Über Gerhard Henschel

Foto: Jochen Quast

 

Gerhard Henschel, geboren 1962, lebt als freier Schriftsteller bei Hamburg. Sein Briefroman Die Liebenden (2002) begeisterte die Kritik ebenso wie die Abenteuer seines Erzählers Martin Schlosser: Kindheitsroman (2004), Jugendroman (2009), Liebesroman (2010), Abenteuerroman (2012) und Bildungsroman (2014). Der Künstlerroman ist der sechste Teil seiner Chronik, die er entlang des Lebens von Martin Schlosser erzählt. Henschel ist außerdem Autor zahlreicher Sachbücher. Er wurde 2012 mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis ausgezeichnet und 2013 mit dem Nicolas-Born-Preis.

Jugendroman

Die Sonne bollerte ins Zimmer, und als ich mich auf die andere Seite drehte, knarrte das Bettgestell. Ich rieb mir die Augen und gähnte ein Stück Tapete an, das ich nie zuvor gesehen hatte.

 

Ach du Schreck – jetzt war ich ja in Meppen! In unserem neuen Haus, das ich noch gar nicht kannte, weil ich den Umzug nicht miterlebt hatte und danach erst spätabends aus Jever abgeholt worden war.

 

Nichts wie raus aus der Kiste! Hastig frühstücken und sich dann alles ansehen, von oben bis unten.

Von meinem Zimmer konnte ich durchs Fenster auf den Balkon klettern. Volker wohnte links nebenan und verfügte über eine Balkontür, weil er drei Jahre älter war als ich und das bessere Zimmer gleich mit Beschlag belegt hatte. Seins war auch viel größer als meins.

»Untersteh dich, hier durchs Fenster zu steigen!« rief Mama, als sie mit dem Staubsauger nach oben kam. »Schluß damit!« Das war das Ende meiner Karriere als Fassadenkletterer und zugleich der Beginn meiner Laufbahn als ruhmloser Einwohner einer emsländischen Kleinstadt.

Den Auszug aus unserem Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz hatte Mama uns damit schmackhaft zu machen versucht, daß wir es von Meppen aus nicht mehr so weit zu Oma und Opa Jever hätten. Das stimmte: Früher hatten wir regelmäßig sechs Stunden lang im vollgefurzten Pkw gehockt oder in überfüllten Zügen, und von hier aus würde die Fahrt bloß noch knapp zwei Stunden dauern.

Das Haus hatten Mama und Papa vom Bund gemietet. Georg-Wesener-Straße 47.

Im oberen Flur gab es außer dem Elternschlafzimmer und Renates, Volkers, Wiebkes und meinem Zimmer ein Bad mit Wanne und Waschbecken und ein Klo mit Waschbecken und Dusche. Zum Dachboden führte eine steile Holztreppe hoch, die man mit einem Hakenstiel nach unten klappen und dann ausfahren mußte, wenn man da raufwollte. Dabei mußte man aber aufpassen, daß einem die Leiter beim Herunterklappen nicht in die Fresse donnerte. Da oben hatten Mama und Papa nach dem Umzug allen Kraßel abgestellt, mit dem sie auch schon in unserem alten Haus nicht gewußt hatten wohin.

Verboten war es, vom Balkon in den Garten zu hopsen oder auf die von Papa übertapezierten Klingeln in den Kinderzimmern zu drücken: Wenn man das tat, bimmelte es unten in der Küche. Damit hatten einstige Hausbewohner ihr Personal alarmiert.

Im Erdgeschoß standen einem da und dort noch unausgepackte Umzugskartons im Weg. Hinter der Küche war eine kleine Vorratskammer versteckt.

Das Klavier thronte im Eßzimmer. Aber was heißt Eßzimmer? Das war ein offenes Durchgangszimmer, rechts vom Flur neben der Küche, und hinter dem Eßzimmer fing das Wohnzimmer an und noch einmal rechts davon, hinter einer Schiebetür, Papas Arbeitszimmer, fast so wie in unserem alten Haus. Die Scheißumzieherei verdankten wir dem Umstand, daß Papa als Ingenieur bei der Erprobungsstelle der Bundeswehr in Meppen bessere berufliche Aufstiegsmöglichkeiten hatte als beim Koblenzer Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung.

Durch eine andere Tür gelangte man aus Papas Büro wieder auf den Flur. Rechts zweigte dann ein Weg zu einem weiteren Klosett ab und vorn ein sogenannter Windfang zur offiziellen Haustür, der zur Begrüßung von Gästen und zum Abstellen von deren Regenschirmen dienen sollte. Einfacher war es, die Seitentür zwischen Küche und Eßzimmer zu benutzen.

Im Keller hatte Papa die Regale des Vormieters abgerissen, neue angedübelt und sein vieles Werkzeug in drei Räumen ausgebreitet. Es gab auch einen großen Trockenraum da unten, in dem es faulig stank, so als ob da einer in den Gulli geschissen hätte.

Die Fenster im Erdgeschoß und im ersten Stock waren alle doppelt. Wenn man eins aufgemacht hatte, war dahinter noch eins.

An den hölzernen Spalieren über den Bögen der Mäuerchen an der Gartenterrasse rankten Kletterrosen empor. Im Garten wuchsen, nach Mamas Zählung, insgesamt sechzig Pflaumenbäume, Kirschbäume, Birnbäume, Apfelbäume und Birken. Die Grundstücksgrenze wurde von einer Hecke gebildet, und links nebenan wohnte ein ruhebedürftiges älteres Ehepaar namens Dr. Schmölders und Gemahlin.

Papa hatte sich einen fabrikneuen Bezinrasenmäher angeschafft und wuchtete dieses brüllende Monstrum über die Grasfläche.

 

Durch den Briefschlitz in der Haustür vorm Windfang steckte der Postbote mittags eine an mich adressierte Ansichtskarte, die mir mein alter Kumpel Michael Gerlach geschrieben hatte. Vornedrauf war ein Luftbild von Rethem an der Aller zu sehen.

Hallöchen, Martin! Jetzt bin ich in den Ferien doch noch mal weggekommen. Rat mal, wohin: in den hohen Norden. Genau wie Du. Ätsch. Das Dorf, in dem ich wohne, heißt Großhäuslingen. Das liegt bei Verden an der Aller, gleich rechts von Deinem Meppen. Und ’nen Hund haben die hier, wo ich wohne! Meine Güte! Das ist ein lebendiges Vieh! Gerade eben erst ist er im Wohnzimmer aufs Sofa gesprungen, um Schokolade zu kriegen. Mit dem Charly, einem Pony, das ebenfalls meiner Tante gehört, bei der ich wohne, spielt der Hund immer Nachlaufen. Auf dem Pferd bin ich schon geritten, aber mit wenig Erfolg. Ich bin gleich runtergeflogen. Na, denn tschüß, Du Blödmann.

Michael Gerlach war in Vallendar seit der Grundschule mein bester Freund gewesen. Ich wollte ihm gleich zurückschreiben und suchte in Papas Büro nach Papier.

»Du kannst einem den letzten Nerv rauben«, rief Mama. »Mußt du hier rumbirsen wie so ’n wildgewordener Handfeger?«

 

Um Mamas Nervenkostüm zu schonen, unternahm ich mit Renates Klapprad eine Erkundungstour in die Umgebung. Schräg neben unserem neuen Haus ragte das Maristengymnasium auf und ein paar hundert Meter weiter hinten an der Straße das legendäre Hindenburgstadion des SV Meppen, der in der Oberliga Nord in der letzten Saison den dritten Platz erklommen hatte.

