cover

Martin Suter

Lila, Lila

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2004

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Elizabeth Peyton, ›Kirsty at Jorge’s Wedding‹,

2001 (Ausschnitt)

Mit freundlicher Genehmigung von

Gavin Brown’s Enterprise,

New York

 

 

Für Gretli

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23469 5 (23. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60333 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Und dieser Peter Landwei – das war ich.

Er drehte an der Walze der schwarzen Underwood, bis der letzte Satz zum Vorschein kam, steckte sich eine Zigarette an und las die engbeschriebene Seite.

Noch immer trommelte der Regen dumpf auf die Ziegel. Er öffnete das Mansardenfenster. Das Trommeln wurde lauter und heller. Zwei Meter unter dem Sims verschwand das Wasser der Dachrinne gurgelnd im Abflußrohr. Die nasse Straße spiegelte das schwache Licht der einzigen Straßenlaterne in der Sackgasse. Vor dem Haus gegenüber stand der Kastenwagen mit der Aufschrift »Sattlerei-Polsterei Maurer«. Hinter einem Schaufenster mit der gleichen Aufschrift brannte Licht, wie jeden Abend, seit Maurers Frau gestorben war. Und wie jeden Abend saß in einem Zimmer im ersten Stock desselben Hauses ein kahler Mann im Kegel einer Stehlampe und las. Reglos wie eine Wachsfigur. Die übrigen Fenster waren dunkel, bis auf eine Dachluke neben dem Kamin. Früher hatte Peter sich manchmal gefragt, wer dort wohnte. Inzwischen war es ihm egal. So egal wie alles, was nicht mit Sophie zu tun hatte. So egal wie er ihr.

[6] Er schloß das Fenster und nahm eine gerahmte Photographie vom Schreibtisch. Sophie im Badeanzug. Hinter sich hatte sie ein Frottiertuch mit beiden Armen ausgespannt, als wollte sie es sich gerade um die Schultern legen. Ihre Haare glänzten naß. Sie lächelte.

Es war die einzige Photographie, die Peter von Sophie besaß. Sie hatte sie ihm geschenkt. Früher gab es ihm einen Stich, wenn er sie betrachtete, weil sie ihm nicht verraten wollte, wer sie aufgenommen hatte. Jetzt gab es ihm einen Stich, weil er Sophie nie mehr sehen sollte.

Er nahm das Bild aus dem Rahmen und steckte es in die Innentasche seiner schweren Motorradjacke. Dann löschte er das Licht und schloß das Zimmer ab. Den Schlüssel ließ er stecken.

Im Treppenhaus roch es nach angedünsteten Zwiebeln und dem Wachs, mit dem jemand das Linoleum auf den ausgetretenen Stufen frisch gebohnert hatte.

Eine halbe Stunde später hatte er Rieten erreicht. Der Regen hatte nicht nachgelassen. Das Echo von den dunklen Fassaden veränderte das Motorengeräusch seiner Ducati.

Am Ausgang des Städtchens begann die Landstraße, die einen schnurgeraden Kilometer später im Rotwandtunnel verschwand.

Peter schaltete in den höchsten Gang und fuhr mit Vollgas auf die Tunneleinfahrt zu. Sie war in eine Felswand gesprengt, die sich wie eine Mauer quer über das [7] Tal legte. Tagsüber, bei guter Sicht, war sie als Mauseloch aus fünfhundert Meter Distanz zu sehen. Die Autofahrer gingen bei ihrem Anblick unwillkürlich vom Gas, als fürchteten sie, das kleine Loch nicht zu treffen.

Dabei konnte man die Einfahrt zum Rotwandtunnel nicht verfehlen. Auch nachts nicht.

Es sei denn, man tat es absichtlich, wie Peter Landwei.

Und dieser Peter Landwei – das war ich.

Er tippte die Zahl 84 an den unteren Seitenrand, zog das Blatt aus der Maschine und legte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf die übrigen. Er klopfte den Stoß zurecht und legte ihn mit der ersten Seite zuoberst auf den Schreibtisch.

SOPHIE, SOPHIE stand in Großbuchstaben auf dem Titelblatt. Und darunter: Roman. Und darunter: Von Alfred Duster.

Er öffnete das Mansardenfenster, lauschte dem eintönigen Trommeln des Regens auf dem Ziegeldach und beobachtete den reglosen Mann im Kegel der Stehlampe.

Er schloß das Fenster und holte seine schwere Motorradjacke aus dem Schrank, zog sie an, löschte das Licht und schloß das Zimmer ab. Den Schlüssel ließ er stecken.

Vor dem Haus kickte er seine Ducati an, wischte mit der Hand die Tropfen vom Sattel und stieg auf.

Als der Motor in der Sackgasse aufdröhnte, schaute der reglose Mann kurz von seinem Buch auf.

[8] 2

Normalerweise wurde David vom Geruch des Mittagessens geweckt, das Frau Haag in der Nachbarwohnung kochte.

Aber heute erwachte er von einem Brennen am rechten Ohr. Typisch, die Hälfte seiner Generation war gepierct, aber er brauchte sich nur einen winzigen Goldstecker in die Ohrmuschel machen zu lassen, und schon hatte er eine Infektion.

Er angelte seine Armbanduhr von der leeren Weinkiste, die ihm als Nachttisch diente. Noch nicht einmal zehn Uhr, er hatte knapp fünf Stunden geschlafen.

David setzte sich auf den Bettrand. Der Tag, der unter den zu kurzen Vorhängen zu sehen war, tauchte das Zimmer in ein fahles Licht, das die Einrichtung aus Secondhandmöbeln – Tisch, Stühle, Polstersessel, Kleiderständer, Bücherregal – wie ein dreidimensionales Schwarzweißfoto erscheinen ließ. Die einzigen Farbtupfer waren die roten und grünen Stand-by-Lämpchen seiner Anlage, seines Druckers und seines Computers.

Er zog einen verwaschenen hellblauen Frotteemantel mit der Aufschrift »Sauna Happy« an, schloß die Wohnungstür auf und ging hinaus.

Die Toilette befand sich im Treppenhaus. Das war vor [9] allem jetzt, in der kalten Jahreszeit, unangenehm, denn sie war ungeheizt. Aber wenigstens war David der einzige, der sie benützte. Die Wohnung von Frau Haag besaß aus unerfindlichen Gründen eine eigene.

Im Spiegel über dem Waschbecken untersuchte er sein Ohr. Die Stelle am Einstich war gerötet und angeschwollen. Er war versucht, den Ohrstecker zu entfernen. Aber dann, hatte er gehört, wachse das Loch wieder zu.

