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Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Marlis Rhyn Beyeler, Luzern

Kulturförderung Kanton Nidwalden

Ernst Göhner Stiftung

Schindler Kulturstiftung

Bildhauer-Hans-von-Matt-Stiftung

Lektorat:

Regula Bühler, hier + jetzt

Gestaltung und Satz:

Christine Hirzel, hier + jetzt

Dieses Werk ist auf www.libreka.de

auch als E-Book erhältlich:

ISBN E-Book 978-3-03919-855-9

eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2011 hier + jetzt, Verlag für Kultur

und Geschichte GmbH, Baden

www.hierundjetzt.ch

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-237-3

Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit [...] gekennzeichnet.

Inhalt

1

Zwei Blicke

Druckschrift

Bericht

2

Der Hof Spichermatt

Die Grossmutter Veronika Gut

Seltsamer Besuch

Lateinschule in Stans

Gymnasium in Luzern

Studium in Freiburg und München

Die Familie Joller

Erste Erscheinungen

3

Der Arzt Walter Zelger

Oskar

Fanny Mosers Recherchen

Die drei Töchter Emaline, Melanie und Henrika

Das Knäblein

Freisinnige Köpfe

Mut und verletzter Stolz

Stanser Dorfleben

Liberale Advokaten

Streben nach politischen Ämtern

Dienstmagd

Gründung des Nidwaldner Wochenblatts

Landsgemeinde

Reise nach Bern

Loyalitäten im Rat

4

Mariä Himmelfahrt

Marienverehrung und Wunderglaube

Zwischen liberaler und katholischer Loyalität

Pamphlet des Jesuitenpaters

Bei den Schützen

Das «Eidgenössische» in Stans

Aufseiten der Abenteurer

Im politischen Abseits

5

Türen und Fenster

Maximilian Pertys Einfluss

Gespenster und unsichtbare Energie

Flammen und Totenkopf

Ein Mordprozess als beruflicher Höhepunkt

Der Anwalt Karl Deschwanden

Stimmen

Zschokkes Andachtsbuch

Geistliche Versicherung

Pfarrer Remigius Niederberger und der Piusverein

Überspannte Frömmigkeit

6

Zeugen

Elektrisiermaschine und künstliche Blitze

Der Herumtreiber Robert

Untersuchungskommission

Erster Abschied

Unordnung

Erste Polemik

Berührungen

Zelgers merkwürdige Notizen

Zweiter Abschied

Widersprüchliche Wahrheiten

Newtons Bewegungsgesetze

7

Flucht nach Zürich

Das «Eidgenössische» in La Chaux-de-Fonds

Zweite Polemik

Vor Gericht

Fremde Dienste in Rom und Holländisch-Ostindien

Rom unter Papst Pius IX.

Dritter Abschied

Bilanz

 

Blick hinter die Kulissen

Die Quellen

Die Bilder

«Whether you believe in ghosts or not, there is no doubt they make ideal guides for exploring the thoughts and emotions of our ancestors.» Owen Davies

1

ZWEI BLICKE    Unbeschwert spielen die Kinder in Haus und Garten. Schönes Sommerwetter lockt, es ist Feiertag dazu: Mariä Himmelfahrt, 15. August 1862. Melchior Joller, seine Frau Karoline und der älteste Sohn Robert sind unterwegs. Die 15-jährige Magd Christine Christen ist mit den übrigen Kindern allein zu Hause: «Vor Mess gieng dann das Heinrike auf den Abtritt u[nd] rief mir ich solle kommen. Es sagte es habe an der Thür klöpfelen gehört. Wir sagten, wenn es etwas sei so solle es wieder klöpfelen bevor wir 10 gezählt. Und wirklich! Bevor wir laut 10 gezählt, klöpfelte es an der Abtrittthüre.» Nach mehreren solchen Antworten wächst aus dem selbstvergessenen Kinderspiel heraus die Angst. Die Kinder fliehen vors Haus. Immer wieder kehren sie ins Haus zurück, nur um festzustellen, dass zuvor verschlossene Türen offen stehen. Auch die Türe zu Melchior Jollers Arbeitszimmer. Sie schliessen sie wieder ab und hängen den Schlüssel an den Nagel. «Als wir das 4te Mal hinauf kamen, war nicht nur diese Thüre, sondern noch 4 Thüren in 2ter Etage offen, die vorher zu, aber nicht geschlossen gewesen waren u[nd] auch die Thüre in der Stube unten u[nd] alle Fenster daselbst, die zu gewesen. Hierauf machten wir wieder alle Thüren u[nd] Fenster zu u[nd] giengen wieder vor’s Haus.»

Joller schreibt einige Tage später auf, was in seiner Abwesenheit im Haus vor sich gegangen sei: «Im Laufe des Vormittags, als sich die Melanie, circa 14 Jahre alt, mit dem Dienstmädchen augenblicklich allein befand, erwähnte sie, die Henrika (ihre jüngere Schwester) wolle schon oftmals beim Abtritte an die Hauswand so sonderbar klopfen gehört haben, worauf beide sich dahin begaben. Henrika, die in der Nähe weilte, kam ebenfalls herbei und bekräftigte diese Behauptung. Die Melanie aber, da sie nichts wahrnahmen, wollte nicht daran glauben und ermannte sich in auffallendem Tone zu rufen: ‹In Gottes Namen, wenn es etwas ist, soll es kommen und klopfen!› Und – sogleich fieng es an zu klopfen wie mit einem Fingerknöchel.»