Da durfte man einfach so reinspazieren. Das Stadion auf dem Mallendarer Berg war viel kleiner, aber das in Koblenz-Oberwerth konnte sich durchaus messen mit dem hier, das auch eine Tribüne hatte.

Hier würde ich mir also meine Sporen als Jugendspieler verdienen, erst auf Schlacke, dann auf Rasen, und wenn ich mich ranhielt, hatte ich gute Chancen, vielleicht schon zur Europameisterschaft 1980 in die Nationalelf berufen zu werden, in fünf Jahren, als Achtzehnjähriger. Abiturvorbereitungen hin oder her. Wenn Mama und Papa sich dann auf die Hinterbeine stellen sollten, wäre ich als Volljähriger trotzdem dazu berechtigt, die Einladung des DFB anzunehmen und im EM-Finale den entscheidenden Elfer zu schießen. Pelé hatte sogar schon als Sechzehnjähriger für Brasilien gespielt.

 

Hinter dem Stadion zweigten verschiedene schmale Waldwege ab, und sobald man querfeldein fuhr, stieß man an den Zaun der E-Stelle und auf Schilder mit dem Hinweis, daß das Fotografieren verboten sei, obwohl es hinter dem Zaun auch nichts Dolleres zu sehen gab als Nadelbäume, Birken, Sträucher und Sand.

Das Gute an dem Wald war, daß es da nicht so steil auf- und abging wie im Vallendarer Wambachtal. Die paar Steigungen konnte man spielend mit dem Rad bewältigen, ohne absteigen und schieben zu müssen, und überall verliefen Trampelpfade. Es würde noch ein Momentchen dauern, bis ich die alle erkundet hatte.

 

Von unserem Haus aus führte ein holperiger, von Baumwurzeln aufgerissener Radweg an der Herzog-Arenberg-Straße entlang in Richtung Innenstadt, aber da hielten einen zwei schwere Verkehrshindernisse auf. Das erste war ein beschrankter Bahnübergang. Ich kam gerade auf dem Klapprad angepeest, als die Schranken runtergingen, mit Alarm. Pingeling, pingeling! Nachdem der Schrankenwärter die Schranken runtergekurbelt hatte, vergingen ungefähr dreihundert Jahre, in denen man sich die Titelbilder der Heftchen ankucken konnte, die ein Kioskbesitzer da ausgehängt hatte. Dann zockelte in Zeitlupe ein vorsintflutliches Schienenfahrzeug vorüber, aber die Schranken blieben unten. Nach weiteren dreihundert Jahren rollte dann von links ein Güterzug mit schätzungsweise zehn Milliarden Anhängern heran.

Kattung, kattung, kattung, kattung …

Als der Güterzug endlich bis zum letzten Waggon vorübergerollt war, machten die Autofahrer vorne in der Warteschlange den Motor wieder an, aber die Schranken blieben geschlossen. Was sollte denn jetzt noch kommen?

Nach ich weiß nicht wievielen Jahrtausenden näherte sich von rechts ein Personenzug, der sich im Schneckentempo auf den Meppener Bahnhof zubewegte. Zur allgemeinen Verwunderung kurbelte der Schrankenwärter die Schranken schon drei Monate danach wieder hoch.

Pingeling, pingeling …

Der nächste Verkehrsstau bildete sich vor der Hubbrücke. Wenn die sich für größere Pötte im Schiffsverkehr öffnete, stand der Autodurchgangsverkehr solange still. Für Radfahrer und Fußgänger existierte ein seitlich gelegener Überweg. Da mußte ich das Klapprad hinaufschleppen und am anderen Ende wieder nach unten. Wenn ich den Stadtplan richtig verstanden hatte, floß unter dieser Brücke die Hase hindurch und mündete ein Stück weiter rechts in die Ems.

In der Innenstadt besah ich mir den Brunnen, das Kaufhaus Ceka und Meppens ganzen Stolz, das olle Rathaus. Das war auf neunzig von hundert Ansichtskarten abgebildet.

Links daneben lauerte das Kreisgymnasium Meppen auf mich, mit einer eigenen Kirche und einem geteerten Schulhof, auf den ich vom Hoftor aus einen Blick riskierte. Als Protestanten, hatte Papa gesagt, würden wir auch im Emsland in der Diaspora leben, so wie ehedem im Rheinland.

 

Am späten Nachmittag radelte ich noch einmal raus, in das Waldstück hinterm Stadion, und da hockte ein Kaninchenrudel und mümmelte Unkraut. Wenn man in die Hände klatschte, hoppelten ein paar von den Kaninchen weg, aber nicht weit. Um sie in die Gänge zu bringen, mußte man mit schrillem Geklingel auf sie zugefahren kommen, mitten hinein in die Meute. Dann spritzte die ganze Bande auseinander und verteilte sich im Unterholz. Rennen konnten sie ja gut, die Karnickel, aber so schreckhaft wie die hätte ich nicht sein wollen.

 

Meine Starschnitte von Seeler, Grabowski und Bonhof hatten den Umzug glimpflich überstanden, mit kleineren Macken zwar, aber im großen und ganzen doch so heile, daß ich sie in meinem neuen Zimmer wieder aufhängen konnte.

Mamas und Papas altes Radio, das schon in Vallendar die größte Zierde meines Zimmers gewesen war, stand auf dem einen Schiebetürenschrank.

»Dreimal umziehen ist wie einmal abgebrannt«, hatte Papas Tante Hanna mal gesagt, die 1945 die Flucht aus Ostpreußen überstanden hatte und jetzt als Rentnerin im Allgäu residierte. Wir waren schon viermal umgezogen, seit ich auf der Welt war: zwei Jahre nach meiner Geburt von Hannover nach Koblenz-Lützel, dann in das Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, 1970 in unser Eigenheim auf dem Mallendarer Berg in Vallendar bei Koblenz und jetzt nach Meppen. Am öftesten von uns allen war Papa umgezogen. Geboren worden war er in Schwarzenau und großgeworden in Schirwindt, einem ostpreußischen Kuhdorf an der litauischen Grenze, in das Papas Vater als Pfarrer versetzt worden war, und dann in Marienwerder. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft hatte Papa sich von Petrosawodsk, irgendwo in Rußland, bis nach Cottbus durchgeschlagen, zu Verwandten, und Ende 1945 zu seinen nach Jever geflüchteten Eltern und Geschwistern, und von Jever war’s nach dem Abitur nach Hannover gegangen, wo Papa sich als Maschinenbaustudent in Mama, die er schon aus Jever kannte, verliebt hatte, und dann hatten Mama und Papa noch x-mal ihre Mietwohnungen gewechselt …

Meppen war die Endstation. Hier würden wir bleiben, bis auf Renate, die nach ihrem bestandenen Abitur eine Hausfrauenschule besuchen wollte, in Birkelbach, um da Kochen, Backen und Bettenmachen zu lernen. In Maidentracht, mit allem Drum und Dran. Dazu hatte Renate sich von Oma Schlosser überreden lassen. In Birkelbach war Oma Schlosser ihrerseits nach dem Ersten Weltkrieg zur Hausfrau ausgebildet worden. Das Trachtenzubehör hatte Renate bereits beisammen, und als Oma Schlosser uns besuchte, nähte sie in jeden Fetzen ein Namensschildchen: Schlosser, Schlosser, Schlosser, Schlosser …

36 Stück.

 

In Meppen würden auch wir anderen das Abitur machen: Volker 1979, ich 1981 und Wiebke 1985, frühestens, wenn keiner von uns klebenblieb. Bei Wiebke wußte man nie, ob sie wirklich so doof war, wie sie aussah, in ihren kreischbunten Helancastrumpfhosen, oder ob sie sich nur aus Durchtriebenheit so dämlich anstellte, daß am Ende immer ich die Senge kriegte.

