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°luftschacht

Thomas Raab

Die Netzwerk-Orange

Roman

Luftschacht Verlag

© Luftschacht Verlag – Wien
Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2015

www.luftschacht.com

Umschlaggestaltung: Martin Heraut – www.heraut.at
Satz: Luftschacht
ISBN: 978-3-902844-52-1
eISBN: 978-3-903081-01-7

Γνfigureθι σεαυτόν.

Das Problem ist nicht, die Menschen dazu zu bringen, daß sie tugendhaft sind; es geht um das rechte Verhalten.

Burrhus F. Skinner, Jenseits von Freiheit und Würde

Die Auswirkungen sind kollektiv, die Einzelentscheidungen aber höchst individuell. (…) Sicher meine ich nicht, dass all diesen Verhaltensweisen ein einziger Mechanismus zugrunde liegt. Die einen resultieren aus Konformismus, die anderen aus Nonkonformismus.

Thomas C. Schelling, Micromotives and Macrobehavior

Meine Lieder haben nur einen Akkord, nichts von dem geschraubten Zeug, das man heute so hört – mit vielen Akkorden. Wenn ein neuer Akkord kommt, heb ich ihn mir fürs nächste Lied auf.

Junior Kimbrough

Ministerium für Kunst und Kultur an Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung

Betreff: Unruhen vom Oktober d.J.

Bericht A, Version 1.3.0 beta

Umfang: 12 Abschnitte

Soziographie: Sinus Sociovision; Sachbearbeiter Raab

Eingang 27. November 2025

Erledigt! Ablage C.

Inhalt

1 Mittwoch

2 Donnerstag

3 Freitag

4 Samstag

5 Mittwoch

6 Samstag

7 Dienstag

8 Donnerstag

9 Donnerstag

10 Freitag

11 Mittwoch

12 Montag

1

Mittwoch

Der Brandungsbrecher
Scleractinia spp.

Schräg ins Schelfmeer einfallend durchfluten diffuse Sonnenstrahlen das blaugrüne Wasser. Korallenpolypen wiegen langsam hin und her. Sie leuchten violett, grün, rot, blau, orange. Zwischen ihnen schwänzeln bunt gemusterte Fischchen und Fische. Gleichsam liebevoll streichen sie über die geschwungene Silhouette des Riffs, das in der Ferne in erhabenem Graugrün versinkt.

Die Brandung wogt sanft über das Riff. Natürlich kann sie bisweilen mächtig werden, je nach Wetterlage. Augenblicklich aber greifen die Wellen in die Tiefe aus und streicheln über den Saum der stummen Landschaft. Ein Rotfeuerfisch mit seinen langen Flossenstrahlen schwebt über einem gelblich schimmernden Ensemble aus Feuerkorallen. Da – ein kecker Zackenbarsch richtet seine stierenden Augen auf den Staunenden. Seine weißen Pünktchen schimmern, als wären sie kleine Brillanten.

Majestätisch gleitet im Hintergrund ein Requiemhai durch eine riesige Schule von Großaugenschnappern, die ihm, einem einzelnen Organismus gleich, ruhig und scheinbar koordiniert den Weg freigeben. Scheinbar ziellos, einzig getrieben von Milieugradienten schlängelt der Hai den Riffabhang hinab und verschwindet langsam in Richtung der Lagune, die eine ausgedehnte Unterwasserwüste ist. Schräg unter ihm zeichnet sich, etwas trübe, aber dennoch rot leuchtend, ein fünfzackiger Seestern ab.

Zwei Süßlippen schwänzeln hinter einem kleinen Wäldchen Geweihkorallen hervor. Lustig schieben sie sich an einem Schwarm von Fledermausfischen vorbei. Ein archaisch wirkender Angler verzieht sich zügig zwischen zwei fein verästelten Tischkorallen, unter denen – ist’s wahr? – der Kopf der scheuen Muräne hervorlugt.

Am Rand des Riffs leuchten vereinzelt ein paar grellweiße Gehirnkorallen, deren Fissuren und Sulci geometrisch markant ins Auge fallen. Die Muräne schnellt erst zurück, als die Schaumkrone eines größeren Brechers sanft über die zum Ozean hin offene Riffseite Richtung Lagune ausfährt.

Darwin stellte sich die Frage, warum im nährstoffarmen Milieu der Lagune so viele Arten in ihrer Pracht gedeihen können. Die Frage ist als ökologisches Riffparadox bekannt. Niemand hat sie bis heute gelöst. Wie eine Oase erhebt sich das Riff in der Nährstoffwüste. Das fragile Gleichgewicht von Nährstoffkonsum und Nährstoffproduktion darf nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.

Über das Äon hin wird auch dieses Riff fossiler Riffkalkstein werden.

Franzer legte das Blatt bedächtig auf den Schreibtisch und blickte Buresch sanft an. Sie befanden sich in Franzers Büro.

„Jede Überzeugung, die über die unmittelbarsten Lebensbelange eines Menschen wie Essen, Schlafen und Sexualität hinausgeht, gibt diesem zwar innerlich Orientierung, kann ihm aber äußerlich große Schwierigkeiten bereiten“, sagte Franzer.

Skrupulös streifte er die Asche, die sich am Ende seines Zigarillos Marke El Credito gebildet hatte, zu einem rot und gelb glühenden Kegel ab. Der silberne Ministeriumsascher stand auf einem Beistelltischchen etwa zwei Meter rechts neben der Büroeingangstür.

Buresch und Franzer hatten Hände geschüttelt und befanden sich noch in Türnähe. Zigarillos von El Credito waren nicht teuer, gaben aber wohl Mut und rundeten die Persönlichkeit ab. Man schrieb das Jahr 2025. Man ist offenbar leicht zu überzeugen, wenn man nicht zu sehr damit beschäftigt wird nachzudenken, wovon man überzeugt wird.

„Ja, aber“, antwortete Buresch. „Ja, aber es sind doch alle zu Recht überzeugt, wenigstens echte Menschen zu sein!“

„Natürlich“, fuhr Franzer fort, „deswegen gibt es doch letztlich keine wirklichen Ausreißer mehr. Endlich haben sich alle auf die Utopie Mensch geeinigt!“

Er zog an seinem El Credito und wirkte sichtlich befriedigt. Schon als Student war er nicht nur auffallend begabt, sondern auch bereits Raucher gewesen.

„Seit der Erklärung der Neuen Menschenrechtskonvention der Union“, sinnierte er, „gibt es …“

Er stockte, es wollte nicht.

„Buresch“, fuhr er fort, „ich werde alt und habe die Jahreszahl der Neuen Menschenrechtskonvention vergessen!“

Ach ja. Buresch musste lächeln.