Er ging zurück in die Wohnung, füllte die Kaffeemaschine und stellte sie aufs Gas. Dann duschte er in der Kabine aus Aluminium und blindem Plexiglas, die ein Vormieter vor Jahren in der Küche aufgestellt hatte.

Als er aus der Dusche kam, spuckte das Überlaufventil der Kaffeemaschine Wasser und ließ die Gasflamme gelb aufflackern. Er drehte das Gas zu, trocknete sich ab und zog den Frotteemantel wieder an. Er nahm eine Tasse aus dem Spülbecken, wusch sie aus und füllte sie mit Kaffee. Im Kühlschrank fand sich eine angebrochene Packung Milch. Er roch daran und goß etwas davon in die Tasse, trug sie ins Zimmer, stellte sie auf den Nachttisch, schaltete die Anlage ein und kroch wieder unter die Decke. Der Kaffee im Bett war ein Luxus, auf den David Kern ungern verzichtete.

Das Radio war auf einen Sender programmiert, der den ganzen Tag Musik aus den Tropen spielte. Ein krasser Gegensatz zum herrschenden Klima: Temperaturen um die null Grad, eine dicke Nebeldecke, die sich manchmal als Nieselregen, manchmal als Schneerieseln niederschlug. Die Tage begannen, wenn David noch tief schlief, und waren meistens schon vorbei, wenn er das Haus verließ.

Er trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken und machte [10] sich Sorgen um sein Ohr. Vielleicht sollte er zum Laden zurückgehen, wo er sich das Piercing hatte machen lassen. Die müßten Erfahrung haben mit Infektionen.

Im Treppenhaus hörte er die schweren Schritte von Frau Haag, die vom Einkaufen zurückkam. Sie dürfte so um die Siebzig sein – David konnte das Alter von alten Leuten nicht gut schätzen – und hatte einen Sohn, der etwa gleich alt aussah, jeden Tag Punkt Viertel nach zwölf zum Mittagessen kam und Punkt Viertel nach eins wieder ging. Er war ledig und arbeitete in der Nähe als Lagerist, wie ihm Frau Haag schon mehrmals anvertraut hatte.

David stand auf und öffnete die Vorhänge. Zu seiner Überraschung war das Stück Himmel, das von seinem Fenster aus zu sehen war, blau. Nicht sehr, aber doch so, daß er sich anzog und schon kurz nach elf auf der Johannstraße stand, der grauen Straße, in der er wohnte.

Ein unerwartet schöner Tag. Es war bestimmt zehn Grad wärmer als am Tag zuvor, und die Sonne spiegelte sich in den Mansardenfenstern über ihm. Schon nach ein paar Schritten mußte David den Reißverschluß seiner wattierten Jacke öffnen.

Der Lebensmittelhändler in der Kabelstraße hatte vor seinem Laden einen Stand mit elektrischem Weihnachtsschmuck aufgebaut. Kein gutes Geschäft bei diesem Wetter. David ging hinein und kaufte sich ein Käsesandwich, das er noch im Laden auspackte und zu essen begann.

Der Trödler im Innenhof des nächsten Hauses hatte ein paar Möbelstücke vor den Hofeingang gestellt und ein Schild mit einem Pfeil und der Aufschrift »Godis [11] Fundgrube«. David folgte dem Pfeil und betrat den Laden. Godi saß auf einem Polstersessel mit der Aufschrift »Fr. 80.–!« und las eine Gratiszeitung. Sie kannten sich, David hatte einen großen Teil seiner Wohnungseinrichtung bei ihm gekauft.

»Gestern Winter, heute Frühling – das geht an die Substanz«, stöhnte Godi.

David gab ihm recht, obwohl er keine Substanzprobleme hatte. Er war dreiundzwanzig.

Er kaute sein Sandwich und zwängte sich durch den mit Möbeln, Kisten, Haushaltsgeräten, Büchern, Bilderrahmen, Nippes und anderem Krempel vollgepferchten Laden. Vielleicht fand er etwas für Tobias, den Besitzer des Esquina, wo David arbeitete.

Das Esquina war eine Lounge Bar, die vor weniger als einem Jahr eröffnet worden war, aber aussah, als hätte es sie schon immer gegeben. Ihre Einrichtung bestand aus gebrauchten Möbeln aus den fünfziger und sechziger Jahren. An den künstlich gealterten Wänden hingen Fundstücke von Flohmärkten der ganzen Welt und verbreiteten eine Atmosphäre heimeliger Internationalität.

Schon öfter hatte David in Godis Fundgrube etwas für das Esquina gefunden und mit Gewinn an Tobias verkauft. Ein koloriertes Alpenpanorama zum Beispiel, eine ausgediente Botanikschautafel mit verschiedenen Palmenarten oder ein unbeholfenes Ölporträt eines Indianerhäuptlings.

Diesmal fand er nichts. Aber als er den Laden verließ, war Godi dabei, mit einem dicken Mann einen alten VW-Bus zu entladen. Eines der Stücke, ein Nachttisch mit abgerundeten Ecken und einer gelben Marmorplatte, weckte Davids Interesse. »Was kostet das?« fragte er Godi.

[12] »Das hat noch keinen Preis.«

Der Dicke mischte sich ein: »Es gehört noch mir. Art déco.«

»Quatsch, Art déco«, brummte Godi.

»Echte Marmorplatte«, ergänzte der Dicke.

»Wieviel?« fragte David.

Der Dicke warf Godi einen fragenden Blick zu.

»Nicht mich anschauen. Der Besitzer macht den Preis.« Godi ließ die beiden stehen und ging zum VW-Bus zurück.

»Vierzig?« Der Dicke war Zwischenhändler und besaß wenig Erfahrung mit Endverbrauchern.

David untersuchte das Möbel, öffnete das Türchen und zog vergeblich an der Schublade.

»Ein bißchen Seife, dann klemmt sie nicht mehr«, erklärte der Dicke.

»Dreißig«, bot David.

»Fünfunddreißig.«

David überlegte. »Aber dafür fahren Sie mich bis zu meiner Wohnung.«

»Ist es weit?«

»Gleich um die Ecke.«

So kam David Kern zum Nachttischchen, das sein Leben veränderte.

[13] 3

Marie Berger war mit Lars im Raumschiff essen gegangen, ein Versöhnungsessen, wie er es nannte.

Sie brauchte kein Versöhnungsessen, denn sie hatte keinen Streit. Lars war einfach ein Mißverständnis. Aber weil er so unglücklich dreingeschaut hatte und es Dezember war und auch sie nicht gegen die Tristesse des Weihnachtsrummels gefeit, hatte sie zugesagt.

