Steinhauer

Zuhause wartet schon dein Henker

Schweden-Krimi mit Rezepten

Franziska Steinhauer

Zuhause wartet schon dein Henker

Der vierte Fall für Sven Lundquist

1

Pfarrer Mommsen sah sich angewidert um.

Wie konnte man bloß so etwas schön finden? Oder auch nur gemütlich?

Geschmacklos war das Wort, das er, würde er je gefragt, verwendet hätte. Aber ihn fragte niemand. War ja vielleicht auch gut so.

»Einen Tee vielleicht?«, erkundigte sich eine piepsige Stimme aus der Küche freundlich. Pfarrer Mommsen nickte, grunzte seine Zustimmung. Ergeben. Nicht aus Überzeugung. Diese Hausbesuche ekelten ihn an. Immerzu Tee und klebrige selbstgebackene Kekse. Zu süß. Ohne jede Überraschung.

Überall die gleiche Geschmacklosigkeit in den Wohnzimmern.

Und in jedem Haus Probleme.

Ha!

Als hätten die auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, was man außerhalb der Gemeindegrenze als Problem bezeichnete. Sicher nicht den Kinderkram hier. Er hörte sich das nicht enden wollende Lamentieren an, tat interessiert und aufgeschlossen, bot seine Hilfe an, gab Ratschläge.

In jeder Familie derselbe Shitkram. Die Frau ging fremd – oder der Mann.

Das Geld war knapp, die Wünsche zu üppig. Die Kinder? Eine einzige Enttäuschung. Die Enkel, soweit vorhanden, keinesfalls besser geraten.

Ihm war schlecht. Richtiggehend übel.

Da war es wenig hilfreich, sich in dem vollgemöbelten winzigen Wohnzimmer umzusehen.

Nippes.

Überall. Das war weiß Gott keine Übertreibung! Mommsen gönnte sich ein boshaftes Grinsen, als er die Formulierung überdachte – schließlich konnte ja niemand im Ernst annehmen, der Herr habe an solchen Banalitäten auch nur das geringste Interesse.

Wo er hinsah – saß, stand, lag oder räkelte sich eine Figur. Aus Holz, aus Porzellan, aus Keramik. Eine kitschiger als die andere. Er schauderte. Dazwischen Fotos der gar nicht so Lieben. Die hässliche Tochter der Familie grinste in die Kamera, der inzwischen straffällige Sohn fläzte sich in einem Liegestuhl. Ein Luxus, auf den er wohl im Gefängnis noch für viele Jahre würde verzichten müssen. Vielleicht dachte er nun darüber nach, ob es wirklich notwendig war, den Ladenbesitzer gleich zu erschlagen, nur weil er die Tageseinnahmen nicht einem Fremden überlassen wollte? Eher nicht, schloss Arne diesen Gedankengang ab.

An den Wänden beliebte Ölgemälde der Küstenbewohner.

Tapfere Seeleute, die sich in Nussschalen dem grässlichen Wetter entgegenstemmten. Womöglich noch versuchten, trotz des hohen Wellengangs einen erlegten Wal zum Mutterschiff zu schleppen und dort an Bord zu hieven. Mann gegen Naturgewalt. Nichtschwimmer. Bei einem Sturz in das tosende Meer für die Zukunft verloren.

Er spürte förmlich den Seegang unter seinen Füßen, die sturmgepeitschten Brecher, die sich aufbäumenden Planken, merkte, wie das Wasser über ihm zusammenschlug. Hörte die verzweifelten Rufe des Mannes im Ausguck, der sich kaum mehr halten konnte, die schwarze, ungewisse Tiefe vor Augen hatte. Seemannsgrab. Das Brüllen des Meeres nahm an Lautstärke zu, er roch das Salz, die Nässe, das Blut, den Tod.

Mommsen!, rief er sich zur Ordnung, nun nimm dich aber mal zusammen!

Als er versuchte, eine Vase auf dem Fensterbrett als Anker zu fixieren, wollte das nicht recht gelingen. Undeutlich registrierte er, dass er schwankte. Schweiß brach ihm aus. Wahrscheinlich werde ich jetzt auch ein Opfer der Dorfgrippe. Das Tosen der aufgebrachten See erfüllte sein Denken. Die Übelkeit nahm weiter zu.

Ich muss hier raus!, dachte er mit größter Anstrengung.

Doch seine Beine hielten nicht viel von der Idee aufzustehen, seine Arme reagierten ungehalten, als er verlangte, sie sollten seinen feisten Körper hochstemmen. Plötzlich wurde ihm auch noch die Luft knapp! Verdammte Scheiße, dachte er, rufen konnte er schon nicht mehr.

Hätte er geahnt, dass dies sein letzter Gedanke in diesem Leben war, wäre ihm vielleicht zum Abschied etwas Netteres eingefallen.

Aber Pfarrer Arne Mommsen war nicht nett. Und zu Freundlichkeiten neigte er auch nicht.

Vielleicht war es deshalb auch völlig in Ordnung, am Ende einen Fluch zu denken – authentisch eben.

2

Lars Knyst gab sich redlich Mühe, den Wagen auf der Straße zu halten.

Ja, überhaupt noch zu erkennen, wo genau die Straße eigentlich war.

Durch die Frontscheibe war wegen der Regenmassen so gut wie nichts zu sehen, die Scheibenwischer strengten sich an, das Wasser von der Glasfläche zu schaufeln, den beiden Männern wenigstens gelegentlich einen Blick auf die Fahrbahn zu gewähren. Blieben aber relativ erfolglos.

Knyst starrte angespannt dorthin, wo er den Fahrweg vermutete.

»Hummelgaard. Wo liegt das überhaupt?«

»Richtung Sund. Ist ein ganz kleiner Ort.«

»Eine Schlafstadt? Für Menschen, die in Göteborg arbeiten? Ich habe noch nie von Hummelgaard gehört.«

»Möglich, dass es solch ein Ort ist. Nur viele Häuser und ein einziger ICA, damit man einkaufen kann, was man im Center vergessen hat.« Knyst knirschte mit den Zähnen. »Verdammt! Sie dir mal den an! Ohne Licht. Ich wäre um ein Haar aufgefahren!« Er hupte erbost, blinkte auf.

Schweigen.

Sie nahmen die E6 in nördlicher Richtung. Passierten Kungälv, hielten auf Tjörn zu, kamen an Stona Höga vorbei bis zur Ausfahrt Ucklum. Tauchten ein in dichten Mischwald. Hier war es noch finsterer, es gab kein gleißendes Licht der Straßenbeleuchtung mehr. Östlich von Ucklum auf dem Weg nach Wästerlanda lag Hummelgaard an einem kleinen See. Ein winziger Ort. Mitten im Wald. Etwa eine Stunde Fahrzeit von Göteborg entfernt.

»Ein toter Pfarrer? Hat er das tatsächlich gesagt?«, fragte Sven Lundquist bei seinem Freund und Kollegen nach.