„2016, eine runde Zahl“, gab sie zurück. Sie war einst Franzers Lieblingsstudentin gewesen.

„Mit Utopie Mensch meinen Sie jedenfalls das, was Sozialpsychologen den Minimalkonsens nennen“, sagte Buresch beinahe ehrgeizig.

Franzer drehte sich derweil um und marschierte langsamen Schrittes auf das nach Süden hin geöffnete Fenster zu, durch das eine wunderbar gelbgrauorange Sonne schräg ins Büro schien.

„Der Minimalkonsens ist der Kern der Sache, der Kern der Berechnung. Natürlich ist er in der Konvention implizit festgeschrieben, aber dennoch hat er sich von selbst entwickelt. Kurz, niemand hat ihn erfunden. Er ist eine anthropologische Tatsache. Der Minimalkonsens liegt in der Natur des Menschen selber. Deshalb akzeptieren ihn fast alle, ohne dass sie groß über ihn nachdenken müssten.“

Er blickte durchs offene Fenster, starr, wie es Buresch wohl schien.

„Abgesehen von ein paar Studenten …“ murmelte sie fast verheißungsvoll.

Franzer fuhr fort: „Was aber ist mit den vielen für uns Forscher unwichtigen Überzeugungen, die den Einwohnern doch oft viel wichtiger sind als der Minimalkonsens? Kleine Dinge. Aber auch so genannte Sinnfragen. Ich denke an Worte wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Freiheit. Solche Worte können immer noch zum Zerfall der Gesellschaft führen …“

Und also hatte Franzers und Bureschs neuerlicher Kontakt mit einer Diskussion begonnen, wie er Jahre zuvor mit einer Diskussion geendet hatte.

„Alle brauchen jedenfalls gewisse Ziele“, äußerte Buresch gerade, immer noch vor Franzers Schreibtisch stehend.

„Soviel steht fest“, gab Franzer zurück, „genau das heißt eben Menschsein – hoffen.“

Buresch schien noch nicht ganz zufrieden, ihr beider Bonding noch nicht hergestellt.

„Und gemeinsame Hoffnungen sind der Kitt der Gesellschaftsgruppen“, sagte sie, „jener Segmente, auf denen unser Staat beruht.“

Sie blickte Franzer von hinten sichtlich erwartungsvoll an, doch er gab keine richtige Antwort, sondern murmelte bloß „Staat?“.

Buresch starrte jedenfalls in Franzers Rücken. Anzugsrücken, Farbe unwichtig. Er blickte aus dem Fenster. Die Autos, die Büros, Menschen, der Sauerstoff. Ihr wurde anscheinend unbehaglich, weil sie Franzer auf den Rücken starrte und ihren Blick aus Diskretion oder Angst oder Langeweile nicht durchs Büro wandern lassen konnte. Aschenbecher, Schreibtisch, Fenster, Rollläden, Beistelltischchen. Also setzte sie sich in den vor Franzers Schreibtisch einladend aufgestellten Korbsessel. Hatte er diese Situation im Voraus geplant?

Die etablierten Glieder der Gesellschaft sind gebildet, erfolgreich und selbstbewusst. Sie leben, arbeiten und konsumieren auf hohem Niveau und haben ihr Leben unter Kontrolle. Ihre Fixanstellungen ermöglichen es ihnen, so gut sie nur können, Werbung, Fernsehen und Stellenangebote zu ignorieren.

Lola Buresch war damals, bevor Franzer von der lokalen Universität ins Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung gewechselt war, dessen Studentin gewesen. Gerade hatte sie sich mitten in der Anfertigung ihrer Dissertation in Ökopsychologie befunden, als Franzer den Ruf ans Ministerium nicht hatte ablehnen können oder müssen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abschluss der Arbeit, Franzer immer noch Zweitgutachter, extern. Mit 42 Jahren war für sie naturgemäß noch nichts zu spät. Ein Ausdruck ihres Manuskripts stapelte sich ungebunden auf Franzers Büroschreibtisch. Da ist es.

„Setzen Sie sich doch“, sagte Franzer, der weiterhin aus dem Fenster starrte. Autos, Menschen. Er nagte am Stumpf seiner El Credito.

„Ich sitze bereits“, antwortete Buresch.

Hatte er nicht gehört, dass sie sich bereits gesetzt hatte – oder war dies Teil seiner Inszenierung? Sie hatten sich mehr als zwei Jahre lang nicht gesehen; Franzers ehemaliger Assistent, nunmehr selbst mit Lehrbefugnis, hatte die Erstbetreuung ihrer Dissertation übernommen. So konnte es sein, dass Buresch Franzer mittlerweile nicht mehr gewohnt war. Dennoch war er bei der Fertigstellung der Abschlussarbeit immer, ohne dass sie es gewahr geworden wäre, verstärkend anwesend gewesen.

„Man darf Menschen niemals bestrafen, sondern muss sie, wenn ihre Überzeugungen schädlich werden, sachte und didaktisch auf den Boden des Minimalkonsenses zurückholen“, setzte Franzer, der Sonne zugeneigt, fort. „Wir haben hier im Ministerium mithilfe von Computertechniken eine Prozedur entwickelt, die genau das ermöglicht.“

Er gönnte sich eine Pause. „Diese Prozedur packt die Leute bei ihrer Intelligenz!“

Buresch schlug das linke über das rechte Bein – gutes Aussehen ist nicht so wichtig – und räusperte sich.

„Ich würde gerne über meine Dissertation sprechen“, versuchte sie das Thema zu wechseln.

Franzer drehte sich zu ihr um. Er legte den kurzen Weg zu seinem Schreibtischsessel zurück und setzte sich, den Blick neutral verloren auf Bureschs typisches Gesicht gerichtet.

„Ihre Dissertation ist, nicht anders als ich erwartet habe, natürlich sehr gut“, sagte er und langte, gerade noch bevor die Asche seines El-Credito-Zigarillos auf die sauber schwarze Schreibtischoberfläche fallen konnte, zu dem ihm rechter Hand stehenden zweiten Büroascher aus dunkelgrauem Blei und schnippte die Asche ab.

„Sie sind die beste Psychologin, die ich kenne – außer mir vielleicht“, sagte er verschmitzt. „Ich würde Sie gerne ins Ministerium holen.“

Franzer lächelte beinahe gewinnend, als würde er die überraschende Wirkung seines unvermittelten Vorstoßes vorhersehen.

Buresch wurde in der Tat sichtlich unwohl zumute. Ihr Plan war doch offenbar gewesen, Franzer nicht nur von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen, sondern auch seine Unterstützung für weitere akademische Arbeiten, die auf dieser These aufbauen sollten, zu gewinnen! Artikel, Vorträge, Gastprofessuren mussten geradezu auf ihrer Agenda stehen.

