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Die Zukunft des Kapitalismus


Herausgegeben von
Frank Schirrmacher und Thomas Strobl





Suhrkamp


Die hier abgedruckten Beiträge erschienen zuerst zwischen Mai 2009

und Januar 2010 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bzw. auf

deren Internetseite (s. S. 197 f.).







ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des

öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch

Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.



Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-73990-7


Inhalt





Vorwort von Frank Schirrmacher



THOMAS STROBL

Wohlstand für alle



KAREN HORN

Modell Deutschland



MARTIN WALSER

Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe



DIRK BAECKER

Die Firma ist eine Zumutung



GUNNAR HEINSOHN

Die nächste Blase schwillt schon an



PAUL KIRCHHOF

Der Schaden der anderen



MEINHARD MIEGEL

2015 – das Jahr der finalen Krise



PETER SLOTERDIJK

Die Revolution der gebenden Hand



MICHAEL HVORECKY

Amüsieren? Erst mal können vor Lachen!



ARMIN NASSEHI

Mit ästhetischer Erziehung aus der Finanzkrise?



HEINER FLASSBECK

Was sozial ist, schafft Arbeit!



MICHAEL A. GOTTHELF

Was starrt ihr alle auf 1929?!



CHRISTOPH DEUTSCHMANN

Ohne Aufstiegswille kein Kapitalismus



THOMAS VON STEINAECKER

Das dünne Eis der Fiktion



VIKTOR VANBERG

Global robust, lokal verwundbar



MICHAEL ZÖLLER

Haben wir denn im Kapitalismus gelebt?



INGO SCHULZE

Monster in der Grube



FRITZ B. SIMON

Der Untergang findet nicht statt



HEINER MÜHLMANN

Sprechstunde beim Betriebspsychologen



ANDRZEJ STASIUK

Licheń lässt mir keine Ruhe



WOLFGANG SCHÄUBLE

Ohne Maß ist die Freiheit der Ruin



WOLFGANG STREECK

Und wenn jetzt noch eine Krise käme?



VIKTOR JEROFEJEW

Seelen im Sonderangebot



ANNA KATHARINA HAHN

Die Abschaffung der Kindheit



WILHELM HANKEL

Retter, die alles noch schlimmer machen



WOLFGANG MÜLLER-MICHAELIS

Wie man den Korken aus der Flasche bekommt



EMMANUEL TODD

Europa muss sich durchsetzen



THOMAS STROBL

Die Wirtschaftskrise. Ein erster Rückblick



Die Autorinnen und Autoren

Drucknachweise

Vorwort

Die Finanzkrise war gut für Leser. Das gefährdete System konnte sich aus sich selbst nicht stabilisieren und brauchte Hilfe von außen, also vom Staat. Da es nicht nur eine Ökonomie des Geldes, sondern auch eine der Gedanken gibt, begann auf breiter Ebene eine Reflexion, die sich nicht mehr von der Binnenlogik angeblich unabweisbarer Funktionsgesetze einschüchtern lassen musste. Man suchte nach Thesen und Quellen außerhalb der Matrix. Man begann zu lesen, Gedanken auszutauschen, Außenseiter wahrzunehmen. Sosehr wir uns mittlerweile daran gewöhnt haben: Die Tatsache, dass Banker selbst die Verstaatlichung von Banken forderten, stellte einen fundamentalen Bruch im Selbstverständnis der Sieger von 1989 dar.

Lässt man beiseite, was seitdem an Appeasement, Relativierung, Schuldumwälzung vorgetragen wurde, so bleibt, dass, am Höhepunkt der Krise, die Bundeskanzlerin von einer Gefährdung der Gesellschaftsordnung gesprochen hat. Solche Rhetorik war früher ausschließlich militanten, systemfeindlichen Kräften – dem deutschen und dem internationalen Terrorismus – vorbehalten. Die Frage ist, ob die Rhetorik zu stark war und die Krise vorüber ist – oder ob diese Gefährdung der Gesellschaftsordnung sich nicht in Wahrheit längst real vollzieht.