»Ja. Er läge in seinem Garten. Eindeutig Fremdeinwirkung, das könne man auch ohne Urteil des Rechtsmediziners problemlos feststellen. Das Opfer hätte diese spezielle Auffindesituation niemals allein herbeiführen können.«

»Diese spezielle Auffindesituation? Was meinte er damit?«

»Das hat er nicht gesagt. Wir würden ja sehen, meinte er.«

»Er wollte uns die Überraschung nicht verderben? Was ist das denn für ein Witzbold?« Lundquist ärgerte sich. Es handelte sich offenbar um Mord – und ein solches Delikt war seiner Meinung nach nicht quizshowtauglich. »Wie weit ist es denn noch?«

»Das Navi meint, wir seien noch auf dem richtigen Weg, gerade an Ucklum vorbei, und würden in 20 Minuten unser Ziel erreichen.« Lars schüttelte den Kopf. »Aber bei dem Tempo wird es gleich die Dauer der Fahrt neu berechnen.«

Lundquist lehnte den Kopf an die Nackenstütze. Dachte über die naheliegende Frage nach, aus welchem Grund jemand einen Pfarrer ermorden sollte. Löste man in Pfarrersfamilien Konflikte nicht eher gewaltfrei?

Lars schien die Gedankengänge seines Freundes zu erahnen. »Tja, richtig Pech. Der göttliche Beistand bei der Sache lag wohl beim Angreifer.«

»In Deutschland gab es vor Jahren einen Mordfall. Opfer war die Frau eines Pfarrers. Und tatsächlich wurde der Ehemann als Täter verhaftet und später verurteilt. Er hatte eine Geliebte – trote des Berufs sind sie Menschen wie jeder andere auch. Und nur weil man Pfarrer ist, muss man nicht automatisch ein guter Mensch sein, fürchte ich. Ein Klischee. Manchmal nützlich – manchmal lästig.« Lundquist erinnerte sich ungern an die Zeit, in der seine Mutter versucht hatte, der Enkelin einzureden, alle Stiefmütter seien garstig wie im Märchen. Magda, seine zweite Frau, hatte lange beweisen müssen, dass sie nicht in dieses Bild passte.

»Mord an einem Pfarrer!«, murmelte er und schüttelte den Kopf.

Eine halbe Stunde später standen die beiden Ermittler aus Göteborg im Garten der Familie Mommsen und starrten auf das, was der Kollege vor Ort nicht hatte in Worte fassen wollen oder können.

Pfarrer Arne Mommsen war gekreuzigt worden.

Seinen Körper hatte man kopfunter auf ein schweres, stabiles Holzkreuz geschnürt.

Die Konstruktion lag auf dem Boden – vielleicht war sie zu schwer gewesen, um aufgerichtet werden zu können. Über Kreuz und Anwesen entlud sich ein heftiges Unwetter, das den Nachmittag schwarz verfärbte. Blitze zuckten über den Himmel, Donner ließ den Boden beben.

Lundquist schüttelte sich. »Verräter werden kopfunter gekreuzigt.«

Inzwischen war er vollständig durchnässt, das Wasser lief am Nacken entlang den Rücken hinunter, sammelte sich am Hosenbund, stand in seinen Schuhen. Knyst versuchte die Ärmel der Jacke weiter über die Hände zu ziehen. Offensichtlich fror er ebenfalls.

»Ja«, antwortete er. »Ist, als wolle man uns mit der Nase darauf stoßen.«

»Familie?«, erkundigte sich Lundquist bei dem Kollegen, der sie gerufen hatte.

»Ja. Seine Frau steht schon die ganze Zeit da oben am Fenster und stiert bewegungslos auf ihn runter. Bestimmt war das ein furchtbarer Schock für sie. Da kriegt man direkt Gänsehaut. Huh!« Der junge Mann strich sich kräftig über die Oberarme, als könne er das Grauen damit vertreiben, deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. »Sie haben drei Kinder: Olaf, Esther und Astrid.«

»Sind alle zuhause?«

»Nein. Olaf hat noch geschlafen, als ich hier ankam. Esther ist auf dem Heimweg vom Training und Astrid nicht erreichbar. Wir haben versucht, beide anzurufen, doch es gab offensichtlich keine Verbindung. Vielleicht liegt das am Gewitter.«

»Wissen wir, wie er den Nachmittag verbracht hat?«, wollte Knyst wissen und hoffte, Pfarrer Mommsen habe den Nachmittag genutzt, um in seinem Arbeitszimmer an der nächsten Predigt zu arbeiten.

»Ja, tatsächlich können wir das ziemlich genau rekonstruieren. Gerade heute war seine – wie er das nannte – große Tour. Man kann sich in der Kirche in eine Liste eintragen, wenn sein Besuch gewünscht wird. Er ist dann bei allen vorbeigefahren, die seinen Rat nötig hatten. Manch einer möchte nicht in der Öffentlichkeit über Probleme sprechen, nicht wahr? Auge in Auge im persönlichen Gespräch im eigenen Wohnzimmer fällt es vielen leichter, sich zu öffnen«, wusste Björn Halmstad, der Kollege der lokalen Polizeistation.

»Es existiert also eine Liste? Mit Uhrzeiten?«

»Ja. Eine Liste mit Namen schon, Uhrzeiten sind leider nicht vermerkt. Er hatte sie bei sich. Wir versuchen gerade, sie zu trocknen.«

»Auf das Kreuz gebunden, hm – das erfolgte doch wahrscheinlich nach seinem Tod?« Lundquist begann von einem Fuß auf den anderen zu treten.

»Arne Mommsen war nicht der Typ, der sich einfach so auf ein Holzkreuz zurren lässt! Da hätte es schon einen Kerl wie deinen Kollegen gebraucht – riesig und stark wie ein Bär. Einem wie dir oder mir wäre das nie und nimmer möglich gewesen. Oder es hätten sich mehrere zusammentun müssen, dann hätten wir es hier mit einem gemeinschaftlich begangenen Mord zu tun.«

Lars grinste. Unwillkürlich spannte er den Körper, erschien noch größer, als er ohnehin schon war. Stolz spürte er, wie seine Muskulatur ohne Verzögerung ansprach. Erfolg des jahrelangen Trainings.

Björn sah auf den Toten hinunter und setzte hinzu: »Und das möchte ich mir eigentlich lieber nicht vorstellen! Er war der Seelsorger der Gemeinde! Der Rechtsmediziner wird sicher gleich hier sein. Wir haben ihn natürlich ebenfalls sofort verständigt, als wir …« Er seufzte. »Bei dem Wetter muss man ein bisschen Geduld haben.«

»Jemand hatte eindeutig eine sehr hohe offene Rechnung mit ihm zu begleichen. Und der Himmel meint es auch nicht gut mit ihm. Ich denke, wir gehen hinein und sprechen mit der Witwe. Vielleicht ahnt sie ja, wer ihrem Mann so sehr den Tod gewünscht hat. Und – wir brauchen die Liste so schnell wie möglich!«

Gerade als sie durch den dichten Regenvorhang zum Haus stapfen wollten, rollte der Wagen des Rechtsmediziners vor.