Das war ein Fehler gewesen. Der Tag der Verabredung überraschte sie mit einem Frühlingshimmel und einem Lüftchen voller Süden. Nicht das Wetter für eine Aussprache mit einem Verflossenen, der noch nicht wußte, daß er einer war.

Am liebsten hätte sie ihm abgesagt, aber sie konnte ihn nicht erreichen, er hatte sein Handy ausgeschaltet. In weiser Voraussicht, wie sie vermutete.

Das Raumschiff war ein zu großes, zu lautes, zu teures Designerlokal, nicht Maries Welt. Schon eher die von Lars, der Nationalökonomie studierte und im Vertrauen auf eine große Wirtschaftskarriere schon einmal etwas über seine Verhältnisse lebte.

Als Marie eintraf – pünktlich, denn sie wollte den Abend nicht mit dem Handicap beginnen, zu spät gekommen zu sein –, saß Lars schon an einem Tischchen mitten im [14] Getümmel. Er sprang auf und winkte mit beiden Armen, wie ein Schwimmer in Not. Sie steuerte auf seinen Platz zu und versuchte, die Gäste zu ignorieren, die sie, ohne ihre Gespräche zu unterbrechen, mit einem Seitenblick taxierten.

Lars empfing sie stehend und bot ihr seinen Platz an. »Von hier aus siehst du die Leute.«

»Die interessieren mich nicht«, entgegnete sie. Erst als sie sich mit dem Rücken zum Lokal gesetzt hatte, wurde ihr klar, daß er die Bemerkung nicht als Kritik am Lokal, sondern als Kompliment an ihn verstanden hatte. Er setzte sich ihr gegenüber, faltete die Hände unter dem Kinn und schaute ihr lächelnd in die Augen.

»So habe ich das nicht gemeint, Lars.«

»Wie?«

Wenn er sich dabei nicht so unwiderstehlich gefunden hätte, hätte sie es ihm bestimmt schonender beigebracht. So aber sagte sie: »Ich wollte damit nicht sagen, daß mich dein Anblick mehr interessiert.«

Eigentlich hätte sie jetzt aufstehen und gehen sollen. Aber Lars blickte sie so erschrocken an, daß sie dem Satz mit einem kleinen Lächeln etwas von seiner Schroffheit nahm. Er lächelte erleichtert zurück, winkte einem Kellner und bestellte zwei Glas Champagner.

Wenn er sie gefragt hätte, hätte Marie gerne ein Glas Champagner genommen. Aber jetzt sagte sie: »Mir lieber ein Mineralwasser.«

Marie Berger war vierundzwanzig. Seit etwas über einem Jahr ging sie wieder zur Schule. Sie wollte das Gymnasium abschließen, das sie mit sechzehn aufgegeben hatte, um [15] eine Ausbildung als Dekorateurin anzufangen. Um ihr kreatives Potential auszuschöpfen, wie sie ihrer Mutter erklärt hatte.

Marie hatte fast fünf Jahre gebraucht, um ihrer Mutter recht geben zu können, daß das ein Fehler gewesen war. Und sie zu bitten, sie bis zum Abschluß der Schule wieder in ihrer Dreizimmerwohnung aufzunehmen. So sparte Marie sich die Miete. Die Kosten für die Ausbildung und was sie zum Leben brauchte, bezahlte sie aus ihrem Ersparten und dem Honorar, das ihr drei Stammkunden für die monatliche Schaufensterdekoration bezahlten. Ein Laden für Modeschmuck, eine Boutique für Designermode und ein Apotheker, der sich weigerte, die Werbedisplays der Pharmaindustrie in die Fenster zu stellen.

Vielleicht hätte sie mit einem andern Job mehr verdient, aber Schaufenster dekorieren besaß den Vorteil, daß es sich mit dem Schulbetrieb vereinbaren ließ. Und auch den, daß es sie immer wieder daran erinnerte, welchen Beruf sie auf keinen Fall mehr ausüben wollte. Sie hatte schon während der Lehre ihre Liebe zu Büchern entdeckt und wollte diese zu ihrem Beruf machen, indem sie Literatur studierte.

»Das ist, als ob du aus Liebe zur Gerechtigkeit Jura studieren wolltest«, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihn fragte, ob er allenfalls bereit wäre, sich an den Kosten des zweiten Bildungswegs zu beteiligen. Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, denn er hatte sich seit der Scheidung auch am ersten nur widerwillig beteiligt.

Das Leben mit ihrer Mutter war nicht einfach. Nicht aus den üblichen Gründen. Myrtha, so mußte sie ihre Mutter seit frühster Kindheit nennen, mischte sich nicht in ihre [16] Angelegenheiten. Im Gegenteil, sie ließ Marie ihr Leben leben und lebte ihres. Und das war es, was das Zusammenleben immer öfter schwierig gestaltete. Myrtha führte für Maries Geschmack ein etwas zu aktives Liebesleben. Immer wieder mußte Marie aus der kleinen Wohnung flüchten, um die Schäferstündchen ihrer Mutter nicht zu stören. Nicht, daß es Myrtha peinlich gewesen wäre. Marie war es peinlich.

An einem solchen Abend hatte sie auch Lars kennengelernt. Ihre Mutter war kurz nach zehn mit einem dänischen Reiseführer – sie arbeitete in einem Reisebüro – nach Hause gekommen, und Marie hatte die Harmonie mit der Bemerkung »der hat doch bestimmt ein Hotelzimmer« gestört. Ihre Freundin Sabrina, die ihr in solchen Momenten jeweils Unterschlupf bot, gab Marie am Telefon zu verstehen, daß sie sich in einer ähnlichen Situation wie Myrtha befand.

So landete sie im Bellini, einer Bar, in der sie meistens jemanden traf, den sie kannte.

Aber an diesem Abend war im ganzen Bellini kein bekanntes Gesicht zu entdecken. Marie setzte sich an die Bar und trank ein Glas Asti. Und als der Barmann ihr nach einer Viertelstunde »von dem Herrn vis-à-vis« ein zweites brachte, lehnte sie es nicht ab und schickte dem Spender ein Lächeln über den Tresen. So kam sie mit Lars ins Gespräch.

Es war nicht Maries Art, sich in einer Bar aufreißen zu lassen. Aber an jenem Abend fühlte sie sich so ausgestoßen, daß sie Lars nach kurzer Zeit fragte: »Hast du eine eigene Wohnung, oder teilst du sie mit jemandem?«

[17] Daß sie Lars danach wieder traf, lag allein daran, daß sie sich aus Prinzip auf keine one-night-stands einließ.