Am Vormittag des 15. August 1862 beginnt zaghaft und leise, was sich innert Tagen zu einer unfassbaren und bedrohlichen Serie von Erscheinungen ausweitet. Angst und Schrecken greifen in Jollers Familie um sich. Mehr als zwei Monate lang weiss kein Familienmitglied, wann, wo und in welcher Gestalt das Grauen wieder auftauchen und wen es bedrohen wird. Am 23. Oktober zieht die Familie fluchtartig und für immer aus der Spichermatt in Stans aus. In diesem Moment verschwinden die Erscheinungen. Kein Besitzer und keine Bewohnerin des Hauses werden je wieder etwas Ähnliches erfahren oder erleben.

DRUCKSCHRIFT    Am 23. Juni 1863 schreibt Melchior Joller an die Buchhandlung Hurter in Schaffhausen. Er schlägt dem Buchhändler und Verleger Friedrich Benedikt Hurter einen Text zur Veröffentlichung vor und stellt ihm ein profitables Geschäft in Aussicht. Die Schrift mit dem Titel Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen sei «ohne alles subjective Resonnement» verfasst. Trotz ihrer Objektivität spreche sie gegen den «alles seel’sche Leben verdrängenden Materialismus». Joller bezieht sich mit diesem Hinweis auf das Verlagsprogramm Hurters. Dessen Vater Friedrich Emmanuel Hurter, der Vorsteher der reformierten Kirche Schaffhausen, ist nach längerem Streit mit seinen reformierten Glaubensbrüdern über den Umgang mit den Schweizer Katholiken 1844 in Rom zum Katholizismus übergetreten. Sein Sohn ist zwar selber beim angestammten Glauben geblieben. Er verlegt und vertreibt nun aber die Schriften seines Vaters und etliche andere für den süddeutschen Katholizismus sehr wichtige Bücher. In seinem Programm finden sich katholische Liederbücher, Predigten sowie Geschichtsdarstellungen aus katholischer Sicht. In diesem Umfeld möchte Joller nun sich und seine Schrift platziert sehen.

Es kommt anders. Im Frühherbst 1863 erscheint Jollers schmale und unscheinbare Druckschrift mit rund 90 Seiten Umfang im Verlag von Franz Hanke in Zürich. Hanke stammt aus dem preussischen Gröbnig bei Leobschütz, dem heutigen polnischen G[ł]ubczyce. Er lässt sich in Zürich nieder, erhält 1855 das Zürcher Bürgerrecht und führt zwischen etwa 1840 und 1880 eine Verlagsbuchhandlung, die sich in erster Linie der christlichen Erbauungsliteratur widmet. So legt er die Schriften des frühen reformierten Pfarrers und Schriftstellers Johann Arndt wieder auf, des Vorläufers des Pietismus. Ebenso Benjamin Schmolck, Pastor aus Niederschlesien, der ebenfalls dem Pietismus nahesteht und dessen Lieder und Gebete unzählige Male kolportiert und nachgedruckt werden. Rund um dessen 100. Geburtstag 1841 verlegt Hanke weiter den Zürcher Philosophen und angesehenen Prediger Johann Caspar Lavater, der ausserhalb seiner Heimatstadt vor allem wegen seiner Physiognomik berühmt geworden ist.

Hanke beschränkt sich aber nicht auf religiöses Schrifttum. Vielmehr veröffentlicht er eine Naturgeschichte der Vögel des zu jener Zeit sehr populären Zürcher Zoologen Heinrich Rudolf Schinz, daneben Henry Webers Vollständiges Ortslexikon der Schweiz oder auch 1867 das Adressbuch der Stadt Zürich. In diesem verlegerischen Umfeld erscheint nun Jollers Schrift, zurückhaltend im Umfang und unauffällig in der Gestaltung. Sie wird nur in einer einzigen Auflage gedruckt.

Den Titel seines Werkes muss Joller nicht weit herholen. Unüberhörbar lehnt er sich an ein Werk an, das zwei Jahre zuvor in Leipzig veröffentlicht worden ist, verfasst von einem Professor der Universität Bern: an Maximilian Pertys 1861 erschienenen Mystische[n] Erscheinungen der menschlichen Natur. In diesem umfangreichen Buch von 770 Seiten kommen sämtliche Formen der Erscheinungen bereits vor, die Joller nun in seiner Darstellung schildert und mit seiner Familie im eigenen Haus in Stans erlebt hat. Perty ist auch der Verfasser der kurzen Vorrede zu Jollers Schrift. Im Brief an Hurter preist Joller diese Vorrede als «von einem in diesen Sachen erfahrenen Gelehrten und Professoren an einer der schweiz. Hochschulen» stammend, gibt aber den Namen des Autors nicht preis. Hingegen fügt Joller der eigentlichen Vorrede eine Anmerkung bei, in der er den Verfasser der Vorrede mit ähnlichen Worten verdankt. Zudem bezeichnet er ihn dort als «theilnehmenden Freund».