„Ihr Plan war bestimmt, mich von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen und meine Unterstützung für weitere Forschungen zu gewinnen“, sagte Franzer.

Da fing Buresch ihn gewiss zu lieben an. Er war auch ganz offensichtlich der intelligenteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, sie war ihn nur nicht mehr gewohnt.

Die Etablierten sind jenes gesellschaftliche Leitsegment, das seinen persönlichen Status nicht zur Schau stellen muss. Understatement ist die Devise. Dennoch sind sie Themen wie Karriereplanung, Altersvorsorge und Vermögensaufbau gegenüber aufgeschlossen. Letzteres gilt für alle Geldanlagen von Gold über Immobilien bis zu Aktienfonds, Optionsscheinen und Staatsanleihen.

„Ihre These über den Zusammenhang von Wohlstand in der Union und der psychischen Ökonomie des Einzelnen ist schlicht und einfach sehr gut“, äußerte Franzer jetzt, und Buresch schien erleichtert.

„Ja, es ist wohl erwiesen“, sagte sie, wohl um der Peinlichkeit des offensiven Lobs etwas entgegenzusetzen, „je wohlhabender die Leute, desto weniger streben sie nach anwendbarem Wissen und kümmern sich stattdessen, den Lebensstil in ihrem Referenzsegment zu kopieren. Reüssieren sie im Stil, fühlen sie sich als freie Individuen und damit glücklich.“

Franzer nickte.

„Meine Datenlage ist aber noch schwach“, fügte Buresch wie bescheiden hinzu.

„Wir haben hier im Ministerium jede Menge an unausgewerteten Daten, die sie verwenden könnten“, antwortete Franzer prompt.

„Anonyme Daten, versteht sich“, prustete er heraus.

„Wir sammeln Informationen über Konsumverhalten, allgemeine Einstellungsänderungen, Freizeitverhalten, politische Neigung, alles Mögliche“, gab Franzer scheinbar unumwunden zu, nachdem er sich wieder gefasst hatte, und als Buresch ihre Augenbrauen kaum merklich zusammenzog, fügte er hinzu: „Alles legal natürlich. Das Lokalparlament ist zu mehr als 90 Prozent auf unserer Seite.“

Der El Credito geht zu Ende!

Das massige Gebäude des Ministeriums für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung hatte zehn Stockwerke und befand sich inmitten der lokalen Hauptstadt neben einem kleinen Park. Das Ministerium für Inneres stand südlich vis-a-vis, gleich über der Avenue. Es war nur zwei Stockwerke hoch, sodass an sonnigen Tagen beinahe die ganzen Amtsstunden hindurch die straßenseitigen Büros des Ministeriums für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung hell erleuchtet waren. Hinter dem Innenministerium konnte Franzer das fünfstöckige Kulturministerium erblicken, rund 1.000 Meter östlich befand sich das prächtige Lokalparlament aus der so genannten Gründerzeit. Das Finanzministerium lag 2000 Kilometer entfernt am Rande der Unionshauptstadt.

„Sie sind meine beste Schülerin“, wiederholte sich Franzer, seinen Zigarillo im bleiernen Aschenbecher abtötend. „Wir sollten definitiv zusammenarbeiten. Seit wir uns nicht mehr gesehen haben, haben sich interessante Perspektiven eröffnet …“

„Ich interessiere mich für Forschung“, meinte Buresch zögerlich, „nicht so sehr für Sozialmanagement.“

Eine kurze, aber bedeutsame Gesprächslücke tat sich auf. Alles im Büro, einschließlich Buresch und Franzer, stand still. Die Ruhe, Konzentration, die Sicherheit. Vielleicht dachten sie nicht, sondern fühlten. Da erschien der Ansatz eines Lächelns auf Franzers Gesicht, und Buresch schien umgehend erleichtert.

„Aber meine liebe Frau Buresch“, rief er aus, „Sie haben wohl vergessen, wer ich bin!“

Buresch errötete. Sie erinnerte Franzer – wie übrigens in mehreren E-Mails an Freunde dokumentiert – als den sanftesten, intelligentesten, harmlosesten, ja interesselosesten Wissenschaftler, den sie je kennengelernt hatte.

„Verzeihen Sie das Wort Sozialmanagement“, sagte sie, den Blick auf den Zigarillo-Stummel im bleiernen Ministeriumsascher gesenkt, „sie wissen, wie ich es meine … Sozialmanagement ist Politik, Ablenkung des Bürgers von seinen eigenen Interessen. Das war immer so. Wir schreiben 2025.“

Kurze Pause.

„Frau Diplompsychologin“, hob Franzer beinahe hintergründig an, „Sie haben sich in den letzten Jahren ausschließlich mit Psychologie beschäftigt, nicht wahr?“

„Na ja“, gab Buresch zurück.

„Ihnen scheint entgangen zu sein, dass sich auch die Staatswissenschaft in den vergangenen Jahren stark gewandelt hat“, meinte er milde. „Seit 2019 kontrollieren wir überhaupt nicht mehr. Wir versuchen nur noch, die Verhaltensdaten der einzelnen Sozialsegmente möglichst präzise nachzuzeichnen und deren Varianz dann unmerklich zu verringern. Das Freiheitsgefühl der Einwohner verringert sich dabei nicht, im Gegenteil: Es verstärkt sich sogar!“

Buresch begann, ihr Gesäß unruhig auf dem Sessel hin und her zu bewegen. Gutes Aussehen ist nicht so wichtig. Wir?

„Freiheitsgefühl?“ fragte sie sichtlich unsicher. Franzer kniff kurz die Augenbrauen zusammen, bis sich seine Miene aufhellte.

„Aber Frau Buresch“, stieß er hervor, „was denn sonst?“

Die Doktorandin starrte den Professor mit scheinbar leerem Blick an. Die Liebe, Widerspruch, Affekt. Franzer hatte vielleicht eine Grundeinstellung von Buresch erschüttert, die sie seit Jahren nicht mehr bemerkt hatte.

„Sie steuern das Verhalten der Menschen“, murmelte sie, „aber das Ministerium … Ich meine, die haben Sie doch engagiert, um, wie soll ich sagen ... “

Franzer blieb gelassen. „Die haben mich nur wegen meiner strengen Methodik engagiert, meine Liebe“, gab er sanft und mäßig zurück, „was haben Sie denn gedacht? Halten Sie mich für einen Unmenschen?“

Die Etablierten stehen natürlich zur Modernisierung der Gesellschaft. Sie nutzen auch privat neue Kommunikations- und Computertechniken. Ihr Exklusivitätsanspruch gebietet, auch in diesem Sektor ausschließlich Produkte gehobener Qualität, Markenware zu konsumieren.