Im Zuge der Selbstvergewisserung stieß ich eines Tages auf den Blog von Thomas Strobl www.weissgarnix.de. Hier sprach eine interessante Stimme, die sich grundsätzlich von allen anderen unterschied. Das lag an der stupenden Kenntnis nicht nur der ökonomischen, sondern auch des geistesgeschichtlichen Materials. Während die Welt von »systemischer Krise« sprach, ohne vom System selber zu reden, hatte hier jemand nicht nur Ökonomie, sondern eben auch Luhmann gelesen und Sloterdijk und Ludwig Erhard. Mit solchen Temperamenten kann man Debatten beginnen. Es begann eine für deutsche Zeitungen recht ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Blog und dem Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aus der die Serie »Zukunft des Kapitalismus« entstand. Sie hat Zustimmung und Ablehnung aus allen Lagern erfahren und deshalb in der Systemkrise genau das entfaltet, was uns vorschwebte: einigen der avanciertesten Denkern (und Polemikern) ein Forum zu geben, das die systemische Veränderungskraft von Gedanken demonstriert.

Denn wer glaubt, alles sei gut, täuscht sich. Im Kern der Finanzkrise steckt bereits die demographische Krise, die jenseits aller sonstigen psychologischen und politischen Fragen die Gesellschaft mit erworbenen oder erwarteten Ansprüchen konfrontieren wird, die in keiner Rechnung über Soll und Haben bislang wirklich eingegangen sind.

Doch das Experiment zwischen Blog und Zeitung zeigt auch: Krisen provozieren jene Nachdenklichkeit, der der Philosoph Hans Blumenberg eine seiner schönsten Glossen gewidmet hat. Manchmal entscheidet sie darüber, wo das Herz des Systems schlägt.

Frank Schirrmacher

Wohlstand für alle

von THOMAS STROBL

Deutschland hat eine neue Religion: die Soziale Marktwirtschaft. Jetzt, wo der Neoliberalismus in Trümmern liegt und der Sozialismus als gesellschaftliche Alternative längst nicht mehr zur Verfügung steht, glauben wir wieder an die Soziale Marktwirtschaft. Ja, wir fühlen uns sogar regelrecht in ihr zu Hause – so wie wir uns früher einmal bei Gott zu Hause fühlten, zu dem wir regelmäßig beteten und den wir in unserer Not anriefen, dessen Wille uns aber immer verschlossen bleiben musste und uns daher entsprechend oft auf dem falschen Fuß erwischte.

Auch die Soziale Marktwirtschaft hat ihre Hohepriester gefunden: Bundeskanzlerin Merkel spricht praktisch von nichts anderem mehr, und Bundespräsident Köhler hat sie in seinen Reden gleichfalls wiederentdeckt. Die FDP liebt die Soziale Marktwirtschaft förmlich, proklamiert sich sogar zu deren »Hüterin« und will sie vor steigendem Staatseinfluss sowie der politischen Linken schützen. Die Linke wiederum ist nicht weniger um sie besorgt, sieht sie aber just durch den programmatischen Liberalismus der FDP gefährdet. Wo man also hinschaut: keine Partei, ob links oder rechts, welche die Soziale Marktwirtschaft nicht wieder in ihrem Banner tragen würde und deren Spitzen sich nicht als die einzigen und wahren Kreuzritter des neuen Glaubens zu erkennen geben wollten.

Die aufgeklärte und säkularisierte Gesellschaft weist jedoch – wie früher Religionen auch – den hohen Ansprüchen der Sozialen Marktwirtschaft in der Praxis einen minimalen Ort zu und gefällt sich in der Vorstellung, dass das eine mit dem anderen vereinbar wäre. Oder anders gesagt: Jenseits der politischen Propaganda führt die Soziale Marktwirtschaft ein recht bescheidenes Dasein. »Wohlstand für alle« – hinter diesem Leitbild versammelte sich einmal ganz Deutschland, nicht nur in Parteipamphleten und politischen Sonntagsreden, sondern in der konkreten Lebenswirklichkeit. Das war zu einer Zeit, »die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen« vermochte, wie sich das der politische Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, zum Ziel gesetzt hatte. Erhards Kalkül war dabei recht einfach: Die Politik müsse nur dafür sorgen, dass der Kuchen wachse, dann würde für alle ein entsprechend größeres Stück davon abfallen.

Nun wächst der Kuchen heutzutage nicht mehr so kräftig wie zu Erhards Zeiten, aber zumindest in den letzten zehn Jahren wuchs er nach wie vor. Gleichwohl vermochten Erhards politische Erben sein Versprechen nicht mehr einzulösen: Der reale Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts entfiel fast zur Gänze auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge, während sich die Arbeitnehmer mit Reallohnstagnation bescheiden mussten.