Der Umschlag des kleinen Büchleins gibt keine Auskunft darüber, dass der Autor inzwischen selber nach Zürich umgesiedelt ist und mit seiner Familie in einer kleinen, stickigen Wohnung in einer Mietskaserne in Aussersihl lebt. Vergeblich erhofft sich Joller vom Verkauf dieses Büchleins ein anständiges Einkommen. Denn die Ereignisse, über die er darin berichtet, haben ihn und seine Familie zum Verlassen des Hauses und zur Flucht aus Stans gezwungen. Als Advokat oder Anwalt darf Joller in Zürich nicht arbeiten, sein Einkommen und damit die Ernährung der Familie stehen auf unsicherem Grund.

BERICHT    Zu einer gelungenen Rede gehört eine geschickte Dramaturgie. Die Zuhörer wollen gepackt, unterhalten, gekitzelt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen werden. Melchior Joller ist ein glänzender Redner, ausgestattet mit einer wohlklingenden Stimme. Er beherrscht dieses Metier und beweist dies in seiner Schrift. Zum Anfang bezieht er kompromisslos die Position des aufgeklärten, vollständig auf die strenge Naturwissenschaftlichkeit vertrauenden Mannes. «Abgesagter Feind solcher Mystik» und jedem «Ammenmährchen» abhold, habe er nichts anderes im Sinn, als «der Wahrheit unverfälschtes, öffentliches Zeugniß zu geben». Joller ist sich bewusst, dass seine Geschichte nur vor diesem Hintergrund Glaubwürdigkeit entfalten kann. Sein tagebuchartiger Stil, der wegen der häufigen Wiederholungen den heutigen Leser bisweilen Langeweile spüren lässt, dient in erster Linie diesem Ziel: den Erzähler als seriösen, detailgenauen und deshalb ernst zu nehmenden Berichterstatter eigener Erlebnisse erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt diese Eigenschaften werden dem Text zu einer grossen Karriere in der parapsychologischen Literatur verhelfen. Die Wissenschaftlerin und Okkultismusforscherin Fanny Moser bezeichnet ihn als einen «Fall erster Klasse», der «bis auf den heutigen Tag immer wieder als einer der besten der Weltliteratur erwähnt» werde. Und für den Parapsychologen Theo Locher gehört er «seit den ergänzenden Forschungen von Dr. Fanny Moser zu den bestdokumentierten der Weltliteratur».

Ob gewollt oder ungewollt, Joller gibt durch seinen Text eine bestimmte Richtung der Interpretation vor. Er beginnt sanft und langsam mit der Bauart des Hauses, damit sozusagen die Bühne und Kulisse für die folgende Handlung umreissend. Es folgt ein Rückblick auf die Geschichte seiner Familie, angefangen bei seiner Grossmutter Veronika Gut, der Erbauerin des Hauses, bis zu seinen Kindern, damit das Personal bezeichnend. Joller skizziert eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung, wie bei einem klassischen Drama. Die Ereignisse spielen sich demnach nicht zufällig in diesem Haus, nicht zufällig unter diesen Menschen ab. Das Gebäude, seine Geschichte und seine Bewohnerschaft sind notwendige Voraussetzungen dafür.

Im Tonfall des präzisen Rapporteurs, des distanzierten Beobachters streift Joller gleichsam im Vorübergehen seine eigene politische Karriere. Wie beiläufig erwähnt er seine Wahl in den Nationalrat, die Gründung des liberalen Nidwaldner Wochenblatts, den damals sehr viel Aufsehen erregenden Mordprozess um die Geschwister Bali und schliesslich das «mächtige nationale Verbrüderungsfest der Schützen», den Höhe- und Endpunkt seines politischen Engagements. Das Kapitel über den Ort des Geschehens lässt er in einer kurzen Bemerkung über seine sieben gesunden Kinder ausklingen. Seine Frau, die Mutter dieser Kinder, erwähnt er dabei nicht.

Nach diesen Ausführungen über die Umstände von Ort und Zeit beginnt die eigentliche Erzählung, die Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen. Es folgt eine breite Palette von Vorkommnissen, von feinem Klöpfeln und heftigem Poltern über das mehrmalige Aufreissen und Zuschlagen von Türen und Fenstern unter den Augen der Familienmitglieder, über das blitzschnelle Herumwerfen von Möbeln, über die Erscheinung von durchsichtigen Gestalten, von schwebenden Armknochen, von verdoppelten Menschen, über Berührungen von unsichtbaren kalten Händen, bis hin zu einem Pferdegeschirr im Ofenrohr, das fast nicht mehr daraus zu entfernen war. Die Erzählung berührt zahlreiche Erscheinungen, von denen viele auf die alleinige Wahrnehmung durch eines der Familienmitglieder zurückgehen. Andere hingegen wurden von mehreren Leuten wahrgenommen – denn «dass es klopfte, bezweifelt Niemand».