Im oberen Stockwerk des Hauses schaltete jemand das Licht aus. Der schmale Schatten hinter der Scheibe war nur noch zu ahnen.

Stand ganz still.

Ohne jede Bewegung.

Offensichtlich starrte die Frau noch immer auf den Leichnam hinunter.

»Guten Abend! Mein Name ist Erik Hardberg. Wo ist der Tote?«, erkundigte sich eine jugendliche Stimme hinter ihnen.

Lundquist wandte sich widerstrebend vom Fenster ab und deutete vage nach links.

Der Pfarrer war nicht zu verfehlen.

»Aha! Eine Art Kreuzigung!«, rief der forensische Pathologe erstaunt aus. »Toll! Ist mal was Neues, hatte ich tatsächlich noch nie!«

Sven Lundquist trat neben ihn. »Ja, wir waren auch ziemlich verblüfft. Wir müssen unbedingt von dir wissen, ob er schon tot war, als er auf die Konstruktion gebunden wurde – und woran er gestorben ist …«

»… und wann. Ich weiß!«

Der junge, blasse Mann umfasste mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand sein blondes Ziegenbärtchen unterhalb der blauen Perle, die es wie einen Zopf zusammenhielt, und zog es glatt. Immer wieder. Fuhr sich durch die Fönfrisur, die zwischen Auto und Tatort bereits nass und formlos geworden war. »Gut. Fangen wir also an.« Mit geübten Bewegungen schob er eine Stirnlampe zurecht, schaltete sie ein. Gab dem Kollegen von der Polizei ein Zeichen, drückte ihm eine zusammengerollte Plane in die Hand und bedeutete ihnen, sie über dem Opfer auszuspannen.

»So ist es schon besser!«, lobte er dann. »Hattet ihr keine dabei?«

»Nein. Unsere ist letzte Woche bei einem Einsatz verloren gegangen und die neue wurde noch nicht geliefert«, antwortete Björn zerknirscht.

»Nicht so schlimm. Er hat sicher schon lange im Regen gelegen, bevor er gefunden wurde, oder?«

»Das wissen wir ja nicht. Sollst nicht du rausfinden, wann er gestorben ist?«, gab der Polizist patzig zurück.

»Richtig. Mein Job.« Erik Hardberg kniete sich neben dem Kreuz in den Schlamm. Widmete sich zuerst den Fesseln an den Handgelenken. Betrachtete sie durch eine Lupe. Bewegte sie vorsichtig, hob sie an, lugte darunter, wobei er den Bereich mit der Stirnlampe ausleuchtete, was bei der Position des Opfers nicht ganz einfach war. »Nicht so fest geschnürt. Unter dem groben Seil erkenne ich keine Abschürfungen. Die Haut sieht unbeschädigt aus. Spricht alles dafür, dass er sich zumindest nicht mehr wehren konnte, als er hier festgebunden wurde.« Er griff nach einem Skalpell aus seinem Koffer, durchschnitt die Fessel so, dass der Knoten unbeschädigt erhalten blieb. »Nur für den Fall, dass es sich hier um eine besondere Knotentechnik handelt. Hm.« Er beugte sich über die Handgelenke. »Hier sind oberflächliche Hautläsionen. Ich würde annehmen, die sind beim Drapieren entstanden. Der Strick selbst ist nicht blutig. Er war tot oder wehrlos.«

Er sah über die Schulter. »Ist der Fotograf schon fertig?«

»Ja, der hat schon jede Menge Aufnahmen gemacht«, bestätigte Björn.

»Gut. Dann also weiter.« Der kleine Lichtkegel kroch langsam über den Hals des Opfers aufwärts. »Hier ist keine Verletzung zu sehen.« Erik Hardberg murmelte leise vor sich hin. »Genaues kann ich erst nach der Obduktion sagen. Die findet auch bei deutlich besserer Beleuchtung statt.«

Auf Höhe der Brust kam der schwankende Lichtpunkt abrupt zum Stillstand. Bewegte sich konzentriert von links nach rechts. Die blassen Latexfinger machten sich ungelenk an der Kleidung des Gekreuzigten zu schaffen.

»Mit kalten Händen eine echte Herausforderung. Also, hier ist der Stoff beschädigt, ich sehe nach, was sich darunter befindet.«

Lundquist und Knyst beugten sich weit vor, um auch einen Blick erhaschen zu können. »Meinst du, hier wurde er verletzt?«, wollte Lars wissen, versuchte, in dem hellen Fleck Details zu erkennen.

»Ja. Und tatsächlich, eine Wunde!« Der Rechtsmediziner fokussierte den Lichtpunkt auf die Stelle. »Könnte eine Stichwunde sein. Herzgegend. Eventuell ist er daran gestorben. Aber auch das…«

»…kannst du erst nach der Obduktion sagen. Ja.« Lundquist richtete sich wieder auf. Massierte gedankenverloren eine Stelle an der Lendenwirbelsäule. »Mit dem Kopf nach unten gekreuzigt, die Stichwunde auf der falschen Körperhälfte. Jesus bekam den Lanzenstich in die rechte Seite. Diese ganze Inszenierung soll vielleicht nur an eine Kreuzigung erinnern, aber ihr nicht gleichen.«

»Warum?«, fragte Lars verblüfft.

»Angst vor Blasphemie?«, schlug Lundquist vor. »Der Täter wollte niemanden beleidigen.«

»Ach, beleidigen nicht – töten schon?«, grinste Hardberg. »Sonderbare Logik.«

»Denkbar wäre doch, dass der Täter davon ausging, Mommsen fahre auf direktem Weg in die Hölle, während er selbst trotz allem hoffte, einen Platz … da wollte er niemanden verstimmen.« Lundquist warf einen nachdenklichen Blick auf die dunkle Gestalt, die noch immer regungslos hinter dem Fenster verharrte. »Dann müsste der Täter allerdings ein Motiv haben, das auch vor dem Herrn als solches Bestand hätte. Im Moment fällt mir da nur der Tyrannenmord ein. Auslöschung des Usurpators. Komm, vielleicht kann die Witwe etwas Licht ins Dunkel bringen.«

»Na dann. Wir sehen uns morgen. Ich nehme ihn jetzt mit«, verabschiedete sich der Rechtsmediziner, packte Stirnlampe und andere Utensilien in die Tasche zurück. »Todeszeitpunkt, grob geschätzt, gegen 16 Uhr heute Nachmittag. Bis morgen also!« Er nickte den beiden Ermittlern aufmunternd zu und verschwand zügig in Richtung Auto.

»Ulrika, es tut mir leid, aber wir haben ein paar Fragen an dich. Dein Mann wurde Opfer eines Verbrechens – je schneller wir die Spur des Täters finden …« Lundquists Stimme verdämmerte.

Die spirrelige Frau drehte sich nicht um, starrte weiter aus dem Fenster, nickte kurz.

Zog ihre knielange Wolljacke fester über der Taille zusammen.