„Wir nehmen bloß anonyme, aber dem Milieu zuordenbare Daten aus dem Netz“, führte Franzer aus. „Deren Analyse erlaubt uns, spezifische Bedürfnisumwelten zu definieren.“

Buresch nickte stumm, was Franzer zu einer weiteren Erläuterung zu motivieren schien.

„Diese Definitionen nutzen wir dann, um Bedürfnisse besser erfüllen zu können. Niemand merkt etwas, alle werden einfach langsam, aber stetig, glücklicher.“

„Und wie erfüllt ein Ministerium Bedürfnisse?“ fragte Buresch schüchtern.

Franzer schüttelte den Kopf, als meinte er, Buresch könnte Schlimmes ahnen.

„Mit Umwelten meine ich bloß: besondere Reizmilieus für statistisch signifikant unterscheidbare Sozialsegmente. Jeder kann im Übrigen unsere Daten nutzen, sie stehen im Netz zur freien Verfügung.“

Buresch runzelte die Stirn.

„Und wer nutzt die Daten wirklich?“ fragte sie bohrend.

„Natürlich fast nur Firmen, hie und da ein Soziologe“, antwortete Franzer. „Wichtig ist: Die Menschen merken das Design nicht und müssen es auch nicht merken! Dennoch ist alles öffentlich; man kann sich informieren, wenn man will.“

Er lachte jäh aus vollem Halse los.

Buresch rückte auf ihrem Stuhl hin und her.

„Die Umweltengestaltung läuft über Förderungen aus der Union. Die Firmen machen mit oder nicht. Wir selbst stellen nur Grundlagenüberlegungen an“, fuhr Franzer fort, als er sich wieder beruhigt hatte. „Wie können wir die Freiheit der Bevölkerung durch unser Wissen weiter vermehren? Durch das Konstruieren von idealen Umwelten, den Rest machen Wirtschaft und Menschen von selbst.“

Die segmentspezifischen Fernsehprogramme, Werbungen und Seiten im Netz waren auf alle Medienkonzerne etwa gleich verteilt. Das Unsichtbare, das Geld, die Hand. Kein Grund zu misstrauen. Das Ministerium lieferte die Daten, der Markt regelte das Angebot, die Nachfrage zog nach.

„Ja, aber“, Buresch zögerte, „das ist doch Kontrolle, auch wenn sie kaum jemand bemerkt. Und was ist mit den Schlauen, die dieses Sozialstatistikfeedback durchschauen?“

Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. Franzer winkte ab.

„Jeder kann das durchschauen, wenn er will. Das Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung veröffentlicht ja alle Memoranden im Netz!“

Memoranden, Protokolle, Statistiken: Alles lagerte im Netz.

„Und die Schlauen, die Sie meinen, Buresch“, fuhr er fort, „sind doch auch Teil eines Segments.“

Die Sonne schien nun schräger durch die Fenster und Buresch musste blinzeln.

„Ja, aber die psychischen Probleme?“

Die Argumente schienen ihr auszugehen.

„Buresch!“ rief Franzer, „haben Sie denn noch nicht bemerkt, dass wir praktisch keine mehr haben?“

Buresch musste sich im Nacken kratzen.

„Nur noch 5% der Bevölkerung, und zwar ziemlich gleich verteilt in allen Segmenten, äußert psychische Probleme; die Psychosen sind medikamentös ausgemerzt, und die verbleibenden Seelenwehwehchen wird unser CP minimieren!“ Franzer lächelte über das ganze Gesicht.

„CP?“ fragte Buresch offenbar verblüfft und runzelte die Stirn.

***

„Ich will eine neue Unternehmenskultur!“ rief Tertschik kurz vor dem Abschlag oder Aufschlag.

Der Wind fuhr ihr durchs Haar, Gegenwind, und sie war sich merkbar unsicher, ob Mayer sie überhaupt gehört hatte.

„Was? Was?“ rief Mayer, etwa zwanzig Meter entfernt, die Augen zusammenkneifend.

Mayer lag ein paar Punkte voran, denn Tertschik, die gewöhnlich besser spielte, war nicht nur offenbar in Gedanken versunken, sondern musste zwischenzeitlich durch ihre Ray-Ban-Gucci-Sonnenbrille zu ihrem schwarzweißen Hündchen hinüberblicken, das an den Zaun gebunden war. Vor kurzem hatte sie ein neues Unternehmensberatungsbuch herausgebracht.

„Sind die konstruktivistischen Modelle, die ich in meinem Buch verwendet habe, wirklich so eindringlich, dass sie die Leserschaft erreichen?“ fragte sie sich eventuell.

„Du musst mit deinem Buch doch keine große Leserschaft erreichen“, brüllte da Mayer in den Wind. „Wichtig ist, dass die Kollegen und Klienten dich bewundern!“

Tertschik schlug just in dem Augenblick ab oder auf als sie Mayers Hinweis augenscheinlich aufnahm. Der Schlag war wieder schlecht und Mayer somit einen weiteren Punkt voran. Der Zielkonflikt, die Dissonanz, Winde.

„Du glaubst wohl, ich denke dauernd nur an mein Buch, bloß weil es gerade herausgekommen ist“, schrie Tertschik zurück.

Ob Mayer sie hören konnte? Das schwarzweiße Hündchen am Zaun kläffte kurz. Draußen vor der Sportanlage schimmerte Tertschiks Auto, das zur Hälfte Geländewagen, zur anderen Hälfte Sportwagen war. Es hieß Audi-Suzuki.

„Na, immerhin ist es dein erstes Buch“, krächzte Mayer.

Sie war Gattin eines erfolgreichen Anwalts und diente Teilzeit in einer Partnerfirma von Tertschiks Partnerfirma, die Unternehmen beriet.

„Machen wir eine Pause, vielleicht spielst du danach besser“, schlug Mayer, deren Stimme zu brechen begonnen hatte, vor.

„Ich brauche aber keine Pause“, brüllte Tertschik sichtlich wütend, „da könnte ich ja gleich fernsehen!“

Das Fernsehverhalten der Etablierten ist distinguiert. Am liebsten sehen sie Themensendungen der öffentlich-rechtlichen Programme. Besonders Grundsatzdiskussionen, Hintergrundinformationen, qualifizierte Reise- und Essensberichte, Nachrichtensendungen und exklusive Sportarten haben es ihnen angetan. Diese konsumieren sie indes nicht gerne allein. Abschottung war gestern.

„Pausen sind nicht nötig – das habe ich in meinem Buch geschrieben“, meinte Tertschik, nachdem sich beide schnaufend neben dem Spielfeld in die Gorgona-Plüschsessel vor das Gusseisentischchen gesetzt hatten.