In chronologischer Reihenfolge breitet Joller die Geschehnisse aus. Sie sind einmal von den Kindern oder von seiner Frau erlebt, ein andermal von ihm selber; bisweilen erwähnt er Zeugen, dann wieder gibt es keine. An einzelne verstreute Ereignisse seit dem Herbst 1860 will sich die Familie aber erst nach dem Beginn der heftigen Erscheinungen erinnern. Diese brechen am 15. August 1862 los, dem Tag von Mariä Himmelfahrt, und dauern bis zum Auszug der Familie aus dem Haus am 23. Oktober des gleichen Jahres.

Was geht Joller durch den Kopf, als er zwischen Oktober 1862 und dem Sommer 1863 diese Erlebnisse zu Papier bringt? Wen stellt er sich als seinen Leser, seine Leserin vor? Denkt er an Maximilian Perty, den Professor für Zoologie und Anthropologie an der Universität Bern? Oder denkt er an seinen ehemaligen Mitstreiter Karl Deschwanden, den liberalen Anwalt und Politiker in Stans? Hat er den frömmlerischen Pfarrer Remigius Niederberger von Stans vor Augen? Oder vielleicht die Verwandtschaft seiner Frau im Badischen, in Freiburg im Breisgau und in Konstanz? Der nüchterne Tonfall seines Berichts legt nahe, dass er sich oft an die Wissenschaft und deren Vertreter richtet. Doch dann schreibt er Dinge nieder, die für die allfällige Aufklärung der Geschehnisse von keinerlei Bedeutung sind. Er sei «Mitglied des Centralcomites vom eidgenössischen Schützenvereine» gewesen und habe deshalb bei der Begrüssung der eidgenössischen Offiziersfahne dabei sein müssen. Öfters erwähnt er, dass er für Geschäfte nach Luzern oder Zürich habe reisen müssen. Dies hält er nicht für die Wissenschaft, sondern für seine ehemaligen Weggefährten fest. Ihnen ist er fremd geworden, weil sie auf seine Erlebnisse kopfschüttelnd bis ablehnend reagiert haben. Oder weil er sich vielleicht schon früher von ihnen entfernt hat.

2

DER HOF SPICHERMATT    Kann man das Unfassbare fassen? Kann man dem Sinnlosen einen Sinn geben? Joller rang bei der Niederschrift seiner Darstellung mit diesen Fragen. Weshalb wurde gerade er, seine Familie, sein Haus und letztlich sein Leben von diesen schrecklichen Ereignissen ergriffen und gepackt? Fassungslos stand er seinem eigenen Schicksal gegenüber. Schreibend zwang er sich die Haltung des rationalen Beobachters auf, der nur berichtete, was er selber sah, hörte und spürte. Allein aus dieser Distanz konnte er den Versuch wagen, die Flut der Erlebnisse und Empfindungen in eine darstellbare Ordnung zu bringen.

Vom Tag seiner Geburt an, dem 1. Januar 1818, lebte Joller in der Spichermatt in Stans. Einzige Ausnahme waren die Jahre seines Studiums in Luzern, Freiburg und München. Er wuchs hier als jüngstes Kind zusammen mit vier Schwestern auf, fünf weitere Geschwister starben sehr früh. Hier lebte er als junger Advokat nach dem Studium, hierher zog seine Frau, hier «blühten mir sieben gesunde Kinder, 4 Knaben und 3 Mädchen». Als einziger Sohn erbte er Haus und Hof, als sein Vater 1845 starb. Das Haus war ihm mehr als eine Behausung, es war seine Heimat, er war «als neugieriges Kind bei allen Reparaturen» dabei gewesen, und also «war mir buchstäblich genommen kein fingerbreites Plätzchen unbekannt».

In diesem Haus erlebte Joller zusammen mit seiner Familie die unerklärlichen Erscheinungen, die ihn auf eine tragische Art haben berühmt werden lassen. Hier überkam ihn das Grauen, hier durchlebte er die schrecklichen Tage und Nächte, die ihn schliesslich in die Flucht trieben.