»Wo bringen sie ihn hin?«

»In die Rechtsmedizin.«

»Gut. Die Mädchen sollen das nicht sehen müssen. Der Vater ans Kreuz gebunden, nein, das wäre nicht gut.« Ulrikas Stimme war nur ein Flüstern.

»Es ist natürlich ein großer Schock für die ganze Familie.«

»Ich verstehe, dass ihr viele Fragen habt. Mir ist auch nicht klar, warum jemand den Pfarrer von Hummelgaard töten sollte.«

»Dein Mann war allgemein beliebt?«

»Beliebt ist ein großes Wort. Und es trifft nicht das, was nun alle in der Gemeinde über ihn sagen werden. Respektiert passt sicher besser. Viele wandten sich mit ihren Fragen an ihn – allerdings war er nicht immer ein guter Ratgeber. Nicht immer seine Schuld. Es ist manchmal unglaublich, in welchen Lebensbereichen sich die Menschen einen Hinweis erbitten. Von finanziellen Themen hatte er nicht viel Ahnung, dennoch wollte man von ihm Ratschläge zu Geldanlagen, Aktienkäufen, Spekulationen mit Warentermingeschäften. Ich denke, einen Pfarrer sollte man eher bei ethischen und religiösen Fragestellungen um Orientierungshilfe bitten. In dem Bereich ist er kompetent – oder sollte es zumindest sein.«

Lars spürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Diese Frau sprach so wohlgesetzt, als ginge das Geschehen in ihrem Garten sie nichts an, als habe es mit ihr persönlich nichts zu tun. Nun, dachte er, Ehekrisen gibt es sicher auch in Pfarrersfamilien, aber wenn meine Gitte in diesem Ton … dann haben wir den richtigen Zeitpunkt für eine Trennung vielleicht schon verpasst.

»Die Gemeinde hat ihn also respektiert. Gibt es jemanden, den du als einen Feind bezeichnen würdest?«, hörte Lars den Freund von fern weiterfragen.

»Feinde? Nein, so etwas hatte er nicht.«

»Aber?«

»Nun, der ein oder andere ist vielleicht ein wenig verärgert über ihn gewesen. Wie gesagt, seine Ratschläge waren manchmal von zweifelhafter Qualität. Allerdings liegt es in der Entscheidung des Einzelnen, ob er den Rat annehmen möchte oder nicht. Im Nachhinein will das nur niemand wahrhaben und sucht nach einem Schuldigen, einem Verantwortlichen. Menschen sind so.«

»Wer war denn besonders verärgert über ihn?«, hakte Knyst nach.

»Hinnerk, Arft, Bjarne, Bruno … und einige der weiblichen Gemeindemitglieder auch. Susanne, Patricia, Annasophia, Meike …« Knyst schrieb eifrig mit. »Ich brauche die vollständigen Namen, bitte, sonst frage ich beim falschen Bjarne nach«, sagte er und warf Ulrika einen auffordernden Blick zu, der allerdings zwischen ihren Schulterblättern verloren ging.

Mit einem plötelichen Ruck wurde die Tür aufgerissen!

Zornbebend stand ein junger Mann im Raum. »Was macht die Polizei in unserem Garten?«, forderte er mit blitzenden Augen zu wissen.

Lundquist registrierte, dass der gesamte Körper des Neuankömmlings vor unterdrückter Wut bebte.

»Und wer sind die beiden Pfeifen hier?« Breitbeinig baute er sich mitten im Zimmer auf. Kleidung und Haar in tiefem Schwarz, weißgeschminkte Haut, am Mittelfinger der linken Hand ein Totenkopfring.

Die Mutter drehte sich betont langsam zu ihm um. »Mein Sohn Olaf«, stellte sie mit schleppender Stimme vor. »Diese beiden Herren hier sind von der Kriminalpolizei Göteborg. Sven Lundquist und Lars Knyst. Hör zu – dein Vater ist tot. Jemand hat Arne getötet. Deshalb ist die Polizei hier.«

Der Jugendliche warf sich in einen der Sessel, die Beine weit gespreizt, füllte so die gesamte Sitefläche. »Tot? Echt jetet?«

»Ja. Dein Vater wurde ermordet.«

»Scheiße! Während ich gepennt habe? Wer sollte denn ausgerechnet den Pfarrer … Komm, das ist doch völliger Quatsch!«

»Es stimmt«, mischte sich Lundquist ein. »Dein Vater wurde heute Nachmittag umgebracht.«

»Weiß Astrid das schon? Und was ist mit Esther?«

»Astrid ist meine älteste Tochter, Esther das Nesthäkchen. Und: Nein, bisher wissen sie es nicht. Astrid ist bei einer Freundin, die beiden wollen gemeinsam ein Referat ausarbeiten. Esther ist beim Training, ich kann beide nicht über die Handys erreichen.« Die Witwe machte plötzlich einen nervösen Eindruck. »Es wird die beiden hart treffen. Sie sollten nicht unvorbereitet auf die Polizei treffen. Olaf? Könntest du bitte draußen am Tor auf die beiden warten? Es ist ja schon Zeit …«

»Hast du mal rausgesehen? Es gießt!« Widerwillig stemmte sich Olaf aus dem Sessel hoch, fuhr sich durch die gefärbten Haare und ordnete seine schwarze Kleidung sorgfältig. Trat in den Flur und zog die Tür mit einem energischen Ruck laut ins Schloss.

»›Engel der Finsternis‹ heißt die Sekte. Er zieht sich schon seit Jahren so an, färbt die Haare tiefschwarz. Mein Mann war natürlich wenig begeistert. Der Sohn des Pfarrers verherrlicht Tod und Teufel. Die Leute haben das aber zum Glück anders gesehen, für sie war es eben eine pubertäre Phase, die sich verlieren würde.«

»Dein Mann hat heute eine Tour mit Hausbesuchen absolviert. Wann kommt er in der Regel an solchen Tagen zurück?«, kehrte Lundquist zur Mordermittlung zurück.

»Es dauert, so lange es dauert. Man kann nicht ahnen, was die Menschen besprechen wollen. Mal ist er früh zurück, manchmal erst nach dem Abendessen.«

»Dein Sohn hat geschlafen und du warst auch nicht hier?«

»Heute hatte ich meinen Kurs an der Volkshochschule. Und Olaf arbeitet seit zwei Wochen ab vier Uhr morgens auf dem Großmarkt. Wenn er zurückkommt, schläft er. Zum Glück ist das Praktikum ab nächstem Montag vorbei.«

»Einen Kurs an der Volkshochschule? Zu welchem Thema?«

»Die Heilkraft der Kräuter. Pfefferminze und Kamille kennt jeder – aber bei mir lernt man, welches Kraut bei welchen Beschwerden Linderung verschafft und in welcher Dosierung man es verwenden darf. Ist immer bis auf den letzten Platz belegt.«

»Als du nach Hause gekommen bist, hast du deinen Mann im Garten gefunden.«

»Nein, nicht gleich. Ich habe meine Materialien weggeräumt, einen Tee aufgegossen. Erst als ich mich mit der Tasse hier oben ans Fenster gestellt habe …« Ulrika atmete tief durch. »Nun, da sah ich, was dort im Garten lag. Ich lief hin, er war bereits tot. Also verständigte ich die Polizei.«

Lundquist fühlte sich in der Nähe der Witwe zunehmend unbehaglich. Im Laufe der Jahre hatte er viele Hinterbliebene erlebt – aber kaum jemanden darunter gehabt, der so emotional unbeteiligt wirkte wie Ulrika.