 

Renates Klapprad war das einzige Fahrrad, das keinen Platten hatte, und damit es nicht geklaut wurde, mußte es abends in den Keller getragen werden. Der Arschkeks, der das tun mußte, weil tagsüber außer mir kein anderer das Rad benutzt hatte, war meistens ich.

 

Wahrhaft eklig war die Stubenfliegenplage. Sowas hatten wir noch nicht erlebt in Rheinland-Pfalz. Da war ab und zu einmal ein Exemplar um die Stehlampe gekreist, oder es hatte sich eins in der Küche zwischen Gardine und Fensterscheibe verirrt. In Meppen surrten Myriaden der dicksten Brummer durchs Haus, gefolgt von leichteren Schwadronen mit grauem Bauch und fickrigem Flugverhalten. In der Küche burrselten sie über den Kochtöpfen, krabbelten über den dreckigen Mülleimerschwingdeckel, lutschten das Fett von den Kacheln ab und nuckelten am Obst, und wenn man beim Essen nicht wild genug mit den Händen wedelte, kamen die Fliegen angeschnurrt und setzten sich kackfrech auf jeden Gabelbissen. Auf einem Spiegeleidotter, das ich mir bis zum Schluß aufgehoben hatte, ließ sich einmal, als ich mir das ins Maul schieben wollte, eine Fliege nieder und tunkte vor meinen Augen den Saugrüssel ins Eigelb. Das hätte sich auch Mahatma Gandhi nicht bieten lassen.

Mit eingerollten Zeitungen brauchte man den Fliegen allerdings nicht zu kommen. Selbst wenn man sich bis auf kurze Distanz herangepirscht hatte, rieben die sich, was ich besonders widerlich fand, noch genüßlich die Vorderbeine, und dann gingen die Mistviecher plötzlich geduckt in Startposition, so als ob sie den Braten gerochen hätten, und sobald man zuschlug, waren sie abgezwitschert.

Volker fand heraus, mit welcher Waffe wir die Fliegen schlagen konnten: Einmachgummis. Wenn man die straff über den Daumen spannte und genau genug zielte, hatte keine Fliege, die da irgendwo an der Fensterscheibe saß und sich alles mögliche auf ihre natürliche Reaktionsgeschwindigkeit einbildete, die geringste Chance. Selbst aus vier bis fünf Metern Entfernung schlugen die Einmachgummis blutige Schneisen in das Dickicht der Fliegenpopulation.

Wir gingen im ganzen Haus auf die Jagd und zerdötschten Hunderte von den Biestern. Einem bumsenden Fliegenpärchen, das im Freistil durch Papas Arbeitszimmer propellerte, gab Volker im Liegen mit einem Kunstschuß den Rest, wobei auch die Zimmerdecke einen Spritzer abkriegte, und wir hatten eine Weile damit zu tun, die Spuren zu beseitigen.

Unser Verschleiß an Einmachgummis war groß, weil die meisten davon nach einem Volltreffer mit Innereien beschmiert waren und mit spitzen Fingern zur Mülltonne getragen werden mußten.

Mama fiel irgendwann auf, daß ihr Einmachgummivorrat zur Neige ging, und als sie dahinterkam, woran das lag, untersagte sie Volker und mir die Fliegenjagd, aber wir machten trotzdem weiter, heimlich, bis Oma Schlosser uns dabei ertappte: »Hat die Mutter euch denn nicht verboten, hier mit diesen Gummis rumzuflitschen?«

 

Oma Schlosser trug sich mit dem Gedanken, in eine Wohnung in Meppen zu ziehen, wegen der guten Luft und der Nähe zu Papa, Omas Kronensohn. Es gefalle ihr gut in dieser betriebsfernen Einsamkeit, sagte Oma.

Wenn nachmittags die Spülmaschine lief und es sonst nichts zu tun gab, setzte Oma sich an den Eßtisch und legte Patiencen. Das waren Kartenspiele, die man solo hinter sich bringen mußte, mit dem Kartenhaufen als einzigem Gegner. Zur Geduldsübung. Aber wozu sollte man sich in Geduld üben, wenn man ungeduldig war und Abenteuer erleben wollte, draußen, Ende Juli, in den letzten, brüllend heißen Tagen der Sommerferien?

Oma Schlosser wollte gern mal wieder nach Afrika, nach Deutsch-Südwest, zu einer Jugendfreundin, Wilma von Hammerstein, die dahin ausgewandert war und eine Farm besaß, aber als nächstes mußte Oma zu einem Internisten nach Mettmann.

Sie lud mich dazu ein, mit ihr etwas Vierhändiges am Klavier einzuüben, von Diabelli, aber das ging über meine Kräfte. Da strampelte ich lieber auf dem Klapprad durch die Jagdgründe der Karnickel oder quer durch die Stadt und über die Emsbrücke nach Esterfeld und in andere, noch unbekannte Stadtteile.

 

Weil der Waschmaschinenschlauch geborsten war und das bestellte Ersatzteil fehlte, mußte Mama unsere sämtliche Kledage von Hand waschen, und weil die Wäscheklammern nicht ausreichten, wurde ich losgeschickt, neue kaufen.

Wiebke wollte mitkommen. Das hatte mir gerade noch gefehlt, diese dumme Nuß bei bengalischer Hitze auf dem Klapprad mitnehmen zu müssen, aber wenn ich stur geblieben wäre, hätte Wiebke losgeheult, und dann wäre Mama mir aufs Dach gestiegen.

Mit Wiebke hintendrauf gondelte ich zu einem Supermarkt in der Haselünner Straße. Wenn man da Wäscheklammern kaufen konnte, dann hatten sie die gut versteckt. Ich hühnerte zehnmal durch den ganzen Laden, ohne welche zu finden, und als ich zum elften Mal an der Eistruhe ankam, holte ich da zwei Eis zu fünfzig Pfennig raus, bezahlte sie an der Kasse mit meinem eigenen Taschengeld und spendierte Wiebke das eine davon. Da konnte sie mal sehen, was für einen generösen großen Bruder sie hatte.

Wir wollten gerade den Laden verlassen, als ein ohrenbetäubender Knall erschallte. Ob da jemand geschossen hatte?

Irrtum. In der prallen Sommerhitze war der Schlauch im Hinterreifen von Renates Klapprad geplatzt. Und ich durfte das platte Rad nachhause schieben.

 

Schläuche würden nicht so einfach platzen, sagte Papa. »Wahrscheinlich bist du wieder wie so ’n Irrer über die Bordsteinkante gejagt.«

Obwohl Wiebke bezeugen konnte, daß das nicht stimmte, riß Papa mir das Rad aus der Hand und marschierte wütend damit in den Keller, und Mama war eingeschnappt, weil ich ihr keine Wäscheklammern mitgebracht hatte.

