weiter.

Nach wenigen Schritten blieb ich wieder stehen. Wo war Demian hin? Mein Blick schweifte fieberhaft über die Menge. Gerade hatte er doch noch nur ein paar Schritte entfernt gestanden. Wohin konnte er so schnell verschwunden sein? Aber im ganzen Speisesaal konnte ich ihn nirgendwo mehr finden.

Wieder legte sich eine Hand auf meine Schulter. Diesmal ließ ich es zu. Ich wehrte mich nicht, als die Pfleger meine Arme packten und mich aus dem Saal schleiften. Auch im Gang sah ich mich immer wieder um. Wenn Demian den Saal verlassen hatte, musste er doch hier irgendwo sein! Aber ich sah ihn nicht mehr. Hatte ich ihn überhaupt gesehen oder hatte ich es mir nur eingebildet?

Schließlich tauchte Dr. Breitenstein vor mir auf. »Schlafen Sie«, sagte er.

Ich wusste, dass er mich hypnotisierte, und kämpfte dagegen an. Doch ich war noch nie ein sonderlich starker Hexer gewesen. Letztendlich siegte der Wille des Arztes. Ich versank in Dunkelheit.

 

Tag 4 der Verbannung

Ich erwachte mit Kopfschmerzen. Neben meinem Bett saß Bartholomäus Breitenstein und musterte mich durch seine riesigen Brillengläser. Ich fühlte mich wie ein Insekt unter der Lupe eines Naturforschers.

»Wo ist Demian?«, fragte ich. Meine Stimme klang heiser. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie lange ich geschlafen hatte. Erst später erfuhr ich, dass es bereits der nächste Morgen war.

»Ihr Bruder ist tot«, erwiderte Breitenstein. »Haben Sie das nicht selbst gesagt?«

»Ich habe ihn gesehen.«

»Wo?« Interesse blitzte in den Augen des Arztes. »Im Speisesaal, als Sie seinen Namen gerufen haben?«

Ich nickte. Gleichzeitig befiel mich das ungute Gefühl, zu viel verraten zu haben. Was für einen Strick würde mir der Arzt aus diesem Vorfall drehen? Ich schüttelte den Kopf, um die letzten Reste des Schlafes loszuwerden, und setzte mich auf. Zu meiner Erleichterung konnte ich es. Nur die Gestalt eines Pflegers in der Tür meines Zimmers machte deutlich, dass Breitenstein in meiner Gegenwart ein wenig mehr Vorsicht walten ließ als zuvor.

»Sie haben eine sehr interessante Beziehung zu Ihrem Bruder«, stellte der Arzt fest.

Ich schnaubte. Das war nicht, was ich hatte hören wollen. Was mich viel mehr interessierte, war die Frage, ob ich Demian tatsächlich gesehen hatte oder nicht.

»Ich kann Ihnen versichern«, fuhr Breitenstein fort, »dass Ihr Bruder noch immer ohne jeden Zweifel tot ist und ganz sicher nicht im Speisesaal war. Außer Ihnen hat niemand etwas gesehen.«

Ich starrte die weiß getünchte Wand an und rief mir noch einmal ins Gedächtnis, was im Speisesaal geschehen war. Es hatte so echt gewirkt, überhaupt nicht wie eine Einbildung. Auch während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich ihn deutlich vor mir. Und falls ich mir meinen Bruder einbilde, werde ich dann nicht langsam verrückt? Was geschieht mit einem Dämon, der den Verstand verliert? Werde ich irgendwann meine eigene Gegenwart nicht mehr ertragen können? Werde ich mich selbst vernichten? Immer wenn ich in mich hineinlausche, bemerke ich nichts von der Ausstrahlung des Wahnsinns, die ich von verrückten Menschen kenne.

»Sie müssen sich von ihm lösen«, sagte der Arzt. »Wenn Sie jemals wieder ein normales Leben führen wollen, müssen Sie akzeptieren, dass er niemals wieder zurückkehrt.«

 

Tag 5 der Verbannung

Breitenstein gibt einfach nicht auf. Er löchert mich mit Fragen. Inzwischen höre ich ihm kaum mehr zu, aber heute hat er mich mit einer Frage aus meinen Gedanken gerissen.

»Wie war es früher, wenn Sie von Demian getrennt waren?«, wollte er wissen.

Diese Frage brachte mich ins Grübeln. »Das ist fast nie passiert«, antwortete ich, um meine Ruhe zu haben. Doch in meinem Inneren arbeitete es. Es war schon immer unangenehm gewesen, von meinem Zwillingsbruder getrennt zu sein. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, das Gefühl, nur eine halbe Person zu sein, auch vor Demians Tod schon erlebt zu haben – wenn auch nicht so stark. Immer dann, wenn einer von uns allein irgendwohin musste. Dann drehte man sich um und erwartete, den anderen hinter sich stehen zu sehen, ihm irgendetwas geben zu können, ihn bitten zu können, irgendetwas zu tun … und er war nicht da. Als würde einem eine Hand fehlen.

Ich habe das noch immer manchmal. Den Impuls, sich umzuwenden und zu fragen: »Demian, was denkst du?« Nur um dann daran erinnert zu werden, dass er tot ist.

Ist das Gewohnheit oder gibt es tatsächlich irgendeine Art von Verbindung zwischen uns, wie Breitenstein angedeutet hat?