Ist es Zufall, dass diese Entwicklung mit dem Siegeszug des allgemeinen Liberalisierungs-Mantras zusammenfällt? Das politische Spitzenpersonal scheint das zu glauben: Nur in absoluten Ausnahmefällen wären staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsordnung gerechtfertigt, meinte die Bundeskanzlerin kürzlich, nämlich dann, wenn die Märkte, die ansonsten immer alles am besten regeln, diesem hehren Anspruch aus welchen Gründen auch immer nicht mehr gerecht würden.

Also ist offenbar alles wie gehabt. Aber was bedeutet das für die Wirtschafts- und Sozialpolitik von morgen, wenn wir die Krise endlich überstanden haben? Will man uns dann ein »Weiter so wie vorher« als zukunftsfähige Maxime zumuten? Ein Wirtschaftssystem, das nur dadurch vom alten Paradigma zu unterscheiden wäre, dass es jetzt wieder als »Soziale Marktwirtschaft« firmierte?

Das sollte man als Demokrat nicht akzeptieren. Denn schon bisher klangen sämtliche Parolen von »Freiheit« und »Gerechtigkeit« für einen Großteil der Bevölkerung wie leeres Gerede angesichts der eindeutigen, in eine gänzlich andere Richtung weisenden Fakten. Darüber hinaus legt die Wirtschaftskrise aber auch schonungslos den zweiten systemischen Fehler der Marktwirtschaft offen: die finanzielle Instabilität. Denn allen vorschnellen Verurteilungen vermeintlich Schuldiger zum Trotz liegen die Ursachen der Krise weder bei verbrecherischen Bankern noch bei obskuren Finanzprodukten oder ahnungslosen Aufsichtsorganen, sondern im Wesen der Marktwirtschaft selbst.

Seit ihren frühesten Anfängen wird die Marktwirtschaft regelmäßig von Krisen heimgesucht. Neu und bedrohlich ist allerdings, dass diese Krisen seit Mitte der achtziger Jahre in noch nie dagewesener Häufung und Schwere auftreten und dabei jedesmal eine gigantische Vermögensvernichtung nach sich ziehen. Würden wir auf diesem Kurs weitermachen, dann wäre unsere Zukunft einem System anvertraut, das sich neuerdings im Rhythmus von lediglich fünf bis zehn Jahren an den Rand der Selbstzerstörung bringt und nur mittels Einsatz unbeschreiblich hoher finanzieller Ressourcen am Leben halten lässt. Deren Aufbringung aber übersteigt die Leistungsfähigkeit unserer eigenen Generation wie auch die unserer Kinder und Kindeskinder.

Gleichzeitig erleben wir in Deutschland eine historisch beispiellose Konzentration von Einkommen und Vermögen. Nach jüngsten Erhebungen vereinigen die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung mehr als sechzig Prozent des privaten Vermögens auf sich, die reichsten zwanzig sogar achtzig Prozent. Dieser Vermögenskonzentration steht rund die Hälfte der deutschen Bevölkerung gegenüber, die gar kein Vermögen besitzt.

Wer wollte angesichts solcher Verhältnisse noch ernsthaft Ludwig Erhards Geist beschwören? Wer würde sich nicht der Unredlichkeit schuldig machen, wenn er es täte? Muss es in den Ohren der meisten Bürger nicht wie blanker Hohn klingen, wenn die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) allen Ernstes schreibt, die »Neider« würden sich zu Unrecht über die Vermögenseinbußen der Superreichen im Zuge der Finanzkrise freuen, weil die doch mit ihrem Geld Arbeitsplätze schafften? Müsste man also nach Ansicht der INSM für eine dermaßen ungerechte Vermögensverteilung auch noch dankbar sein?

Mit solchen Zuständen kann man sich nicht mehr zufriedengeben. Wir sollten der Politik und den Verbänden nicht länger gestatten, uns mit der wohlklingenden, aber inhaltsleeren Chiffre »Soziale Marktwirtschaft« für dumm zu verkaufen. Die Politik trägt eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen. Die Faktenlage beweist eindeutig, dass der bisherige Kurs zu nichts anderem geführt hat als zu Verteilungsungerechtigkeit und finanzieller Instabilität.

Wenn wir den Kapitalismus als prinzipiell beste Wirtschaftsform für eine pluralistische und demokratische Gesellschaft erhalten wollen, die sich dem christlichen Wertekanon weiterhin verpflichtet sieht, dann müssen wir unseren Kurs ändern. Die obszöne Konzentration der Einkommen und Vermögen und die Instabilität des Finanzwesens sind keineswegs auf den ungehemmten Einfluss des Staates zurückzuführen, den die Liberalen gern und schnell zum Universalschuldigen stempeln, sondern entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Konsequenzen einer Liberalisierungswelle, die unter Kohl ihren Anfang nahm und durch Schröders »Agenda«-Politik auf die Spitze getrieben wurde. Wer daher jetzt die Parole »Mehr Kapitalismus wagen« als neue politische Losung ausgibt, muss die Frage beantworten, wie er damit den negativen Trend umkehren will, der in den letzten Jahren zu beobachten ist.