 

Zwischen Hecke und Bürgersteig zog sich ein zwei Meter breiter Streifen mit Unkraut hin, der vom Ende des Grundstücks in der Herzogstraße bis zur Ecke Georg-Wesener-Straße reichte. Die Vormieter hatten da alles lustig wachsen lassen, aber Mama und Papa störten sich an dem Unkraut, und weil ich mich jetzt auch einmal nützlich machen sollte, wurde ich mit Schubkarre, Schövel und Grabegabel in diese Wildnis entsandt.

»Und sieh zu, daß du das Zeug mit der Wurzel zu fassen kriegst, sonst ist die ganze Arbeit für die Katz!«

Es ging auf keine Kuhhaut, was da alles wuchs. Namentlich kannte ich nur Brennesseln, Disteln, Klee und Löwenzahn, aber ich hätte wetten können, daß da auch Quecke, Melde, Malve, Giersch und Franzosenkraut sprossen. Und Vogelmiere und Knöterich. Um in dem harten, staubtrockenen Boden zu gedeihen, mußten diese Apparate endlos lange, bis ins Grundwasser ausfasernde Wurzelgeflechte besitzen. Aber daß ich hier das Erdreich zwei Meter tief umgrub, konnten Mama und Papa auch nicht von mir verlangen.

Ich hackte, schürfte, stocherte und wühlte eine halbe Stunde lang, bis mir das T-Shirt am Rumpf klebte, und trotzdem hatte ich nur einen kleinen Anfang geschafft. In der Schubkarre lag fast mehr Erde als Unkraut, und ich bedeckte die Erde mit einem Haufen abgerissener Strünke. Um die Wurzeln konnte ich mich auch später noch kümmern. Die liefen mir schon nicht weg.

Als ich mit der ersten Schubkarrenladung zu dem Komposthaufen eierte, den Papa hinter der Garage angelegt hatte, fing Mama mich auf dem Terrassenweg ab und kuckte in die Karre. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Zeug mit der Wurzel rausholen!«

»Manche von den Dingern sind eben so groß, daß man die nicht in einem Stück abliefern kann«, sagte ich, aber damit konnte ich Mama nicht überzeugen.

Ich lud die Schiete ab und trottete zurück aufs Schlachtfeld. Von den Unkrautwurzeln reichten viele so tief hinab, daß man halb Meppen hätte abreißen müssen, um die alle vollständig auszujäten. Wieso hatte ich bloß Eltern, die sich auch noch für das Unkraut außerhalb ihrer Gartenhecke verantwortlich fühlten? Da hätten sie mich auch gleich zum Jäten nach Nebraska entsenden können.

 

Die Fingernägel machte ich mir notdürftig mit Wurzelbürste, Wasser, Seife und danach noch mit der Nagelscherenspitze sauber, und dann lief ich zum Hindenburgstadion, wo der SV Meppen den VfL Osnabrück empfing. Es war das erste reguläre Fußballspiel zwischen Erwachsenen, das ich live zu sehen bekommen sollte. Dafür berappte ich zwei Mark Eintritt.

Einem Handzettel entnahm ich das Spieleraufgebot des SV Meppen: Kugler, Bernert, Mindermann, Stricker, Tappel, Hüring, Heuing, Eilers, Höfer, Runde, Persicke und Görts.

Soweit ich wußte, handelte es sich bei diesen Spielern nach den Statuten des DFB um Amateure, die für ihre Einsätze kein Geld kriegten, bevor sie es schafften, mit ihrem Verein in die Zweite Liga Nord aufzusteigen. Davon konnten die Spieler des SV Meppen allerdings nur träumen. Sie holzten und foulten, leisteten sich Fehlpässe, stolperten über die eigenen Füße und verloren verdientermaßen mit 1:5. Da war ja sogar Hannover 96 noch besser!

Ich hatte mir einen Platz an der Mittellinie ausgesucht, gegenüber der Tribüne, und einmal mitbekommen, wie zwei keuchende Spieler sich wenige Meter vor meinen Augen ums runde Leder balgten. Wie zwei blindwütige Ochsen, die aufeinander losgingen und dabei ausschlugen, stöhnten und rotzten. Im Fernsehen sahen Fußballspiele nicht so brutal aus.

 

Am Donnerstag kam ein Brief von Michael Gerlach.

Lieber, süßer Martin!

Das war die Rache dafür, daß ich ihn in meinem letzten Brief als »Vielgeliebter Michael« angeredet hatte.

Seit ich aus Großhäuslingen wieder raus bin, habe ich nur Ärger. Von meinem Opa habe ich ein Flitschflugzeug, also ein Flugzeug, das man mit ’nem Gummi abschießt, geschenkt bekommen. Und eins mit Gummimotor habe ich mir selbst gekauft. Alles schön und gut. Bloß waren die Dinger nicht sehr haltbar. Bei dem zum Flitschen gingen die Flügel gleich in Fetzen, denn die Landungen auf dem Sportplatz waren nicht von Pappe. Aber das ließ sich ja wieder kleben, nur waren die Landungen dann noch weniger von Pappe. Und schon – knacks – war das Scheißding in zwei Hälften gekracht. Wenn Du mal zu Besuch kommst, kannst Du die Splitter betrachten. (Holger hat die Überreste nämlich zertreten.)

Na, und das Flugzeug mit dem Gummimotor (Flügel aus 2 mm dickem Styropor, der Rest aus Plastik, Kostenpunkt 6,95 DM) verhielt sich auch nicht besser. Erstens flog es gar nicht (die Gummis rissen dauernd), und zweitens konnte man das Gummi bald gar nicht mehr aufdrehen. Na ja, zum Segeln eignete sich das Ding noch ganz gut, auch wenn bei den Landungen die Flügel zerbrachen.

Da ich noch etwas Geld übrig hatte und Holger von den Leistungen des Flitschflugzeugs ungemein beeindruckt war, kauften wir uns beide noch mal welche. Holgers kostete 8,00 DM. Man konnte es immerhin als Flugzeug identifizieren. Bei meinem für 4,60 DM war das gar nicht so einfach. Da stand irgendwas von »Apollo« drauf und: »100 feet or higher! WOW!« Man konnte einen Fallschirmspringer, eine Andeutung von Rakete und irgendwelches düsenjägerähnliches Silberzeug erkennen. Also drei Teile, die sich als völlig fluguntüchtig erwiesen, egal was man damit anstellte. Holgers Flugzeug aber flog super! Arrg! Ich ärgere mich noch kaputt!

Wie lange hast Du eigentlich noch Ferien? Ich nur noch zwei Tage. Buuhää! Das waren überhaupt die idiotischsten Ferien, die ich je mitgemacht habe, abgesehen von der Woche in Großhäuslingen. Scheißdreck, verdammter.

So, ich mach jetzt Schluß.

Der Trottel Michael!

Diesen Brief beantwortete ich sofort, obwohl es außer der Sache mit dem Fahrradschlauch nicht viel zu berichten gab. »Lieber Schnuckiputzi …« Dann schrieb ich noch an Bayern München, daß ich gern Autogramme von den Spielern hätte, und ich legte ein Mannschaftsposter aus dem Kicker und als Rückporto achtzig Pfennig in Briefmarken bei. Säbener Str. 51, 8 München 90. Die Adresse stand im Kicker-Almanach. Das Poster war von 1974, aufgenommen nach Bayerns Sieg im Europapokal der Landesmeister. Sowas durfte man sich ja wohl auch als Fan von Gladbach an die Wand pinnen, erst recht mit echten Autogrammzügen.