Durch das Tal von Stans führte damals kein Durchgangsweg. Einzig die Verbindung zum Klosterdorf Engelberg passierte das 2000-Seelen-Dorf. Haus und Hof Spichermatt standen in der Ebene, umgeben von schroffen Bergflanken, direkt an der Landstrasse vom Vierwaldstättersee bei Stansstad nach Stans. Der Stanser Dorfkern mit der Kirche, dem Rathaus, verschiedenen Gasthäusern und stattlichen Bürgerhäusern war in etwa einer Viertelstunde zu Fuss erreichbar. Um von der Spichermatt in die benachbarten Dörfer Ennetbürgen, Buochs und Beckenried zu gelangen, musste man das Dorf Stans nicht durchqueren. Es bestanden direkte Wege über die noch nicht entwässerte Ebene, auf der heute der Flugplatz Buochs liegt. Gegen den Nordwind war das Haus durch den Bürgenberg geschützt, dessen steile Flanke dem Haus sehr nahe kam. Gegen Osten war die Landschaft verhältnismässig offen, der Blick ging in die Richtung des Talkessels von Schwyz und wurde erst begrenzt von den beiden Mythen. Im Süden stand mächtig das Stanserhorn. Es beraubte im Winter einen Teil des Stanser Dorfes jeglicher Sonneneinstrahlung, die Spichermatt lag freilich ausserhalb dieser Schattenzone. Im Westen schränkte die Anhöhe von Ennetmoos den Blick ins benachbarte Obwalden ein, erlaubte aber bei entsprechender Wetterlage eine wunderbare Sicht auf die Obwaldner und teilweise auch in die Berner Alpen. In Jollers eigenen Worten stand das Haus «in einer der freundlichsten und sonnigsten Lagen des Stansertales».

Der Vorgängerbau war in den Wirren des Nidwaldner Krieges vom September 1798 in Flammen aufgegangen. Die Familie hatte dringend eine neue Behausung gebraucht. Diese wurde nach dem damals in Nidwalden üblich gewordenen Bauernhaus-Typus gebaut: Ein leicht abgesenktes, gemauertes Erdgeschoss enthielt neben dem eigentlichen Keller die Käserei, «Hütte» genannt, und den möglichst kühlen Milchkeller. Auf diesem Kellergeschoss ruhten zwei aus Holz aufgebaute Vollgeschosse und zwei Dachgeschosse. Im unteren Wohngeschoss befanden sich die Stube, die Nebenstube und die Küche, im oberen eine unterschiedliche Anzahl als «Kammern» bezeichnete Zimmer. Im unteren Dachgeschoss lag ein grosser Raum, der «Saal». Je nach Reichtum und Geltung der Besitzerfamilie war der «Saal» fast leer oder aber zu einem repräsentativen Raum für Empfänge ausgebaut. Zuoberst unter dem Dachgiebel befand sich die «Diele», wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde.

Nach diesem Schema wurde das Haus Spichermatt errichtet, drei Jahre nach dem kurzen, aber zerstörerischen Krieg. Diesem waren am 9. September 1798 rund 400 Bewohnerinnen und Bewohner Nidwaldens und etwa 100 französische Soldaten zum Opfer gefallen, die Dörfer Stans, Stansstad, Ennetmoos und Buochs waren stark zerstört worden. Bis heute benennt der Volksmund in Nidwalden dieses Ereignis als «Franzosenüberfall». Der Neubau scheint freilich die Bauherrschaft finanziell sehr belastet zu haben, führte man ihn doch, wie Joller selber schreibt, «sehr einfach und flüchtig» aus, «um möglichst bald wieder unter ein eigenes Dach zu kommen». Verwendet wurden Balken, die nur etwa zwei Drittel der üblichen Stärke aufwiesen. Teilweise wurden Baumstämme der Länge nach zu zwei Balken geschnitten. Um Material zu sparen, wurde dies bei kleineren Ökonomiegebäuden oft so gehandhabt, nicht hingegen bei Wohnbauten. Im Lauf des 20. Jahrhunderts brachen tatsächlich einige dieser Balken ein.

Seit seiner Errichtung erfuhr das nunmehr rund 60-jährige Haus stärkere Veränderungen. Die erste datiert möglicherweise aus dem Jahr 1831, als am 28. und 29. August Wolkenbrüche und lang andauernde Regengüsse den ganzen Talboden um Stans herum und somit auch die Spichermatt überschwemmten. 1850 liess Joller auf der nordöstlichen Seite einen Anbau errichten. Er war zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren Hausherr in der Spichermatt, im Jahr zuvor war seine Mutter gestorben, Klara Waser, die nach damaliger Sitte nicht den Familiennamen ihres Mannes trug. Der Anbau umfasste über dem Keller ein einziges Wohngeschoss. Er besass einen separaten Eingang und enthielt drei Zimmer und eine Küche. Allerdings gab es im Inneren des Hauses möglicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Hausteilen. Der Abtritt des Haupthauses war durch einen schmalen Gang zu erreichen und lag Wand an Wand mit dem Abtritt des Anbaus. Gemäss Joller war der Abtritt des Hauses für die Mieter des Anbaus nicht zugänglich. Näheres dazu führte er jedoch nicht aus und öffnete damit Raum für Spekulationen. Als bemerkenswerte Besonderheit war der Anbau mit einem «Plattdach von Asphalt gedeckt», das zugleich als Terrasse diente. Diese Bauform war um 1850 zwar in den Städten bereits bekannt, auf dem Land hingegen sehr selten. Joller hatte mit dem Tod seines Vaters 1845 das Haus übernommen, deshalb muss er der Bauherr von Anbau und Flachdach gewesen sein. Zweifellos wollte der studierte Anwalt mit diesem städtisch anmutenden Bauteil seine Modernität und Aufgeschlossenheit dem Fortschritt gegenüber zur Geltung bringen. Zudem trug der vermietete Anbau einen Teil von Jollers Haushaltskosten.