»Wie würdest du eure Ehe beschreiben?«, war folgerichtig seine nächste Frage.

Die Witwe lachte unfroh. »Weil Frauen in der Regel ihre Gatten umbringen? Wenn sie ihnen lästig geworden sind und im Weg rumleben? Sicher, auch ich gehöre zu den unzähligen Ehefrauen, die von Beziehung und Leben enttäuscht wurden. Eine von denen, die ein langweiliges und oft genug freudloses Dasein fristen. Kennst du das? Man nimmt sich vor, endlich einen Schlussstrich zu ziehen, schiebt es doch immer vor sich her. Begründungen gibt es viele. Die Kinder, die Hoffnung, es könne sich alles noch zum Guten wenden … Und irgendwann wachst du auf, stellst fest, dass du alt geworden bist, eine Scheidung sich im Grunde nicht mehr lohnt. Wie soll ein Neuanfang jetzt noch aussehen? Vom Herd ins Pflegeheim. Erfüllung findet man ab einem bestimmten Alter eben nicht mehr. Es gibt unzählige Frauen wie mich, die im Grunde um Glück, Freude und Leben von ihren Gatten betrogen wurden.«

Lundquist sah betroffen auf seine Schuhspitzen. Hoffte inständig, seine Frau Magda möge ihre Ehe nicht auch so sehen. Er fror. Wünschte, er könnte die nasse Kleidung ausziehen und einen heißen Tee trinken. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Lars mit den Händen über die Oberarme rieb. Er empfand es also ähnlich.

»Ihr hattet euch entfremdet?«

»Ja, so könnte man es vielleicht auch nennen. Arne war schwierig, hatte seine Prinzipien, sparte eisern, erzog die Kinder mit zu viel Strenge. Aber so weit voneinander entfernt, dass ich ihn töten würde? Eher nicht.«

»Und sein Verhältnis zu den Kindern?«

»Frag sie selbst. Da! Sie kommen gerade!«

Tatsächlich hörten Sven und Lars eilige Schritte auf der Treppe. Leise. Auf Strümpfen.

Wieder wurde die Tür ungestüm aufgerissen.

Diesmal erschien ein rundes, gerötetes Gesicht, umrahmt von wilden blonden Locken.

»Mor! Das ist doch wieder so ein geschmackloser Scherz von Olaf, oder?«

Das Mädchen, klein und stämmig, rannte auf die Mutter zu und warf sich ihr in die Arme.

»Jemand hat Far umgebracht? Bei uns im Garten? Das ist doch bloß eine von Olafs blöden Geschichten, nicht wahr?« Tränen kullerten über seine Wangen, es schniefte laut. »Alles Quatsch, nicht wahr?«, insistierte das Mädchen flehend.

Ulrika hielt ihre Tochter auf Armlänge von sich weg, sah ihr direkt in die Augen. »Nein«, sagte sie dann, »es stimmt!«

Mit einem erneuten Aufschluchzen warf sich die Tochter wieder an die Brust der Mutter, die von dieser heftigen Reaktion offensichtlich überrascht war und es erst im letzten Moment schaffte, die Arme so weit auszubreiten, dass sie das Mädchen auffangen konnten.

»Siehst du«, triumphierte der Bruder und fläzte sich in den Sessel zurück, »ich habe keinen Blödsinn gequatscht. Und die beiden hier sind von der Polizei und wollen den Mörder schnappen.«

Sven gefiel der Ton des Jungen nicht.

Er beschloss, das Gesagte nicht zu kommentieren. Vielleicht war diese distanzierte Art ja Olafs Strategie, mit der Situation umzugehen, ohne selbst Schaden zu nehmen.

»Hattest du ein gutes Verhältnis zu deinem Vater?«, erkundigte sich Lars mit gedämpfter Stimme.

Olafs Augen huschten hektisch zu Schwester und Mutter.

»Hat sie das behauptet?«, fragte er aggressiv zurück und zeigte mit dem Finger auf die Witwe.

Knyst schüttelte den Kopf. »Nein. Ulrika meinte, wir sollten dich selbst danach fragen. Also?«

»Nein, hatte ich nicht. Er war anstrengend. Gegen seine Regeln durfte man nicht verstoßen – blöd nur, dass die sich ständig änderten oder neue hinzukamen, natürlich ohne Vorwarnung und ohne, dass sie für ihn ebenfalls gültig gewesen wären. In den letzten Wochen hatte ich so viel Hausarrest, dass meine Freunde sich gar nicht mehr mit mir verabredet haben. Wir halten Kontakt über SMS und Whatsapp, da kann man spontaner reagieren und Zeiten nutzen, die zufällig gerade nicht gesperrt sind.«

Hass loderte in den Augen Olafs.

»Es ist wahr«, mischte sich die Schwester flüsternd ein, »er war kein netter Vater. Streng. Geizig, lieblos. Aber es tut mir leid, dass er nun nie wieder bei uns sein kann. Trotz allem!«

»Trote allem?«

»Ja! Olaf sagt die Wahrheit. Es war schwierig, mit ihm auszukommen. Es ist mir unbegreiflich, wie manche Leute ihm ihr Herz ausschütten und ihre Probleme anvertrauen konnten. Die haben sich wirklich eingebildet, ihre Schwierigkeiten könnten ihn interessieren, fühlten sich sogar verstanden, getröstet. Dabei hat er die immer gleichen Ratschläge gegeben – und die klangen wie aus einem dieser Abreißkalender. ›Halte durch und du wirst dein Ziel erreichen!‹, ›Rette, was sich zu retten lohnt, aber wäge gut ab‹. Sein Standardspruch bei Ehekrisen. Keiner scheint bemerkt zu haben, dass sein Repertoire stark begrenzt war.« Esther putzte sich die Nase. Sie hatte sich in Wut geredet. Merkte es und atmete tief durch. »Und doch war er Teil dieser Familie. Er wird nie mehr mit uns am Tisch sitzen und streiten, nie mehr ungerecht über uns und unsere Freunde urteilen, keine bösen Kommentare abgeben. Er wird uns allen fehlen.«

»Er wurde ermordet«, stellte Lundquist klar, weil ihm schien, die Familie habe diesen Aspekt gänzlich aus den Augen verloren. »Jemand muss ihn also so sehr gehasst haben, dass er ihn auf diese spektakuläre Weise sterben lassen wollte. Fällt euch jemand ein?«

»Hans Hansson!« Olaf zuckte gleichgültig mit den Schultern, als er dem strafenden Blick Ulrikas begegnete. »Was? Ist doch wahr!«, fauchte er.