 

Der nächste Briefkasten hing in der Jahnstraße beim Stadion. Da lungerten zwei Halbstarke rum. Als ich die Briefe eingeworfen hatte, kam der eine von den beiden Typen angeschlendert und schubste mich ins Gebüsch.

Hatte der noch alle Tassen im Schrank?

Ich rappelte mich hoch und ging weiter, und schwubbs, schon lag ich wieder im Gebüsch, ohne daß ich dem Deppen irgendwas getan hätte. Nicht mal schief angekuckt hatte ich den. Weil ich keine Lust hatte, mich noch einmal schubsen oder gar verdreschen zu lassen, womöglich von den beiden Arschgeigen gemeinsam, sprang ich auf die Beine und rannte weg, und der eine von den Typen rief mir hinterher: »Ja, lauf nur, Kleiner! Lauf um dein Leben!«

Um mich zu verfolgen, waren sie zu faul, aber ich rannte noch ein ganzes Stück weiter, ehe ich eine Verschnaufpause einlegte.

Mein lieber Jäger, guter Jäger, lauf, lauf, lauf …

Mit Krawallbrüdern wie denen hatte ich schon in Vallendar Ärger gehabt. Daß die auch in Meppen ihr Unwesen trieben, hätte ich mir eigentlich denken können. Was hatten die bloß davon, einem auf den Sack zu gehen? Wegelagerer waren das, Tagediebe, die Löcher in die Luft glotzten und sich toll vorkamen, wenn sie jemanden, der jünger und kleiner und in der Minderheit war, in die Dornen schubsen durften.

An den Unterarmen hatte ich Kratzer. In den Briefkasten in der Jahnstraße würde ich so bald nichts mehr einwerfen.

 

Als Mama abends draußen die Wäsche abhängte, war die Gelegenheit günstig, unbemerkt in Vallendar bei Michael Gerlach anzurufen. Ich wollte ihm mein Abenteuer mit den beiden Knalltüten erzählen, und als ich damit fertig war, erzählte Michael mir von den Schweißausbrüchen, die ihn heimsuchten, weil morgen in Koblenz die Schule wieder beginne. Die Sommerferien seien irre schnell verflogen. Wir redeten noch darüber, ob es möglich sei, die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde in Ferienzeiten zu verlangsamen, mit Bremsraketen, und dann blökte Michaels Bruder Harald dazwischen, der mit Volker sprechen wollte.

 

In Niedersachsen dauerten die Ferien zwar noch eine Woche länger, aber was hatte man davon, wenn nichts los war?

Renate kam aus Jever zurück, mit ihrem geliebten Olaf, den sie nur noch selten zu sehen kriegte, seit er beim Barras diente. Olaf war Juso und wollte nach der Bundeswehrzeit Politologie studieren, wovon Papa nicht begeistert war.

 

Oma Schlosser hatte Schwindelanfälle. Einmal wäre sie fast hingefallen, als sie vom Eßtisch aufstand, und dann legte sie sich auf dem Wohnzimmersofa in die Waagerechte, und wir durften keinen Pieps mehr von uns geben und nur auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen.

 

Am Samstag kam Michaels nächster Brief.

Lieber und süßer Martin!

Das hatte er sich nicht verkneifen können.

Ich sitze mal wieder hier und schreibe Dir, anstatt Hausaufgaben zu machen, einen Brief. (Vielleicht hast Du’s schon bemerkt.) Und ich habe eine Frage: Seid Ihr verrückt geworden? Das Telefongespräch neulich muß doch ein Vermögen gekostet haben! Ihr habt doch mindestens fünf volle Minuten gequasselt, Du und der Volker! Also ich kann Dich nicht anrufen, das lassen meine finanziellen Verhältnisse nicht zu.

Holger und ich waren übrigens beim Friseur. Ach, was sage ich – wir waren in Frankensteins Werkstatt! Der Kerl hat aus uns nämlich echte Monster gemacht! Der Holger sieht aus, also ob er einen braunen Sturzhelm aufhat. Na, und bei mir steht’s auch nicht besser.

Und bei Dir? Freust Du Dich genauso auf die Schule, wie ich mich darauf, daß Du bald wieder hingehen mußt? Nur noch fünf Tage, fünf kurze, schnell verrinnende, qualvolle Tage. Und wenn der Brief hier bei Dir ankommt, sind es nur noch vier und sogar nur noch drei Tage. Hihi! Hehe! Das wird ein Genuß, wenn ich mir am 7. vorstelle, daß Du jetzt wieder zur Schule mußt. Hehehe!

Na, tschüß denn, und komm mal vorbei.

Die Bemerkungen über den Schulbeginn mochten gemein sein, aber die Briefe von Michael Gerlach gefielen mir trotzdem besser als die Post, die Papa jeden Tag geschickt kriegte, vom Finanzamt, von Versicherungen oder vom Beamtenheimstättenwerk, mit der Anrede: »Sehr geehrter Bausparer!«

Komisch, daß Papa noch Bausparer war, wo er das Haus in Vallendar doch schon vor sechs Jahren gebaut hatte.

 

In der ersten Hauptrunde im DFB-Pokal schmiß Borussia Mönchengladbach Werder Bremen mit 3:0 aus dem Rennen. Aber ob Udo Lattek als Trainer wirklich soviel taugte wie Hennes Weisweiler, das würde sich zeigen müssen.

 

Am Sonntag liefen nach dem Frühstück alle außer Oma noch in Schlafanzug und Bademantel durch die Bude, als es klingelte.

Ick sitze hier und esse Klops,

Uff eenmal kloppt’s …

Papa linste aus dem Küchenfenster. »Ach du Kacke«, sagte er, »das ist der Ettinger mit seiner Alten!« Und dann hastete er die Treppe hoch, sich anziehen.

Der Ettinger war ein Arbeitskollege von Papa, und der klingelte schon zum zweitenmal, als Mama, die sich schnell ein Kleid übergestülpt hatte, mit nassen Haaren von oben angebösselt kam, um in rasender Eile das Wohnzimmer aufzuräumen.

Die Ettingers machten bereits Anstalten, wieder zu gehen, obwohl sie das Gepolter im Haus gehört haben mußten, und Mama riß erst im letzten Moment die Tür auf und entschuldigte sich für die Unordnung. Daß es in Meppen üblich war, Bekannten sonntags um elf Uhr vormittags Hausbesuche abzustatten, auch unangemeldet, hatte ja keiner ahnen können.

Mama kochte Kaffee und deckte den Wohnzimmertisch, und nach geraumer Weile stiefelte dann auch Papa die Treppe runter, im Anzug und nach Frisiercreme riechend.

 

Nach dem Essen lagen Oma die Rindsrouladen so schwer im Magen, daß sie Abstand davon nahm, uns bei dem geplanten Ausflug ins holländische Moor zu begleiten. Renate und Olaf blieben lieber unter sich, bevor Olaf wieder zu den Fahnen eilen mußte.

Mama packte Stullen und Gesöffe ein, und Papa sagte, wir sollten am besten Messer mitnehmen, um uns damit durch die Stechfliegenschwärme zu schneiden.

In Koblenz hatten wir fast nie irgendwelche Sonntagsausflüge unternommen, weil dafür neben dem Hausbau keine Zeit geblieben war. In Meppen sollte das nun anders werden.