DIE GROSSMUTTER VERONIKA GUT    Bauherrin der Spichermatt war Jollers damals verwitwete Grossmutter Veronika Gut (1757–1829). Sie hat in der lokalen Historientradition ihren Ehrenplatz erhalten – weniger als die reaktionäre Kämpferin gegen alles Neue und Fremde, die sie auch war. Vielmehr steht sie heute als eine der ersten politisch aktiven und deshalb in den Quellen zur Geschichte des kleinen Kantons fassbaren Frauengestalten da. Bei der Niederschrift seiner Darstellung schaute Joller mit mildem Blick auf seine Grossmutter zurück. Er beschrieb sie als eine Person mit «männlichem Charakter» und einer «ernsten Miene», als eine «Frau von ächtem alten Schrot und Korn». Sie sei 1829 gestorben «als eine allgemein geachtete, gerechte, mildthätige und fromme Frau». Dass sie den Nidwaldner Krieg von 1798 mit Brandreden, mit Waffen und Geld befördert hatte und auch den Beitritt Nidwaldens zum neuen Bundesvertrag von 1815 zu hintertreiben versuchte, lässt er nicht unerwähnt, obwohl dies von seiner eigenen politischen Haltung stark abweicht.

Veronika Gut verlor in den Wirren der Helvetischen Republik (1798–1803) alle ihre Nachkommen ausser ihrem Sohn Jakob (1786–1845), Jollers Vater. Mit der Mediationsakte vom Frühjahr 1803 beruhigte sich die Lage in der Schweiz wieder. Jakob Joller war noch keine 18 Jahre alt, als er im Februar 1804 die um fünf Jahre ältere Klara Waser (1781–1849) heiratete. Von den zehn Kindern des Paares starben fünf sehr jung. Melchior, geboren am 1. Januar 1818, war das jüngste der überlebenden Kinder und der einzige Knabe. Die drei Schwestern Franziska, Anna-Maria und Anna Josefa blieben ledig. Einzig die zweitälteste Schwester Veronika verheiratete sich 1845. Im gleichen Jahr starb Jakob Joller, und Melchior übernahm den elterlichen Hof.

Seinen Vater Jakob beschrieb Joller in den wärmsten Worten als einen «Mann von hellem Geiste und tiefem Gemüthe. Wer ihn kennen lernte, musste ihn schätzen und lieben.» Fröhlich und friedliebend, habe er «zu den wenigen Liberalen dieses Ländchens» gezählt und sei «trotz seiner verpönten politischen Gesinnung mit den wichtigsten Verwaltungen der Gemeinde Stans betraut» worden. Jakob Joller hatte die Stelle des Kirchmeiers inne, war also Finanzverwalter der Kirchgemeinde. Über seine Mutter Klara Waser verlor Joller kein Wort. Die Bilder, die er in seiner Schrift entwarf, und seine Wortwahl zeugen von einer stark verengten Sicht: Was bei der Beschreibung einer Familie zählt, ist einzig die Erblinie vom Vater – oder im Ausnahmefall von der verwitweten und politisch aktiven Mutter – zum Sohn. Zudem ist es nicht statthaft, über Familienangehörige, etwa seine Grossmutter, etwas Negatives zu erzählen. Joller bewegt sich in den Denkmustern und Verhaltensregeln der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit.

SELTSAMER BESUCH    Am 15. August 1862, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Joller berichtet von den Kindern: «Wie sie da unter einem Baume sich zusammengefunden, humpelte eine steinalte Jungfer auf sie zu, sich erkundigend, ob das das Haus sei, wo Veronika Gut nach dem Ueberfalle gewohnt habe. Auf die Bejahung, und indem sie ihr Obst anboten, erzählte sie ihnen, dass sie die ‹Vronegg› [Veronika], ihre Urgroßmutter gar wohl gekannt hätte.» Und dann gibt Joller eine Geschichte wider, welche die alte Frau seinen Kindern erzählt habe: «Sie habe auch den vier Schwestern ihres Großvaters, die im Aawasser ertrunken, in der Kapelle St. Joder auf Altzellen ‹geklenkt› (die Sterbeglocke geläutet). Es sei ihr noch, wie wenn’s gestern gewesen wäre, sie und ihr Bruder, dort Sigrist, hätten schon am Abend vorher ein Unglück vermuthet. Da sei’s mit Nachtwerden wie ein weißgekleideter Mann mit einem Lichte an die Kapelle herangekommen, und sie hätten geglaubt, es wolle Jemand ‹klenken› lassen. Wie ihr Bruder aber hinübergekommen sei, habe er Niemand weder nah noch fern gesehen, und sei darauf schwer krank geworden. Gegen den Morgen habe man ihnen die Trauerbotschaft gebracht, worauf sie die Todtenglocke lange geläutet habe.» Damit endet die Erzählung der alten Frau. «Mit Dank und allerlei frommen Wünschen trat sie dann wieder ihren Heimweg an.»