»Man soll niemanden leichtfertig verdächtigen!«, mahnte die Mutter scharf.

»Wer ist dieser Hans Hansson?«, fragte Lundquist nach.

»Er ist eigentlich ein Freund meines Mannes. Allerdings haben sich die beiden in letzter Zeit heftig gestritten. Mehrfach. Sah nach einem ernsten Zerwürfnis aus.«

»Weißt du, worüber sie uneins waren?«

»Nein. Ich habe nicht gefragt.« Sie lächelte sanft. »Na, ich hielt es für ein Ding unter Männern. Sowas wie ›Mein Fisch war eindeutig größer als der, den du rausgezogen hast!‹. Nichts, was sich nicht wieder von selbst kittet.«

»Wir müssen uns in seinem Arbeitszimmer umsehen. Vielleicht nehmen wir auch einige Dinge mit, zum Beispiel den Computer.« Lars sah Ulrika an und sie nickte.

»Klar. Den Flur entlang hinten links.«

Lundquist machte Lars ein Zeichen, schon vorauszugehen.

Dann fragte er: »Dein Mann wurde nicht im Affekt umgebracht. Der Mörder ist sehr organisiert vorgegangen, hatte die Tat wohl sorgfältig geplant. Wer also hatte noch einen schwärenden Hass auf den Pfarrer von Hummelgaard?«

3

Susanne Persson wartete nun schon seit Stunden.

Wo blieb er denn nur? Nicht, dass er normalerweise pünktlich kam, aber so viel Verspätung war doch ungewöhnlich. Susannes Laune fiel unter null. Es gab eine ganze Menge zu besprechen, er hatte das genauso gesehen. Und nun kam er nicht! Feige Memme!

Wieder wählte sie sein Handy an.

Jetzt hatte er es offensichtlich auch noch ausgeschaltet! Die Mailbox meldete sich nach dem ersten Klingeln. Frechheit! Schließlich sah er ihr Foto und ihren Namen im Display.

Wütend stampfte sie in die Küche zurück.

Nahm die Laxbullar aus dem Backofen, wo sie sie warm gehalten hatte, und warf alles in den Müll. Laxbullar aß er am liebsten – und ihre, so behauptete er, seien die besten.

Sie ließ den Deckel zuknallen.

Dann eben nicht!

Wütend dachte sie an die vergeudete Zeit, die sie in die Zubereitung investiert hatte! Schließlich mussten erst Kartoffeln gekocht und gestampft werden, der Lachs, den sie mit Zwiebeln und Lorbeerblatt gedünstet hatte, brauchte ebenso lang. Eigentlich hatte sie den ganzen Nachmittag für ihn in der Küche gestanden! Die Zeit, die die Lachskartoffelmasse im Kühlschrank ziehen musste, nutzte sie, um ein paar Hemden zu bügeln, danach briet sie die Laxbullar in der Pfanne. Weil er nicht mochte, wenn sie nach Küche stank, wie er das unfreundlich bezeichnete, huschte sie dann schnell unter die Dusche, wusch auch die Haare und zog an, was er sich an ihr zu sehen wünschte.

Und nun? Alles für die Katz!

Auf dem Weg ins Schlafzimmer riss sie sich das zarte Nichts von den Schultern, das für dieses Wetter ohnehin nicht warm genug war, schob die Haken der verführerischen, aber unbequemen Korsage auf und zerrte, als sie das Bett erreichte, ungeduldig den Spitzentanga über die Schenkel zu den Knöcheln. Knallte die Wäsche als zusammengeknülltes Bündel auf den Boden.

Zog eine Schublade der Kommode auf und suchte weiche, warme, praktische Kleidung heraus.

Sie hatte es satt! So unglaublich satt!

4

»Arbeitszimmer? Du liebe Güte, sah eher aus wie ein Kinderzimmer nach einer Geburtstagsparty!« Knyst schaltete die Siteheizung im Auto ein. »Sonst trocknet die Hose gar nicht mehr!«, setzte er hinzu, als er dem amüsierten Blick des Freundes begegnete.

»Nun, zumindest war es zu chaotisch, um sofort Geheimnisse preiszugeben. Den Terminkalender muss er wohl bei sich gehabt haben, die vielen Papiere auf dem Tisch, die Zeitungsausschnitte – das war sicher Recherchematerial für die nächsten Predigten. Und der Computer ist natürlich passwortgeschützt. Logisch. Da muss die Technik ran. Viel haben wir bisher über Arne Mommsen nicht erfahren, fürchte ich.«

»Im Regal stand ein Foto der Familie. Aber das muss schon vor Jahren entstanden sein. Entweder er war kein Freund von solchen sentimentalen Dingen – oder es lag ihm nicht mehr so viel an Frau und Kindern.«

»Ach – das muss nicht sein. Viele Pubertierende lassen sich nicht mehr fürs Familienalbum ablichten. Ist wie die abgeschlossene Badezimmertür. Eindringen in die Intimsphäre ist unerwünscht. Ist dir auch aufgefallen, dass die Kinder nicht gefragt haben, wie ihr Vater ermordet wurde?«

»Sie werden wohl ihre Mutter danach fragen. Mit uns – so wenig Kommunikation wie möglich. Wie kann man in einem so zugemüllten Raum sinnvoll arbeiten? Ich wäre ständig abgelenkt.« Lars schaltete die Scheibenwischer einen Gang höher.

»Ich habe eine Bekannte, bei der sieht es auch so aus. Journalistin. Natürlich sammelt auch sie Material zu allen möglichen Themen. Das muss man dann lagern. Wegwerfen ist schwierig, denn du brauchst es vielleicht ausgerechnet morgen – und dann ist es nicht mehr da. Also wird gehortet. Mehr oder weniger systematisch. Manchmal zieht sie mit dem Laptop ins Wohnzimmer um, weil sie gar keine freie Fläche mehr auf dem Schreibtisch finden kann.«

»Ich brauche Ordnung. Bloß gut, dass Gitte nicht auch aus Recherchegründen alles Mögliche zusammenträgt. Kannst du dich noch an Lätta erinnern? So eine Wohnung hatte ich vorher noch nie gesehen.«

»Lätta war krank. Sie konnte sich ja von gar nichts trennen, nicht einmal von leeren Thunfischdosen. So schlimm war es bei Arne nun auch wieder nicht.«

»So viel Zeug – und doch konnte man nirgendwo die Person entdecken. Eigenartig, nicht?«

»Du meinst, er versuchte sein Selbst hinter all den Papieren und Büchern zu verstecken? Möglich. Der Laptop kennt sicher ein paar seiner Geheimnisse. Und vielleicht können wir bei dem Gespräch mit Hansson etwas über ihn in Erfahrung bringen«, meinte Lundquist hoffnungsvoll.

Hans Hansson wohnte am Rand des Dorfes.

Sein Häuschen balancierte in sonderbar gebückter Haltung auf einem Felsen, wirkte, als versuche es verzweifelt, nicht über den Rand zu stürzen.