„Hättest du das Manuskript gelesen, wüsstest du das jetzt.“

Mayer schwieg. Beide hatten sich ihre Energiegetränke in unbedeutende Gläser geschenkt und tranken nun. Neben Tertschiks linkem Sportschuh hatte sich das kleine schwarzweiße Hündchen in der Wiese eingerollt und schnurrte. Mitte fünfzig entscheidet sich, ob man als Rentner glücklich oder sehr glücklich sein wird.

Der betagte Platzwart trollte sich vorbei. Er war, wie immer, in eine feine weiße Uniform gehüllt und grüßte die beiden Damen mit einem freundlichen „Kontakt!“

„Kontakt“, gaben Mayer und Tertschik im Chor zurück, während das Hündchen weiterschnurrte. Im Vorübergehen murmelte der Platzwart noch etwas von „die Roten“ und „Klassenkampf“. Hatten sie sich verhört?

Beim nächsten Abschlag oder Aufschlag stellte sich dann Tertschik wesentlich besser an. Ihre beiden Kinder (m/w) waren über zwanzig und lebten in gut gemeinten Kleinappartements. Wie einst sie und ihre Freundin Mayer studierten auch die Kinder an der Universität. Tertschik hatte ihnen im Vorwort zu ihrem neuen Buch Dank ausgesprochen, denn schließlich war es ihr Sohn gewesen, der sie in den kybernetischen Konstruktivismus eingeführt hatte, der nun unter dem guten alten Namen „segmentspezifisches Zielgruppenmarketing“ in ihrem Buch Anwendung fand. Ihrer Tochter Cathy hatte sie im Vorwort danken müssen, weil sie ihrem Sohn für seinen Hinweis gedankt hatte.

„Übrigens will ich keine große, sondern eine qualitativ gute Leserschaft erreichen“, schrie Tertschik Mayer zwischen zwei Schlägen zu.

Der Wind blies weiter und weiter. Das Spiel ging weiter. Tertschik hatte inzwischen aufgeholt; es stand unentschieden. Das schwarzweiße Hündchen, das wieder am Zaun befestigt worden war, hatte zu kläffen aufgehört, nachdem es eine Minute zuvor ohne sichtlichen Grund zu kläffen begonnen hatte. Auch Mayers Auto schimmerte auf dem nah gelegenen Parkplatz. Es war eine Mischung aus Sport-und Geländewagen und hieß BMW-Hyundai.

„Was möchtest du denn noch erreichen“, fragte Tertschik Mayer in der nächsten Pause, in der sie zu den Energiegetränken kalorienfreie Nüsse zu sich nahmen und in der Tertschik bereits wie gewohnt vorne lag, „in deinem Leben?“

Das Tischchen war also aus Gusseisen, die Stühlchen mit wetterfestem Plüsch bezogen. Tertschik hatte die Beine übergeschlagen, Mayer auch. Widerwillig hatte letztere das Hündchen der Freundin auf ihrem Schoß Platz nehmen lassen. Auf dem Tischchen zwei Gläser, etwa halbvoll, Nüsse, zwei xPhones, die seit zwei Monaten für alle umsonst zu bekommen waren, und eine PINFO – von Tertschik, die wahrlich ehrgeizig schien.

„Ich möchte noch ganz hinauf“, äußerte Mayer wie nebenbei, als wollten dies nicht alle.

Das Hündchen schnaufte, und Tertschik lächelte wie mitleidig.

„Schau mal“, sagte Mayer, „das habe ich heute auf mein xPhone bekommen, ein Gleichnis, das mir helfen wird, mich selbst so gut zu verstehen, dass ich ganz hinauf komme.“

Tertschik kannte diese Gleichnisse bereits. Ihr Buch war von ihnen inspiriert worden, so gut es eben gegangen war. Dennoch war sie sichtlich neugierig.

„Lass sehen!“ forderte sie. „Du musst auf dem kleinen Bildschirm lesen“, warnte Mayer, „mein Fringebook ist draußen im Wagen.“

Das Hündchen spitzte seine Ohren. Es hatte immer Pause.

Der Holzwurm und der Buntspecht
Anobium punctatum

Jetzt ist es gleich aus mit mir!

Die schnellen Schläge des Buntspechts dröhnen immer lauter, mein Leib erbebt schon, panikartig versuche ich mich tiefer in den Baum zu fressen. Er ist noch feucht vom Regen der vergangenen Tage, und also komme ich sogar schneller als gewöhnlich voran, doch der Buntspecht ist ein Riesentier – und er hat Hunger.

Ich bin noch so klein!

Aus mir soll ein Käfer werden, laut Forschung einer namens Totenuhr. Dabei bin ich so ganz prima angepasst. Mikroorganismen in meinem Darm ermöglichen mir das Verdauen von Holz, so der Forscher, der hier manchmal stöbert, in unserer Au.

He! Das war schon die Zunge vom Buntspecht, jetzt ist es gleich aus!

Gleich hat er mich! Gleich hat er mich! Schnell weg! Immer tiefer, ich muss tiefer rein. Friss weiter, weiter rein. Flucht!

Flucht! Ich muss mich retten. Jetzt wird’s aber eng –

Da!

Der Buntspecht macht eine Pause. Vielleicht ist er müde, denkt an die Sonne, die ihm so schön das Hinterhaupt wärmt. Ich fresse mich flugs weiter hinein in den Stamm. Ich fresse und fresse, doch da, wieder das Klopfen, jetzt noch schneller, da kommt es, tacktack und tacktack.

Die Holzspäne im Maul.

Angst! Heftiges Würgen. Das wird sich wohl nicht mehr ausgehen. Oder wird er nun langsamer? ...

Was ist das jetzt?

Ich höre kein Klopfen mehr, der Specht ist verschwunden, ich bin gerettet, mein Gott, hab ich Glück!

„Ein wenig infantil“, meinte Tertschik, als sie Mayer das xPhone zurückgereicht hatte. „Ich meine – sich in Tiere hineinzuversetzen, das machen doch nur Kleinkinder.“

Ihr Hündchen kläffte erneut bodennah.

„Das sagst du so einfach“, meinte Mayer, „diese Gleichnisse sind aber nie so einfach, wie man zuerst glaubt!“

Tertschik machte eine abfällige Handbewegung, ehe sie eine Nuss spitz zwischen ihre Finger klemmte und hochhob.

„Mein Buch, das solche Gedanken klar formuliert, liest du nicht, aber diesen Kinderkram lässt du dir schicken!“

„Aber das ist doch der Clou“, meinte Mayer. „Die sind eben für alle geeignet, jeder kann kleine aufmunternde Motivationsrätsel gut gebrauchen.“

Das Kopfschütteln, Augenverdrehen, die Seufzer.