Joller schafft mit dieser Geschichte eine weitere direkte Verbindung zwischen den Spukereignissen in der Spichermatt und seiner Grossmutter Veronika Gut. Der Tod von deren vier Töchtern ging auf den Umstand zurück, dass ein anonymer Rufer im September 1801 die Familie der Veronika Gut mitten in der Nacht zur Flucht aus der Spichermatt bewog. Beim Überqueren eines reissenden Baches brach der Steg ein, und Veronika Gut musste zusehen, wie ihre vier Töchter in den Tod gerissen wurden. Einziger Überlebender von Veronika Guts Kindern war Jakob. In die Geschichte dieses schrecklichen Unglücks bettet Joller eine zweite Gespenstergeschichte ein: die Geschichte vom weiss gekleideten Mann mit dem Licht, der plötzlich verschwand, was den Sigrist schwer krank machte. Die eigentümliche Begegnung mit der «steinalten Jungfer» soll sich am Nachmittag des 15. Augusts 1862 zugetragen haben. Die Magd Christine Christen, die zwei Wochen später zu den Ereignissen in Jollers Haus intensiv befragt wurde, wusste viel zu erzählen. Aber diese keineswegs alltäglich klingende Geschichte von dem seltsamen Besuch – davon erzählte sie im Verhör kein Wort.

Warum flicht Joller diese Geschichte in seine Darstellung ein? Allein durch ihre Erwähnung stellt er einen Zusammenhang zwischen der Spukgeschichte und dem Auftritt der Alten mitsamt deren Erzählung her. Er suggeriert damit – bewusst oder unbewusst –, dass er die Ereignisse ab diesem Tag in seinem Haus als eine Vorankündigung auffasst, dass er darin den Hinweis einer übersinnlichen Macht auf bevorstehende einschneidende Eingriffe in das Leben seiner Familie erblickt. Für den Auftritt der alten Frau gibt es keine andere Quelle als Jollers eigene Schrift.

LATEINSCHULE IN STANS    Seine Schulzeit war Melchior Joller bloss einen Nebensatz wert. Bis 1835 ging er bei den Kapuzinern in Stans in die Lateinschule. Die Schule lag am oberen Dorfrand von Stans, integriert ins Kapuzinerkloster. Sie hatte zwar keinen besonderen Ruf in diesen Jahren, aber sie lag so nah, dass der Knabe Melchior sie täglich zu Fuss erreichen konnte. Sein Weg führte entweder mitten über den Dorfplatz von Stans, vorbei an der imposanten, leicht erhöht liegenden Pfarrkirche. Oder er wählte den Pfad am oberen Dorfrand, entlang der Mauer des Frauenklosters.

Anders als in späteren Jahren wurden in der Schule der Stanser Kapuziner zu dieser Zeit keine Priester ausgebildet. Aber wie alle weiterführenden Schulen in den katholischen Gegenden der Schweiz war auch diese in erster Linie der Vorbereitung auf die Priesterlaufbahn verpflichtet. Wollte Joller Priester werden? Hatte sein liberal gesinnter Vater diese Berufung für seinen Sohn vorgesehen? Das zur Schweiz gehörende Gebiet des Bistums Konstanz war bereits 1814 von Konstanz gelöst worden. Ein Jahr vor Jollers Eintritt in die Stanser Lateinschule wurde 1828 der Kanton Luzern dem neu gegründeten Bistum Basel zugeschlagen, während die restliche Innerschweiz und also auch Nidwalden zum Bistum Chur gelangte. Der Einfluss des aufgeklärten Konstanzer Generalvikars Ignaz von Wessenberg und seines Luzerner Vertreters, des Stadtpfarrers Thaddäus Müller, wurde mit diesen Massnahmen massiv beschnitten. Dem Papst und seinem Botschafter in der Schweiz, dem päpstlichen Nuntius in Luzern, gelang damit ein wichtiger Schritt zur Eindämmung liberaler Ideen innerhalb der katholischen Kirche der Schweiz. Die liberalen Politiker in den katholischen Gegenden der Schweiz waren zwar trotz häufiger gegenteiliger Anschuldigungen sehr wohl katholisch – die liberale Luzerner Verfassung von 1831 machte sogar ausdrücklich das Stimm- und Wahlrecht von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abhängig. Aber in dieser antiliberalen Stimmung der offiziellen Kirche dachte Jakob Joller kaum daran, seinen Sohn Melchior auf die Priesterlaufbahn vorzubereiten. Zumal Melchior als einziger Sohn dereinst den Hof Spichermatt erben sollte.