Im Licht der Scheinwerfer erkannten Lundquist und Knyst einen Fahnenmast, an dem ein zerfetztes Hemd mit hellen und dunklen, breiten Blockstreifen wehte.

»Scherzbold, wie?«, murmelte Lundquist gereizt.

»Anstaltskleidung wie bei der Olsenbande. Trotz oder Triumph? Wir werden ihn fragen«, grinste Knyst.

»Ich denke auch, wir werden sicher erfahren, was es mit diesem flatternden Statement auf sich hat.« Sven stieg aus, suchte am Tor nach einem Namensschild und einer Klingel. Fand weder das eine noch das andere.

»Das funktioniert auch nur in solch kleinen Orten. Stell dir vor, wie verzweifelt der Postbote bei uns in Göteborg wäre, wenn keiner seinen Namen an der Klingel stehen hätte.« Lars lachte leise. »Am Ende nicht einmal mehr eine Klingel! Keiner bekäme mehr Päckchen oder Pakete. Wie trostlos Weihnachten wäre!«

Er drückte das Tor auf.

Und schon lösten die beiden unerwarteten Besucher ein beeindruckendes Spektakel aus!

Ein durchdringender Heulton erfüllte die Luft, Licht erhellte das Grundstück, als brenne die Mittagssonne darauf. Hundegebell, dunkel und drohend, war von den Stallungen her zu hören, zornig und angriffslustig.

»Hans Hansson hat offensichtlich ein besonders stark ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis«, stellte Sven beeindruckt fest. »Fragt sich, vor wem er sich so sehr fürchtet.« Als er aufsah, entdeckte er die imposante Gestalt des Hausbesitzers vor dem Eingang. Groß und üppig füllte er den Türbereich fast vollständig aus, die deutlich zu kurze Hose wurde von breiten Hosenträgern gehalten, die Totenköpfe zierten, das T-Shirt hatte seine Farbe längst eingebüßt und die nackten Füße steckten in pinkfarbenen Gummischuhen. Um den runden Kopf hatte er ein Tuch mit Piratenmuster geschlungen, die blonden Haare lugten dennoch an verschiedenen Stellen hervor. Offensichtlich hatte er die letzten Worte gehört.

»Hans Hansson fürchtet nichts und niemanden!«, stellte der Mann polternd klar und übertönte mit seinem Bass mühelos den Alarmton. »Schon gleich gar nicht die Polizei!«

»Stimmt, wir sind von der Polizei Göteborg. Dann bist du also Hans Hansson. Wir sind hier, weil heute der Pfarrer von Hummelgaard tot aufgefunden wurde.«

»Was? Arne Mommsen ist tot?« Die Daumen glitten unter den Hosenträgern heraus, die Arme baumelten an den Seiten herab, der Mund blieb offen stehen, die Augen weit und rund starrten den Überbringer dieser Neuigkeit ungläubig an.

So viel Fassungslosigkeit ist nicht leicht vorzutäuschen, dachte Lundquist im Stillen. Laut sagte er: »Ja, ermordet.«

»Was soll das? Ihr wollt mich verarschen, oder? Der war heute Nachtmittag noch hier. Da ging es ihm gut genug für einen Disput. Engstirnig wie immer.« Er stockte. Sah verwirrt in die fremden Gesichter. »Und nun ist er tot?«

Die beiden Ermittler zückten ihre Ausweise.

»Ja. Er ist tatsächlich tot. Jemand hat ihn umgebracht.«

»Warum? Also, er war kein einfacher Charakter, aber das sind viele nicht. Man kann die ja nicht alle aus dem Weg räumen. Die Welt wäre dann so gut wie entvölkert!«

»Wir versuchen herauszufinden, warum er sterben musste«, brüllte Sven über den Alarm.

Hansson studierte im gleißenden Licht die Dienstausweise, nickte dann. Lundquist fragte sich, ob der Hüne überhaupt etwas hatte erkennen können.

»Wartet mal.« Der Mann drehte sich um und verschwand im Haus.

Schaltete die Warnanlage ab.

Die Stille, die sich plötzlich ausbreitete, fühlte sich watteweich an, alle Geräusche wurden von den Ohren überdeutlich wahrgenommen. Ein Vogel landete krachend im Gebüsch, vermutlich ein Rückkehrer, den Lärm und Licht in die Flucht geschlagen hatten.

Fliegen dröhnten unter dem Licht über der Eingangstür, die Holzdielen schrien gequält auf, als die beiden Hans ins Haus folgten.

»Na los! Kommt mit in die Küche!«, forderte der Hausbesitzer und es klang wie Donnerhall. »Immer geradeaus. Setzt euch oder nicht, ist mir gleich. Aber ich muss in der Zwischenzeit was kochen.«

Auf der Anrichte lag ein Durcheinander verschiedener Fleischstücke. Gurgel war auch dabei, Leber, Lunge. Schweineund Rindfleisch, vielleicht auch Stücke von Schaf oder Ziege. In einer Emailleschüssel schwammen zwei Nieren in Wasser. Lundquist schauderte.

Hans band eine schmutzige Schürze um seine prominente Körpermitte und griff nach einem offensichtlich sehr scharfen Messer mit langer Klinge, das mühelos durch das Fleisch glitt. Geschickt hantierte er damit, routiniert, schweigsam.

Mit der Linken packte er einen Batzen, schnitt Würfel zurecht.

»Hundefutter. Meine Jungs sind an dem Zeug aus der Dose nicht interessiert. Diese Pampe aus Restfleisch, das du niemandem mehr andrehen kannst und das nicht mal mehr zur Leberwurst taugt. Bei mir kriegen sie was Richtiges zwischen die Zähne.« Er umschloss mit der Pranke eine Handvoll der Würfel, warf sie in einen Topf.

Es zischte laut.

»Auf Gewürze stehen sie, Salz weniger. Ist ungesund. Manchmal kriegen sie Leber hinein, manchmal frisches Gemüse. Die Natur hat den Hund nicht als Möhrchenknabberer konzipiert. Ich sorge für Abwechslung – und meine Jungs sind rundum gesund.«

»Wir haben gehört, es gab in der letzten Zeit Streit zwischen dir und Arne Mommsen.« Lundquist setzte sich auf einen dreibeinigen Hocker, hatte Probleme damit, seine Beine in der Enge der Küche so zu platzieren, dass er dem Futterkoch nicht in die Quere kam.

»Ich weiß schon, wer euch das erzählt hat. Ulrika. Der war die Freundschaft zwischen Arne und mir von jeher ein Dorn im Auge.«

Eine weitere Portion Fleisch landete im Topf.

Hanssons Bizepse können fast mit denen von Lars mithalten, registrierte Lundquist nicht ganz neidfrei. Ich muss mir mehr Zeit für Sport nehmen, nahm er sich vor, wie schon so oft.

»Ist doch ganz normal, dass erwachsene Menschen nicht immer der gleichen Meinung sind. Wir hatten öfter mal unterschiedliche Auffassungen zu bestimmten Themen.« Wieder wanderte ein Berg Fleisch in den Topf.