 

Beim Mittagessen war der Claudia gegenüberliegende Platz leer.

»Lucius?«, fragte ich, während ich mich setzte.

Die Vampirin zuckte mit den Schultern. »Ist durchgedreht, habe ich gehört. Gestern bei der Therapiesitzung. Sie haben ihn betäubt und an sein Bett gefesselt.«

Ich schauderte, als ich daran dachte, wie haarscharf ich gestern daran vorbeigeschrammt war, dasselbe Schicksal zu erleiden. Ich muss besser aufpassen. Schlimm genug, dass ich in diesem Sanatorium festsitze. Es muss nicht sein, dass ich die Tage hier in meinem Zimmer ans Bett gefesselt verbringe.

 

Nachmittags haben wir immer die Möglichkeit, in den Garten zu gehen. Dort treffen wir auch die menschlichen Patienten. Ich frage mich, weshalb sie hier eingeliefert worden sind. Mit Sicherheit sind sie nicht wahnsinnig, denn dann würden wir das spüren.

Ich beobachtete einen Hexer, der vor einem der Patienten immer wieder kleinere Illusionen entstehen ließ, wenn sonst niemand hinsah. Ein Paar Augen im Gras, gebleckte Zähne in den Büschen, Blumen, die sich in die Richtung des Mannes streckten und nach ihm zu greifen schienen.

Für eine Weile amüsierte ich mich darüber, wie der Patient ängstlich vor allem zurückwich, was er sah. Er blickte immer wieder zu den Pflegern, wagte aber nicht, etwas zu sagen, sicher weil er fürchtete, endgültig für verrückt erklärt zu werden. Nun da ich darauf achtete, sah ich diese Angst in den Gesichtern vieler Menschen. Sie bildete eine erfrischende Atmosphäre der Furcht zwischen ihnen, in der ich mich seit Tagen endlich wieder ein wenig wohler fühlte.

Das Wohlbehagen hielt allerdings nicht lange an. Eine Bewegung am Rand der Gruppe zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Kurz blitzte zwischen den Menschen wieder das Gesicht auf, das meinem so ähnlich sah. Demian!

Ich erstarrte. Diesmal würde ich nicht schreiend losrennen. Ich schob mich stattdessen langsam in die Richtung, in der ich meinen Bruder gesehen hatte. Dort! Nun erkannte ich ihn deutlicher. Noch immer sah er schrecklich aus, der Körper voller Löcher. Allerdings hatte irgendjemand das Blut abgewaschen und ihn in saubere Kleidung gesteckt. Was ich von den Wunden erkennen konnte, wirkte außerdem, als würde es heilen. Schorf hatte sich darüber gebildet. Die Haut wuchs wieder zusammen. Demian heilte!

Konnte ich ihn mir wirklich einbilden? Er wirkte vollkommen echt. Ich glaubte sogar zu sehen, wie einer der Menschen ein Stück zur Seite trat, um ihm Platz zu machen, als er tiefer in den Garten hineinging. Dann geriet er hinter einem Busch außer Sicht. Ich beschleunigte meine Schritte und versuchte ihn einzuholen. Zwei Menschen standen mir im Weg. Ich stieß einen davon achtlos beiseite.

Doch als ich denselben Busch umrundete, war Demian fort …

Gehetzt blickte ich mich um. Hatte ich mir zu viel Zeit gelassen? Hätte ich doch losrennen sollen? Wo war mein Bruder hin? Ich war mir so sicher, ihn mir nicht eingebildet zu haben.

Mit einem Mal legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter. Ich sah auf und blickte einem Pfleger genau ins Gesicht. »Alles in Ordnung?«, fragte der Mann.

Ich nickte, bemühte mich, meine Unruhe so gut wie möglich zu verbergen. Mit einem Mal fühlte ich mich genauso wie die Menschen, über die ich mich gerade noch amüsiert hatte. Da war dieselbe Angst, dass ich endgültig für verrückt gehalten werden könnte. Ich hasste dieses Gefühl, hasste es, mit dem menschlichen Vieh auf einer Stufe zu stehen.

 

Für den Rest des Tages suchte ich unauffällig den Garten ab. Aber Demian fand ich nicht.

 

Tag 8 der Verbannung

Inzwischen stellt sich eine gewisse Routine ein. Frühstück mit Claudia und Lucius, der seit heute sein Zimmer wieder verlassen darf. Dann das einseitige Gespräch mit Dr. Breitenstein. Mittagessen. Spaziergänge im Garten. Schabernack mit den Menschen, der bei mir in letzter Zeit aber einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Ich kann ihre Situation viel zu gut nachvollziehen. Ich fühle mich auch, als würde jemand einen Schabernack mit mir treiben.

Immer wieder taucht Demian am Rand meines Blickfeldes auf, aber in den letzten Tagen konnte ich ihn nur kurz sehen, bevor er wieder verschwand.

Heute allerdings …

Er stand nur wenige Meter vor mir, mitten im Gang, ganz in der Nähe meines Zimmers. Es war kaum jemand in der Nähe, nur ein müder Werwolf schlurfte gerade an mir vorbei, ohne mich zu beachten. Ich kannte ihn vom Sehen. Laut Claudia hieß er Hrotgar und litt unter Schlafstörungen.