„Also ich brauch so etwas höchstens zur Inspiration“, kündete Tertschik offenbar stolz und seufzte neuerlich, „aber doch nicht im echten Leben.“

Mayer stutzte.

„Du bist schon ganz verknöchert vor Ehrgeiz“, antwortete sie, und das war gemein, hatte Tertschik doch eben erst ihr erstes Buch herausgebracht. Sowohl Mayers BMW-Hyundai als auch Tertschiks Audi-Suzuki glänzten wie Götter draußen in der Sonne.

„Jede dieser Geschichten“, fuhr Mayer, nun schüchterner belehrend, fort, „hat wie jede Literatur, wie überhaupt alles, viele Bedeutungen. Die erschöpfen sich nie – selbst für Schöpferinnen wie dich!“

Wieder ein Stich.

Die Neigung, sich nicht von anderen Etablierten abschotten zu wollen, legt nahe, dass die Etablierten in ihrer Freizeit am liebsten sozial sind. Sie lieben Museumsbesuche, Theater, Tennis, Weiterbildungen, Charity-Veranstaltungen, Golf, Shopping, den gemeinsamen Ausflug mit Haustier.

„Das Geschichtchen hat sich bestimmt so ein Besserwisser von irgendeiner Uni ausgedacht“, stellte Tertschik unumwunden fest. „Und die wissen doch nur halb so viel wie wir, die wir die Praxis kennen.“

Mayer antwortete: „Bist du sicher?“

„Na hör mal“, entgegnete Tertschik, „sieh dir nur die Autos der Besserwisser an. Ich erinnere mich gut an die Autos, die vor der Uni parkten. Kompaktwagen! Ohne Glanz! Lächerlich!“

Auf dem Parkplatz, auf dem ihre Wagen standen, bewegte sich nichts. Das schwarzweiße Hündchen saß am Zaun. Die Metallic-Lackierungen glänzten. Mayer schien jedoch nicht überzeugt.

„Ich meine, das Gleichnis ist doch einfach zu entschlüsseln“, sagte Tertschik nun augenscheinlich ruhiger und somit eindringlicher. „Wenn du glaubst, du bist erledigt, tritt überraschend ein unvorhersehbares Ereignis ein, das dich doch rettet und ans Ziel bringt.“

Mayer blickte Tertschik missmutig an.

„Aber das ist doch nur die oberflächlichste Interpretation“, meinte sie, „was soll denn hier das Ziel sein? Außerdem: Weißt du denn, was eine Totenuhr ist?“

Lautet das Ziel Überleben?

„Na, ein Schmetterling wahrscheinlich“, sagte Tertschik.

„Siehst du“, antwortete Mayer triumphierend, „du schreibst ein Buch und weißt nicht, was eine Totenuhr ist!“

Tertschik erhob sich, schüttelte ein paar Krümel Nussmaterial von ihrem Dolce-e-Gabbana-Gucci-Shirt und schickte sich an weiterzuspielen.

„Das ist jedenfalls ein hässlicher Name – und außerdem völlig unwichtig …“

Doch Mayer ließ nicht locker. „Und: Es steht nicht in deiner PINFO.“

Tageszeitungen waren seit längerem nicht mehr auf dem Markt erhältlich. Meldungen im Netz konnte man umgehend kommentieren, das Netz war demokratisch und also besser. Die Eliten hatten sich von der Öffentlichkeit abgewandt und kommunizierten unter sich. Es gab noch ein paar Spezialinteressens- und Wochenmagazine, die aus der Tatsache Nutzen zogen, dass Druckwaren schwieriger ihren Urhebern zuzuordnen waren als digitale Daten und dementsprechend auch Inhalte bringen konnten, die straf- und zivilrechtlich zweifelhaft waren. Die alten Medienkonzerne waren endlich zerschlagen und teilverstaatlicht. Die wichtigsten Informationen des Tages wurden noch von einer zur Unionsholding gehörenden Firma auf verwitterungsresistentes Papier „zeitungsartig“ in geringer Auflage gedruckt und kostenlos verteilt. Diese Broschüren hießen „Packed Info for Archives“, kurz PINFO, und konnten auch beim jeweils lokalen Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung abonniert werden. Es bestand jedoch kaum Nachfrage.

Tertschik musste ihr Buch also im Netz bewerben, wobei ihr allerdings der Manager Pezzo, ein Freund ihres Mannes, behilflich war.

Mittlerweile hatten Mayer und Tertschik ihre Partie fortgesetzt. Ohne, dass es Mayer merken sollte, schien Tertschik sie gewinnen zu lassen. Immer wieder lobte sie den Spielstil ihrer Freundin über alle Maßen.

Mayer hatte nun Abschlag oder Aufschlag und holte aus. Die Autos glänzten weiter in der Sonne. Man schrieb das Jahr 2025. Die Welt war gut. Die Katastrophe war nicht eingetreten.

„Nein, die Totenuhr ist gar nicht unwichtig“, brüllte Mayer plötzlich in den Gegenwind. „Das ist nämlich ein unwissenschaftlicher Sammelname für verschiedene Insekten, die in morschen Bäumen leben!“

Tertschik war sichtlich unbeeindruckt oder hörte nicht.

„Verstehst du?“ keuchte Mayer.

„Spiel weiter!“ schrie Tertschik zurück über den diesbezüglich relevanten Teil des Platzes.

„Komm mal näher“, rief Mayer und ging einige Schritte auf Tertschik zu. Diese schloss kurz die Augen. Im Grunde brauchte man niemanden auf der Welt. Die anderen sind Konkurrenten. Sogar ihre Autos störten. Ihre Kommentare waren irrelevant und, bei Bedarf, im Netz nachzulesen. Nur beim Spiel, da wäre es langweilig, so ganz allein. Genau das hatte sie auch in ihrem Buch kybernetisch-konstruktivistisch belegen können.

„Also?“ fragte Tertschik, als sie sich gegenüber standen.

„Die Totenuhr macht im Baum kaum vernehmbare Klopfgeräusche!“ Mayer strahlte sie an.

Tertschik starrte zurück. Sie schien nicht zu begreifen.

„Mein Buch heißt im Übrigen ‚Konstruktive Unternehmensmodelle’“, entgegnete sie lakonisch, „vielleicht magst du es bestellen. Die Unibank hat schon 2.000 Stück bestellt, die sie als Werbung verschenken werden.“

Mayer strahlte weiter: „Ach ja …“

Sie schien glücklich.

Die Sonne, das Gras, das Hündchen, Autos.

***

„CP, das ist unser Cyberpeut zur vorbeugenden Linderung psychischer Problemlagen!“ rief Franzer merklich begeistert.