So setzte sich die Reihe von Mißverständnissen fort. Beinahe zwei Monate, in denen sie es nicht schaffte, ihm reinen Wein einzuschenken. Kam dazu, daß es sich um November und Dezember handelte, die beiden Monate, in denen Myrtha ihre gefürchtete Jahresschlußdepression auslebte und Marie lieber einen Bogen um sie machte. Und kam auch dazu, daß Lars zwar nicht ihr Typ, aber ein großzügiger Restaurantbegleiter und guter Liebhaber war.

Daß sie sich nicht eingestehen wollte, daß die beiden letzteren Gründe eine Rolle spielten, hatte weiter dazu beigetragen, die Affäre in die Länge zu ziehen.

Und dann natürlich auch Lars selber. Seine Mischung aus Arroganz und Verletzlichkeit. Als hätten in den sechsundzwanzig Jahren seines Lebens weder er noch sonst jemand je an ihm gezweifelt. Beim kleinsten Verdacht, es könnte möglich sein, ihn nicht vorbehaltlos zu lieben und zu bewundern, stand er den Tränen nahe. Das machte es für Marie nicht einfacher, ihm den Laufpaß zu geben. Sie war in der Praxis weniger kühl als in der Theorie.

Deswegen war sie dankbar gewesen für den Vorwand, sich zurückzuziehen. Es war um die Börse gegangen. Lars hatte ihr im Detail den Unterschied zwischen einem Bullen- und einem Bärenmarkt erklärt, und sie hatte sich dabei ostentativ gelangweilt. Plötzlich hatte er seine Ausführungen pikiert abgebrochen mit der Bemerkung: »Entschuldige, das interessiert dich wohl nicht.«

Sie hatte geantwortet: »Das ist untertrieben. Es kotzt mich an. Ich verachte Leute, die daran Geld verdienen, daß [18] Firmen Leute entlassen, damit sie höhere Gewinne erzielen.«

Einen Moment war er fassungslos gewesen. Dann hatte er ihr das Stichwort geliefert: »Dann verstehe ich nicht, wie du mit einem Mann der Wirtschaft zusammensein kannst.« Mann der Wirtschaft!

»Das verstehe ich allerdings auch nicht«, hatte sie festgestellt und war gegangen.

Und jetzt saß sie also mit Lars im Raumschiff und mußte das Mißverständnis aufklären. Der Kellner brachte den Champagner für ihn und Mineralwasser für sie. Sie bereute es, daß sie ihre Unabhängigkeit nicht wenigstens mit einem Cocktail demonstriert hatte.

Der einzige Wandschmuck des Lokals bestand aus verschiedenfarbigen Streulichtern. Aus riesigen Boxen pulsierte der sture Beat der Chill-Out-Musik.

»Ich weiß nicht, ob man mit Champagner und Mineralwasser anstoßen darf«, sagte Lars.

»Ich wußte nicht, daß es auch dafür Vorschriften gibt.«

»Also stoßen wir an?«

»Von mir aus.«

Als sich die Gläser berührten, fragte Lars: »Frieden?«

Marie stellte das Glas ab. »Wir haben keinen Streit, Lars. Wir passen nicht zusammen.«

»Wir ergänzen uns.«

Marie seufzte. »Ich suche nicht die große Ergänzung. Ich suche die große Liebe.«

Lars schwieg.

»Mach nicht so ein Gesicht, es bricht mir das Herz.«

[19] »Dann besteht ja noch Hoffnung.«

Marie nahm Lars’ Champagnerglas und hielt es einem vorbeigehenden Kellner entgegen. Dieser nickte.

Schweigend warteten sie, bis er ihr auch ein Glas gebracht hatte. Marie hob es. »Laß uns auf die vergangenen Wochen anstoßen und die Sache wie zwei Erwachsene zu Ende bringen.«

Aber das war zuviel verlangt von Lars. Während der Vorspeise bettelte er, beim Hauptgang machte er ihr Vorwürfe und beim Kaffee hatte er es geschafft, der Sache den Anschein zu geben, als sei er es, der sie loswerden wolle. Das ärgerte sie zwar, aber es hatte den Vorteil, daß sie sich nicht verpflichtet fühlte, die Rechnung zu teilen. Sie hätte nämlich nicht genug dabeigehabt.

Sein Angebot, sie irgendwo abzusetzen, lehnte sie ab. Sie gehe lieber zu Fuß, behauptete sie.

Die Nacht war noch klarer, als es der Tag gewesen war. Aber in den drei Stunden, die sie sich mit Lars herumgequält hatte, war das Thermometer gefallen. Ein eisiger Wind ließ ihre Augen tränen. Immer wieder mußte sie die Hände aus den Manteltaschen nehmen und damit ihre Ohren wärmen.

Ihre Bemerkung über die große Liebe ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte sie mehr aus Freude an der Formulierung gesagt. »Ich suche nicht die große Ergänzung, ich suche die große Liebe«, war ein Satz, wie er ihr gefiel. Aber war etwas dran? Suchte sie die große Liebe? Nicht so, wie das alle taten, sondern wirklich? War sie auf der Suche? Waren Lars und die anderen vor ihm Etappen auf dem Weg zum großen Ziel?

[20] Die Straßen des trendy gewordenen Arbeiterviertels waren menschenleer. In vielen Fenstern hingen Lichtgirlanden, und die Schaufenster der türkischen Imbisse, Thai-Take-aways und asiatischen Lebensmittelläden blinkten und glitzerten in allen Farben.

Marie fühlte sich plötzlich einsam. Ein neues Gefühl. Allein hatte sie sich schon oft gefühlt. Das fühlte sich gut an. Es machte sie unabhängig und selbständig. Aber einsam? Einsam war anders. Einsam fühlte sich an, als müßte sie augenblicklich unter Menschen, je mehr desto besser.

Von einer Hauswand weiter vorne warf ein Projektor einen Schriftzug aufs Trottoir. »Esquina«, konnte Marie lesen, als sie näher kam. Aus einem Eingang drang warmes Licht, wie aus einer guten Stube. Und Salsa statt Techno.

[21] 4

Es war ein Abend wie die meisten in diesem Dezember. Das Esquina war voller Leute, die ihre Firmenweihnachtsessen ausklingen ließen. Oder die nach den Weihnachtseinkäufen hängengeblieben waren und noch ihre Tragetaschen dabeihatten. Oder die den Rummel zu ignorieren und den Normalzustand vorzutäuschen versuchten. Es herrschte eine Mischung aus Torschlußpanik, Resignation, Vorfreude und Schwermut.