Im heißen Peugeot hatte Mama den Shell-Atlas auf dem Schoß und stritt sich mit Papa über die Route.

»Wo zum Teufel sind wir denn hier jetzt?« fragte Papa.

»Zwischen Hamburg und HaÏti«, sagte Volker.

Irgendwo in den Niederlanden stiegen wir aus und sahen uns die flache Landschaft an.

Mit den Fliegen hatte Papa recht gehabt. Auf der Rückfahrt surrten sie zu Dutzenden im Auto herum, obwohl wir alle Fenster runtergekurbelt hatten, um die Viecher durch die Zugluft zu verscheuchen. Und trotz Fahrtwind lastete subtropische Hitze auf uns, so daß einem die Oberschenkel aneinanderpappten, wenn man nicht so breitbeinig dasaß wie Volker.

Abends schloß Papa im Eßzimmer und in der Küche die Lampen an. Das sei ja nun auch längstens fällig gewesen, sagte Mama.

Noch drei Tage Ferien.

 

Wiebkes künftige Lehrerin hatte ein Papier mit den Namen und Adressen von Wiebkes neuen Mitschülern bei uns abgeliefert. Mit diesem Wisch bewaffnet, watschelten Mama und Wiebke zu einem Mädchen, das in einer Parallelstraße wohnte, die Kellners Tannen hieß, und schon hatte Wiebke auch hier wieder eine Freundin. Carola Kowalski.

 

Renate knüpfte einen Lampenschirm aus gelber Baumwolle mit Holzperlen für Olafs Eltern und schrieb dann einen Brief an Oma Jever zu deren 69. Geburtstag. Im August häuften sich in unserer Sippe die Geburtstage. Das lag daran, daß einst die Winternächte lang gewesen waren und es noch kein Fernsehen gegeben hatte. So hatte Mama mir das mal erklärt.

 

Enid Blytons Krimis in der Gemeindebücherei bei der Gustav-Adolf-Kirche kannte ich schon alle, und ich lieh mir ein Buch über drei Freunde aus, die bei einem Fahrradausflug eine Bande von Dieben überführten und der Polizei auslieferten. Per pedales durch die Lande streifen, irgendwo zelten, mit guten Freunden, und nebenbei einer Verbrecherbande das Handwerk legen: So hätte auch ich gern meine Sommerferien verlebt!

 

Am Mittwoch kriegte ich mehr Post als Papa: eine Karte von Tante Dagmar und gleich zwei Briefe aus Vallendar.

Liebes und süßes Martinlein!

Das war typisch Michael. Der konnte es nicht lassen. Meine Rache würde fürchterbar sein.

Aus Langeweile, und weil ich so viel Hausaufgaben aufhabe, will ich Dir einen Brief schreiben. (Eigentlich ja zwei, aber Holger hat mir den einen gerade zerfetzt, oder besser gesagt: Holger und ich zusammen.)

Bei uns ist’s stickig heiß. Ins Schwimmbad kann man nicht gehen, das ist viel zu voll. Genausogut könnte man mit zehn Mann in eine Telefonzelle steigen. Also hab ich in den letzten Tagen nichts anderes getan als gelesen und gefernseht. Lesen wäre ja ’ne gute Beschäftigung, aber jetzt lese ich alle Bücher schon zum dritten Mal. (Auch die Fernsehsendungen habe ich schon mindestens einmal gesehen.) Da ist die Schule ja direkt ’ne kleine Abwechslung. Zwar keine der schönsten, aber was soll man machen?

Mit Ottokar Trebitsch ist auch nichts los. Der wird bloß von Tag zu Tag fetter und unförmiger.

Den Trebitsch, der auf dem Mallendarer Berg wohnte, hatte ich mal im Verdacht gehabt, daß er kriminell sei, weil er einen Kontoauszug zerfetzt und weggeworfen hatte. Meine Hoffnung, diesen Fall als neuer Kalle Blomquist aufzuklären, hatte sich jedoch zerschlagen.

Der blöde Kerl könnte wenigstens mal einen saftigen Bankraub veranstalten oder ein flottes Kidnapping. Aber nein, das fette Schwein läuft bloß dauernd in der Kaiser-Friedrich-Höhe herum und entwickelt sich mehr und mehr zu einem ganz normalen Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

Sag mal, wie sind wir eigentlich darauf gekommen, daß der irgendwas ausgefressen hat?

Tja. Vielleicht hatten wir uns getäuscht. Das war von Meppen aus schwer zu beurteilen. In dem Umschlag steckte auch ein Brief von Michaels Bruder Holger:

Hallo Martin, hallo Ilja, hallo Freunde!

Wie Du sicher schon weißt, hat für uns am 1. August die Schule wieder angefangen. (Buhuuu!) Seitdem hab ich immer so ein komisches Gefühl im Magen. Es läßt sich leicht mit einem Wort definieren: Mordlust. Wenn Du irgendeine Zeitung aufschlägst, wirst Du lesen: »Mord in Koblenzer Schule! Kind war der Täter!«

Wie Du Dir vielleicht schon gedacht hast, sitze ich jetzt, nämlich auf der Karthause. In einer Woche ist die Gerichtsverhandlung. Mal sehen, was da rauskommt.

Aber jetzt mal zu was anderem: Vorgestern fuhr ich mit dem 1-Uhr-Bus nachhause. Michael war auch dabei. Wir hatten nach der vierten Stunde hitzefrei und mußten bei mindestens 35° im Schatten eine Stunde braten, bis, natürlich mit Verspätung, der Bus kam. Wir setzten uns vorne hin und hofften, daß der Busfahrer die Tür aufläßt. Leider tat er das nicht. (Dieser Schweinehund.) Kein Lüftchen regte sich, als wir am Zentralplatz ankamen. Der Bus war stinkevoll. (Schwitz-puuh.) Die Leute, die in Ehrenbreitstein standen, ließ der Busfahrer schon gar nicht mehr rein. Und fast alle, die im Bus saßen, wollten zum Schwimmbad. Hätten die nicht so viel Zeug mitgenommen, wäre der Bus bestimmt nicht so voll gewesen: 10 Liegen, 15 Kühltaschen, 7 Koffer, 138 Brötchen, 1 Lastauto, 14 Decken, 20 Flaschen Limo usw. Ein Weib mit Limoflaschen stellte sich genau neben den halbverdursteten Michael und mich. Die hat richtig arrogant mit den Flaschen rumgefuchtelt, die doofe Gans!

Noch schlimmer wurde es in Urbar. Da wabbelte so ’ne alte Tante mit zwei Liegen und zwei Kindern am Arm in den Bus und wollte zum Schwimmbad. Der Fahrer verlangte 2.40 DM. Die Alte hatte aber nur 2.– DM in der Hand und kramte fast zehn Minuten lang in ihrer Tasche, bis sie ihren Geldbeutel fand. Dann fiel ihr 1.– DM hinunter. Der Busfahrer lief inzwischen rot an. Als sie ihr elendes 1-Mark-Stück nach einer halben Stunde aufgelesen hatte, fingen die kleinen Kinderlein an zu plärren. Die Mutter versuchte sie zu trösten. Als dies nichts half, putzte sie den Kleinen die Nase, wechselte ihnen die Unterwäsche, ließ alle beide aufs Töpfchen gehen, gab ihnen die Flasche und sang ihnen ein Schlaflied. Das wirkte! Sie waren still. Den Busfahrer hat man bis heute nicht gefunden, obwohl man den Grund des Rheins nach ihm abgesucht hat.