Wie müsste eine Soziale Marktwirtschaft, die diesen Namen zu Recht trägt – sprich: verteilungsgerecht und finanziell stabil verläuft –, stattdessen aussehen? Oberste Priorität hätte die geordnete Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf die Exportwirtschaft, dem beinahe krankhaften Bemühen um einen möglichst hohen Leistungsbilanzüberschuss, um erneut den wertlosen Titel »Exportweltmeister« einzuheimsen. Ein hoher Außenhandelsüberschuss bedeutet deutsche Gewinne auf Kosten des Auslands, die einseitige Abschöpfung dortiger Kaufkraft und damit automatisch Instabilität – wie wir sie gerade selbst mit voller Wucht zu spüren bekommen, weil sich die globalen Ungleichgewichte im Welthandel gewaltsam auflösen und uns der Export wegbricht.

Keine Volkswirtschaft der Welt kann sich einem derart abrupten Wandel, wie er jetzt gerade über uns kommt, kurzfristig anpassen. Denn wer könnte die Exporteure retten und Opel, Daimler und Co. ihre Autos abkaufen, die sie im Ausland nicht mehr absetzen können – vom Strohfeuer staatlicher Abwrackprämien sei hier geschwiegen. Sollte es den Regierungen weltweit nicht gelingen, den gegenseitigen Ausgleich der Leistungsbilanzen kontrolliert zu gestalten, wird die Krise in Deutschland Spuren hinterlassen, von denen selbst die schlimmsten Pessimisten derzeit keine Vorstellung haben.

Vor diesem Hintergrund muss eine ernstgemeinte Politik der Sozialen Marktwirtschaft auf eine Stärkung des Binnenmarktes gerichtet sein, insbesondere auf Auf- und Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten und daraus fließenden Einkommen. Markteintrittsbarrieren aller Art müssen abgeschafft werden, die Handwerkerordnung etwa und ein großer Teil des Gewerberechts. Das wären Maßnahmen, bei denen sich FDP und Union einmal auf sinnvolle Art und Weise um die Liberalisierung verdient machen könnten. Darüber hinaus muss der Staat in diesen Sektor selbst investieren und damit Beschäftigung schaffen, solange die Privaten dazu nicht willens oder in der Lage sind.

Eine Soziale Marktwirtschaft, die sich wieder um den Wohlstand aller Bürger verdient machen will, wird zudem nicht umhinkommen, den Faktor Arbeit von der massiven Verbrauchsteuer zu befreien, die in Form sozialer Zusatzkosten auf ihm lastet und ihn grundlos verteuert. Die soziale Sicherung ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und liegt nicht in der Verantwortung der Beschäftigten allein. Sie sollte daher zur Gänze aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden. Man stelle sich einmal vor, welch einen gigantischen Beschäftigungseffekt eine derartige Umfinanzierung nach sich ziehen könnte.

Selbstverständlich müsste im Gegenzug das Steuersystem in die Lage versetzt werden, die entsprechende Finanzierung auch zu leisten. Das dürfte machbar sein, sobald man sich vom liberalen Steuerwettlauf nach unten endgültig verabschiedet hat. Im internationalen Vergleich hat Deutschland ausreichend fiskalisches Potential, insbesondere bei der Einkommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuer. Darüber hinaus wird es der weitere Verlauf der Krise erforderlich machen, dass Deutschland eine strengere fiskalische Linie gegenüber den europäischen Partnerländern durchsetzt. Bereits jetzt zeigt eine Reihe dieser Staaten deutlich mehr Begeisterung für ein finanzielles Zusammenrücken innerhalb der Europäischen Union als für Flat-Tax-Experimente und Niedrigststeuersätze.

Und natürlich kommt in einer solchen Sozialen Marktwirtschaft auch dem Finanz- und Kreditsektor eine völlig andere Rolle zu als bisher. Es ist inakzeptabel, dass unsere Bankkonzerne Größenordnungen erreichen, die im Insolvenzfall die gesamte Volkswirtschaft mit in die Tiefe reißen würden – und das auch noch mit Spekulationen und Kreditrisiken, die mit dem wirtschaftlichen Geschehen der deutschen Wirtschaft nicht das Geringste zu tun haben. Die staatliche Politik sowie die Gemeinschaft der Steuerzahler werden dadurch in Geiselhaft genommen.