David hatte wie meistens in letzter Zeit den Sektor C. Das hieß, die Sessel und Lounge Tables, die zur großen Bar gehörten. Er mochte diese Zuteilung, denn im C befand sich der Stammplatz einiger Gäste, mit denen er auch privat Kontakt hatte.

Der Kopf der Gruppe war Ralph Grand, Schriftsteller. Jedenfalls war das der Beruf, den er angab, wenn man ihn danach fragte. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit Übersetzungen technischer Texte aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche. Diese Tätigkeit erlaubte es ihm, regelmäßig im Esquina zu erscheinen und lange zu bleiben. Wann er neben seinen Übersetzungen und seinem Nachtleben noch Zeit für den großen Roman fand, an dem er seit Jahren arbeitete, wurde, wenigstens in Ralphs Gegenwart, nie erörtert.

[22] Ralph war ein sehr unterhaltsamer Gesellschafter mit einem großen literarischen Wissen, mit dem er manchmal etwas zu sehr auftrumpfte. Eine seiner weniger angenehmen Eigenschaften.

Stets an seiner Seite war Sergio Frei. Sergio war Künstler und besaß ein Atelier in einem Industriegebäude ganz in der Nähe. Wovon er lebte, das war niemandem so ganz klar, denn seine Bilder – riesige, mit groben Pinselstrichen überarbeitete Fotodrucke, die man schon irgendwo gesehen zu haben glaubte – wurden selten in Ausstellungen gezeigt und fast nie verkauft. Am glaubwürdigsten war das Gerücht, daß sein Vater, der bei einem Wildwasserfahrerkurs tödlich verunglückt war, etwas Vermögen besessen hatte.

Silvie Alder trat allein auf. Sie hatte vor kurzer Zeit ihre Ausbildung als Zeichenlehrerin abgeschlossen und sofort eine Stelle an der gleichen Gewerbeschule bekommen. Silvie war sehr klein und zierlich und sah aus wie die junge Edith Piaf, was sie durch gezupfte Augenbrauen und blutroten Lippenstift noch unterstrich.

Auch Roger Bertoli und Rolli Meier traten gemeinsam auf. Roger war Texter in einer Werbeagentur und bewunderte Ralph Grand für seine Belesenheit. Rolli war bis vor kurzem AD, Art Director, in der gleichen Agentur gewesen und hatte jetzt unter dem etwas weit hergeholten Namen ADhoc – er stammte von Roger Bertoli – eine Einmannfirma eröffnet. Deren Tätigkeit bestand darin, ihn selbst bei Personalengpässen an Werbeagenturen auszuleihen. Da die Wirtschaftslage für Personalengpässe schlecht war, sah sich Rolli gezwungen, mit technischen [23] Illustrationen, die ihm Ralph Grand vermittelte, ein Zubrot zu verdienen.

Etwas sporadischer stieß Sandra Schär dazu. Sie war als Flight Attendant manchmal tagelang außer Landes. Sie war eine große blonde Frau, glamorous, wie man sich früher eine Stewardess vorstellte. In ihrem Gefolge befanden sich immer Kelly Stauffer und Bob Jäger. Kelly, ein hagerer, kahlgeschorener, schwarz gekleideter Architekt und sein Lebenspartner Bob, ein muskulöser, kahlgeschorener, schwarz gekleideter Fernsehkameramann.

An diesem Abend waren sie alle da. Sie saßen in ihrer abgewetzten Sitzgruppe vor den üblichen Getränken – ein Glas Rioja für Ralph, Bier für Sergio und Rolli, Cava für Silvie und Kelly, Mojito für Roger, Gin Tonic für Sandra und ein alkoholfreies Bier für Bob.

David kannte die Bestellungen auswendig und würde sie ungefragt bringen, hätte er damit nicht einmal schlechte Erfahrungen gemacht:

Er hatte Ralph, kaum hatte er sich gesetzt, seinen Rioja gebracht. »Ich habe keinen Rioja bestellt«, hatte der gesagt.

»Entschuldige. Ich dachte, weil du immer einen Rioja bestellst. Was möchtest du denn?«

»Einen Rioja.«

David grinste und stellte das Glas vor ihn hin.

»Nicht diesen Rioja, ich möchte den Rioja, den ich bestellt habe.«

Ohne Sergios Hilfe hätte Ralph darauf bestanden, daß David den Rioja wieder mitnahm und einen neuen brachte. Den ganzen Abend, wenn er in Hörweite der Runde kam, schnappte David Fetzen einer Diskussion auf über das Recht [24] des Menschen auf Unvoraussagbarkeit, wie es Ralph Grand nannte.

Am nächsten Abend ging David in den Bergfrieden, ein Arbeiterrestaurant des Quartiers, das von einem spanischen Wirt geführt wurde. Ralph pflegte dort zu Abend zu essen, bevor er ins Esquina wechselte. David wollte ihn zur Rede stellen. Er wollte ihm sagen, daß er ihn nicht wie einen Kellnerlehrling vor allen Gästen zurechtweisen könne. Schließlich seien sie auch so etwas wie Freunde. Falls ihm etwas an seinem Service nicht behage, könne er ihm das unter vier Augen sagen.

Aber als er sich zu Ralph an den Tisch setzte, war dieser tief in eine Diskussion verwickelt mit einem dünnen Mann, der mit gelben Fingern russische Zigaretten rauchte. Ralph schenkte Davids Erscheinen kaum mehr Beachtung als im Esquina, wenn er ein neues Glas Rioja brachte.

David bestellte eine Tortilla und eine Cola – er trank keinen Alkohol vor der Arbeit – und wartete auf eine Gelegenheit, sich am Gespräch beteiligen zu können.

Das war eine vertraute Situation für David: warten, bis man ihm Beachtung schenkte. Vor allem, bis Ralph ihm Beachtung schenkte. Denn wenn dieser es tat, taten es die andern sieben auch.

Nicht, daß David Kontaktschwierigkeiten gehabt hätte. Es gab viele Leute, die ihn mochten und mit denen er ein ganz normales entspanntes Verhältnis pflegte. Weshalb er sich in den Kopf gesetzt hatte, ausgerechnet in die Gruppe um Ralph aufgenommen zu werden, war ihm selbst nicht ganz klar. Er redete sich ein, daß es damit zusammenhing, daß es interessante Leute waren, die interessante Dinge [25] taten und sich über interessante Themen unterhielten. Vielleicht lag es aber auch nur daran, daß sie ihn als Kellner behandelten.