„Und Sie, Buresch, könnten zu seiner Verbesserung beitragen!“

In Bureschs Kopf ging sichtlich einiges durcheinander. Sie war, wie man weiß, gekommen, um ihre Karriere als Wissenschaftlerin mit einem Höflichkeitsbesuch, der der Verbesserung und Absegnung ihrer Dissertation in Ökopsychologie dienen sollte, förmlich weiterzubringen. Sie hatte derzeit wohl keinen Liebhaber, dafür aber eine prospektive Karriere als Wissenschaftlerin. Nun aber stellte sich ihr die Situation anders als gewohnt dar. Plötzlich hatte sie ein Jobangebot, und ihr Mentor war offensichtlich mit ganz anderen Gegenständen als ihr oder ihrer Arbeit befasst.

„Sie denken vielleicht, ich sei mit ganz anderen Dingen als mit Ihnen beschäftigt“, sagte Franzer da freundlich.

„Dem ist nicht so. Ich habe Ihre Arbeit gründlich gelesen und Ihre Grundlagenforschung ist, wie ich meine, für die Verbesserung unseres CP von größter Bedeutung.“

Die Katze, die Forschung, der Sack.

Die Etablierten sind zielstrebig. Ihre Affinität zu Kunst und Kultur korreliert mit einem hohen ästhetischen Anspruch, nicht nur, was Kulturgüter oder Kunst betrifft, sondern auch im Hinblick auf Wissenschaft und Massenmedien. Ihr Fernsehkonsum liegt weit unter dem gesamtgesellschaftlichen Niveau. Dafür lesen sie bisweilen PINFOs und Zeitschriften wie Capital-Equity, das Manager-Magazin oder den Focus-Spiegel.

Buresch schlug das rechte über das linke Bein.

„Ich sehe den Zusammenhang nicht!“ rief sie entschieden über den Schreibtisch, offenbar überzeugt, dass es für Franzer einen Zusammenhang geben musste.

„Wie soll mein Zusammenhang von Wohlstand und psychischer Ökonomie des Individuums mit ihrem Therapieprogramm zusammenhängen?“ fragte sie. „Mit einem Cyberpeuten?“ Der Name schien ihr zu missfallen.

Franzer erhob sich aus seinem Bürosessel und ging abermals zum Fenster, durch das immer noch Sonnenstrahlen fielen. Bloß die Farbe des Lichts hatte sich verändert, es fiel schräg orange ins Ministerium. Er blickte hinaus. Zufrieden, so schien es, brütete sichtlich die Stadt, an deren Rändern sich andere Etablierte mit Tennis oder Golf vergnügten, dem Abend entgegen.

„Meine liebe Buresch“, sagte er, ohne sich ihr zuzuwenden, „ganz unter uns gefragt: Was möchten die Menschen wirklich?“

„Glücklich sein, sich gut fühlen, aufgehoben sein, dazugehören“, sprudelte Buresch, schon sichtlich ungeduldig, hervor.

So stand es auch irgendwo in ihrem Skript, das im schrägen Sonnenlicht fahl orange vor ihr auf Franzers Schreibtisch schimmerte.

„Nein!“ antwortete dieser standhaft und drehte sich ihr zu.

„Mehr noch“, dementierte er. „Heute lebt unsere Bevölkerung, wie Sie ja selbst objektiv belegt haben, so geschützt von der Unbill der Natur und so abgeschirmt von der technischen Wartung ihrer Umwelten, dass sie nicht nur glücklich, sondern auch inspiriert sein will.“

„Inspiriert?“ fragte Buresch mit überraschtem Gesichtsausdruck. Diese Variable hatte sie noch nicht eingeführt.

„Die Leute brauchen hin und wieder ihre Problemchen“, erklärte Franzer, „Streit in der Arbeit, in der Familie, mit den Nachbarn, ein wenig enttäuschte Hoffnungen, eine Dosis Rastlosigkeit und Bammel vor der Zukunft.“

Buresch dachte offenbar nach und gab dann zurück: „Es stimmt schon, seit wir den Krebs und andere Krankheiten zum Tode besiegt haben, es wegen der neuen Medizin keine physischen Schmerzen mehr gibt und alle kleineren Krankheiten mehr oder weniger ad hoc geheilt werden können, bleiben naturgemäß nur noch die psychischen Wehwehchen zur existentiellen Unterhaltung …“

„Ja, es braucht diesen Kick“, unterbrach sie Franzer, der Gespräche dieser Art gewöhnt war.

„Aber, um es kurz zu machen, heute wollen die Menschen diese verbliebenen Probleme nicht mit Ärzten und Therapeuten, sondern alleine für sich, kurz: Sie wollen sie kreativ lösen. Sie sind doch laut Menschenrechtskonvention Individuen! Das meine ich mit inspiriert. Das Problem des vereinzelt Glücklichen ist die Langeweile! Und das Problem der Langeweile löst der CP.“

Wie in allen Segmenten auch ist die durchschnittliche Lebenserwartung der etablierten Frauen und Männer auf 83 Jahre reguliert. Das ist gerecht, so die Unionsorgane.

„Moment, Herr Professor“, entfuhr es da der Diplompsychologin.

Hier fügte sich ihr sichtlich eine kurze Pause, in der sie womöglich darüber nachdachte, dass es seit ein paar Jahren üblich war, auf Ehrenbezeichnungen und akademische Titel in der Anrede zu verzichten, galt dies doch als unvereinbar mit der Menschenrechtskonvention der Union.

„Ich habe nichts gegen automatische Therapien, die die Kreativität stimulieren“, fuhr Buresch fort, „aber sind wir denn technisch schon soweit? Und wird die Bevölkerung Computertherapien annehmen?“

Franzer lächelte augenscheinlich geheimnisvoll, als plötzlich das in seinen Schreibtisch integrierte Diensttelefon läutete. Er verzog das Gesicht, denn natürlich hätte er Buresch umgehend antworten wollen.

Franzer trat an den Schreibtisch und blickte auf das Telefondisplay.

„Ah, das Wirtschaftsministerium“, sagte er konzentriert und bedeutete seiner Schülerin, dass eine Gesprächspause nötig geworden war.

„Kontakt! Ja, Franzer am Apparat“, sprach er vehement in die Muschel. „Das Innenministerium informieren? Den Kollegen Gruber? Der hat schon zugestimmt.“

Franzer hörte zu sprechen auf und lauschte. Buresch konnte bestimmt die durch das Diensttelefon säuselnde Stimme einer Wirtschaftsministeriumsbeamtin, vielleicht einer Sektionschefin, vernehmen.

„Natürlich“, sagte Franzer gelassen, „der Kollege Huber vom Wirtschaftsministerium ist auch informiert. Der Ereignisbericht ergeht dann an alle!“

Pause.