Bin ich der Einzige, der das alles andere als normal findet? Die Folgerungen aus der gegenwärtigen Krise lassen deshalb nur eine Alternative zu: Entweder wird der Kreditsektor zur Gänze verstaatlicht, oder das bisherige System der Großbanken wird gesprengt und durch eine Vielzahl kleinerer Institute ersetzt, die jedes für sich keine Systemrelevanz mehr entfalten und daher auch ohne Gefahr für das System pleitegehen können. In einem weiterhin marktwirtschaftlich geprägten Umfeld wäre natürlich die zweite Alternative die deutlich sympathischere.

Bereits vor Ausbruch der Finanzkrise herrschten in Deutschland untragbare Zustände: Wir befanden uns nicht mehr auf dem Weg in eine Zweiklassengesellschaft, sondern bereits mittendrin. Außerdem ließen wir es zu, dass das Finanzsystem als Fundament unserer Wirtschaft ein bizarres Eigenleben entwickelte, in dessen Verlauf es sich praktisch selbst zerstörte. Die derzeitige Krise sollte daher als Katharsis aufgefasst werden, aus der eine neue Wirtschaftsordnung erwachsen wird, die in bester Erhard’scher Tradition wieder auf Wohlstand für alle ausgerichtet ist. Wer hingegen die Soziale Marktwirtschaft zu einer hohlen Phrase degradiert, mit der auch künftig einem marktliberalen Kult gehuldigt werden soll, der versündigt sich nicht nur an Ludwig Erhard, sondern auch an der deutschen Gesellschaft. Und wer meint, eine Kursänderung im obigen Sinne wäre utopisch, der möge sich durch die Fernsehbilder davon überzeugen lassen, dass die Apologeten ganz anderer Utopien bereits wieder dabei sind, auf den Straßen ihre Truppen zu sammeln.

Modell Deutschland

von KAREN HORN

»Diese Krise zählt zu den unvermeidbaren. Nicht der geringste Abstrich ist zulässig von den drei Hauptsätzen der einzig treffenden Diagnose: Es lebt sich gut am Vesuv. Leider bricht er gelegentlich aus. Aber niemand weiß, wann.« So brachte ein früheres Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung den Tatbestand auf den Punkt. Bezeichnenderweise kommen die »drei Hauptsätze« ohne die Worte »Kapitalismus«, »Marktwirtschaft«, »Wettbewerb« oder auch nur »System« aus. Der Vesuv, das sind wir Menschen selbst.

Was sich da als krisenanfällig erweist und gelegentlich ausbricht, das ist nämlich nicht irgendein System in all seiner Abstraktion. Der Vesuv, das ist mitnichten die freie Marktwirtschaft, wie man heute von Kritikern aller denkbaren Schattierungen immer wieder hören muss. Auch nicht der Kapitalismus, jenseits jeder klassenkämpferischen Terminologie schlicht und wohl verstanden als eine Wirtschaftsform, die zukunftsgerichtet durch Kapitalbildung, also Sparen und Investieren, auf Wohlstandsmehrung zielt – ein ökonomisches Miteinander, das sich in freiwilligen Austauschbeziehungen auf der Basis von Privateigentum an den Produktionsmitteln konkretisiert.

Der Vesuv, das ist noch nicht einmal die unhistorisch so bezeichnete »neoliberale Ideologie«. Die wahre neoliberale Schule aus den dreißiger Jahren versteigt sich gerade nicht zur Heiligsprechung der individuellen Gier und der kollektiven Regellosigkeit. Sie entwirft einen Ordnungsrahmen, der die Grundwerte der Freiheit und Gerechtigkeit, der Verantwortung und Solidarität auch in der Wirtschaft harmonisch zu verbinden erlaubt. Neoliberalismus ist eben nicht einseitig – und deswegen auch nicht ideologisch.

Wenn Ludwig Erhard, der noch weitgehend unumstritten verehrte politische Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, einst schrieb, »je freier die Wirtschaft, um so sozialer ist sie auch«, dann machte ihn dies nicht zum verantwortungslosen Prediger eines »marktliberalen Kults«. Wer für freie Märkte wirbt, meint schließlich nicht regellose Märkte. Wer für freie Märkte wirbt, will Märkte, die effizient funktionieren – auf dass die Erhard’sche Formel vom »Wohlstand für alle« Wirklichkeit werde.