Knyst setzte sich vorsichtig auf die Ecke einer Bank. Testete, ob sie sein Gewicht würde halten können, machte es sich dann bequem.

»Welche Themen waren das speziell?«, wollte Lundquist wissen und fragte sich, wie viele Hunde Hansson wohl zu füttern hatte. Die Futtermenge müsste für ein ganzes Rudel ausreichen, dachte er beunruhigt. Sein Hund war ja in Ordnung – Hundephobie hin oder her –, aber Hanssons Tieren wollte er lieber nicht begegnen. Sicher eine Meute blutrünstiger Killer. Er unterdrückte ein Schaudern.

»Ehe, Familie, Glück, Zukunft. Manchmal auch was Lokales.«

»Ehe, Familie?«

»Ja. Er machte es sich leicht, riet seiner Gemeinde, nicht zu früh Kinder in die Welt zu setzen, sich nicht an den Falschen zu binden … und selbst?« Die nächste Portion wurde mit deutlich mehr Schwung zum Rest geworfen.

»Die Ehe von Ulrika und Arne war also nicht glücklich.«

»Glück ist auch so ein Ding, über das man trefflich diskutieren kann. Er jedenfalls war nicht zufrieden mit der Situation.«

»Ändern wollte er daran aber nichts, oder?«

Das grobe Gesicht Hanssons verfinsterte sich. »Manchmal ja – manchmal nein«, antwortete er brüsk.

»Trotz aller Diskussionen würdest du ihn dennoch als Freund bezeichnen?«

»Manchmal ja – manchmal nein.«

»Wenn ihr euch nicht einig wart – eher nein.«

»Im Streit ist es nicht immer einfach, den anderen als Freund zu sehen. Ich fand, er gängle seine Kinder zu sehr, müsse ihnen mehr Freiheiten geben. Er wollte die Kontrolle nicht verlieren, legte Regeln fest und pochte auf deren Einhaltung. War nicht immer leicht, mit ihm auszukommen. Besonders nicht für Olaf, Astrid und Esther.«

Hans rührte mit einem langen Holzlöffel das Fleisch durch, goss Wasser dazu. Lundquist wurde von dem Geruch plötzlich übel. Er bemühte sich, flacher zu atmen.

»Er selbst hat schon gelegentlich Versprechen nicht eingelöst. War durchaus der Auffassung, er dürfe das. Staunte dann über den Gegenwind. Aber sowas saß er aus. Dickfellig nennt man das, unsensibel. Da zuckte er nicht mit einer Wimper!« Die Kränkung war deutlich zu hören. Offensichtlich war also auch Hans vom Bruch eines Versprechens betroffen gewesen.

»Worum ging es?«

»Geht euch nichts an. Ist meine Privatangelegenheit.«

»Gut, dann soll es für heute genügen. Aber ich denke, wir werden wiederkommen.« Lundquist stand leicht schwankend auf, sehnte sich nach einem tiefen Atemzug vor der Tür. »Wann war er heute bei dir?«

»Kurz nach ein Uhr. Ich war gerade mit den Jungs vom Ausflug an den See zurück. Setete mir eine Erbsensuppe auf. Er ist nicht lang geblieben – etwa eine Viertelstunde. ›Weil die Liste so lang ist‹, hat er gesagt. Ich stand nicht drauf, zu mir kam er auf eine Pause rein.«

»Du hattest also keinen Gesprächsbedarf«, stellte Lars grinsend fest.

»Ne! Ich löse meine Probleme lieber allein! Arne konnte ich da nicht brauchen. Der stiftete nur Verwirrung. Hatte doch keine Ahnung von Kilopreisen für Ziegenfleisch oder von Vermarktungswegen für Ziegenkäse, ne, wirklich nicht.«

»Du züchtest Ziegen?«

»Jau. Und aus der Milch stelle ich Käse her – ›Hummelgaarder Meckerecke‹ heißt meine Hausmarke. Der Stall und die Käserei sind dort hinten, wollt ihr mal sehen?«

»Beim nächsten Mal. Im Moment bleibt dazu sicher keine Zeit«, beeilte sich Sven mit der Antwort und dachte an das Rudel hungriger Hütehunde, dem sie dann wohl begegnen würden.

Als die drei vor dem Haus standen, fragte Knyst: »Das Hemd?«

»Geht euch auch nichts an!«

»Erzähl es uns trotzdem.«

»Gut! Ich habe im Knast gesessen. Ist lange her und war ganz bestimmt nicht die angenehmste Zeit meines Lebens. Und: Ich war unschuldig! Steht alles haarklein in euren Akten!«

»Na dann. Bis demnächst.«

»Hatte der Pfarrer Feinde?«, fragte Sven im Gehen.

»Viele. Er war unbequem. Falsche Tipps hat er auch gegeben. Vielleicht hat er damit mal jemandem so richtig geschadet. Das müsst ihr schon selbst herausfinden. Glaubt mir, viele meinten, er sollte dringend abberufen werden!«

Noch bevor die Besucher das Tor erreicht hatten, war die Tür hinter Hans mit einem lauten Knall zugeschlagen worden.

»Der trauert auch nicht. Er war im ersten Moment sprachlos, vollkommen verblüfft, aber sonst nichts.«

»Pfarrer sind nette Menschen, man fragt sie um Rat, also brauchen sie ein gewisses Geschick im Umgang mit anderen. Gutmütig, freundlich, zugewandt, und werden von ihrer Gemeinde hoch geschätzt oder sogar geliebt. Aber dieser?« Lundquist zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. »Ein schlechter Vater, kein guter Ehemann, ein schwieriger Freund. Mal sehen, was man uns noch so über ihn erzählt.«

»Du bist ganz schön bleich. Ist dir schlecht?«

»Ja. Dieser Geruch … furchtbar. Ob Hunde das wirklich mögen?«

»Wenn sie nur das kennen, dann sicher.«

»Okay, ruf bitte das Team zusammen. Wenn die Besuchsliste schon ins Büro gefaxt wurde, nehmen wir sie uns vor und fragen bei allen nach, worum es bei dem Hausbesuch ging, wann er jeweils ankam, wann er weiterzog. Wenn wir den Nachmittag rekonstruiert haben, können wir auch sagen, bei wem er zuletzt war. Vielleicht war der Pfarrer verändert. Möglicherweise ist jemandem aufgefallen, dass er sich untypisch verhielt. Unruhig oder besorgt – oder er hat von einer weiteren Verabredung gesprochen, die ihn beunruhigt hat. Bernt soll Hans Hansson im Computer checken. Ich möchte wissen, weswegen er eingesessen hat und wie lange.«

Lars nickte, telefonierte.

Sah seinem Freund nach, der nachdenklich in Richtung Auto schlenderte.

Luftschnappen.

5

Jürg Svart checkte sein Handy.

Im Display fand er keine neue Meldung. Nur die, die heute Früh gekommen war und seither sein Denken beschäftigte.

Das Leben ist so ungerecht, dachte er noch, während er darauf wartete, dass die Promille seine Sorgen erstmal abschalten würden.