David war kein Kellner, das war nur sein momentaner Job. Er hatte ein paar Jahre das Gymnasium besucht, er hatte eine Weile als Supporter in einem Computershop gearbeitet, er verstand viel von Obst und Gemüse, denn er hatte ein Jahr auf einem französischen Biobauernhof gelebt.

David wollte nicht als der sympathische Kellner behandelt werden, den man auch auf der Straße erkannte und mit dem man auch einmal privat etwas trinken konnte. Er wollte als der gute Bekannte, vielleicht auch als der Freund gelten, der zufällig im Esquina die Getränke brachte und kassierte, weil er momentan zufällig als Kellner jobbte.

Um diesen Status zu erreichen, ging David auch an freien Abenden manchmal ins Esquina und setzte sich zu Ralph und den andern und versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen.

Das war nicht einfach, denn die Clique kannte sich schon so lange, daß sich gewisse Codes eingebürgert hatten. Verkürzungen, Redewendungen, Betonungen und Gesten, die für Außenstehende schwer zu verstehen waren. So beschränkte sich David meistens aufs Zuhören und darauf, ein Stichwort abzuwarten, bei dem er mithalten konnte.

Updike wäre zum Beispiel so eines gewesen. David hatte in den Anfängen seiner Tätigkeit im Esquina von Ralph die Bemerkung aufgeschnappt: »Nicht zu glauben, daß ich meine Abende mit jemandem verbringe, der noch nie Updike gelesen hat.« Gemeint war Roger Bertoli, der Texter, der sich verlegen grinsend hinter seinem Mojito versteckte.

[26] David hatte darauf, nicht ohne Mühe, Updikes sämtliche Rabbit-Romane gelesen und wartete seither vergeblich darauf, daß das Thema Updike wieder angeschnitten wurde.

Er war wohl der einzige der Runde, der das Versäumnis nachgeholt hatte. Die andern mieden das Thema fortan gewissenhaft.

An jenem Abend im Bergfrieden mußte David zur Arbeit, bevor er Ralph zur Rede stellen konnte.

Ob er die Sache tatsächlich zur Sprache gebracht hätte, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergeben hätte, stand auf einem andern Blatt.

Kurz vor Mitternacht betrat eine Frau das Esquina, die er wiedersehen wollte.

David war gerade mit einer Bestellung gemischter Tapas unterwegs zu einem der Sofas beim Eingang, als sie aus dem kurzen Korridor trat, der vom Eingang ins Lokal führte. Sie knöpfte den Mantel auf und sah sich dabei im Lokal um.

Sie stand etwa zwei Meter vor ihm. Das erste, was ihm auffiel, war ihr Nackenhaar. Ein Spot, der eine Wandnische voller Nippes aus den sechziger Jahren anleuchten sollte, streifte ihren Hals und ließ den Flaum, der von ihrem Nacken bis zum Ansatz der kurzgeschnittenen Haare wuchs, golden aufleuchten.

Sie wandte den Kopf. Ihr Gesicht war schmal und blasser als das der meisten Gäste, die um diese Zeit von der kalten Straße ins Esquina traten. Ihre Augen waren blau oder grau oder grün, schwer zu sagen bei dieser [27] Beleuchtung. Ihr kleiner Mund war leicht geöffnet, als ob er gleich etwas fragen wollte. Und zwischen den Augenbrauen im gleichen dichten Weizenblond wie ihr Haar hatte sich eine winzige senkrechte Falte gebildet. Wohl aus Ärger darüber, daß das Lokal nicht aussah, als fände sich darin noch ein Platz für sie.

Sie begann schon, den Mantel wieder zuzuknöpfen, als David sie ansprach. »Suchst du einen Platz?«

»Hast du denn noch einen?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, dich zu jemandem dazuzusetzen.«

»Kommt auf die Leute an.«

»Die sind okay.«

David führte sie zur Sitzgruppe von Ralph und den andern. Dort gab es meistens einen Sessel, der als Mantelablage und Reservesitz diente. Der Sessel war zwar tabu, aber David wußte keinen anderen Weg, sie am Gehen zu hindern und gleichzeitig in seinem Einflußbereich zu behalten.

Er fing denn auch einige ungläubige Blicke auf, als er mit den Worten »hier kommt wohl niemand mehr« die Mäntel vom Stuhl nahm und über eine Sofalehne legte. Aber niemand protestierte, dazu war der neue Gast zu hübsch.

An diesem Abend vernachlässigte David vielleicht ein paar Gäste. Dafür leerte er bei der Gruppe um Ralph die Aschenbecher öfter als nötig. Und nie fragte er, wenn dort jemand etwas bestellte, ob sonst noch jemand einen Wunsch habe. Lieber kam er eigens für jede Bestellung zurück.

Sie hieß Marie, das hatte er schon aufgeschnappt, als er ihr das erste Glas Cava brachte. Nicht Maria, nicht Mary – [28] Marie, Betonung auf der zweiten Silbe. Ein schöner Name, fand David. Einfach und schön. Wie alles an ihr.

David war unsicher in Gegenwart von Frauen, die ihm gefielen. Er sah sich dann mit ihren Augen. Seine Hände und Füße wurden zu groß, wie bei einem jungen Hund. Seine Ohren begannen abzustehen, und der Haaransatz zog sich zurück. Er spürte seinen Schnurrbart, seine Koteletten, seine Fliege, sein Kinnbärtchen, seinen Fünftagebart, also die gerade aktuelle seiner häufig wechselnden Barttrachten. Und beim Sprechen hatte er das Gefühl, seine Lippen würden dick.

Bei Frauen, die ihm nicht gefielen, passierte ihm das nicht. Deswegen bestand sein Liebesleben aus einer langen Reihe von kürzeren Affären mit Frauen, die ihm nicht gefielen. Und ein paar wenigen unerfüllten Liebesgeschichten mit solchen, die er anbetete.

Marie sah aus, als könnte sie zu einer dritten Kategorie gehören. Einer, der er noch nie begegnet war.

Sie schien sich wohl zu fühlen in der Gesellschaft, in die er sie eingeführt hatte. Sie saß entspannt zwischen Silvie und Bob und lachte mit den andern über Ralph Grand, der sich, wie immer vor neuem Publikum, groß in Szene setzte.

Zwei-, dreimal ließ sich David auf der Sofalehne nieder und versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen. Aber jedesmal mußte er sich damit begnügen, herzlich über eine Pointe zu lachen, deren Vorgeschichte er nicht mitbekommen hatte.