Der Erfolg hat der Sozialen Marktwirtschaft recht gegeben. Der materielle Aufschwung, den Deutschland in und seit den fünfziger Jahren erlebt hat, brachte auch breite Zustimmung zu diesem Wirtschaftssystem, das als deutscher Sonderweg in der Welt begriffen und gehegt wurde. Doch man täusche sich nicht – diese Zustimmung aufgrund der Nützlichkeit des Systems hat es stets nur im Nachhinein gegeben. Als Ludwig Erhard 1948 den Startschuss für die Marktwirtschaft gab, indem er die Preiskontrollen abschaffte, ritt er keineswegs auf einer Welle der allgemeinen Begeisterung, weder bei den Alliierten noch in den Parteien und der Bevölkerung. Als sich dann nicht nur die Regale füllten, sondern auch die Preise stiegen, eskalierte der öffentliche Protest, der in einem Generalstreik kulminierte.

Damit sich die deutsche Gesellschaft auch heute noch hinter der Sozialen Marktwirtschaft versammeln kann, braucht es folglich mehr als ein Nützlichkeitsargument. Es braucht eine philosophische Begründung. Entgegen dem kruden utilitaristischen Materialismus der Kapitalismuskritiker sind Märkte nämlich nicht nur Wohlstandsmaschinen. Sie sind als Plattform der Interaktion auch soziale Räume – Räume, in denen es wesentlich, wie in den anderen Sphären der Gesellschaft auch, um individuelle Würde, Selbstbestimmung und Freiheit geht, und darauf aufbauend um gegenseitig vorteilhafte Kooperation im Rahmen allgemeiner Regeln gerechten Verhaltens.

Der Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft im Geiste der Neoliberalen ist es, das generelle Streben nach persönlicher Freiheit von Zwang in der Sphäre des ökonomischen Austauschs in der Gesellschaft zu verwirklichen. Dazu braucht es, wie immer wieder betont worden ist, einen Rahmen von universellen Regeln.

Natürlich ist die Beobachtung korrekt, dass wir in der Marktwirtschaft Krisen erlebt haben, erleben und erleben werden. Es trifft auch zu, dass hier die Krisen häufiger vorkommen als in weniger freien Systemen. Doch selbst wenn hier Korrelation und Kausalität in eins fallen, so ist der Saldo doch immer noch positiv, wie es Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) vor einigen Jahren in einer gründlichen Studie nachgewiesen haben: Die dauerhaften Wohlstandsgewinne sind immer noch mit Abstand größer als die temporären Verluste im krisenhaften Kollaps.

Unabhängig von dieser materiellen Bilanz liegt in der Korrelation von Krise und Markt aber vor allem noch nicht die Antwort auf die eigentliche, systemische Schuldfrage. Die Wurzel des Übels liegt vielmehr woanders: in der Conditio humana. Und die ändert sich auch nicht mit einem anderen Wirtschaftssystem. Die Krisenanfälligkeit ist dem Menschsein an sich immanent. Denn unser menschliches Dasein ist geprägt von fundamentaler Unsicherheit und von regelmäßigen Interessenskonflikten.

Für Thomas Hobbes führt der Ausweg über einen Gesellschaftsvertrag, unter dem alle Bürger ihre natürlichen Rechte abtreten – an einen Staat mit unbegrenzter Herrschaftsgewalt. In einen ähnlichen Schwanengesang der bürgerlichen Kapitulation stimmen nun exakt 358 Jahre später die Kapitalismuskritiker mit dem Ruf nach einem massiv aufgerüsteten Primat der Politik mit ein.

Auch heute soll der Staat wieder nicht alles, aber doch manches besser wissen – nur woher derlei überlegenes Wissen kommen soll, ist nach wie vor unklar. »Die Politik hat eine Verantwortung für die Gesellschaft, und dieser muss sie nachkommen«, postuliert Thomas Strobl.1 So adrett gewandet sich heute der Abschied von Eigenverantwortung und Privatsphäre, der Freibrief für staatliche Bevormundung, zu Ende gedacht letztlich die totalitäre Versuchung. Zwar wünscht sich niemand mehr einen absoluten Herrscher. An seine Stelle tritt deshalb eine zunehmend absolute Demokratie, die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Auf die Spitze getrieben, lässt uns diese Kollektivierung aber keine privaten Gärten mehr, die wir frei nach Voltaires Candide bebauen können.