Wie geht es im Fußballclub? Viel Spaß in der Schule. Komm bald mal vorbei und mach mal wieder eine richtige Tour mit uns. Denn seit Du nicht mehr da bist, hat Michael zu nichts mehr Lust.

Tschüß, Dein Holger.

P.S. Meine neue Adresse: Stadtgefängnis Karthause, 5400 Koblenz, Haderlumpenstr. 278.

Da sah man doch, wie gut ich es in Meppen hatte. Hier durfte ich mit dem Rad zur Schule fahren und war nicht auf einen vollgepupten Omnibus angewiesen.

Tante Dagmar schrieb mir, daß das Wetter in Hannover leider Gottes immer noch nicht hochsommerlich sei und daß sie Anfang September nach Italien reisen werde.

 

Mama hatte einen Duschvorhang gekauft. Den hängte sie an Schlaufen an dem Gestänge über der Duschwanne auf. Als ich die Dusche abends ausprobierte, sauste mir der kalte Vorhang ans Hinterteil. Ob das am Luftdruck lag oder woran auch immer – sobald das heiße Wasser aus der Brause strömte, wehte der Duschvorhang nach innen, und er hörte damit erst auf, wenn man ihn von innen heiß abgeduscht hatte. Dann klebte er unten am Duschwannenrand fest und blähte sich bloß noch ein bißchen.

Papa beanstandete, daß ich zu lange geduscht hätte. Duschen gehe so, daß man sich einmal kurz naßmache, sich dann ohne weitere Wasserzufuhr einseife und sich zuletzt rasch abdusche, am besten kalt. Alles andere sei Wasserverschwendung.

So ging der letzte Sommerferientag zuende. Der einzige Trost bestand darin, daß am Samstag die neue Bundesligasaison anfing.

 

»Deine Haare haben heute noch mit keinem Kamm Bekanntschaft geschlossen«, meckerte Mama beim Frühstück, das in großer Hektik stattfand, weil Wiebke ihre Brille nicht fand und Papa einen seiner Manschettenknöpfe vermißte.

Wiebke kam auf die Paul-Gerhardt-Schule und Volker auf die Realschule Freiherr vom Stein, in die zehnte Klasse, als zurückgestellter Sitzenbleiber, und wir mußten alle auf Schusters Rappen hinter Mama herhecheln, die auf Renates Klapprad vorausfuhr.

Als Wiebke und Volker in ihren neuen Schulen untergebracht worden waren, mußte ich Mama bis zum Kreisgymnasium nachwetzen.

Im Sekretariat erkundigte sich Mama nach der Klasse, in die ich gehörte. Das war die 8b.

Das Klassenzimmer war im Erdgeschoß, und alle anderen Schüler waren schon da.

Mama stürmte hinein und suchte mir einen Sitzplatz aus: »Hierher, Martin! Da ist noch ’n Stuhl frei!«

Neben einem Mädchen! O Gott. Aber was blieb mir übrig?

Ich setzte mich da hin und hielt die Luft an.

Als der Klassenlehrer aufkreuzte, unterhielt sich Mama mit dem noch eine Weile halblaut draußen vor der Tür. Dann kam er rein und rief: »Hallihallo, ihr Lieben!« Schlüter hieß der. So ’n kleiner Dicker mit Pläte und Hamsterbacken.

Als Neuer sollte ich mal eben kurz nach vorne kommen und mich der Klassengemeinschaft vorstellen. Ach du Scheiße.

»Sag uns doch mal, wie du heißt!«

»Martin.«

»Und wo bist du bisher zur Schule gegangen?«

»In Koblenz.«

»Ach, in Koblenz! Dann bist du ja eine rheinische Frohnatur!«

Ob der mich vergackeiern wollte? Ich sagte lieber nichts dazu. Ich hoffte, daß der Krampf bald überstanden wäre, schon weil ich allmählich nicht mehr wußte, wo ich meine Hände hintun sollte. Zuerst hatte ich sie in die vorderen Hosentaschen gesteckt, dann in die hinteren und dann wieder in die vorderen.

»Gut, Martin, du darfst dich jetzt setzen …«

 

Das könne ja wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, sagte Mama, als ich ihr meinen Stundenplan überreicht hatte. Nie mehr als vier Stunden, und selbst das nur an zwei Tagen, die restlichen Tage nur drei Stunden, zweimal in der Woche die erste frei und einmal die ersten beiden, und das beste: kein Physik, kein Chemie, kein Zeichnen, keine Musik, kein Bio und kein Erdkäs! Und nur zweimal in der Woche Englisch. In meinen Ohren war das Musik.

 

Michael schrieb ich, daß die Mädchen in meiner Klasse alle wie Pferde aussähen, und das neben mir sitzende würde unentwegt häkeln und husten.

 

Um Renate zum 19. Geburtstag einen Rückspiegel für ihr Klapprad schenken zu können, hatten Volker und ich unseren Zaster zusammengelegt. Von dem Rad hatte sie allerdings nicht viel, weil ich das für den Schulweg brauchte. Im Kreisgymnasium war ich weit und breit der einzige Junge, der auf so ’ner lächerlichen Chaise angeeiert kam. Und weil das Klapprad immer darauf aus war, den Saum meines rechten Hosenbeins einzuklemmen, zwischen Kette und Zahnrad, mußte ich eine Fahrradklammer tragen, so eine biegsame, hufeisenförmige Metallspange, die man sich unten ums Hosenbein schnallte, was zwar praktisch sein mochte, aber unheimlich doof aussah.

In Mathe, für das ein haariger Dämon namens Schneidewind zuständig war, ging’s um Berechnungsregeln für Terme. Der Term als Produkt, Summe, Quotient, Differenz und Potenz. Mir hätte schon das Rechnen mit Zahlen gereicht, und nun sollte man auch noch mit Buchstaben rechnen und Fremdwörter büffeln.

In Franz war die neue Klasse viel weiter als meine alte. Hier schwallten sie alle Französisch, als ob sie’s mit der Muttermilch eingesogen hätten, und ich verstand nur Bahnhof. Le boeuf, der Ochs, la vache, die Kuh, fermez la porte, die Tür mach zu. Um den Rückstand aufzuholen, würde ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zehn Stunden lang französische Vokabeln bimsen müssen.

»Nun, liebe Kinder«, sagte der Schlüter am Ende der dritten Stunde, »gebt fein acht: Ihr habt es besser als die blaugefrorenen Schüler im ehemaligen Königsberg, das heute Kaliningrad heißt – ihr habt hitzefrei!«

Er verteilte dann noch einen vom Kultusminister verfaßten Wisch, den die Eltern zur Kenntnis nehmen und unterschreiben sollten.

Den Schülern aller Schulen meines Amtsbereiches wird hiermit verboten, Waffen jeder Art, also auch Gaspistolen, in die Schule oder zu Veranstaltungen der Schule mitzubringen.

»Na, hier scheinen ja schöne Sitten zu walten, wenn das ausdrücklich verboten werden muß«, sagte Mama.

 

Auch am Samstag hatten wir nach der dritten Stunde hitzefrei, und ich packte so schnell wie möglich meine Sachen, um mit dem Klapprad abzuzischen, bevor mich jemand damit sehen konnte.