GYMNASIUM IN LUZERN    Für drei Jahre, von 1835 bis 1838, besuchte Melchior Joller die vierte bis sechste Klasse des Gymnasiums in Luzern. Im ersten Jahr hatte er Kost und Logis beim Schuhmacher Isaak in der Werchlaube, mitten in der Altstadt. Ein paar Schritte die Gasse hinunter und über die Reussbrücke – in wenigen Minuten war der 17-jährige Joller an der Höheren Lehranstalt, nahe von Ritterschem Palast, Jesuiten- und Franziskanerkirche. Die nächsten beiden Jahre wohnte er bei Businger im «Schlösslihof». Damit ist eher der Schlosshof im Obergrund gemeint als das Schlössli in der Halde, das mehr als eine halbe Stunde vom Stadtzentrum entfernt lag. Sein rund zehn Minuten dauernder Schulweg führte ihn dem offenen und als stinkende Kloake dienenden Krienbach entlang zum Obertor, wo er den Hirschengraben überqueren und in die noch fast vollständig ummauerte Stadt gelangen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Stadt bereits heftig über den Abbruch des Obertors diskutiert. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, an dessen Stelle die kantonale Zentralschule zu bauen. Doch die heftigen Parteikämpfe zwischen den regierenden Liberalen um den herausragenden Kasimir Pfyffer und der konservativen Opposition verhinderten das Projekt. Die bestehende Höhere Lehranstalt genoss nicht den besten Ruf. Zum einen war sie altertümlich organisiert. Auf das sechsjährige Gymnasium mit Altgriechisch und Latein im Zentrum folgte das Lyzeum. Hier musste der Student wählen zwischen der philosophischen Richtung, die ihn auf den Besuch einer Universität vorbereitete, oder der dreijährigen theologischen Richtung, die ihm zum Priesterberuf führte. Erst 1829 wurde zudem eine polytechnische Abteilung eingeführt, doch bereits 1835 wieder geschlossen, weil sie sich im unklaren Bereich zwischen einer handwerklichen Ausbildung und einem naturwissenschaftlichen Studium auf Hochschulstufe bewegte und damit an den Bedürfnissen der Zeit vorbeizielte.

Freilich geriet die Schule auch aus ganz anderen Gründen ins Gerede. Professor Joseph Anton Fischer, der als liberaler Moraltheologe ab 1834 in Luzern lehrte, wurde verdächtigt, mit seiner Haushälterin und deren unehelichem Sohn im Konkubinat zu leben. Fischer trat darauf 1839 als Professor zurück. Weiteres Ungemach erwuchs der Schule durch den Geschichtsprofessor und Grossrat Alphons Pfyffer von Heidegg. Dieser heiratete 1838 eine schottische Pietistin und wandte sich vom katholischen Glauben ab. Deswegen verlor er alle Ämter und musste Luzern verlassen. Schliesslich erlebte Joller, wie ein Mitschüler 1835 die Hostie verspottete. Dieser wurde zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt und von der Schule verwiesen. Im Jahr darauf gab der Regierungsrat in seinem jährlichen Bericht kund, es sei dringend notwendig, «die Zügel der etwas erschlafften Disziplin straffer anzuziehen».

Die höhere Lehranstalt in Luzern sah sich rasch sinkenden Studentenzahlen gegenüber. Das Gymnasium und die philosophische Abteilung des Lyzeums zählten 1830 noch 254 Studenten, acht Jahre später waren es nur mehr deren 109. Die konservative Opposition witterte dahinter eine kirchenfeindliche Schulpolitik der liberalen Regierung. Diese halte die Väter davon ab, ihre Söhne an das Luzerner Gymnasium zu schicken. Sicher spielte der Ausbau der Sekundarschulen eine wichtige Rolle. Denn viele Knaben, die eine über die Volksschule hinausgehende Bildung anstrebten, mussten zuvor das Gymnasium besuchen, auch wenn sie kein Universitätsstudium im Sinne hatten. Und doch war das Argument der Konservativen nicht einfach aus der Luft gegriffen: Das als konservativ geltende und streng an der Kirchendisziplin orientierte Schwyzer Jesuitenkollegium zählte 1838, zwei Jahre nach seiner Eröffnung, bereits 128 Gymnasiasten und damit einige mehr als Luzern. In diesen politisch hoch aufgeladenen Zeiten schickten die Familien ihre Söhne – für Töchter gab es an diesen Schulen noch keinen Platz – auch an politisch entsprechend gefärbte Lehranstalten.

Der junge Melchior Joller bewegte sich als 17- bis 20-Jähriger durch eine kleine, noch beinahe mittelalterlich anmutende Stadt mit düsteren Winkeln und offenem Abwasser. Wer nach Sonnenuntergang in den Gassen unterwegs war, musste eine Laterne mit sich tragen. Andernfalls machte er sich verdächtig und lebte gefährlich. Über Jahrhunderte war das Umland beherrscht von dieser Stadt, der ganze Staat war beinahe Privateigentum einer kleinen Gruppe führender Familien. Die Mauern der Stadt hatten keine andere Belagerung gesehen als die gelegentlichen bewaffneten Zusammenrottungen von eigenen Leuten, von unzufriedenen Bauern und aufbegehrenden Dorfbewohnern. Doch seit etwas mehr als einer Generation war nun alles in Bewegung. Die Zeit der französischen Besatzung, die Helvetik, hatte der alten Herrschaft den Garaus gemacht. Ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen vorwärtsstrebenden Eliten und der Tradition verpflichteten Familien, zwischen aufklärerisch gesinnten Klerikern und der immer stärker nach Rom orientierten Kirche war noch nicht gefunden.

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