Kurz vor ein Uhr winkte ihn Ralph heran. »Zahlen.«

Ein Uhr war früh für Ralphs Verhältnisse. Meistens blieb [29] er bis drei, wenn das Esquina schloß. »Seid ihr nachher noch im Volume?« erkundigte sich David. Das Volume war ein Club in der Nähe, wo sie sich noch trafen, wenn ihnen der Abend zu kurz erschienen war.

Ralph schaute Marie an, als ob die Entscheidung von ihr abhinge. »Im Volume war ich schon lange nicht mehr«, antwortete sie.

David kassierte, wie immer bei jedem einzeln. Als er mit Marie abgerechnet hatte, sagte sie: »Gute Nacht und danke für den schönen Platz.« Sie ließ acht Franken im Wechselgeldtellerchen liegen.

David strich das Trinkgeld verlegen ein. »Vielleicht sehen wir uns später noch im Volume.«

»Vielleicht.«

Während er den Tisch abräumte, sah er Marie mit den andern im Korridor verschwinden.

Zwischen Bar und Lounge Chairs, mit vollem Tablett im Getümmel der immer ungeduldiger werdenden Gäste, immer ein paar Bestellungen im Rückstand, gingen im Esquina zwei Stunden normalerweise schnell vorbei. Aber heute zogen sich die Minuten in die Länge. Sie ging David nicht aus dem Kopf. Marie, die jetzt mit den andern im Volume war und bestimmt mit Ralph tanzte. Er hatte gesehen, wie er ihr in den Mantel half. Ironisch zwar, als Parodie auf einen Mann, der einer Frau im einundzwanzigsten Jahrhundert in den Mantel hilft, aber dennoch in den Mantel half. Und wie sie es sich gefallen ließ mit der Selbstverständlichkeit einer Frau, die es gewohnt ist, daß man ihr in den Mantel hilft.

[30] So würde er jetzt auch mit ihr tanzen. Ironisch. Jede Bewegung eine Anspielung. Auf ein Love Mobil, eine Chorus Line, einen Turniertänzer, einen Rockgitarristen, einen Tangokönig. Einen zudringlichen Tangokönig, David hatte Ralph schon öfter bei dieser Nummer beobachtet. Ihn sich mit Marie dabei vorzustellen störte ihn besonders.

»Was ist los, David?« Tobias, der Besitzer des Esquina, ein an sich gutmütiger Chef, klang etwas gereizt.

David wußte genau, was er meinte. Er hatte seinen Sektor nicht mehr im Griff. Überall unabgeräumte Tische; Gäste, die sich an die Bar drängten, um sich ihre Drinks selbst zu holen; andere, die gereizt nach der Rechnung riefen.

Davids Antwort kam spontan: »Tut mir leid, mir ist schon den ganzen Abend nicht gut.«

»Scheiße, jetzt, wo schon Sandra ausgefallen ist.«

»Deshalb bin ich bis jetzt geblieben.«

»Heißt das, du gehst jetzt?«

»Ich glaube nicht, daß ich bis drei durchhalte.«

»Dann hau schon ab, und schau, daß du morgen wieder fit bist.«

»Und wer macht das hier?«

»Wer wohl?« Tobias nahm ihm das Tablett ab. »Welcher Tisch?«

»Zwölf«, antwortete David im Weggehen.

Vor dem Volume hatte sich eine Menschentraube gebildet. Die Türsteher ließen nur noch members und beautiful people herein. David war keines von beiden, aber er kannte einen der Türsteher.

Er tauchte in den Kosmos aus farbigem Zigarettenrauch, [31] diffusen Gesichtern, aufgeregten Stimmen und körperlich spürbaren Bässen und begann, Marie zu suchen. Ein paarmal glaubte er, sie im vorbeiziehenden Lichtkegel eines Spots entdeckt zu haben. Aber jedesmal, wenn er sich an die Stelle vorgearbeitet hatte, wo ihr Gesicht, ihre Schulter, ihr Haar einen Augenblick aufgeleuchtet war, fand er dort keine, die ihr auch nur entfernt ähnlich sah.

Er wollte die Suche schon aufgeben, da entdeckte er Rolli, der vergeblich versuchte, die Aufmerksamkeit eines Barmanns auf sich zu lenken. Wo Rolli war, konnten auch die andern nicht weit sein.

Als Rolli ihn sah, sagte er: »Schon so spät?«

»Ich bin früher gegangen. Wo sind die andern?«

»Soeben gegangen.«

»Wohin?«

»Heim.«

»Schon?«

»Die, die bei uns saß…«

»Marie.«

»Ja, Marie wollte gehen. Und da wollte Ralph natürlich auch gehen.«

»Natürlich.«

»Und dann wollten plötzlich alle gehen.«

Der Barmann hatte beschlossen, Rolli nicht mehr zu übersehen, und schrie: »Was?«

»Ein Bier.«

»Und du?« Die Frage war an David gerichtet.

»Nichts.«

Der Barmann wandte sich ab.

»Komm, trink doch noch was«, bettelte Rolli.

[32] Aber David hatte keine Lust. Wenn Rolli angetrunken war, wurde er deprimiert. Und deprimiert war David selbst.

Die Straßen waren verlassen. Gelegentlich fuhr ein Auto vorbei. Manchmal konnte David die Gesichter der Insassen sehen, manchmal nur die Glut ihrer Zigaretten.

Aus einem hell erleuchteten Club drang laute Musik. Ein paar Gäste standen auf dem Trottoir und rauchten die Sachen, die man sie im Innern nicht rauchen ließ.

David ging weiter. Die Musik wurde leiser und leiser, bis seine Schritte sie übertönten. Einmal blickte David zurück und sah von weitem die Lichter des Clubs. Wie ein kleines Dorf an einer öden Landstraße.

Über ihm in der Finsternis ahnte er die Nebeldecke, die morgen den Tag verhängen würde. Er versuchte, sich nicht auszumalen, wo Marie war. Er fühlte sich elend.

In seiner Wohnung war es kühl, wie immer um diese Zeit. Die Zentralheizung war so programmiert, daß sie ab zehn Uhr auf das Minimum gedrosselt wurde und erst ab sechs Uhr wieder die volle Leistung brachte. Für Davids Wohnung im obersten Stock bedeutete das, daß die Heizkörper kalt waren, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.

Er fand ein Bier im Kühlschrank, setzte sich damit auf den Bettrand und zappte durch die Fernsehprogramme. Ein Potpourri aus Adventsfilmen, Nonstop-Werbesendungen und Softporno, das ihn nicht zu fesseln vermochte.