„Ja, ja“, schloss Franzer, „natürlich vertraulich, aber verstehen wird ihn ohnehin niemand so ganz.“

Franzer lachte schnippisch ins Telefon, und Buresch vernahm bestimmt das säuselnde Lachen am anderen Ende der Leitung.

Die Aufklärung, Demokratie, die Zukunft.

Nachdem Franzer aufgelegt hatte, fand er umgehend den Anschluss an ihr Gespräch.

„Also, Frau Diplompsychologin“, fuhr er fort, „die Leute von heute sind Computer und programmiertes Lernen seit Kindertagen gewöhnt. Sie würden sich niemals mit simplen Ratschlägen abspeisen lassen. Hören Sie: Auf seine Art versteht unser neuer CP die Situation des Patienten und stellt ihm in Echtzeit ein interessantes Gleichnis zur Verfügung, das eine Tierart als metaphorische Grundlage verwendet. Man bekommt diese Gleichnisse, die vom CP passgenau und individuell generiert werden, per Computer oder xPhone. Die Patienten – wir nennen sie natürlich Klienten – denken dann oft tagelang immer wieder darüber nach. Und dieses kreative Nachdenken steigert das Wohlbefinden. Allein, dass dadurch Zeit vergeht, ist ein kleiner Sieg gegen den Stachel der Langeweile. Die Klienten heilen sich wirklich selbst, auch wenn oder gerade weil sie vorderhand oft nicht allzu viel Sinn in den Geschichten erkennen können!“

Franzer hielt inne.

Ihre hohe kulturelle Bildung macht die Etablierten empfänglich für Genüsse der besonderen Art: Das Wellness-Wochenende im teuren Kurhotel, der Einkaufsbummel auf einer Ausstellung für moderne Kunst, die italienische Designküche, neueste Bürotechnik, hochwertige Kameras oder das Auto, in dem es an nichts fehlt. Aber: Die Etablierten arbeiten auch freudig und lang.

Wollte sich Buresch einfach keine Blöße geben und war deswegen so kritisch? Oder war sie ihrem ehemaligen Professor nicht mehr verbunden? Nichts dergleichen war hingegen wahrscheinlich. Buresch konnte Franzer ohnehin nicht entwischen, sie hatte ihre Dissertation noch nicht erledigt, und er war immerhin ihr Zweitgutachter.

Eine Flachbetttastatur war wie von selbst vor Franzer aus der elegant schwarz glänzenden Schreibtischplatte geklappt. Unter dieser Platte zeichnete sich das Flimmern eines Bildschirms ab.

„Sie wollen sich natürlich keine Blöße geben – und scheuen zugleich vor der angewandten Psychologie zurück“, sagte Franzer gütig und lächelte die nun ebenfalls lächelnde Buresch an. Die reine Wissenschaft.

„Haben Sie keine Angst“, fügte er hinzu, „ich bin ganz der Alte, mich interessiert einzig die Forschung, weder der Staat noch die Union können das ändern.“

Buresch lächelte monoton weiter. Wieder hatte er scheinbar ihre Gedanken vorhergesehen.

„Lassen Sie mich Ihnen meinen CP doch präsentieren. Denken Sie sich doch kurz ein persönliches Problem aus, das Sie oder auch irgendwen anderen betreffen könnte. Überlegen Sie sich ein paar Merkmale des Menschen, der dieses fiktive Problem haben könnte.“

Buresch sah sichtlich mit einem Mal ein, dass sie Franzer wohl einen Gefallen machen würde müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. Vielleicht dachte sie nach. Die Angst, das Problem, Computer. Wahrscheinlich war, dass sie nichts Persönliches preisgeben wollte, weder Franzer noch dem CP. Buresch war, wie gesagt, intelligent. Zudem hatte sie – außer einer durch die Umstände erzwungenen Freigabe eines Kinds zur Adoption seinerzeit als Studentin – nie wirkliche Probleme gehabt. Mit ihren Eltern stand sie gut, ihre Freundinnen liebten sie. Die Trennungen von ihren Liebhabern waren ohne Aufregungen vonstatten gegangen, wie es dem etablierten Segment geziemt. Buresch schien scharf und modern. Sie dachte unverkennbar weiter als andere.

„Na ja, ich müsste improvisieren …“, meinte sie anscheinend schüchtern.

Franzer hatte sich inzwischen einen neuen El Credito angesteckt.

„Schriftsteller mittleren Alters“, gab Buresch zögerlich an, „sagen wir, circa 45 Jahre alt. Studienabbrecher, ledig. Nach ersten Erfolgen als Dichter kam seine Karriere ins Stocken, seine Themen und sein Schreibstil sind zu eigenwillig, um größere Auflagen zu rechtfertigen. Er muss einen gar nicht schlechten Job in der Lehre annehmen, der ihn aber in Widersprüche mit der künstlerischen Freiheit verstrickt. Privat ist er fast zu frei, ja einsam, ein dunkles Kapitel aus seiner Jugend lastet auf ihm. Er hat einst Frau und Kind verlassen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen.“

Sie atmete sonderbar lange durch. Was für eine alberne Aufzählung, dachte sie vielleicht, ihr Gesicht hatte sich etwas verzogen, doch da meinte Franzer schon:

„Hervorragend!“

Ruhiger Hand tippte er in die Flachbetttastatur.

„Man könnte auch die Spracherkennung verwenden, aber das dauert länger“, entschuldigte er sich und blinzelte Buresch zu, deren Gesicht geheimnisvoll errötete.

Ein kleines Stück Asche seines Zigarillos fiel ihm dabei nun doch auf den blank geputzten Tisch, und er musste lächeln. Im Herzen war er sicher Professor geblieben.

„Wissen Sie, Buresch“, sagte er aus dem Mundwinkel, „ich bin immer noch enthusiastisch wie ein Kind.“

Die Neugier, die Welt, Begeisterung.

„Können Forscher denn anders sein?“ gab Buresch trocken zur Antwort.

Franzer lachte.

„Ja, können sie, ich hab es schon erlebt.“

Nebenbei wischte er die Asche mit einem Taschentuch, das er aus seiner Sakkotasche gezogen hatte, säuberlich ab. Ein paar Krümel blieben an der Tischplatte haften, doch das konnte nur Buresch sehen, da die Sonne jetzt noch schräger und wieder in einem anderen Farbton als zuvor durchs Fenster schien. Sie schwieg.

Da begann der in Franzers Schreibtisch integrierte Drucker leise zu surren. Buresch musste sich offenbar anstrengen, um das Geräusch zu identifizieren, doch erwartete sie bestimmt schon, dass irgendwo ein Ausdruck hervorquoll.

„So“, sagte Franzer.