Anstelle des Individuums soll nach Strobl nun das Kollektiv entscheiden, was gerecht ist. Das Kollektiv soll bestimmen, wie groß Banken werden dürfen. Das Kollektiv soll sagen, in welchen Branchen Unternehmer ihr Glück versuchen dürfen – auf jeden Fall offenbar jedoch abseits der Exportwirtschaft, auf dass rasch die Leistungsbilanzüberschüsse abgebaut werden. Als ob es die Salden wären, die unsere Empfindlichkeit gegenüber abrupten Nachfrageeinbrüchen in der Weltwirtschaft ausmachen. Nein, diese ergibt sich per se aus der Verflechtung, das heißt, relevant sind nicht die Salden, sondern die Volumina des Handels. Nach der Strobl’schen Logik tun wir es wohl am besten Diogenes gleich und verkriechen uns in der Tonne der Antiglobalisierung. Verweigern wir uns doch einfach komplett dem spontanen gesellschaftlichen Austausch. Denn wer sich der Verflechtung entzieht, kann unter ihr auch nicht leiden, so das Kalkül.

Das allerdings wäre höchst bedauerlich, wenn nicht verantwortungslos. Denn wer sich der Verflechtung entzieht, kann nicht nur nicht unter ihr leiden, sondern er kann auch nicht von ihr profitieren. Nicht nur aus dem materiellen Grund, dass uns Austausch, Arbeitsteilung und Verflechtung schon seit je unendlich viel mehr Wohlstand beschert haben als die Abkapselung. Nein, soziale Interaktion bedeutet nicht nur Koordination, sondern in der Koordination und durch die Koordination stets auch Lernen. Und dieses Lernen ist nicht planbar. Es ist »Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs«, wie es Adam Ferguson in seiner berühmten Formel ausgedrückt hat.

Der Kapitalismus ist das einzige System, das sich aufgrund der idealerweise von externen Eingriffen unverzerrten, die individuellen Interessen abbildenden und koordinierenden Rückkopplungsprozesse immer wieder selbst korrigieren kann. Er ist das einzige System, das einen Mangel an Moral oder an Regeln nach gewisser Zeit anzeigt und uns dazu bringt, Moral oder Regeln neuerlich einzufordern. Nur in der Marktwirtschaft kann es solche Krisen überhaupt geben – und vor allem die damit verbundene Selbstreinigung und Innovation.

In der Gesellschaft fehlbarer und von fundamentaler Unsicherheit umgebener Menschen, die wir sind, schließt soziales Lernen auch auf der politischen Regelebene Ausprobieren, Gelingen, Scheitern, Hinterfragung, Korrektur und Selbstvergewisserung notwendig mit ein. So ist nun einmal das Leben am Vesuv. Wir können nur versuchen, mit stets verbesserten Regeln den jeweiligen Schaden zu vermindern. Entscheidend ist daher, dass jetzt auch die richtigen Lehren Eingang in die Politik finden. Dazu gehört es essentiell, den regelsetzenden Staat zu stärken.

Die Ergebnisse des Weltfinanzgipfels in London geben hier einigermaßen, wenn auch mit Einschränkungen, Anlass zur Hoffnung. Es scheint, die Lektion sei gelernt worden, dass politisches Handeln im Kern bedeuten muss, Spielregeln zu definieren. Das ist ein Fortschritt, den wir gar nicht hoch genug schätzen können. Wenn er von Dauer sein sollte, käme er einer kleinen kopernikanischen Wende im Selbstverständnis der Politik gleich. Dafür gilt es freilich noch den ad-hoc-interventionistischen Staat und den Abusus einzudämmen, dass die Spielzüge selbst auch von hoheitlicher Hand ausgeführt werden. Nur dann kann für die Zukunft verhindert werden, dass es wieder zu einer verheerend exzessiven Geldpolitik, zu einer verantwortungslos kurzfristig denkenden Fiskalpolitik und zu unterlassenen Aufsichtspflichten kommt.