Er schaltete den Fernseher aus und musterte ohne Begeisterung das Nachttischchen, das er vor ein paar Stunden aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen gekauft hatte. [33] Die gelbe Marmorplatte hatte einen Sprung, der ihm beim Kauf nicht aufgefallen war. Die Schublade saß schief in ihrer Öffnung. An einer Stelle ihrer Vorderseite waren Spuren eines Werkzeugs zu sehen, mit dem jemand versucht hatte, die Verkantung zu lösen.

David ging in die Küche und kam mit einem Schraubenzieher zurück. Damit versuchte er sein Glück.

Schon nach wenigen Versuchen begann sich die Schublade zu bewegen. David setzte etwas mehr Kraft ein. Mit einem quietschenden Geräusch lösten sich die Nägel, mit denen das vordere Brett der Schublade an die Seitenbretter genagelt war. Das hatte er nicht gewollt. Er legte den Schraubenzieher beiseite und beschloß, es morgen mit etwas Seife zu versuchen, wie ihm der Verkäufer geraten hatte.

Aber als er aufstand, um in die Küche zu gehen, sah er durch die Lücke, die bei seinem dilettantischen Versuch entstanden war, daß etwas in der Schublade lag. Er griff wieder zum Schraubenzieher und löste das Brett vollends von den Seitenbrettern.

In der Schublade lag ein Stoß vergilbter Seiten.

SOPHIE, SOPHIE stand in Großbuchstaben auf dem Titelblatt. Und darunter: Von Alfred Duster.

David hob das Blatt ab. Der erste Satz der engbeschriebenen Seiten lautete:

Das ist die Geschichte von Peter und Sophie. Lieber Gott, laß sie nicht traurig enden.

David begann zu lesen.

[34] 5

Marie hatte schon vom Esquina gehört. Es galt als etwas neoalternativ. Aber nach dem Minimaldesign des Raumschiffs war das Esquina eine Wohltat. Vielleicht war auf den zweiten Blick sein Trödlerlook etwas forciert und seine Abgewetztheit etwas künstlich, aber der große Raum strahlte eine Behaglichkeit aus, die sich auf die Gäste übertrug.

Leider war er hoffnungslos überfüllt. Alle Sessel und Sofas waren belegt, alle Tische besetzt, die Bars waren umlagert, und an den Stehtischen stand man in zwei Reihen.

Marie hatte keine Lust, sich irgendwo anzustellen und zu versuchen, sich nach und nach zehn Zentimeter Tischkante zu erobern. Sie wollte schon wieder gehen, als sie einer fragte, ob sie einen Platz suche. An seiner Kleidung war er nicht als Kellner zu erkennen, aber er trug ein Tablett mit leeren Gläsern und vollen Aschenbechern.

Er verschaffte ihr einen Platz in einer Runde, die ihr auf Anhieb gefiel. Sechs Männer, zwei Frauen, alle nicht viel älter als sie und offenbar Stammgäste im Esquina. Einer, den sie Ralph nannten, stellte sie vor:

»Das ist Silvie. Sie bringt jungen Menschen bei, alte Schuhe abzuzeichnen. Sandra sorgt dafür, daß die Passagiere niemals die Schwimmwesten vor dem Verlassen des [35] Flugzeugs aufblasen. Roger schreibt diese Sachen auf den Inseraten, die kein Schwein liest. Rolli sorgt dafür, daß sie auch für die, die sie lesen möchten, unleserlich bleiben. Kelly verliert Architekturwettbewerbe. Bob ist der Mann, der schuld daran ist, daß im Fernsehen alle so tiefe Falten im Gesicht haben. Und Sergio hier macht Kunst und erträgt keine Witze darüber. Und du?«

Marie versuchte, sich dem Ton anzupassen. »Ich bin die, die alle diese Christbaumkugeln in die Schaufenster hängt, und daneben versuche ich, die Matura nachzuholen. Und du?«

»Ich sorge für das literarische Niveau von Gebrauchsanweisungen und Beipackzetteln.«

Das war genau, was Marie gebraucht hatte, um dieses ungewohnte Gefühl von Einsamkeit zu vertreiben: ein bißchen blödeln mit ein paar Leuten, die sich mochten und noch nicht nach Hause wollten.

Sie hatte sofort einen Draht zu den beiden Frauen. Silvie, die Zeichenlehrerin, bei der sie nie wußte, ob sie es ernst meinte, weil ihre tiefe Stimme in einem solch komischen Gegensatz zu ihrer zarten Erscheinung stand. Und Sandra, die Flight Attendant, die nahtlos von der Diva zum Kumpel und wieder zurück wechseln konnte. Sie schien eng befreundet mit Bob, dem muskulösen, wortkargen Fernsehkameramann, und seinem Freund Kelly, dem Architekten, dem mit jedem Glas Champagner die Handgelenke und Augendeckel etwas mehr außer Kontrolle gerieten.

Roger, der Texter, war der Wortspielpartner für Ralph. Und Rolli, der Grafiker, sein Coach.

Sergio, der Künstler, spielte den Coach für Ralph, [36] obwohl der keinen nötig hatte. Er war der schlagfertigste und witzigste von allen, der unbestrittene Champion der Runde.

Ziemlich bald wurde auch klar, daß er nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, als er sich als Übersetzer von technischen Texten bezeichnete. Er war vor allem Schriftsteller und nebenbei auch ein Kenner von Raymond Carver, Richard Ford und John Updike – alles Autoren, die auch auf Maries Wellenlänge lagen.

Auch die Atmosphäre des Esquina gefiel ihr immer besser. Sie fühlte sich wie im Wohnzimmer guter Freunde. Die Musik folgte keiner Doktrin, sondern sie hatte das Gefühl, einfach die CDs zu hören, die dem Gastgeber momentan gefielen. Die Bedienung war aufmerksam und doch familiär, der Kellner setzte sich sogar ab und zu für einen Moment zu ihnen.

Was für ein Unterschied zu den In-Lokalen, in die sie Lars geführt hatte, um sie mit seinen seltsamen Freunden und den Feinheiten des Global Marketing bekannt zu machen.

So wohl fühlte sie sich im Kreise ihrer neuen Zufallsbekannten, daß sie keinen Moment zögerte, als man beschloß, den Abend im Volume abzuschließen.

Im Volume war sie schon oft gewesen. Hier vermischten sich die Szenen. Hier ging man noch hin nach dem teuren Japaner, dem Kino, dem gestylten Szenerestaurant oder dem Fondueplausch. Vorausgesetzt, man kam rein, was bei der Gesellschaft, mit der sie ankam, kein Problem war. Sie schienen auch im Volume ein und aus zu gehen. Seltsam, dachte sie, daß sie ihnen hier nicht schon einmal begegnet war.

[37]