 

Auf der Treppe lag ein neuer Brief von Michael.

Lieber Martin!

Heute habe ich schon wieder hitzefrei bekommen. Die ganze Woche hatte ich jetzt jeden Tag nur vier Stunden. Das Wetter ist aber auch verheerend. Tag für Tag 3235° C im Schatten. Einfach grauenhaft!

Wie ist’s in Deiner Schule? Gute Klassenkameraden, gute Lehrer? Oder weißt Du das noch nicht? Na, toi, toi, toi!

Bei ihm in der Penne werde es immer mieser, an seinem Fahrrad klappere hinten das Schutzblech, und es sei auch noch was Schreckliches passiert:

Unser Fernseher ist hin. Einfach hin. Gibt keinen Muckser mehr von sich. Altes, blödes Ding! Jetzt hat man nachmittags schon überhaupt nichts zu tun, und dann geht auch noch das Fernsehen baden. Mist!

Und im Wambachtal würden Millionen Bremsen herumschwirren. Ich wäre trotzdem lieber wieder mal mit Michael ins Wambachtal gegangen, als zum x-ten Mal alleine mit dem Klapprad durch den Meppener Wald zu brettern. Im Wambachtal gab’s mehr Steigungen und weniger Karnickel, aber auf Dauer waren die Karnickel kein Ersatz für einen Schulfreund im Wambachtal.

 

Weil der Weg von der Küche zum Eßtisch so weit und der Servierwagen so klapprig war, hatte Mama sich einen neuen gekauft und karrte damit das Geschirr, das Besteck und die Schüsseln mit Kartoffeln, Bohnen und Königsberger Klopsen ins Eßzimmer.

»Die müßten eigentlich Kaliningrader Klopse heißen«, sagte ich, und Mama sagte, ich solle mir solche Frechheiten verkneifen, erst recht in der Hörweite von Papa und Oma.

Renate klaubte die Servietten vom Klavier.

 

Nach dem Essen brachte Papa Oma im Peugeot zurück nach Hilden, und Renate und Mama erledigten die Küchenarbeit in Rekordzeit, weil mit Mamas Schulfreundin Tante Grete der nächste Besuch ins Haus stand, und da sollte es bei uns nicht aussehen wie bei Schweins.

Tante Grete kam mit dem Zug aus Quakenbrück und mußte am Bahnhof ein Taxi nehmen, weil Mama bis auf weiteres keinen fahrbaren Untersatz besaß.

Die kleinen Strolche hatten gerade angefangen, als es Klingeling machte. Wiebke lief zur Tür und wußte überhaupt nicht, wen sie da vor sich hatte, obwohl Tante Grete ihre Patentante war.

Mama schaltete den Fernseher aus. Es war schade, daß der alte nicht mehr ging, den wir von Oma und Opa geerbt hatten. Sonst hätte ich die Sendung in einem anderen Zimmer zuendekucken können.

Vom Teetisch, den Renate gedeckt hatte, holte ich mir drei Kekse, verkrümelte mich damit in mein Zimmer und machte es mir vorm Radio bei der Bundesligakonferenzschaltung bequem. In der Saison 1974/75 war Gladbach Deutscher Meister geworden und mußte jetzt alles daransetzen, den Titel zu verteidigen. Volle Kraft voraus!

Gegen Hannover 96 ging Gladbach schon in der 7. Minute in Führung, aber die Hannoveraner glichen aus und leisteten so heftigen Widerstand, daß Gladbach am Ende noch dankbar sein konnte für das 3:3 und den ersten Auswärtspunkt.

 

Tante Grete wollte ins Jeverland weiter, und Mama entschloß sich dazu, mitzufahren und mit ihr und Oma und Opa in Jever aufs Altstadtfest zu gehen, statt Das Haus am Eaton Place zu kucken, die langweiligste Serie der Welt.

Papa sollten wir sagen, daß Mama morgen nachmittag mit der Bahn zurückkommen werde. »Und keine krummen Touren! Daß ihr mir hier nicht die ganze Bude auf ’n Kopp stellt!«

Können vor Lachen. Ich mußte Hausaufgaben machen.

Pourquoi est-ce que Paris est le centre de la France? Quel pourcentage de la population française habite dans la région parisienne? Qu’est-ce qu’on fabrique dans la région parisienne?

Die Franzmänner schienen einen schweren Fimmel zu haben mit ihrer région parisienne. Und dabei wußten sie offenkundig nicht mal, wieviele Leute da wohnten und was die herstellten, und verlangten von mir, das herauszufinden.

Was ich noch weniger schnallte, war Mathe.

Aus Draht soll ein Modell einer Raute mit der Seitenlänge a hergestellt werden. Wie lang muß der Draht sein?

Hä? Woher sollte denn ich das wissen? Und was war eine Raute?

Schreibe dazu zunächst einen ausführlichen Term. Forme diesen dann in einen kürzeren um. Beachte: In einer Raute sind alle vier Seiten gleich lang.

Das half mir auch nicht viel weiter.

Die Raute soll zu einem räumlichen Modell mit der Höhe b ausgebaut werden. Wie lang muß der Draht insgesamt sein? Schreibe dazu mehrere Terme in einer Gleichungskette auf.

Gleichungskette? Da hätten sie von mir auch gleich verlangen können, in echt aus Draht ’ne Raute herzustellen. Aber halt – da standen ja auch die Lösungen, gleich untendrunter!

a) Für die Länge des Drahtes gilt: a + a + a + a = 4 · a.

b) Für die Gesamtlänge des Drahtes gilt z.B.: 4 · a + 4 · b + 4 · a = a + a + a + a + a + a + a + a + 4 · b = 8 · a + 4 · b.

Da wär ich nie drauf gekommen. Aber wenn die Lösungen im Buch standen, konnten wir den Mist ja wohl kaum als Hausaufgabe aufgekriegt haben. Sondern vermutlich den Scheiß auf der nächsten Seite:

Bestätige durch Einsetzen, daß …

Wie bitte? Was sollte das denn nun wieder heißen? Wenn da gestanden hätte »Schlumpfe durch Schlumpfen«, dann hätte ich genausoviel gerafft.

Bestätige durch Einsetzen,

also mit anderen Worten: Schlumpfe durch Schlumpfen,

daß bei 7a + 2a = 9a die Terme links und rechts vom Gleichheitszeichen jeweils denselben Wert ergeben.

Oder die Schlumpfe denselben Schlumpf.

Wähle 1; 2; 3; 0; (–1); (–2) für a. Lege dazu eine Tabelle an.

Tabelle? Was für ’ne Tabelle? Und »dazu«? Zu was? Zum Wählen? Oder zum Bestätigenkack durch Einsetzenfickfack?

Wähle 3 3 3 auf dem Telefon … Mann, Mann, Mann, was war doch Mathe für ein geisteskrankes, bekotztes Wildschweingefurze. Zu nichts, aber auch zu gar nichts nutze. Und wenn’s außer Mathepauker wirklich irgendwo auf der Welt noch einen Beruf gab, für den man sich mit Termen und Rauten und Gleichheitsketten auskennen mußte, dann würde ich den nie im Leben ergreifen.

 

Als Mama wieder da war, erzählte sie, daß die Wohnung in der Mühlenstraße verwaist gewesen sei gestern abend, aber dann hätten sie Oma und Opa glücklich auf dem Altstadtfest angetroffen, auf dem Kirchplatz, im dicksten Gewühle.