1 Siehe Thomas Strobl, »Wohlstand für alle« in diesem Band auf S. 11 ff.

Wettbewerb ist ein Gebot der Nächstenliebe

von MARTIN WALSER

Ich will nicht sagen, dass ich glücklich bin, aber dass ich ab und zu Glück habe, darf ich schon sagen. Gerade jetzt wieder. Die Welt dröhnt von miserablen Nachrichten, die Sprecherinnen und Sprecher im Fernsehen wollen einander überbieten in Katastrophenmimik. Nicht die von der ARD. Aber die anderen schon. Was der Finanzwelt jetzt gesagt werden muss, sagen sie mit grimmiger Freude oder, genauer: mit freudigem Bedauern. Mit einem Das-hab-ich-gewusst-Gesicht. Als sie an Weihnachten mitteilen mussten, dass die Leute trotz schlimmer Krise fröhlich und massenhaft kauflustig waren, haben sie das zwar berichtet, aber in einem Ton, der hieß: Die werden sich noch wundern, diese naiven Konsumenten.

Tatsächlich hat sich der mit dem Geldgeschäft handelnde Kapitalismus unendlich blamiert. Es war eine ansteckende Geistes- oder Charakterkrankheit, die aus Amerika herüberflorierte. Dass eine ganze Branche so ansteckbar war, bleibt beschämend. Das Kerngeschäft – solide Kredite für solide Projekte – wird zur Zeit übertönt von unglücksgeilen Kassandren. Und da treffe ich, lerne ich kennen Herrn Michael Ungethüm, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c., und lerne lesen sein Buch Verantwortung für das Ganze. Das ist ein Titel, dessen Gutgemeintheit mich nicht sofort erobert. Es sind Reden und Vorträge von 1989 bis 2009. Und ich erfahre: Michael Ungethüm hat den Vater im Krieg verloren, hat Schlosser gelernt, dann das Abendabitur gemacht, dann studiert, promoviert in Ingenieurswissenschaft, habilitiert als Ingenieur im Fach Medizin, vor ihm lag eine akademische Karriere, »die Sicherheit einer Beamtenstelle mit unschätzbarer Freiheit in Forschung und Lehre«, aber er verlässt den »Elfenbeinturm der Wissenschaft«.

Wie er diese Grenzüberschreitung selbst schildert, hat mich für ihn eingenommen. Die »Nagelprobe für die richtige Erkenntnis« liegt »in deren praktischer Anwendbarkeit«. Das führt ihn, als er sechzig ist, zu der radikalen Formulierung: »Eine Zunahme des theoretischen Wissens ist zunächst einmal völlig belanglos.« Damit hat er mich natürlich an Kierkegaard erinnert: »Wir haben zu viel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an.« Er ist also aus dem brillanten München ins schlichtere Tuttlingen gezogen, zur Firma Aesculap; jetzt ist er dreißig Jahre bei Aesculap und hat den Umsatz um mehr als das Zwanzigfache gesteigert. Er hat zum Beispiel im Jahr 2001 eine Benchmark Factory eingeweiht, also eine Fabrik, deren Programm heißt Wettbewerbsfähigkeit plus Bestleistung. 1998 hat er auf einer Betriebsversammlung sein Benchmark-Projekt geschildert. Die Lage der Firma Aesculap: zwei Prozent Marktanteil an einem Orthopädie/Traumatologie-Weltmarktvolumen von zehn Milliarden DM. Ein Wettbewerber wurde gerade geschluckt von Hoffmann-La Roche; der amerikanische Branchengigant Johnson & Johnson baut in Irland schon mal eine Fabrik für jährlich sechzigtausend Hüftprothesenschäfte, in Tuttlingen driften Umsatzentwicklung und Mengenentwicklung drastisch auseinander, für denselben Umsatz müssen immer größere Mengen produziert und verkauft werden, Aesculap muss, um zu bestehen, die Benchmark-Fabrik bauen, entweder in Tuttlingen oder in England oder in Spanien.

Er schlägt einen Standortsicherungsvertrag vor. Die Mitarbeiter arbeiten täglich vierundzwanzig Minuten mehr, und zwar unentgeltlich, werden dafür am Erfolg beteiligt. Aesculap bleibt im Arbeitgeberverband Südwestmetall, das heißt tarifgebunden. Und es gibt keine Kündigung ohne Zustimmung des Betriebsrats. Der Vertrag wird geschlossen, im Dezember 2005 verlängert, er läuft jetzt bis Ende 2010. Seit Beginn des Vertrags sind vierhundert Mitarbeiter unbefristet eingestellt worden, davon hundert Auszubildende. Berechnet war, dass die Erfolgsbeteiligung den Lohnverzicht auswiegen werde. Das ist mehr als eingetroffen.

Einer der Credo-Sätze in Michael Ungethüms Schriften: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« Man darf bemerken, dass er nicht sagt: »Arbeitsplätze«. Vor dieser Verwaltungsstilistik bewahrt ihn offenbar sein Sprachgefühl.